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Brave Mädchen schweigen still

von Dania Dicken (Autor:in)
295 Seiten
Reihe: Libby Whitman, Band 2

Zusammenfassung

Für Libby Whitman geht ein Traum in Erfüllung, als sie ihre Ausbildung an der FBI Academy in Quantico beginnt, um Profilerin zu werden. Die Anwesenheit ihrer besten Freundin Julie tröstet sie ein wenig darüber hinweg, dass sie ihren Kollegen Owen in Kalifornien zurücklassen musste, für den sie stärkere Gefühle hegt, als sie wahrhaben will. Doch nicht nur Owen überrascht Libby ganz unverhofft, sondern auch das FBI: Sie soll ihre Ausbildung unterbrechen und nach Utah reisen, um dort gegen eine polygame Mormonensekte zu ermitteln. Ein Schock für Libby, denn zehn Jahre zuvor ist sie selbst aus dieser Sekte geflohen – und hat ihre Mutter an sie verloren. Aber das FBI lässt ihr keine Wahl und so muss sie sich den Dämonen ihrer Vergangenheit stellen …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dania Dicken

 

Brave Mädchen schweigen still

 

Libby Whitman 2

 

 

Thriller

 

 

 

 

 

 

 

 

Wenn die Freiheit erst einmal Wurzeln geschlagen hat,

wächst sie rasend schnell.

 

George Washington

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

Das konnte er vergessen. Das konnten sie alle vergessen. Unbeweglich saß sie auf dem Sofa und starrte ihn trotzig an.

„Es ist deine Pflicht vor Gott, mein Liebes. Ich möchte, dass du Shelley und Emma jetzt begleitest. Es gibt einiges, was sie dir noch beibringen müssen.“

„Was sie mir beibringen müssen? Ich lasse mich doch von den beiden nicht noch mal anfassen! Was soll denn das? Seid ihr alle übergeschnappt?“, rief sie aufgebracht.

„Nicht in diesem Ton, junge Dame! So lautet Saras Gesetz und du weißt, es ist ein göttliches Gesetz. So steht es in der heiligen Schrift. Du musst wirklich noch lernen, dich unterzuordnen!“

Sie schnaubte verächtlich. „Das ist doch krank, was ihr hier macht. Ich will das nicht! Lasst mich in Ruhe. Ich werde dich nicht heiraten!“

„Das bestimmst nicht du! So ist es abgesprochen!“

Nun sprang sie auf. „Na und? Du kannst mich nicht zwingen und das weißt du!“

Sie schrie immer lauter. Hinter ihm am Türrahmen sah sie die Gesichter von einigen Kindern der anderen Frauen, die neugierig ins Wohnzimmer spähten. Shelley und Emma saßen bereits neben ihr auf dem Sofa und warfen ihr erwartungsvolle Blicke zu.

Nur über ihre Leiche. Sie wusste genau, was jetzt kommen sollte, denn sie hatten es ja schon einmal gemacht, vor ein paar Tagen. Da hatte sie die beiden mit einer Mischung aus Nervosität und Angst begleitet, weil sie noch nicht gewusst hatte, was sie erwartete. Die beiden sollten sie in den Pflichten einer gehorsamen Ehefrau unterweisen – in allen Pflichten.

Auch denen im Bett.

Sie hatte es über sich ergehen lassen, weil sie wie gelähmt gewesen war. Shelley und Emma waren echte Miststücke, das hatte es nicht gerade besser gemacht, als die beiden an ihr herumgefingert hatten. Ihr wurde schlecht beim bloßen Gedanken daran – und bestimmt würde sie nicht zulassen, dass sie das wiederholten. Göttliches Gesetz hin oder her. Das war doch alles krank.

„Du solltest langsam gehorchen“, sagte er und klang dabei bedrohlich ruhig.

„Du kannst mich nicht zwingen.“

„Und ob ich das kann!“, brüllte er.

Jetzt sprang sie auf und starrte ihm genau ins Gesicht. „Versuch’s doch.“

Mit diesen Worten stapfte sie an ihm vorbei und wollte zur Tür, um das Haus zu verlassen. Sie würde jetzt nach Hause gehen und ihrem Vater klarmachen, dass sie George nicht heiraten konnte. Das war ausgeschlossen. Doch da packte er sie plötzlich unsanft von hinten und riss sie herum.

„Ich werde dir zeigen, wer hier das Sagen hat!“, brüllte er ihr mitten ins Gesicht.

„Lass mich los!“, schrie sie, aber er dachte gar nicht daran. Seine Finger gruben sich in ihren Oberarm, als er sie zu ihrer Überraschung nun selbst zur Haustür zerrte. Er griff nach seinem Schlüsselbund, zog sie mit sich nach draußen und warf die Tür hinter sich zu. Wortlos stieß er sie zu seinem Geländewagen und brüllte: „Du wirst jetzt einsteigen!“

„Sonst was?“

Es war schon dunkel draußen, deshalb sah niemand, wie er ihr so hart ins Gesicht schlug, dass ihr Kopf nach hinten flog und ihr das Blut nur so aus der Nase schoss. Sie fühlte sich benommen und wehrte sich nicht, als er sie dazu zwang, sich auf den Beifahrersitz des Wagens zu setzen. In den Taschen ihres langen Leinenkleides suchte sie nach einem Taschentuch und als sie eins gefunden hatte, hielt sie es sich unter die blutende Nase. George stieg derweil auf der Fahrerseite ein und fuhr abrupt an. Schweigend legte sie den Kopf in den Nacken und fing das Blut mit dem Taschentuch auf.

Zu ihrer Überraschung sagte George ebenfalls nichts. Ihr war es recht, sie hatte ihm sowieso nichts zu sagen. Das hatte Jessop sich ja schön überlegt, dass sie George heiraten sollte. Als ob er nicht schon genügend Frauen gehabt hätte. Aber ihn würde sie auch noch in die Flucht schlagen, das war ihr ja schon zuvor gelungen.

Sie wurde erst misstrauisch, als George Short Creek nach Süden hin verließ und sich schließlich mit dem Auto in die Wüste schlug. Ein Verdacht keimte in ihr auf.

„Wohin fahren wir?“, fragte sie beunruhigt.

„Wirst du schon sehen.“

„Ich werde es meinem Vater sagen, wenn du mich schlecht behandelst. Dann kannst du das mit der Hochzeit vergessen.“

„Das glaube ich kaum. Dein Vater ist ja froh, dass ich dich nehmen will.“

Wie vom Donner gerührt sah sie ihn an und sagte nichts mehr. Unruhig beobachtete sie, wie George mit ihr immer tiefer hinein in die Wüste fuhr. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Nur konnte sie rein gar nichts dagegen tun.

Sie starrte einfach vor sich hin und wartete, bis sie schließlich einen einsamen Wohnwagen mitten im Nirgendwo erreicht hatten.

Er würde es wirklich tun. Sie hatte Recht gehabt.

„Was hast du jetzt vor?“, fragte sie nervös, als er den Motor abstellte und schon aussteigen wollte.

„Ich werde dich zur Vernunft bringen“, sagte er, als wäre es das Normalste der Welt. Wie angewurzelt saß sie da, während er die Fahrertür hinter sich zuwarf, und schaute sich fieberhaft um.

Sie waren wirklich mitten im Nirgendwo. Jetzt hatte es keinen Sinn mehr, eine Flucht zu versuchen. Sie konnte nirgends hin. Sie konnte bloß noch versuchen, ihm die Augen auszukratzen.

George öffnete die Beifahrertür und sah sie erwartungsvoll an. Sie rührte sich keinen Millimeter, weshalb er sie grob packte und mit Gewalt aus dem Wagen zerrte.

„Lass mich los, du tust mir weh!“, schrie sie wütend.

„Du willst es ja nicht anders.“

„Du bist ein krankes Schwein!“

Er reagierte gar nicht darauf, sondern zerrte sie zu dem Wohnwagen, schloss die Tür auf und zwang sie dazu, hineinzugehen. Sie wehrte sich nicht, weil sie wusste, dass es zwecklos war.

George schaltete das Licht an und als ihr Blick auf die lange Kette fiel, die an einer Wand befestigt war, wurde ihr kalt.

„Ich will nicht“, stieß sie ängstlich hervor.

„Das hättest du dir vorher überlegen können.“ George gab ihr einen Stoß und brachte sie zu ihrem Entsetzen dazu, genau zu der Kette hinüber zu gehen. Daran waren Handschellen befestigt. Er hielt eine ihrer Hände fest umklammert und machte Anstalten, die Handschellen darum zuschnappen lassen zu wollen. Sie überlegte kurz, ob sie sich wehren wollte, aber sie konnte darauf verzichten, dass er sie noch mal schlug. Gewinnen würde er sowieso.

Schweigend und voller Wut starrte sie ihn an, doch das beeindruckte ihn nicht.

„Du bleibst jetzt so lange hier, bis du ein wenig umgänglicher bist“, sagte er. „Du bist ja nicht das erste Mädchen, das glaubt, mich beeindrucken zu können. Lass dir gesagt sein, das klappt nicht. Alicia war auch mal wie du und jetzt sieh sie dir an. Eine brave, fügsame Ehefrau.“

„Sperrst du mich jetzt hier ein?“, fragte sie ungläubig.

„Das hast du in der Hand. Wirst du brav sein?“

„Du kannst mich mal!“, schrie sie und versetzte ihm einen Stoß. Er sollte bloß machen, dass er wegkam.

Doch das reizte ihn nur. Erneut schlug er ihr ins Gesicht, diesmal traf er ihr Auge. Sie schrie vor Schmerz auf und spürte augenblicklich, wie es anschwoll.

„Du freches kleines Miststück, ich werde dir zeigen, wer hier das Sagen hat!“, brüllte er. „Und das bist nicht du, das verspreche ich dir. In ein paar Tagen werden wir ja sehen, ob du immer noch so ein großes Mundwerk hast.“

„Du kriegst mich nicht klein“, erwiderte sie, während sie mit einer Hand ihr geschwollenes Auge berührte.

„Ich kriege euch alle klein. Und jetzt zieh deine Schuhe aus.“

„Meine Schuhe?“

„Mach schon, oder willst du noch eine Ohrfeige?“

Wollte sie nicht. Zitternd zog sie ihre Schuhe aus, die er ihr sofort mit einer hastigen Handbewegung wegnahm.

„Nur um sicherzugehen. Du bleibst jetzt erst mal hier. Wenn du Durst hast, im Kühlschrank ist Wasser.“

Mit diesen Worten stapfte er aus dem Wohnwagen, machte das Licht aus und warf die Tür hinter sich zu, ehe sie überhaupt wusste, wie ihr geschah. Reglos stand sie da und versuchte zu verstehen, was gerade passiert war.

„George?“, rief sie, doch Augenblicke später wurde der Motor des Geländewagens gestartet und der Wagen fuhr davon.

Sie schluckte. Er meinte das tatsächlich ernst. Sie hatte schon davon gehört, dass andere Frauen so lange weggesperrt worden waren, bis sie sich fügsamer benahmen. Aber das …

Schließlich fing sie sich wieder und warf einen Blick in den Kühlschrank. Darin standen drei Wasserflaschen, aber ansonsten war er leer. Nichts zu essen.

Sie verstand. Er würde sie hungern lassen. Bastard. So leicht bekam man sie nicht klein.

Zumindest hoffte sie das. Sie wusste ja nicht, wann er wiederkam – und was er dann tun würde.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mittwoch, 3. Februar

 

„Sie alle sitzen heute hier, weil Sie motiviert sind, auch die grausamsten und komplexesten Vergehen aufzuklären. Profiling hat weder mit Hokuspokus zu tun, noch ist es so eine schillernde Tätigkeit, wie manche Fernsehserien Ihnen weismachen wollen. In der Behavorial Analysis Unit hier in Quantico wälzen wir normalerweise Akten, führen Telefonate, pinnen Fotos an Korkwände und gehen mittags in die Kantine.“

Gelächter erfüllte den Hörsaal. Nick Dormer grinste kurz und blickte genau in Libbys Richtung. Aus seinem Grinsen wurde ein Lächeln, das sie instinktiv erwiderte.

„Meine Aufgabe ist es, Ihnen alles mit auf den Weg zu geben, was Sie für diese Tätigkeit brauchen können. Von grundlegender Bedeutung beim Profiling ist es, nur gesicherte Daten zu verwenden, um sich nicht in Spekulationen zu verlieren. Will heißen: Sie arbeiten mit dem, was der Fall Ihnen liefert. Das können Erkenntnisse sein, die sie am Tatort oder Leichenfundort gewonnen haben – beides muss ja nicht zwangsläufig identisch sein. Das können auch Erkenntnisse von der Spurensicherung sein oder der Obduktionsbericht. Irgendwas, womit Sie arbeiten können, gibt es eigentlich immer. Zentral dabei ist die Frage: Warum hat der Täter ausgerechnet dieses Opfer gewählt? Wer kann mir den Fachbegriff dafür sagen?“

Libby hob ihre Hand. Nick sah es, aber er ließ seine Blicke weiter schweifen und ließ einen der anderen Rekruten zu Wort kommen.

„Viktimologie“, sagte ein junger Mann.

„Richtig.“ Dormer nickte und fuhr fort. Bequem zurückgelehnt saß Libby auf ihrem Platz und hörte ihm zu. Er hatte eine angenehme Art, vor den Rekruten zu sprechen – von ihrer Universität war sie Schlimmeres gewöhnt. Aber sie hatte auch nichts anderes erwartet.

„Die Viktimologie lebt von Informationen über das Opfer. Was kennzeichnete diese Person? Welches Geschlecht hat sie, wie waren ihre Lebensgewohnheiten? War sie kriminell? War sie ein Zufallsopfer? Gehörte das Opfer zu einer Hochrisikogruppe wie etwa Prostituierten? Das alles verrät Ihnen viel. Wissen Sie über das Opfer Bescheid, kommen Sie auch dem Täter näher. Beim FBI tendierten wir für lange Zeit dazu, Täter in zwei Typen einzuteilen: Den organisierten und den unorganisierten Täter. Zwar wissen wir inzwischen, dass das eine zu starke Vereinfachung ist, aber es gibt durchaus Täter, die ihre Taten akribisch bis ins kleinste Detail planen. Das macht es den Ermittlern häufig schwer, sie zu fassen, denn sie sind intelligent. Teilweise interessieren sie sich für die Ermittlungen, manche mischen sich sogar ein. Das sollten Sie immer bedenken, wenn Sie mit vermeintlichen Zeugen konfrontiert werden.“

Bislang lag Libbys Laptop zugeklappt vor ihr auf dem Tisch. Nick erzählte nichts, was sie nicht schon wusste, deshalb verzichtete sie auf Notizen. Langweilig fand sie es dennoch nicht. Der Profiling-Kurs stand noch ganz am Anfang – sie wusste, sie würde hier bald noch eine Menge lernen.

Auch Julie hörte Nick einfach nur zu. Libby linste im Augenwinkel zu ihrer Freundin, die gleich neben ihr saß. Sie würde Nick ewig dankbar dafür sein, dass er ihre Freundin aus England hergeholt hatte und sie nun zusammen die FBI Academy besuchen konnten. Das war nur möglich, weil Nick alle Hebel in Bewegung gesetzt hatte, denn jemanden aus dem Ausland innerhalb von vier Wochen nach Quantico zu holen grenzte schon fast an ein Wunder. Bei der Tochter einer der namhaftesten Profilerinnen in ganz Großbritannien hatte es allerdings funktioniert, denn Andrea Thornton hatte selbst schon mit der BAU zusammen gearbeitet. Man wusste hier, wer Julie war.

Sie hatte erst vor kurzem ihren Master in Kriminologie und Forensischer Psychologie an der Kingston University in London gemacht und gerade überlegt, wie es für sie weitergehen sollte, als die Einladung aus den USA gekommen war. Natürlich hatte sie sofort zugesagt.

Zum FBI gehen konnte sie trotzdem nicht, weil sie keine amerikanische Staatsbürgerin war, aber dass ausländische Staatsbürger die Academy besuchten, war keine Seltenheit. In jeder Klasse waren zehn Prozent der Plätze für Nichtamerikaner reserviert – so schuf man sich Verbündete.

„Essenziell beim Profiling ist es, vorliegende Indizien und Beweise immer wieder neu auf ihre Gültigkeit hin zu überprüfen. Haben Sie etwas Neues erfahren, das bisherige Erkenntnisse in einem anderen Licht erscheinen lässt? Gehen Sie alles noch mal durch. In dieser Veranstaltung werden Sie lernen, wie Sie wissenschaftliche Erkenntnisse auf Ihre tägliche Arbeit anwenden. Aus dem Tathergang und weiteren Merkmalen lässt sich oft erstaunlich präzise ableiten, welche Merkmale der Täter hat. Sexuell motivierte Serienmörder etwa morden fast immer in ihrer eigenen ethnischen Gruppe, also verrät Ihnen die Ethnie des Opfers etwas über den Täter. Ein populäres Beispiel für einen Ausnahmetäter ist der Nightstalker – Richard Ramirez hat verschiedenste Opfer getötet und eine seiner Taten sogar satanistisch motiviert erscheinen lassen. Das war selbst für die Profiler damals eine echte Herausforderung.“

Libby stimmte ihm in Gedanken zu. Mit dem Fall des Nightstalkers hatte sie sich bereits ausführlich in den Unterlagen ihrer Mutter beschäftigt. Sadie wusste viel über ihn, weil sie seinerzeit im Fall seines Nachahmers, des Son of the Nightstalker, ermittelt hatte – Brian Leigh, mit dem Libby auch persönlich konfrontiert worden war.

„In dieser Veranstaltung werden Sie viele Fallbeispiele kennenlernen, denn so haben die Urväter unserer Disziplin, Robert Ressler und John Douglas, in den 1970er Jahren begonnen. Sie haben im Gefängnis Täter wie John Wayne Gacy, Jeffrey Dahmer, Ed Kemper, den Son of Sam oder Ted Bundy besucht und mit ihnen gesprochen. Diese Interviews waren es, die ihnen einen tiefen Einblick in die Psyche solcher Täter gewährt haben – und zum Glück sind die meisten von ihnen ja verdammt gesprächig.“ Nick sagte das mit einem gewissen Unterton und hatte prompt die Lacher auf seiner Seite.

„Daraus ging das Crime Classification Manual hervor, mit dem wir heute noch arbeiten, und aufgrund dieser Forschung wissen wir heute, dass es verschiedene Typen von Serienmördern gibt. Holmes und Holmes unterscheiden vier verschiedene Typen: Den visionären Typen, der oft psychotisch agiert und glaubt, dass Stimmen ihm die Taten befehlen. Nummer zwei ist der missionsorientierte  Typ, der sich für eine bestimmte Aufgabe berufen fühlt – die Straßen von Prostituierten zu säubern, um ein Beispiel zu nennen. Nummer drei ist der hedonistische Killer, dem es nur um seine eigenen Lust- und Glücksgefühle bei der Tat geht. Dazu gehören die sexuell motivierten Serienmörder. Der vierte Typ ist der machtorientierte Typ, der im wahren Leben wenig zu sagen hat und sich so etwas beweisen will. Welcher Typ, denken Sie, ist der häufigste?“

Libby und Julie hoben gleichzeitig den Arm. Mit einem Lächeln sah Nick in ihre Richtung und nickte Julie zu.

„Sexuell motivierte Serienmörder“, sagte sie.

„Richtig. Wodurch sind sie gekennzeichnet?“ Nun nickte er Libby zu.

„Wer einmal damit angefangen hat, kann oft nicht mehr aufhören. Sie haben oft sehr spezielle Präferenzen bei der Opferwahl und nicht selten sadistische Neigungen. Sie müssen sich von Tat zu Tat steigern, um noch das gleiche Hochgefühl zu erleben.“

„Genau. So erschreckend diese Täter auch agieren mögen – ihre Profile sind meist am einfachsten zu erstellen, denn sie sind ziemlich berechenbar und ähneln sich häufig in Grundzügen.“

Julie hob eine Hand, woraufhin Nick sie aufrief.

„Ich habe eine Frage: Geht es Sexualmördern nicht auch häufig um Macht?“

„Sicher, auch wenn Macht hier nicht das Hauptmotiv ist. Dem sexuellen Sadisten geht es darum, zu beobachten, wie das Opfer leidet. Das ist es, was ihn sexuell erregt. Was Foltermethoden für ihre Opfer angeht, sind diese Täter ja häufig erschreckend kreativ. Umgekehrt morden die machtorientierten Täter in der Hauptsache, um ihr Ego zu stärken. Überschneidungen sind gegeben, aber wenn wir uns hier im Kurs den Fallbeispielen zuwenden und die einzelnen Tätertypen im Detail untersuchen, werden Sie sehen, wo genau der Unterschied liegt.“

Julie nickte, so dass Dormer fortfuhr. „In diesem Kurs werden Sie auch lernen, welche Risikofaktoren dazu führen können, dass jemand zum Serienmörder wird. Desolate Familienverhältnisse, eine gestörte Sexualentwicklung, Alkoholismus, häusliche Gewalt, der Einfluss der Medien – es werden verschiedene Faktoren diskutiert. Ich erkläre Ihnen auch, woran Sie einen Psychopathen erkennen, denn damit werden Sie es sicherlich irgendwann zu tun bekommen. Psychopathie kann angeboren sein, in Gehirnscans wurden teils massive Unterschiede zu den Gehirnen der Probanden aus der Kontrollgruppe festgestellt. Aber das ist auch keine Überraschung: Wer weniger Furcht und Empathie für andere Menschen empfindet, der kann skrupelloser agieren.“

Libby hätte Nick tagelang zuhören können, doch mit Blick auf seine Armbanduhr sagte er: „Für heute sind wir leider schon am Ende, aber ich möchte Sie bitten, sich bis zur nächsten Sitzung intensiv mit einem Täter Ihrer Wahl auseinanderzusetzen. Bitte reichen Sie mir zu Beginn unseres nächsten Termins ein mindestens zweiseitiges Essay über diesen Täter ein. Darin sollten Sie herausstellen, welchem Tätertyp Sie ihn zuordnen und warum. Gute Informationen finden Sie auch in VICAP, mit dem System sind Sie ja bereits vertraut. Vielen Dank.“

Sofort begann es zu rascheln und Gemurmel wurden laut. Die Rekruten packten ihre Taschen und verließen den Hörsaal. Jetzt stand erst mal die Mittagspause an, bevor sie danach zum Ausdauertraining und auf den Schießstand gingen. Libby hatte keine Ahnung, wer es sich ausgedacht hatte, dass man mit vollem Magen im Wald auf der Yellow Brick Road durch den Matsch robben sollte, aber besonders clever fand sie das nicht.

Nachdem sie ihren Laptop eingepackt hatte, wartete sie auf Julie, die ebenfalls ihre Tasche packte, und sagte: „Ich muss Nick noch was fragen.“

„Okay, ich komme mit.“

Beide kannten Nick schon lange, für Libby war er fast so etwas wie ein väterlicher Freund. Ihre Mutter hatte oft mit ihm zusammen gearbeitet oder ihn zumindest um Rat gebeten – und nicht zuletzt hatte Libby ihrer Mum einmal zusammen mit Nick das Leben gerettet. Es war eine Ehre für sie, jetzt von ihm ausgebildet zu werden.

Libby und Julie gingen die Treppe hinunter und gesellten sich zu Nick, der ebenfalls einpackte und sich dabei mit einem anderen Rekruten unterhielt. Als sie fertig waren, lächelte er die beiden jungen Frauen an.

„Schon ein interessantes Bild, wie alle eifrig mitschreiben und ihr beiden zuhört, als würde ich über eure Lieblingsserie sprechen.“

Libby lachte amüsiert. „Du weißt, dass ich die Bücher meiner Mum auswendig kenne.“

„Sicher. Solange ihr euch nicht langweilt …“

„Im Gegenteil“, bekräftigte Julie.

„Was kann ich denn für euch tun?“

„Ich nehme nicht an, dass ich über Rick Foster oder Brian Leigh schreiben darf“, sagte Libby.

„Ich sage dir nicht, was du hier tun oder lassen darfst, nur so viel: Es geht darum, die Methoden des Profiling an einem unbekannten Fallbeispiel auszuprobieren. Mir ist klar, dass du alles über Sexualsadisten weißt, deshalb könntest du dich ja mal mit Harold Shipman, Ted Kaczynski oder Andrew Cunanan beschäftigen – oder vielleicht mit einer Frau? Wie wäre es mit Susan Atkins oder Aileen Wuornos?“

„Gute Idee“, sagte Libby.

„Das gilt natürlich auch für dich“, sagte Nick mit Blick auf Julie. „Kein Jonathan Harold oder Amy Harrow.“

„Nein, schon klar“, erwiderte Julie. „Vielleicht nehme ich wirklich eine Frau.“

„Großartig. Ich freue mich schon auf eure Ergebnisse!“

Die beiden lächelten und verabschiedeten sich. Während sie sich auf den Weg zur Kantine machten, verschwand Nick in die entgegengesetzte Richtung. Libby folgte Julie in die Kantine und studierte den Speiseplan. Erfreut stellte sie fest, dass es Tacos gab. Sie mochte mexikanisches Essen. Zusammen stellten die beiden sich an der Essensausgabe an und Libby griff nach einem Salat.

„Mit deinem ganzen gesunden Essen bekommt man ja ein schlechtes Gewissen neben dir“, sagte Julie, die sich schon einen Joghurt als Dessert geschnappt hatte und gerade in Richtung Pasta spähte.

„Du machst mir Spaß, du musst die Yellow Brick Road ja nicht bestehen“, erwiderte Libby stirnrunzelnd.

„Nein, zum Glück nicht. Das Sportprogramm hier hat es wirklich in sich.“

„Allerdings.“ Libby beobachtete, wie Julie sich einen Teller Pasta holte, während sie zu den Tacos griff. Doch, Tacos waren auch okay.

Beide reihten sich in die Kassenschlange ein und unterhielten sich weiter über die Yellow Brick Road, als plötzlich eine tiefe Stimme von hinten sagte: „Dass du nicht von hier bist, hört man auch.“

Julie drehte sich um und sah dem jungen Mann hinter sich in die Augen. Er überragte sie mindestens um einen Kopf, hatte dunkles Haar und stahlblaue Augen.

„Findest du?“, erwiderte sie.

„Dein Akzent ist sowas von britisch.“

„Okay, du hast mich erwischt.“

Er lächelte breit. „Ich bin Kyle.“

„Julie“, erwiderte sie. „Das ist meine Freundin Libby.“

Kyle schüttelte beiden die Hände. „Sehr erfreut. Vorhin in Dormers Kurs habt ihr nicht ein einziges Wort mitgeschrieben.“

„Nein … Wir sind beide hier, weil wir Profiler werden wollen.“

Überrascht zog er die Brauen in die Höhe. „Ach was. Das wisst ihr schon?“

„Ich habe in England meinen Master in Kriminologie und Forensischer Psychologie gemacht und Libbys Mum war schon Profilerin beim FBI.“

Kyle nickte anerkennend. „Nicht schlecht. Ich habe ja keine Ahnung, was das Bureau mit mir vorhat, wenn ich erst mal fertig bin. Ich hoffe ja, ich komme in irgendeine gute Stadt und nicht irgendwo in ein Nest im Mittleren Westen. Du bist Gaststudentin hier, nehme ich an?“

Julie nickte. „Ich bin Engländerin, ich gehe also nicht zum FBI. Schade eigentlich. Obwohl – wenn ich an die Yellow Brick Road denke …“

„Der Pfad ist mörderisch. Hast du ihn schon ganz geschafft?“

„Noch nicht. Du?“

Während die beiden sich unterhielten, bezahlte Libby schon mal und suchte nach einem Tisch. Sie war nicht überrascht, dass Kyle sie begleitete und sich während des Essens mit Julie unterhielt. Grundsätzlich hätte es sie nicht gestört – Kyle war ziemlich nett Julie schien seine Gesellschaft zu genießen, aber wenn Libby ehrlich war, neidete sie es ihrer Freundin ein wenig. Es hielt ihr deutlich vor Augen, was sie gerade nicht haben konnte.

Schweigend konzentrierte sie sich aufs Essen und dachte an Owen. Zuletzt hatte sie ihn vor Weihnachten gesehen – an ihrem letzten Tag beim San José Police Department. Natürlich hatten die Kollegen sich das Maul darüber zerrissen, wie sie es wohl angestellt hatte, ohne die nötige Berufserfahrung vom FBI genommen zu werden, aber keiner von ihnen wusste von dem Empfehlungsschreiben, das Owen ohne ihr Wissen nach ihrer Zusammenarbeit im Fall Cassidy Maxwell aufgesetzt und nach Quantico geschickt hatte.

Es war nicht, dass Libby ihm dafür nicht dankbar war. Sie war ihm sogar sehr dankbar. Sie bereute jetzt aber, dass sie vor ihrem Umzug kein einziges Mal mit ihm ausgegangen war.

Sie hätte es tun sollen. Jetzt war sie seit fünf Wochen in Quantico und dachte immer noch ständig an ihn. Das wurde auch nicht dadurch besser, dass er ihr in regelmäßigen Abständen schrieb und sich erkundigte, wie es ihr ging. Ob es ihr in der Academy gefiel. Wie es war, das alles zusammen mit einer Freundin zu bestreiten. Und jedes Mal, wenn sie wieder eine Nachricht von ihm bekam, spürte sie, dass sie echte Gefühle für ihn hegte.

Vor ihrem Umzug hatte sie nicht mit ihm ausgehen wollen, um sich und ihm keine Hoffnungen zu machen. Es war ja nicht bloß, dass sie zur Academy ging – sie wollte in Quantico bei der BAU bleiben. Knapp dreitausend Meilen entfernt von San José, wo Owen eine gute Position als Detective bekleidete.

Sie wusste, dass er interessiert an ihr war. Er hatte es ihr deutlich gezeigt und das tat er auch immer noch, indem er ihr regelmäßig schrieb. Häufiger als ihr Ex-Freund Kieran, der seinen Traumjob in Seattle angetreten hatte und laut seiner Aussage wahnsinnig glücklich damit war. Das freute Libby, die nun ebenfalls ihren Traum vom FBI leben konnte – aber sie hatte Owen verloren.

Vor drei Wochen hatte sie schon einen schwachen Moment gehabt und ihm nachts im Bett vorm Schlafengehen nur einen Satz geschrieben: Du fehlst mir. Danach hatte sie wie hypnotisiert auf ihr Handy gestarrt und seine Antwort abgewartet. Die war prompt gekommen: Du mir auch. Sehr sogar.

Das machte es nicht besser. Sie hatte dann bedauert, dass Quantico so weit von San José entfernt war und er hatte geantwortet: Leider. Ich wünschte, ich wäre jetzt bei dir.

Mehr hatten sie darüber nicht geschrieben. Es war illusorisch, das wussten sie beide. Aber es versetzte Libby einen heftigen Stich ins Herz.

In diesem Moment hätte sie Julie und Kyle den Hals umdrehen können, denn die beiden verstanden sich bestens. Sie war schon fast froh, als Kyle nach dem Essen von einem anderen Rekruten angesprochen wurde und beschloss, ihn zu begleiten.

„Wir sehen uns später. Hat mich sehr gefreut.“

„Mich auch“, erwiderte Julie, während Libby bloß gequält lächelte. „Wir sehen uns!“

Gedankenverloren blickte sie Kyle hinterher, während Libby ihr Glas leerte und die Arme vor der Brust verschränkte.

„Was machst du denn für ein Gesicht?“, fragte Julie besorgt.

„Ach, nichts.“

„Sag schon.“

Libby seufzte tief. „Es ist ja nichts Neues. Gerade musste ich an Owen denken und versuche die ganze Zeit, mir zu sagen, dass es kein Fehler war, nach Quantico zu gehen.“

„Oh nein, nicht doch. Natürlich war das kein Fehler! Er hat dich doch empfohlen, er wollte das.“

„Ja, warum auch immer. Ich kriege ihn einfach nicht aus dem Kopf, verdammt noch mal!“

Mitfühlend legte Julie einen Arm um ihre Schultern. „Vielleicht findet sich eine Möglichkeit.“

Libby brummte nur missfällig. Daran glaubte sie nicht wirklich.

 

 

Donnerstag, 4. Februar

 

Während sie durch den Wald rannte, musste Libby an Jodie Foster denken, die als angehende FBI-Agentin Clarice Starling in der legendären Anfangssequenz des Films „Das Schweigen der Lämmer“ auch diesen Pfad gelaufen war.

Der Film war älter als Libby selbst, aber sie hatte ihn einmal in der Filmsammlung ihrer Eltern entdeckt und zum ersten Mal angesehen, noch bevor sie beschlossen hatte, auch zum FBI zu gehen. Seitdem hatte sie ihn mehrmals gesehen, weil Sadie gesagt hatte, dass er die FBI-Arbeit gar nicht so unrealistisch darstellte. Libby konnte das inzwischen bestätigen. Die Yellow Brick Road hatte im Film ziemlich anstrengend, nervtötend und schmutzig ausgesehen – und genau das war sie auch. Drei Meilen ging es durch einen Wald in Virginia, über Hürden, Kletternetze, Abhänge hinauf und hinunter, durch einen Bachlauf und am Schluss drei weitere Meilen einfach nur geradeaus, um zu beweisen, welch langen Atem man hatte.

Die Rekruten liefen den Pfad am Ende ihrer Ausbildung an der Academy in der Gruppe, aber um sich nicht bis auf die Knochen zu blamieren, hatte Libby sich fest vorgenommen, jede Woche mindestens einmal die ganze Strecke zu laufen, um ein wenig zu trainieren. Sie beneidete Julie, die zwar auch mitlaufen würde, für die es aber nicht extrem peinlich wurde, wenn sie den Pfad nicht schaffte. Libby war danach jedes Mal völlig erledigt und reif für die Dusche.

Während sie sich an einem Sicherungsseil festhielt und eine felsige Klippe emporkletterte, verfluchte sie ihre Entscheidung, an die National Academy zu gehen. Blöde Idee. Was hatte sie sich dabei gedacht?

Es war ein kühler, bewölkter Tag. Sie fror zwar nicht, aber die Luft war so kalt, dass es in der Lunge weh tat. Vor lauter Anstrengung hatte sie inzwischen einen widerlichen Blutgeschmack im Mund. Als sie endlich oben angekommen war, blieb sie kurz vornübergebeugt stehen, stemmte die Arme gegen die Oberschenkel und atmete tief durch. Den Hindernispfad im Wald hatte sie zu zwei Dritteln geschafft, aber ihre Knie waren längst weich. Sie war jetzt schon seit gut vierzig Minuten unterwegs. Wie sollte sie denn den Rest in einer akzeptablen Zeit schaffen? Alles, was über einer Stunde lag, war blamabel.

Als sie wieder halbwegs Energie hatte, rannte sie weiter. Bald hatte sie das aufgespannte Kletternetz erreicht, hangelte sich daran hoch und ließ sich auf der anderen Seite herab gleiten. Marines hatten diesen Folterpfad irgendwann für angehende FBI-Agenten erschaffen. Sadisten.

Aber Libby wusste, dass man als FBI-Agent topfit sein musste. Das war nicht bloß eine Behauptung. Die Narben und Geschichten ihrer Eltern hatten es bestätigt.

Also Schluss mit Jammern. Sie rastete wieder kurz und rannte dann weiter. Vielleicht reichte einmal die Woche trainieren auch einfach nicht.

Sie kletterte über eine Hürde und spürte, wie ihre Kleidung ihr am Leib klebte. Wenig später hatte sie den Hindernisparcours geschafft und musste nur noch drei Meilen weit laufen. Nur.

Als sie es endlich geschafft hatte, zeigte die Uhr an ihrem Handgelenk fast anderthalb Stunden. Mist. Sie musste wirklich besser werden.

Mit wackligen Beinen stakste sie in die Unterkünfte zurück, hatte sich ein Handtuch um den Hals gelegt und versuchte, die an ihrer verschwitzten Stirn klebenden Haare zu ignorieren. Sie stank bestimmt nach Schweiß.

Frustriert betrat sie ihr Zimmer und fand Julie am Schreibtisch vor ihrem Laptop. Ihre Freundin drehte sich um und zog überrascht die Brauen hoch.

„Oh Mann. Du siehst ja aus.“

„Ich hasse es“, knurrte Libby und streifte sich die Schuhe ab, ohne überhaupt die Schleifen zu lösen.

„Ich habe auch Respekt davor.“

„Du bist das doch noch gar nicht ganz gelaufen.“

„Nein, und wenn ich dich so sehe, vergeht mir auch die Lust …“

Libby erwiderte nichts, sondern riss sich vor dem Bad die verschwitzte Kleidung vom Leib, ließ alles am Boden liegen und verschwand unter der Dusche. Das tat gut. Während das warme Wasser über ihren Körper lief, wurde ihr klar: Sie hätte es schlimmer treffen können: Yellow Brick Road im Sommer. Das war ganz bestimmt der Overkill.

Sie wusch sich den Schweiß ab und kam langsam wieder zu Kräften. Als sie schließlich nur in ein Handtuch gewickelt und noch mit leicht feuchten Haaren zurück ins Zimmer ging, lächelte Julie.

„Na, geht es wieder?“

Libby nickte. „Jetzt ist es besser.“

Mit diesen Worten wühlte sie in ihrem Kleiderschrank herum und holte frische Sachen heraus. Neugierig blieb sie hinter Julie stehen und spähte über ihre Schulter.

„Aileen Wuornos“, sagte sie. „Du nimmst tatsächlich eine Frau.“

„Ja, die Idee hat mir gefallen. Gibt ja wirklich nicht allzu viele.“

„Nein, und von ihrem Typ schon gar nicht. Wo ordnest du sie ein?“ 

„Sie war eine machtorientierte Serienmörderin“, sagte Julie. „Überleg mal, sie wurde für die Morde an sechs Männern zum Tode verurteilt. Wenn man sich ihre Biografie anschaut, ist es ziemlich offensichtlich. Ihr Vater saß zum Zeitpunkt ihrer Geburt im Gefängnis und sie war vier Jahre alt, als ihre Mutter sie und ihren Bruder verlassen hat. Sie wurde schon als Kind von Familienmitgliedern vergewaltigt und hat mit fünfzehn das Kind ihres Bruders bekommen. Wenig später war sie obdachlos und hat sich fortan als Prostituierte durchgeschlagen. Das Leben hatte nur Scheiße für sie übrig, um es mal so zu sagen. Sie hat in Bars Streit gesucht und sich mit ihren Freiern angelegt. Irgendwann war ihr Hass auf die Welt so groß, dass sie es einfach nur noch allen zeigen wollte. Also hat sie ihre eigenen Freier erschossen und ausgeraubt.“

Libby nickte zustimmend. „Klingt logisch.“

„Wen nimmst du?“

„Ted Kaczynski, den Unabomber. Es ist vielleicht nicht schwierig, ihn zuzuordnen – er ist der missionsorientierte Typ. Ich finde den Fall aber wahnsinnig spannend.“

„Ist er auch“, stimmte Julie ihr zu. Libby hatte ihr Essay schon am Vorabend begonnen, sich dann aber so in der Recherche verloren, dass sie es noch nicht fertiggestellt hatte. Das war aber nicht schlimm, sie brauchte es erst am nächsten Tag.

Der University and Airline Bomber oder kurz Unabomber Ted Kaczynski hatte zwischen 1978 und 1995 sechzehn Briefbomben verschickt, die insgesamt drei Todesopfer und über zwanzig Verletzte gefordert hatten. Die Ermittlungen des FBI hatten über 50 Millionen Dollar gekostet und waren jahrelang mit einem gigantischen Aufwand betrieben worden, bis Kaczynski 1995 sein Unabomber-Manifest an zwei Zeitungen verschickt und angeboten hatte, mit dem Verschicken von Bomben aufzuhören, wenn das Manifest gedruckt würde. Daraufhin hatte sein eigener Bruder ihn anhand des Textes identifiziert und die Ermittler verständigt, die einen hochintelligenten Sonderling in seiner Hütte in Montana vorgefunden und festgenommen hatten.

Der Doktor der Mathematik hat einen IQ von 165, entschloss sich aber nach seiner Zeit an der Universität, als Selbstversorger und Einsiedler in Montana zu leben, weil ihm die zivilisierte Gesellschaft zuwider war. Sein Hass auf die Technologie und die moderne Gesellschaft nach der industriellen Revolution äußerte er im Verschicken von Bomben an Personen, die für ihn all das verkörperten, was er ablehnte.

Kaczynski zu nehmen war vielleicht nicht besonders kreativ, aber Nick hatte ihn ihr selbst vorgeschlagen, weil er wenig mit Sadisten zu tun hatte. Libby fand den Fall jedoch so interessant, dass es ihr nicht schwer fiel, darüber etwas zu schreiben.

Vorher war es jedoch an der Zeit für das Abendessen. Libby ging ins Bad, um sich umzuziehen. Sie war noch nicht ganz fertig, als sie ein Klopfen an der Tür ihres gemeinsamen Zimmers hörte und sich schnell den Pullover überzog. Julie ging zur Tür und Libby spähte aus dem Bad, während Julie die Tür zum Flur öffnete. Davor stand Kyle.

„Oh, hi“, begrüßte Julie ihn überrascht.

„Ich war gerade auf dem Weg zum Abendessen und wollte mal fragen, ob du Lust hast, mich zu begleiten.“

Julie lächelte. „Oh, das ist ja nett. Gerne. Libby?“

„Bin fertig“, sagte Libby und verließ das Bad. „Hi, Kyle.“

„Hi“, erwiderte er.

Libby und Julie zogen ihre Schuhe an und verließen das Zimmer. Kyle musterte Libby interessiert. „Du warst auf der Road.“

Libby nickte. „Sehe ich so zerstört aus?“

Darüber musste er lachen. „Nein, ich habe dich vorhin von dort aus dem Wald kommen sehen. Ist echt eine harte Strecke. Ich bin sie bislang zweimal gelaufen.“

„Oh, und ich dachte, ich wäre faul …“

Er grinste breit. „Nein, mich übertrifft man da so schnell nicht.“

Libby musterte ihn von Kopf bis Fuß, während sie die Treppe hinab liefen. „Dabei bist du doch gut gebaut.“

Überrascht zog er die Brauen hoch. „Du bist ganz schön direkt.“

Libby zuckte mit den Schultern. „Keine Angst, ich komme euch beiden schon nicht in die Quere.“

Kyle blickte verlegen zu Julie, die bloß lachte. „Libby hat eine große Klappe, da gewöhnst du dich dran.“

„Na ja, wenn ihre Mum schon beim FBI war …“

„Ihr Dad auch. Liegt bei ihr sozusagen in der Familie.“

„Wow. Und deine Mum ist auch Profilerin … vor euch muss man sich ja richtig in Acht nehmen.“

„Ach, wir sind ganz lieb. Oder, Libby?“

Während sie die Kantine betraten, nickte Libby. „Völlig. Außer bei Serienmördern.“

Kyle lachte. „Klingt so, als würdest du welche kennen.“

„Ja, ist aber schon eine Weile her.“

„Ernsthaft?“ Kyle machte große Augen.

„Ja, Brian Leigh, den Son of the Nightstalker. Den hat ein Freund meiner Mum, der beim FBI SWAT war, erschossen.“

„Okay … und ich dachte, ich hätte einen krassen Background.“

„Wieso, was hast du denn gemacht? Du hast gestern nur erzählt, dass du beim Chicago PD warst.“

„Ja, in der Gang Unit. Chicago hat ja ein gewisses Problem mit Gangs … und ich war dort auch schon einige Male undercover.“

„Cool“, sagte Libby.

„Cool?“, fragte Julie erstaunt. „Was ihr Amerikaner so cool findet.“

Das Gespräch wurde unterbrochen, weil sie sich etwas zu essen holten und nacheinander bezahlten, aber als sie zusammen am Tisch saßen, nahm Kyle das Gespräch wieder auf. Er zog den Ausschnitt seines Pullovers so weit zur Seite, dass man unterhalb seines Schlüsselbeins eine alte Schussnarbe sehen konnte.

„Angeschossen wurdest du also auch schon“, stellte Libby fest.

Er nickte. „Ich habe den Job trotzdem immer gern gemacht.“

„Würdest du so etwas beim FBI auch weiterhin machen wollen?“, fragte Julie.

„Schon, ja. Vielleicht. Je nachdem, wo ich so lande … Und was hast du vor, wenn du hier fertig bist? Gehst du zurück nach England?“

Julie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, drüben hat man als Profiler nicht dieselbe Bedeutung wie hier. Aber da ich keinen amerikanischen Pass habe, kann ich hier nicht zu den Ermittlungsbehörden gehen.“

„Könntest du denn hier nicht anders als Profiler arbeiten?“

„Ich weiß es nicht. Ich hoffe es. Ich mag die USA wahnsinnig gern und möchte unbedingt bleiben.“

Kyle lächelte. „Das wäre ja schön.“

„Ich habe im Herbst mein Studium beendet und war gerade dabei, mich zu orientieren. In England habe ich mich schon an den entsprechenden Stellen beworben und hatte auch hier in Quantico angefragt, wie das laufen würde. Ich wollte auf jeden Fall zur Academy gehen – am liebsten mit Libby zusammen, aber ich dachte, dass sie die nötige Berufserfahrung noch nicht hat und habe mich deshalb nicht offiziell beworben. Als Antwort kam dann aber gleich eine Einladung zurück und Nick Dormer hat mir geschrieben, dass Libby doch schon zur Academy geht. Und so sind wir jetzt beide hier.“

„Ist ja stark. Ihr kennt SSA Dormer?“

Julie nickte. „Er hat schon mit meiner und mit Libbys Mum zusammengearbeitet.“

„Das ist toll, wirklich. Man muss Glück haben, um hier genommen zu werden.“

„Oder gut sein“, sagte Libby. „Gang Unit in Chicago spricht ja sehr dafür, dass du es drauf hast.“

Kyle grinste. „Und du? Haben sie für dich eine Ausnahme gemacht?“

Libby überlegte erst, was sie antworten sollte, aber dann nickte sie. „Nach einem Empfehlungsschreiben eines Detectives beim San José PD, ja. Mir fehlten eigentlich noch anderthalb Jahre bei der Polizei.“

„Wow. Ich war jetzt fünf Jahre Polizist in Chicago. Was hast du denn angestellt, dass der Detective dich empfohlen hat?“

„Ich habe ihm das Leben gerettet“, sagte Libby nach kurzem Zögern und versteckte sich hinter ihrem Essen.

„Ach komm, erzähl doch mal. Das klingt nach einer tollen Geschichte.“

Libby zuckte mit den Schultern. „Na ja, die Typen, gegen die wir ermittelt haben, haben uns erwischt. Sie haben erst unsere verdeckten Ermittler erschossen und dann schnappte die Falle zu. Sie wollten uns beide umbringen, meinen Partner zuerst … und weil ich keine kugelsichere Weste mehr trug, hatte ich eine Chance, die Kerle anzugreifen. Ich beherrsche Kampfsport.“

„Jetzt erzähl schon die ganze Geschichte“, sagte Julie. „Die waren zu dritt, zwei waren bewaffnet und du hast Handschellen getragen.“

Kyle machte große Augen. „Ernsthaft?“

Libby nickte. „Am Ende hatte ich beide Waffen und zwei von ihnen waren tot.“

„Verstehe. Wenn der Detective das dem FBI geschildert hat, haben die sicher eingesehen, dass du keine zwei Jahre Berufserfahrung mehr sammeln musst …“

„Sieht so aus“, erwiderte Libby wortkarg.

„Nicht dein Lieblingsthema?“, fragte Kyle überrascht.

„Sie vermisst den Detective“, erwiderte Julie grinsend.

„Ah.“ Kyle grinste wissend. Libby beschloss, nichts dazu zu sagen, sondern starrte auf ihr Essen. Ja, sie vermisste Owen wahnsinnig. Die Art und Weise, wie Kyle Julie ansah, erinnerte sie an Owen. Er hatte sie auch manchmal so angesehen.

War es ein Fehler gewesen, zu gehen? Ja, sie hatte immer davon geträumt, Profilerin beim FBI zu werden. In der Behavioral Analysis Unit. Es hatte also keine Möglichkeit gegeben, an der Westküste zu bleiben.

Aber sie hatte es an ihren Eltern gesehen: Einen Partner zu haben, auf den man sich immer verlassen konnte, war so wahnsinnig viel wert – und bei Owen hatte sie dieses Gefühl gehabt. Da hatte sie sich angenommen und unterstützt gefühlt. Warum nur war die BAU in Quantico?

Sie hätte gern ausprobiert, ob ihr Gefühl sie trog. Vielleicht war es auch nur das Extreme an der Situation gewesen, das sie so für Owen hatte empfinden lassen.

Aber sie wusste, dass das nicht stimmte. Sie und Owen hatten sich zueinander hingezogen gefühlt und Owen hatte ein wahnsinniges Opfer gebracht, indem er ihr den Weg zum FBI geebnet hatte.

„Kino klingt gut.“ Julies Stimme holte Libby in die Wirklichkeit zurück. „Zwar möchte ich am liebsten wie ein Murmeltier am Wochenende schlafen, aber vielleicht schaffe ich es ja für eine Weile aus dem Bett …“

Kyle grinste. „Ich muss am Samstag auch noch trainieren und eine Ausarbeitung schreiben. Die gehen ja hier nicht davon aus, dass man sich am Wochenende auf die faule Haut legt.“

Während die beiden sich weiter unterhielten und offensichtlich voll auf einer Wellenlänge lagen, aß Libby auf und verließ den Tisch bald.

„Bin schon mal oben“, sagte sie zu Julie, die überrascht protestieren wollte, es dann aber doch nicht tat. Libby wollte ihr und Kyle den nötigen Freiraum lassen und die beiden nicht mit ihrer Trauermiene nerven.

Nein, sie hatte es immer noch nicht geschafft, Owen zu vergessen. Vielleicht würde sie es auch nicht. Auf ihrem Zimmer angekommen, setzte sie sich aufs Bett und griff nach ihrem Handy. Sie hatte ihren Nachrichtenverlauf mit ihm schon offen und überlegte, ihm zu schreiben, doch dann tat sie es nicht. Wenn sie ihm jetzt schrieb, dass sie ihn furchtbar vermisste und er auch noch entsprechend antwortete, war es ganz aus. Nein, gerade wäre es falsch gewesen, den Kontakt zu ihm zu suchen. Das hätte ihr nur vor Augen geführt, was sie nicht haben konnte.

Stattdessen setzte sie sich an ihren Laptop und öffnete das Essay über Ted Kaczinsky. Vielleicht half das dabei, sich abzulenken.

Sie hatte schon zwei Absätze geschrieben, als die Tür aufging und Julie hereinkam. Sie hatte einen zufriedenen Gesichtsausdruck, der aber sofort verschwand, als sie Libby ansah.

„Warum bist du vorhin abgehauen?“, fragte sie.

„Sah so aus, als wärt ihr prima ohne mich zurechtgekommen.“

„Schon, ja … er hat ein wenig mit mir geflirtet. Ich mag ihn. Er findet dich aber auch nett, glaube ich.“

„Klar, aber interessiert ist er an dir. Ist auch okay so. Er kann nichts dafür, dass unser Land so beschissen groß und Owen so weit weg ist.“

„Sag es ihm, Libby.“

„Und wie würde das helfen? Er hat sein Leben in San José.“

„Es macht mich fertig, dich so zu sehen.“

„Da muss ich jetzt durch. Aber es ist okay, wenn du dir Kyle angelst. Er ist in Ordnung.“

„Ist er“, sagte Julie und grinste.

 

 

 

 

 

Freitag, 5. Februar

 

Entschlossen zielte Julie und schoss. Libby, die schon fertig mit ihrer Trainingseinheit war, beobachtete sie zusammen mit Kyle und nickte anerkennend, als Julie auch fertig war.

„Nicht schlecht“, sagte Kyle, während Julie ihre Waffe sicherte und das Magazin herausnahm.

„Danke“, erwiderte sie verhalten.

„Doch, wirklich. Dafür, dass du in England noch nie eine Waffe in der Hand hattest, machst du das echt gut.“

Julie lächelte. „Danke. Lieb von dir.“

„Sehen wir uns später?“

Unsicher blickte Julie zu Libby, die sich ganz unbeteiligt gab. „Ja, vielleicht.“

„In Sam’s Inn unten in Quantico kann man gut was trinken gehen.“

„Okay. Wir werden sehen.“

„Meld dich einfach.“

Julie nickte Kyle zu, der zu seinen Freunden ging. Libby wartete kurz, bis Julie sie eingeholt hatte, und machte sich dann auf dem Weg zum Ausgang des Schießstandes.

„Ich muss nicht gehen“, sagte Julie, während sie die Tür aufstieß und die beiden ins Freie traten. Es war immer noch bewölkt und kühl, deshalb zog Libby ihre Sweatjacke fester um den Körper und verschränkte die Arme vor der Brust. Ein kalter Wind wehte ihr um den Kopf.

„Doch, mach ruhig.” Libby sah keine Veranlassung, dass Julie den Abend unbedingt mit ihr verbringen sollte. Die beiden liefen die Stufen hinab, um auf den Weg zu den Unterkünften zu gelangen, als Libbys Blick die Gestalt eines Mannes streifte, der am Fuß der Treppe stand und die Hände in seinen Jackentaschen vergraben hatte. Erst glaubte sie an Einbildung, aber dann schaute sie noch einmal genauer hin und blieb wie angewurzelt stehen.

Es war Owen. Er hatte sie bereits bemerkt und lächelte, während Libby nicht wusste, wie sie reagieren sollte. Jetzt hatte sie schon Wahnvorstellungen.

Nun blieb auch Julie stehen. „Was ist los?“

Als Libby nichts erwiderte, folgte sie ihrem Blick und lachte kurz. „Ich glaub, ich spinne.“

Owen löste sich aus seiner Starre und ging langsam auf die beiden zu. „Hey.“

Libby schluckte und musterte ihn erneut. Er wirkte fremd in der dicken Winterjacke. An seinem Gürtel fiel ihr eine unbekannte Dienstmarke auf.

Als Julie zu Libby blickte, lachte sie erneut. „Ist da einer zu Hause bei dir?“

„Überraschung“, sagte Owen und blieb vor Libby stehen.

In diesem Moment begriff sie, dass das keine Einbildung war und rannte die drei Stufen hinab auf ihn zu, um ihm um den Hals zu fallen. Sie umarmte ihn so stürmisch, dass er kurz ins Taumeln geriet, aber dann erwiderte er ihre Umarmung fest. Einen Arm hielt er um ihre Taille geschlungen, während er die andere Hand auf ihren Kopf gelegt hatte und über ihr Haar strich.

Libby konnte es nicht fassen. Ihn jetzt wirklich zu spüren, machte es echt. Plötzlich kam auch die Freude. Ein Zittern überlief sie und Tränen stiegen ihr in die Augen, dann schloss sie die Augen und hoffte, ihn nie wieder loslassen zu müssen.

Owen schwieg, während er sie im Arm hielt und sie versuchte, nicht die Fassung zu verlieren. Erst, als sie sich langsam von ihm löste, sah er sie mit einem sanften Lächeln an und sagte: „Ich habe mich so darauf gefreut, dich zu sehen.“

„Du hättest ja mal was sagen können! Was machst du hier? Und was ist das?“ Libby tippte mit den Fingern auf seine Dienstmarke.

„Hier.“ Owen nahm sie ab und drückte sie Libby in die Hand. Washington Metropolitan Police Department. Ungläubig sah Libby ihn an.  

„Ist das deine oder wie?“

Er nickte grinsend. „Ich bin seit Anfang der Woche hier.“

„Wie, du bist hier? In Washington?“

„Ja, ich bin jetzt Detective beim MPDC. Ich habe eine Wohnung in Arlington. Am Wochenende bin ich umgezogen.“

Libbys Augen wurden immer größer. „Du bist was?“

Jetzt lachte Owen. „Ich bin hierher gezogen. Ich habe beim SJPD gekündigt und eine Stelle als Detective hier in Washington bekommen.“

Libby war fassungslos. Sie wusste nicht, was sie erwidern wollte, sondern starrte nur wieder auf die Dienstmarke in ihrer Hand.

„Ich wollte die ganze Woche schon herkommen, aber es war immer schon so spät, als ich aus dem Büro gekommen bin, in meiner Wohnung funktioniert noch nichts wirklich und der Verkehr stadtauswärts über den Freeway ist mörderisch. Ich habe eine Ewigkeit gebraucht, deshalb habe ich es leider jetzt erst geschafft. Aber ich wollte dich überraschen, Libby. Deshalb habe ich dir nichts gesagt. Ich wusste nicht, ob es klappt und ich wollte nicht, dass du enttäuscht bist, wenn nicht …“

Sprachlos sah sie ihn an und schüttelte den Kopf. Sie suchte nach Worten und gestikulierte hilflos, dann sagte sie: „Warum hast du das gemacht?“

Owen legte seine Hand auf ihre, in der sie seine Dienstmarke hielt. „Deinetwegen natürlich.“

Dazu fiel ihr nichts ein. Ihre Lippen bebten und ihr schossen Tränen in die Augen. Wortlos fiel sie ihm erneut um den Hals und schloss ihn fest in die Arme. Zwar schaffte sie es jetzt nicht mehr, die Tränen zurückzuhalten, aber das war ihr gleich.

Beruhigend strich Owen ihr über den Rücken. „Tut mir leid. Ich hatte mir deine Reaktion etwas anders vorgestellt … Ich wollte dich nicht erschrecken.“

Libby lachte unter Tränen. „Du bist vollkommen verrückt, Owen Young! Was hast du dir dabei gedacht?“

„Selten hat sich etwas so gut angefühlt“, erwiderte er achselzuckend. Libby ließ ihn kurz los, aber dann zögerte sie nicht länger und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Owen grinste und griff nach ihrer Hand, während er ihren Kuss nur zu gern erwiderte.

Libby war so außer sich, dass noch mehr Tränen kamen. Unwillig wischte sie sie weg und rang nach Luft. „Tut mir leid, das sieht total bescheuert aus … aber ich freue mich so.“

Owen lächelte. „Ich weiß. Schon gut.“

„Ihr seid der Hammer“, sagte Julie von hinten. „So etwas habe ich ja noch nie gesehen.“

„Du musst Julie sein“, sagte Owen.

„Eilt mir mein Ruf voraus?“

Er lachte kurz. „So ungefähr. Nein, Spaß beiseite – Libby hat mir letztens geschrieben, dass sie dich um deine Locken beneidet. Du musstest es sein. Außerdem hört man deinen Akzent.“

„Ja, das höre ich hier dauernd.“

„Ich mag ihn.“

Julie grinste und sagte dann: „Ich bin froh, dass du da bist, Owen. Libby hatte wirklich Liebeskummer deinetwegen.“

„Ach so?“

„Du bist so gnadenlos“, sagte Libby zu Julie, bevor sie sich Owen wieder zuwandte. „Ich dachte ja, ich kriege dich irgendwie aus dem Kopf, wenn ich erst hier bin. Viel zu tun und so … Aber es hat nicht geklappt. Ich musste die ganze Zeit an dich denken und habe versucht, nicht zu bereuen, dass ich hergekommen bin.“

„Ach du liebe Güte. Hätte ich das gewusst …“

„Du bist total verrückt, Owen. Dass du das wirklich gemacht hast!“

Er zuckte mit den Schultern. „Mir ging es ähnlich wie dir. Ich saß in San José und habe mich für die geniale Idee beglückwünscht, dich selbst im Eilverfahren nach Quantico zu schicken … Ich hatte auch überlegt, dich noch um ein Date zu bitten, habe das dann aber auch für keine gute Idee gehalten. Doch als wir uns an deinem letzten Tag gesehen haben, dachte ich, dass ich wirklich einen Fehler mache, wenn ich dich gehen lasse. Andere Departments haben auch schöne Jobs, dachte ich … und tatsächlich haben sie in Washington gerade einen Detective gesucht.“

„Und offensichtlich hast du genau diesen Job bekommen.“

„Ja, unter anderem wegen unseres gemeinsamen Falles. Ich hatte einfach totales Glück. Das habe ich in den vergangenen vier Wochen gemacht – mich beworben, gekündigt, den Umzug durchgezogen. Und ich wollte dich hier überraschen.“

„Das ist dir auch gelungen!“

Er lächelte und sah ehrlich fröhlich dabei aus. Das zu sehen, machte Libby glücklich. Ohnehin fühlte sie sich gerade so gut wie lange nicht mehr.

Sie wandte sich an Julie. „Wenn du heute Abend mit Kyle weggehen willst, mach das. Ich habe jetzt auch eine Verabredung, glaube ich …“ Grinsend blickte sie zu Owen.

„Klar, mache ich. Wir sehen uns ja bestimmt auch noch mal“, sagte Julie zu Owen.

„Sicher. Ich freue mich drauf.“

Julie winkte und machte sich eilig auf den Weg zu ihrem Zimmer. Verlegen blieb Libby neben Owen stehen und gab ihm seine Dienstmarke zurück, dann sah sie ihn nachdenklich an und lächelte zaghaft.

„Dass du das einfach gemacht hast.“

Owen zuckte mit den Schultern, als wäre nichts dabei. „Ich musste. Da war etwas zwischen uns, das haben wir beide gespürt. Ich glaube, wir wollten es uns nur nicht eingestehen, weil du hierher wolltest.“

Libby nickte. „Ich hätte das nie von dir verlangt.“

„Ich weiß, aber ich wollte es einfach. Überleg mal, wie großartig das ist – Detective in Washington. Ich arbeite jetzt in der Nähe des Capitols. Ich habe es noch keine Sekunde bereut.“

„Ich kann das trotzdem nicht fassen.“

„Ich wusste, das hat alles nur eine Chance, wenn ich das einfach tue. Ich habe noch nie für jemanden empfunden wie für dich und deshalb wusste ich, dass ich es bereue, wenn ich dich ziehen lasse.“

„Danke …“ Erneut umarmte Libby ihn und küsste ihn anschließend. Sie legte die Arme auf seine Schultern, schloss die Augen und schenkte ihm einen tiefen Kuss. Hinter ihnen wurde Gejohle laut, einige andere Rekruten kamen gerade vom Schießstand und hatten sie entdeckt. Libby machte nur eine Handbewegung, um ihnen zu signalisieren, dass sie bloß verschwinden sollten, aber Owen ließ sie trotzdem los und sagte: „Das ist nicht der richtige Ort, ich will nicht, dass du dir irgendwas anhören musst.“

Sie nickte bloß und fragte: „Wie bist du überhaupt durch den Checkpoint gekommen?“

„Meine Dienstmarke ist ziemlich nützlich …“ Er grinste.

„Scheint so.“

„Ich weiß, wenn wir uns sehen wollen, muss ich herkommen, aber das ist kein Problem.“

„Wenn du das sagst.“

„Jetzt bin ich bloß noch eine Autostunde von dir entfernt. Das ist ja nichts.“

„Also … wir könnten auch in Quantico was trinken gehen, wenn du möchtest. Oder wir gehen hier spazieren … oder auf Julies und mein Zimmer. Sie wird ja gleich weg sein.“

„Entscheide du. Mir reicht es gerade völlig, in deiner Nähe zu sein.“

Libby strahlte und griff nach seiner Hand. „Am liebsten wäre ich gerade allein mit dir. Wer weiß, wen wir noch alles sehen, wenn wir nach Quantico gehen.“

„Ganz wie du magst.“

Libby nickte und ging voran zu den Unterkünften. Owen folgte ihr und seufzte, während er seinen Blick über alles schweifen ließ.

„Das hätte ich auch gern gemacht“, murmelte er.

„Sag das nicht. Sechs Meilen durch den Wald rennen ist nicht so lustig, wie es sich anhört.“

„Ich weiß. Das hätte ich trotzdem in Kauf genommen.“

„Es wäre auch toll, wenn du jetzt dabei wärst.“

„Ich bin trotzdem in der Nähe. Wir können uns immer sehen. Und wenn du erst mal fertig mit der Academy bist, sehen wir weiter.“

„Na, du hast dir ja schon Gedanken gemacht …“

„Ach, irgendwie sind die Pferde mit mir durchgegangen. Ich will dich nicht bedrängen, vergiss das nicht.“

„Tust du nicht. Alles gut.“

Owen lächelte und hielt ihr die Tür auf, als sie die Unterkünfte erreicht hatten. Libby bedankte sich bei ihm und ging voraus zu ihrem Zimmer. Unterwegs begegneten ihnen noch mehrere Rekruten und Julie, die gerade das Zimmer verlassen hatte.

Überrascht blieb sie stehen. „Oh. Da seid ihr ja.“

„Ich dachte, wir bleiben hier … in Quantico würde uns jeder sehen und lästern“, sagte Libby.

„Ja, kann sein. Na ja, ich bin jetzt erst mal eine Weile weg. Seid schön brav.“

Julie grinste breit, fing sich aber trotzdem einen Stoß von Libby ein und ergriff lachend die Flucht.

Kopfschüttelnd blickte Owen ihr hinterher. „Deine englische Freundin hat eine ganz schön große Klappe.“

„Mitunter schon, aber sie ist super. Ich genieße jede Minute mit ihr hier. Wir waren noch nie so lang zusammen – klar, bis jetzt hat sie am anderen Ende der Welt gewohnt.“

Sie hatten das Zimmer erreicht und Libby schloss die Tür auf. Vor dem Betreten schaute sie sich noch einmal skeptisch um, aber es war niemand zu sehen. Diesmal ließ sie Owen den Vortritt, der das schlichte Zweibettzimmer neugierig in Augenschein nahm.

„Gemütlich habt ihr es hier“, fand er.

Libby lächelte. „Ja, es ist ganz schön. Dass Julie hier ist, macht die Sache natürlich noch besser. Schau dich um, such dir einen Platz … besonders gastfreundlich ist es natürlich nicht, eigentlich dürfen wir ja keinen Besuch kriegen.“ Achselzuckend setzte sie sich auf ihr Bett und Owen nahm neben ihr Platz.

„Das passt schon. Ich weiß ja, wie das hier läuft. Mir ist gerade wichtig, dass ich bei dir bin – nichts sonst.“

Gerührt sah Libby ihn an. „So etwas hat noch nie jemand für mich getan.“

„Ich muss zugeben, dass die Westküste mir jetzt schon fehlt … Ich mag das Lebensgefühl in Kalifornien. Hier an der Ostküste ist es ja ganz anders und in Washington sowieso. Was für eine respekteinflößende, saubere Stadt.“

„Von dort aus wird das ganze Land gesteuert. Das merkt man.“

Owen nickte. „Es gefällt mir schon irgendwie. Polizist in Washington zu sein ist natürlich noch mal was ganz anderes als in San José … aber ich wollte dir einfach folgen. Ich habe kurz überlegt, ob das nicht verrückt ist, aber ich musste immer an dich denken. Es ging einfach nicht. Wir haben so viele Gemeinsamkeiten – und seit du mir das Leben gerettet hast, bin ich dir verfallen“, gestand er lachend.

„Oh, erinner mich nicht daran.“

„Tut mir leid. Mir war jedenfalls danach, was Verrücktes zu tun. Bis jetzt war es goldrichtig.“

Libby sah ihn gerührt an. „Kieran hätte das nicht gemacht.“

„Wie alt war er noch mal?“

„So alt wie ich. Er hatte gerade Geburtstag, er ist jetzt fünfundzwanzig.“

Owen machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach … in dem Alter glaubt man als Mann auch noch, man könnte jede haben. Da will man sich noch nicht festlegen. Aber nach der Trennung von meiner Verlobten und meinem dreißigsten Geburtstag habe ich anders darüber gedacht. Und mit dir …“ Er zögerte kurz. „Ich fand dich schon ziemlich süß, als wir uns das erste Mal gesehen haben.“

„Ach, deshalb wolltest du, dass ich mit dir zusammen die Ermittlungen führe“, neckte Libby ihn nicht ganz ernst gemeint.

„Nein, ach Quatsch. Ich habe deine Hilfe wirklich gebraucht. Aber dass du dann so tolle Arbeit geleistet hast und so taff an die Sache rangegangen bist, hat mich wirklich beeindruckt. Ich habe mir immer eine Partnerin gewünscht, die hinter meiner Arbeit steht, aber du liebst diesen Beruf selbst. Du bist so zielstrebig und gehst deinen Weg, das finde ich toll.“

„Kieran war das zu viel …“

„Der weiß auch nicht, was ihm entgeht“, sagte Owen achselzuckend. Libby rückte näher an ihn heran, legte eine Hand auf seine Wange und küsste ihn erneut. Owen legte einen Arm um sie und zog sie näher an sich heran. Sie küssten sich leidenschaftlich, was Libby sehr genoss.

„Bin ich froh, hier zu sein“, sagte Owen schließlich.

„Und ich erst.“

„Du konzentrierst dich aber trotzdem bitte auf deine Ausbildung hier! Das ist wichtig.“

„Ja, schon klar …“

„Ich bin jetzt in der Nähe, aber ich werde einen Teufel tun und dich ablenken.“

Libby lächelte. „Du bist süß.“

„Das ist mein Ernst. Ich schicke dich doch nicht den ganzen Weg nach Quantico und folge dir noch, damit du dann auf einmal Flausen im Kopf hast. Das wird nicht passieren.“

„Schon gut“, sagte sie und lehnte sich zufrieden an ihn. „Die Flausen überlasse ich Julie.“

„Wie hast du sie kennengelernt? Du sagtest mal, dass ihre Mutter auch Profilerin ist.“

„Ja …“ Libby seufzte und setzte sich wieder aufrecht. „Ich war noch kein ganzes Jahr bei den Whitmans, als Sadie und ihr früherer Chef Nick Dormer nach London zu einer Profiling-Konferenz eingeladen wurden. Damals war Hayley ein paar Monate alt und die Tagung fand genau in der Woche statt, in der Ferien wegen Thanksgiving waren, deshalb sind wir als Familie gereist. Matt und ich haben uns ein bisschen ums Baby gekümmert, während Sadie, Nick und Julies Mum auf der Tagung waren.“

„Cool. Ich will auch mal nach Europa.“

„Langer Flug“, sagte Libby und lachte. „Jedenfalls hat Julie nach der Schule mit Matt, mir und dem Baby ein bisschen Sightseeing gemacht. Die Kleine musste gewickelt werden, und als Matt damit beschäftigt war, haben Julie und ich etwas gesehen, was wir für einen medizinischen Notfall hielten. Es war aber bloß ein Trick von ein paar Russen, die sich auf Mädchenhandel verlegt hatten und uns in eine Falle locken wollten.“

Überrascht sah Owen sie an. „Ach du liebe Güte.“

„Ich war fünfzehn, Julie sechzehn. Ich war damals noch ziemlich schüchtern und unsicher, aber Julie hatte schon dieselbe große Klappe wie heute. Sie hat dafür gesorgt, dass ich fliehen konnte, aber die Sache hat uns ziemlich zusammengeschweißt. Damals habe ich echt zu ihr aufgeblickt und sie war so lieb zu mir … sie hat mich verstanden. Matt hat sie in einer ziemlich irren Aktion gerettet. Wir haben danach immer den Kontakt gehalten, sie hat mich schon zweimal in den USA besucht und ich war vor zwei Jahren in den Semesterferien auch mal in England. Es war immer schwer, Kontakt zu halten – die Zeitverschiebung macht es einem nicht leicht. Julie wollte wie ihre Mutter Profilerin werden, das war ihr relativ früh klar. Sie hat schon Psychologie studiert, als ich noch zur Schule gegangen bin. Und seit ich auch darauf hinarbeite, Profilerin zu werden, sind wir erst recht ein Herz und eine Seele.“

„Wow. Toll, dass sie tatsächlich einen der Plätze für Ausländer bekommen hat.“

„Da hat Nick ein bisschen nachgeholfen.“

„So wie ich bei dir?“ Owen grinste.

„Du hast es definitiv beschleunigt.“

„Das bereue ich auch nicht. Nicht, dass ich in San José unzufrieden gewesen wäre, aber diese Veränderung tut gerade gut. Ich verdiene hier sogar besser.“

„Du bist trotzdem verrückt, das einfach zu machen, ohne mir etwas zu sagen. Was hat dich so sicher gemacht?“

„Die Art, wie du auf mein Empfehlungsschreiben reagiert hast. Ich habe deutlich gespürt, wie zwiegespalten du bist. Einerseits so glücklich, weil du hierher gehen durftest, aber andererseits traurig, weil du meine Gefühle erwidert hast. Das war ziemlich offensichtlich. Und als du sagtest, dass dein Freund allein nach Seattle geht …“

Libby senkte den Blick und nickte. „Er hätte nie so hinter mir gestanden, wie du es gerade tust. So etwas wäre ihm nie eingefallen.“

„Schade, denn ich finde, du bist es wert.“

Schlagartig schoss Libby die Röte ins Gesicht und sie lachte verlegen. „Du machst mich fertig, Owen.“

„Was denn? Die Zusammenarbeit mit dir war toll. Du hast es echt drauf. Mach nur weiter so.“

„Wie mein Dad prophezeit hat. Aber er wusste auch vor mir, dass du mich magst.“

Überrascht zog Owen die Brauen hoch. „Wie das?“

„Ich habe ihm von dir erzählt. Er würde sich freuen, wenn er das hier wüsste.“

Das entlockte Owen ein Lächeln. „Du bist einfach genau mein Typ. Dich ziehen zu lassen, hätte ich mir den Rest meines Lebens vorgeworfen.“

Das war eigentlich zu schön, um wahr zu sein. Libby war immer noch damit beschäftigt, diese neue Entwicklung zu verarbeiten. Owen entschuldigte sich noch einmal dafür, sie damit so überrumpelt zu haben, dabei zählte auch für sie eigentlich das Ergebnis. Er war da – und sie liebte ihn für das, was er da für sie getan hatte.

Am liebsten hätte sie ihn gar nicht mehr gehen lassen. Es war etwa gegen halb elf, als Julie zurückkehrte und mit einem breiten Grinsen den Raum betrat, als sie Libby und Owen zusammen entdeckte.

„Ihr wart ja tatsächlich brav.“

„Hast du was anderes erwartet?“, fragte Libby.

„Oh, ich weiß nicht … so wie du mir seinetwegen in den Ohren gelegen hast …“

Owen lachte. „Ich bin ein anständiger Kerl, immerhin bin ich Polizist.“

„Sex kann etwas sehr Anständiges sein.“ Julie zog Jacke und Schuhe aus und setzte sich auf ihr eigenes Bett. „Libby hat nicht zu viel versprochen, du bist wirklich heiß.“

„Hattest du gerade nicht ein eigenes Date?“, fragte Owen stirnrunzelnd.

„Ja, na und? Darf ich nicht trotzdem eine Meinung zu dir haben?“

„Doch, darfst du. Libby hat mir vorhin erzählt, was ihr schon in England erlebt habt. Du hast es ja auch faustdick hinter den Ohren.“

„Na sicher. Deshalb bin ich hier.“

Owen stand auf. „Ich glaube, ich mache mich mal langsam auf den Rückweg. Denkst du, ich kann morgen wieder herkommen?“

Libby nickte sofort. „Ja, bitte, unbedingt. Sonst muss ich hier noch ausbrechen und nach Arlington kommen!“

„Was habe ich über Flausen gesagt?“ Owen umarmte sie fest und schenkte ihr zum Abschied einen tiefen Kuss. „Lästert nicht mehr zu lange über mich, ihr beiden.“

„Wir? Niemals“, erwiderte Julie breit grinsend. Libby begleitete Owen noch bis zur Tür und blickte ihm hinterher, als er über den Gang verschwand. Seufzend schloss sie die Tür hinter ihm und zuckte zusammen, als Julie einen Jubelschrei ausstieß und sagte: „Er ist dir echt hierher gefolgt, ist das zu fassen? Den Mann musst du heiraten!“

„Lass mich das erst mal verarbeiten.“

„Meine Güte, freust du dich denn nicht?“

Libby lächelte. „Doch, schon fast viel zu sehr.“

 

Samstag, 6. Februar

 

Als Libby am nächsten Morgen erwachte, fragte sie sich, ob das wirklich passiert war. Oder hatte sie sich Owens Anwesenheit nur eingebildet, weil sie es sich so sehr wünschte?

Sie streckte die Füße aus dem Bett und stand auf, wodurch Julie erwachte. Ihre Freundin war sofort voll da und grinste Libby breit an.

„Nicht zu fassen, dass er das wirklich gemacht hat! Ich weiß nicht, ob ich schon mal jemanden so etwas Süßes für einen anderen Menschen habe machen sehen.“

Libby lächelte scheu. „Das hätte ich ihm auch nicht zugetraut.“

„Du musst ihm ja wirklich wahnsinnig den Kopf verdreht haben. Das finde ich so toll! Du verdienst das, Libby. Das mit Kieran war verdammt blöd, aber so etwas würde Owen bestimmt nicht tun.“

„Im Moment freue ich mich einfach nur darüber, dass er da ist.“

„Deine Freude hätte ich mir etwas spektakulärer vorgestellt.“

„Es kam nur so überraschend. Gedanklich hatte ich mich eigentlich schon davon verabschiedet, ihn wiederzusehen …“

„Er steht einfach voll auf dich. Mein Kino-Date mit Kyle heute steht übrigens. Wenn du also gern ein bisschen Privatsphäre für dich und Owen hättest …“

Libby zog die Brauen hoch. „Denkst du, er will gleich ins Bett mit mir?“

„Weiß ich nicht. Ich wollte dir ja nur sagen, dass ich heute Abend mit Kyle ins Kino gehe.“

„Und was ist mit euch beiden? Ich meine …“

Julie zuckte mit den Schultern und grinste vielsagend. „Er hat ja auch noch ein Zimmer hier und einen Bettnachbarn, den er rauswerfen kann!“

Darüber lachte Libby nun doch. „Du hast es wirklich faustdick hinter den Ohren, Julie. Wenn ich mal dran denke, wie du damals in London meintest, wie sehr es dich nervt, dass Jungs alle nur an Sex denken …“

„Ja, da war ich aber auch noch Jungfrau und hatte keine Ahnung!“

Beide lachten, als Julie das sagte, doch ausgerechnet sie wurde schlagartig ernst.

„Sorry, war blöd von mir. Ich hab tatsächlich kurz nicht dran gedacht, was dieser Arsch damals gemacht hat.“

Überrascht sah Libby sie an. „Wen meinst du, Ron? Von dem lasse ich mir doch mein Sexleben nicht versauen. Das könnte ihm so passen.“

„Weiß Owen davon?“

Libby nickte. „Ja, ich habe es ihm erzählt. Er ist da wirklich super, er würde mich nie zu etwas drängen.“

„Na immerhin.“

„Das ist fünf Jahre her. Inzwischen trifft es mich nicht mehr.“

„Das ist gut. Wirklich.“

Libby lächelte und sagte: „Mal sehen, was wir heute machen. Ich frage Owen gleich erst mal, wann er herkommt.“

„Mach das … ich würde dann duschen gehen, wenn es okay ist.“

„Nur zu“, sagte Libby und griff nach ihrem Handy. Sie schrieb Owen eine Nachricht. Guten Morgen. Wann wirst du hier sein? Kann es kaum erwarten!

Es dauerte keine zwei Minuten, bis sie Antwort hatte. Ich muss noch duschen, frühstücken, einkaufen und meinem Internetanbieter wieder auf die Nerven gehen, dann komme ich. Wird Mittag werden. Ich melde mich. Ich freue mich schon total auf dich.

Ihr wurde warm ums Herz, als sie das las. Mit einem Lächeln legte sie das Handy weg und ging duschen, als Julie fertig war. Gemeinsam gingen sie zum Frühstück und beobachteten, wie die anderen zum Sport oder in die Bibliothek gingen. Heute würde sie sich ihnen nicht anschließen. Stattdessen las sie noch auf dem Zimmer ein wenig in ihren Büchern, was Julie ihr gleich tat. Keine Stunde später wurde sie vom Summen ihres Handys abgelenkt. Sie dachte an Owen, dabei hatte sie eine Nachricht von Sadie erhalten.

Wie geht es dir? Macht Quantico noch Spaß?

Libby grinste und rief kurzerhand zu Hause an. Offensichtlich waren ihre Eltern mittlerweile auch wach, aber selbst an der Westküste war es inzwischen kurz nach acht.

„Guten Morgen“, begrüßte Sadie sie erfreut. „Wir haben gerade von dir gesprochen und ich habe mich gefragt, wie es läuft.“

„Ist Matt bei dir?“

„Wir liegen noch im Bett.“

„Ihr habt es gut. Ich war schon mit Julie frühstücken. Ich rufe an, weil ich euch was erzählen muss.“

„Was kommt denn jetzt?“

„Ihr ahnt nicht, wer gestern Abend plötzlich hier aufgetaucht ist.“

Während Sadie nichts erwiderte, vernahm Libby Matts Stimme. Er hatte offensichtlich schon mitgehört. „Doch nicht etwa der Detective?“

Libby grinste. „Wenn du Owen meinst …“

„Genau den.“

„Woher weißt du das?“

Matt lachte. „Du klingst total aufgekratzt. Es konnte nur von ihm die Rede sein.“

„Ist das wahr?“, fragte Sadie.

„Ja … er ist hier. Und er bleibt hier. Er hat jetzt eine Position als Detective in Washington.“

„Gib mal her“, sagte Matt, dann hörte Libby seine Stimme plötzlich ganz laut. „Er ist dir an die Ostküste gefolgt?“

„Ja … er hat mir nichts davon gesagt. Gestern stand er einfach hier.“

„Habe ich es dir nicht gesagt?“

„Davon hast du überhaupt nichts gesagt!“

„Nein, aber dass er was für dich übrig hat.“

Libby lächelte. „Ja, du hattest Recht. Natürlich.“

„Er scheint wirklich in Ordnung zu sein. Das hätte nicht jeder getan.“

„Ich kann es auch immer noch nicht glauben.“

„Kann ich verstehen.“

Nun schaltete Sadie sich wieder ein. „Ich würde ihn zu gern kennenlernen.“

„Könnt ihr bestimmt noch. Er ist wirklich super.“

„Und sonst? Wie läuft es? Wie geht es Julie?“

„Bestens. Sie geht heute auch mit jemandem aus.“

„Ja, so ist das in Quantico“, sagte Matt. „Mich wollten sie auch verkuppeln, bis sie mich mal zusammen mit Sadie gesehen haben. Dann war Ruhe.“

„Das hast du mir nie erzählt!“, sagte sie empört und lachte.

„Das hättest du damals auch bestimmt nicht hören wollen.“

„Kann sein“, räumte sie ein und wechselte das Thema. „Du hattest jetzt auch schon einen Kurs bei Nick, oder?“

„Ja, das ist großartig. An sich gefällt es mir hier gut, auch wenn das Programm wirklich straff ist.“

„Ich will jetzt nichts hören, du bist zehn Jahre jünger als ich damals!“, beschwerte Matt sich.

„Du Armer. Hast es ja auch geschafft“, erwiderte Libby schlagfertig.

„Komm du mir nach Hause …“

Sie lachten gemeinsam.

„Ihr fehlt mir“, sagte Libby.

„Ja, Quantico ist verdammt weit weg. Das hat mich auch immer gestört“, sagte Sadie.

„Ich habe in Nicks Kurs wieder gemerkt, dass Profiling absolut mein Ding ist. Ich will das unbedingt machen. In der BAU.“

„Kann ich verstehen. Schade, dass das für Julie nicht möglich ist.“

„Es sei denn, sie heiratet ihr Date und beantragt irgendwann die Staatsbürgerschaft … ist er Amerikaner?“, fragte Matt.

Libby lachte. „Ja, ich glaube schon. Ich habe keinen Grund, was anderes anzunehmen.“

„Macht ihr erst mal schön die Academy zu Ende. Das wird noch hart genug.“

„Ja, danke, ich weiß. Ich bin ja erst seit fünf Wochen hier. Kommen noch fünfzehn …“

„Du packst das“, ermutigte Sadie sie. Libby hoffte es auch. Sie unterhielt sich noch ein wenig mit ihren Eltern, aber zwischendurch erreichte sie eine Nachricht von Owen, dass er jetzt unterwegs war. Deshalb beendete sie das Gespräch bald und verschwand noch einmal im Bad, um zu überprüfen, ob sie vorzeigbar war. Unter Julies wachsamen Blicken huschte sie zum Schrank und fischte andere Unterwäsche heraus.

„Habe ich dich jetzt auf Ideen gebracht?“, fragte Julie belustigt, während Libby wieder im Bad verschwand.

„Weiß ich nicht. Aber es ist wohl nie verkehrt, vorbereitet zu sein“, erwiderte Libby, während sie sich umzog und danach noch einmal kämmte.

Nein, sie hatte noch nicht darüber nachgedacht, was an diesem Tag passieren sollte. Sie musste ja immer noch begreifen, dass Owen jetzt wirklich da war. Aber sollte sich die Gelegenheit ergeben, war sie bestimmt nicht abgeneigt. Auch das ließ sie sich bestimmt nicht von Ron Hawkins versauen.

Sie unterhielt sich noch ein wenig mit Julie, bevor sie ihre Schuhe anzog und nach unten ging. Sie wollte auf dem Parkplatz auf Owen warten, damit er sich nicht so verloren vorkam. Als sie draußen war, dauerte es noch etwa zehn Minuten, bis er auftauchte. In dieser Zeit liefen andere Rekruten an ihr vorüber, die in kurzen Hosen trainierten. Dafür war es Libby viel zu kalt.

Schließlich kam Owen mit seinem Chevrolet Impala auf den Parkplatz gefahren und hielt in Libbys Nähe. Er hatte sogar noch sein kalifornisches Kennzeichen. Als er ausgestiegen war, schaute er sich erst argwöhnisch um, bevor er sie umarmte und mit einem Kuss begrüßte.

„Ist das schön, dich zu sehen“, sagte er.

„Ich bin immer noch dabei, mich daran zu gewöhnen.“

„Dich damit so zu überfallen war wirklich nicht meine beste Idee“, räumte er ein.

„Aber süß ist es.“

Er grinste. „Darfst du mir das alles hier zeigen oder …“

„Da du ein Cop bist und sozusagen mit zur Familie gehörst, würde ich sagen, das ist okay. Willst du das denn sehen?“

„Klar will ich das sehen. Es macht mir nichts aus, wenn du das meinst.“

„Und du bist ja auch deutlich als Cop erkennbar“, sagte Libby mit Blick auf seine Dienstmarke, die er wieder gut sichtbar am Gürtel trug.

Owen grinste. „Eben. Schon praktisch.“

Libby nahm ihn mit in die Unterkünfte, ins Hauptgebäude der Academy, zum Schießstand, zur Sporthalle und zur Yellow Brick Road. Sie zeigte ihm alles, was ohne weiteren Sicherheitscheck zugänglich war und aufgrund seiner Dienstmarke erntete Owen auch keine übermäßig fragenden Blicke.

„Ich muss zugeben, dass ich dich beneide“, sagte er. „Ich hätte das auch wirklich gern gemacht.“

„Du wärst auch ein toller Agent geworden.“

„Danke. Na ja, Detective in Washington ist auch was.“

„Hast du schon einen Fall? In welcher Abteilung bist du?“

„Mordkommission, wie in San José. Ich helfe meinem Partner Benny gerade beim Abschluss eines Falles. Bin gespannt, wann es richtig losgeht. Einen frischen Fall haben wir diese Woche nicht auf den Tisch bekommen.“

„Magst du deinen Partner?“

„Ja, er ist in Ordnung. Er hat schon eine Frau und zwei Kinder, er ist drei Jahre älter als ich. Sein letzter Partner wurde vor drei Monaten im Einsatz getötet. Eine Schießerei. Ihn hat es auch erwischt, aber nur leicht.“

„Oh.“

„Ja, es macht ihm auch noch etwas aus. Erst wollte er mir das gar nicht erzählen, aber ich sagte ihm, dass auf mich auch schon geschossen wurde. Das schockiert mich ja nicht. Wenn man Cop ist, weiß man, dass das passieren kann.“

„Mit der Sichtweise kommt ja nicht jeder zurecht.“

„Es ist doch die einzig gesunde, oder nicht?“

„Finde ich ja auch. Hat man Washington nicht mal die Mordhauptstadt genannt?“

„Ja, das war vor rund dreißig Jahren. Da würde Baltimore heute vor Neid erblassen. Aber die Cops hier wissen ja, was sie tun. Damals gab es noch fast fünfhundert Morde pro Jahr, inzwischen liegt die Zahl unter hundert.“

„Nicht schlecht.“

„Ja, deshalb bin ich auch so stolz, jetzt dazuzugehören. Hier einen Job zu kriegen war echt ein Traum. Ich hatte mich ja hier überall in der Gegend umgeschaut und auch auf andere Positionen beworben, aber dass das geklappt hat, ist schon super.“

„Wenn du damit zufrieden bist … Ich muss gestehen, ich wäre nicht damit klargekommen, hättest du jetzt meinetwegen ein riesiges Opfer gebracht.“

„Nicht, dass ich nicht dazu bereit gewesen wäre … aber nein, habe ich nicht. Zumindest fühlt es sich nicht so an. Ich habe ja auch etwas dafür bekommen.“

Sie standen allein am Waldrand, waren neugierigen Blicken verborgen und deshalb umarmte und küsste Owen Libby ziemlich leidenschaftlich. Libby schloss die Augen und genoss diesen Moment.

„Wollen wir später zusammen in Quantico was essen gehen?“, schlug sie vor.

„Sehr gern. Traust du dich heute?“

„Wir können uns ja jetzt nicht immer eingraben, oder?“

Er grinste. „Da hast du Recht.“

„Später können wir wieder aufs Zimmer gehen. Julie geht heute mit Kyle ins Kino.“

„Okay.“

„Lieb von ihr, oder?“

Owen zögerte kurz mit seiner Antwort. „Du gibst das Tempo vor, Libby. Ich erwarte nichts von dir, das solltest du wissen. Dass ich hergekommen bin, war allein meine Entscheidung. Alles andere bringt die Zeit.“

„Ich weiß. Schon gut, Owen. Das weiß ich zu schätzen.“

„Ich will nichts falsch machen, verstehst du?“

Libby lächelte. „Alles gut, wirklich. Am besten thematisierst du es gar nicht weiter, es ist ja schon fünf Jahre her. Ich sage schon Bescheid, wenn was ist.“

Owen fiel sichtlich ein Stein vorm Herzen. „Okay, ist gemerkt.“

„Trotzdem bin ich froh, dass du es weißt. Ich wüsste nicht, wie ich darüber jetzt noch mit dir sprechen könnte, ohne ein blödes Gefühl zu haben.“

„Musst du nicht. Ehrlich.“ Unvermittelt umarmte Owen sie wieder und drückte sie unerwartet fest an sich. „So etwas passiert dir nie wieder. Das lasse ich nicht zu.“

Libby lächelte und schloss die Augen, während sie den Kopf auf seine Schulter bettete. „Gerade habe ich Angst, dass alles nur ein Traum ist und ich plötzlich aufwache.“

„Ist es nicht. Ich bin wirklich hier.“

Sie spazierten weiter durch den Wald. Ab und an begegneten ihnen andere Rekruten beim Joggen. Libby fragte sich, was die sich wohl dachten, beschloss dann aber, dass es ihr egal sein konnte.

Owen war derjenige, den sie gerade brauchte. Ihn und niemanden sonst. Er war voll auf einer Wellenlänge mit ihr und stand hinter dem, was sie tat. Anstatt davon eingeschüchtert zu sein, unterstützte er sie noch.

Er bat sie, ihm von der Ausbildung an der Academy zu erzählen. Sie liefen stundenlang durch den Wald und redeten einfach nur. Es war zwar kühl, aber sonnig. Als sie irgendwann Hunger bekamen, kehrten sie zum Parkplatz zurück und fuhren die zwei Meilen bis in den Ortskern von Quantico hinein. Es war ein kleines, unscheinbares Städtchen, in dem man nicht besonders viel unternehmen konnte. Verhungern musste man dort jedoch nicht. Libby und Owen entschieden sich für Sam’s Inn und weil sie noch recht früh dran waren, hatten sie keinerlei Schwierigkeiten, einen Tisch zu bekommen.

Libby erkannte ein paar andere Rekruten, beschloss aber, sie zu ignorieren. Sie gaben ihre Bestellung auf und schwiegen für einen Moment, aber dann fragte Libby: „Hattest du denn gar keine Bedenken, mir einfach hierher zu folgen?“

Owen schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Ich dachte, dass du mich schon nicht wegschickst, wenn ich hier einmal vor dir stehe ...“

Jetzt lachte sie laut. „Du bist aber ganz schön selbstsicher.“

„Verliebt trifft es wohl eher. Da setzt der Verstand aus.“

Über den Tisch hinweg griff Libby nach seiner Hand. „Ich bin dir wahnsinnig dankbar.“

„Ich freue mich, wenn du dich freust. Aber ist schon verrückt, wie das mit uns angefangen hat.“

„Interessant wäre jetzt, wie es weitergeht. Du hast ja jetzt auf ein bestimmtes Pferd gesetzt …“

Owen grinste und senkte den Blick. „Geben wir uns ein bisschen Zeit. Ich weiß nicht, ob die Wohnung, die sich gerade mein Zuhause schimpft, etwas Dauerhaftes ist. Wird man sehen. Wir haben ja noch vier Monate Zeit, bis du hier fertig bist.“

„Ich träume nur gern“, sagte Libby und lachte.

„Das ist okay. Ich mag ja deine Energie.“

„Mein Dad war übrigens sehr zufrieden, als er gehört hat, was passiert ist.“

„Du hast es schon erzählt?“

„Ja, ich habe heute Morgen mit meinen Eltern gesprochen. Mehr zufällig eigentlich, aber ich habe es ihnen natürlich erzählt. Mein Dad hat sowieso unbekannterweise einen Narren an dir gefressen.“

„Ach so? Das klingt irgendwie beunruhigend …“

Libby lachte. „Nein, gar nicht. Freu dich doch.“

„Ja, sollte ich vielleicht. Ich habe ganz schön Respekt vor deinen Eltern, das muss ich sagen.“

„Sie sind super, glaub mir.“

„Das tue ich. Du hast wirklich Glück, so eine tolle Familie zu haben. Damit kann ich leider nicht dienen. Vielleicht bin ich auch deshalb hier – in San José hat mich nichts gehalten und und ich will es nicht machen wie mein Vater, der meiner Mutter nie wirklich gezeigt hat, was sie ihm bedeutet … ganz im Gegenteil. Nein, du bist mir wichtig und das zeige ich dir auch.“

Mit einem Lächeln griff Libby nach seiner Hand und drückte sie fest. In diesem Moment kam ihr Essen, aber auch sonst wäre sie nicht weiter darauf eingegangen. Sie hatte schon damals in San José gemerkt, dass Owen nicht besonders gern über seine Familie sprach und sie wollte ihn nicht verletzen.

In diesem Moment zählte ohnehin etwas anderes. Libby war einfach nur glücklich. So glücklich war sie schon lange nicht mehr gewesen.

Nach dem Essen bestellte sie sich noch einen Milchshake und sie brachen erst auf, als es schon längst dunkel war. Der Blick auf die Uhr verriet Libby, dass Julie wohl schon längst mit Kyle unterwegs war.

Langsam wurde es ernst. Während Owen für sie beide zahlte und keinerlei Widerrede gelten ließ, wurde Libby nervös. Sie war bis über beide Ohren verliebt und es kribbelte schon jedes Mal, wenn sie ihn küsste oder er sie umarmte. Sie war ja nicht verklemmt, aber das war alles so neu und aufregend. Die bloße Möglichkeit, ihm ganz nah zu sein, war so verlockend.

Sie gingen zum Auto und fuhren zurück zur Academy. Libby lotste Owen wieder in ihr Zimmer und bat ihn, es sich gemütlich zu machen. Interessiert studierte er die Bücher, die sie auf ihrem Schreibtisch gestapelt hatte, während sie noch ihre Jacke aufhängte.

„Du wirst eine großartige Profilerin, das weiß ich“, sagte er ermutigend.

„Wenn ich das hier denn schaffe.“

„Klar schaffst du das.“

Die beiden setzten sich nebeneinander auf Libbys Bett. Sie rutschte ganz nah an ihn heran. Sie mochte seinen Geruch, er hatte ein tolles Aftershave. Ihre Nervosität wuchs.

„Tut mir leid, dass wir uns jetzt immer hier treffen müssen“, sagte sie.

„Was? Wieso? Ich weiß doch, dass du keine Wahl hast. Das ist okay für mich.“

„Ich wünschte, ich könnte mit dir nach Arlington kommen, aber dass du hier bist, könnte mir schon genug Ärger bereiten.“

„Nein, ist schon gut. Ich wollte, dass du diese Chance hier bekommst, dann werde ich mich jetzt schon nicht beschweren.“

„Danke.“ Libby rückte näher an ihn heran und lehnte sich an ihn. „Es ist ja wie ein Traum, dass du überhaupt hier bist.“

„Ich gehe auch nicht mehr weg.“

Lächelnd reckte Libby den Kopf und küsste ihn. Owen legte die Arme um sie und zog sie fest an sich. Libby erwiderte seine Umarmung zu gern und strich über seinen Rücken. Owen schloss die Augen und ließ eine seiner Hände am Saum ihres Pullovers liegen. Als Libby die Berührung spürte, schob sie seine Hand unter ihren Pullover und lächelte.

„Du gehst aber ran“, raunte er leise.

„Beschwer dich doch.“ Sie zwinkerte ihm zu.

„Ich? Niemals.“ Langsam ließ er seine Hand nach oben wandern und berührte Libby durch den Stoff ihrer Unterwäsche. Ein Schauer überlief sie und sie schloss die Augen. Während Owen sie küsste, krallte sie ihre Finger in seinen Pullover. Augenblicke später beschloss sie, sich kurzerhand den Pullover auszuziehen und sah ihn mit einem Lächeln an. „Hör jetzt bitte nicht auf.“

Er erwiderte ihr Lächeln. „Dein Wunsch ist mir Befehl.“

Unter Küssen fuhr er damit fort, sie zu streicheln und streifte ihr schließlich den BH von den Schultern. Libby ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie ihm seine Erfahrung anmerkte, aber er war auch sieben Jahre älter als sie. Er war selbstbewusst und hatte einen guten Instinkt dafür, was ihr gefiel. Zwischendurch zog er auch seinen Pullover aus. Das war kein gänzlich neuer Anblick für Libby, aber er gefiel ihr. Owen hatte kräftige, breite Schultern und war muskulös gebaut. Für einen kurzen Moment hielt er inne.

„Wenn es irgendwas gibt, was ich nicht tun darf, lass es mich wissen. Ich will nichts falsch machen.“

Libby war in Gedanken schon ganz woanders, deshalb brauchte sie einen Moment, um sich bewusst zu machen, worauf er hinaus wollte. Sie lächelte, weil sie es toll fand, dass er daran gedacht hatte, und sagte: „Ich kann nicht unter dir liegen, da bekomme ich Panik.“

Owen nickte schnell. „Okay. Gar kein Problem.“

Als Antwort küsste sie ihn und setzte sich schließlich auf seinen Schoß. Owen hielt die Luft an.

„Das war doch Absicht.“

„Und wenn?“, fragte Libby leise und küsste ihn. Er legte die Arme um sie und begann, ihre Haut mit Küssen zu übersäen. Libby schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Owen nahm sich Zeit, um sie zu liebkosen und richtig in Fahrt zu bringen. Seine selbstbewusste Art gefiel ihr. Irgendwann stand sie auf und zog ihn mit sich hoch. Sie zogen sich gegenseitig die Hosen aus und Libby gab Owen schließlich einen sanften Stoß, der ihn aufs Bett beförderte. Grinsend ließ er sich von ihr aufs Bett dirigieren und wartete gespannt ab, während sie sich neben ihn legte. Als sie ihre Hand in seinen Shorts verschwinden ließ, hielt er die Luft an.

Für einen Moment genoss er es einfach nur, bevor er es ihr auf die gleiche Weise heimzahlte. Allerdings dauerte es nicht lange, bis Libby ihren Slip abstreifte und ihm die Shorts von den Hüften zerrte. Er griff nach seiner Jeans und fischte ein Kondom aus einer Hosentasche, an dem sie sich entschlossen zu schaffen machte, bevor sie sich kurzerhand auf ihn setzte. Owen beobachtete sie genüsslich dabei und erstarrte kurz, als sie eins wurden. Libby beobachtete ihn lächelnd und suchte sich langsam einen Rhythmus. Erst krallte Owen sich ins Laken, aber dann suchte er nach ihren Händen und verschränkte seine Finger mit ihren.

„Ich habe dich unterschätzt“, raunte er atemlos.

Libby grinste breit. „Gib’s zu, du stehst drauf.“

„Na klar …“

Solchermaßen angespornt, bewegte sie sich ein wenig schneller, beugte sich zu ihm herab und küsste ihn leidenschaftlich. Als Owen die Hände wieder auf ihre Brüste legte, warf Libby den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Sie genoss es, ihm so nah zu sein und sie liebte es, dass sie das Gefühl hatte, mit ihm auf Augenhöhe zu sein – in jeder Hinsicht. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass sie auch so selbstbewusst an die Sache heranging, aber er überließ ihr nur zu gern das Ruder. Als er sie mit einer Hand im Schoß streichelte, hätte sie fast geschrien.

Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zuletzt so leidenschaftlichen und lustvollen Sex gehabt hatte. Sie ließ sich einfach treiben, denn Owen wusste genau, wie er Hand anlegen musste, um sie in den Wahnsinn zu treiben. Als sie schließlich mit einem unterdrückten Schrei zu explodieren glaubte, riss sie ihn gleich mit und beugte sich keuchend zu ihm herab. Er schenkte ihr einen tiefen Kuss.

„Ich liebe dich“, sagte er dann.

Libby lächelte. „Ich dich auch, Owen.“

Erneut küsste sie ihn, bevor sie mit wackligen Knien aufstand und für einen kurzen Moment im Bad verschwand. Auf dem Rückweg zog sie ihren Slip wieder an. Owen hatte sich ebenfalls schon seine Shorts geschnappt und als er sich ins Bett legte, versuchte er, sich möglichst schmal zu machen und winkte Libby zu sich. Sie schmiegte sich an ihn und lächelte, als er ihre Decke über sie beide breitete.

„Das war unglaublich“, raunte er ihr ins Ohr.

Glücklich sah sie ihn an. „Ich hätte nie geglaubt, dass es dazu noch einmal kommt.“

„Klar, das lag jetzt in meiner Hand.“

„Ich hätte dich niemals darum gebeten.“

„Ich weiß.“ Owen küsste sie auf die Stirn.

„Jetzt schulde ich dir wirklich was.“

„Nein, tust du nicht. Du hast mir das Leben gerettet, schon vergessen? Ich werde das jedenfalls nie vergessen.“

„Nein, ich auch nicht. In dem Moment hatte ich solche Angst um dich, dass mir klar wurde, was ich eigentlich schon für dich empfinde. Ich saß nur so zwischen den Stühlen wegen Kieran und Quantico, dass ich es mir selbst kaum eingestehen wollte.“

„Eigentlich kann jetzt gar nichts mehr schiefgehen, oder?“

„Ich hoffe es“, sagte Libby.

Eine ganze Weile lagen die beiden einfach nur da und redeten über alles, was ihnen einfiel. Irgendwann vibrierte Libbys Handy. Es war eine Nachricht von Julie, in der sie ihre Rückkehr ankündigte. Libby zeigte Owen die Nachricht, woraufhin die beiden aufstanden und sich wieder anzogen.

„Ich will gar nicht fahren“, murmelte Owen.

„Ich hätte auch gern, dass du bleibst, aber das geht nicht.“

„Das will ich deiner Freundin auch nicht zumuten, schließlich ist das euer Zimmer.“

„Du bist einfach großartig.“ Libby küsste ihn und begleitete ihn schließlich unwillig bis zum Auto. Dort verabschiedete er sich mit einem Kuss und machte sich schließlich auf den Heimweg. Libby blickte ihm noch nach, bis das Auto nicht mehr zu sehen war und kehrte dann auf ihr Zimmer zurück. Als sie die Tür öffnete, war sie überrascht, Julie schon im Zimmer vorzufinden. Sie hängte gerade erst ihre Jacke auf und grinste Libby breit an.

„War es schön?“

„Was zum Teufel …“

„Was macht man, wenn man an einen Tatort kommt? Man versucht, nichts zu verändern und betrachtet die Spurenlage.“ Mit einer Kopfbewegung deutete Julie auf Libbys Bett. „Ziemlich offensichtlich, oder?“

Libby knuffte sie fest in die Seite, so dass Julie ein empörtes Geräusch machte. „Du bist eine Nervensäge.“

Jetzt lächelte Julie versöhnlich. „Schon gut. Ich freue mich für dich. Er hat es bestimmt drauf, oder?“

Grinsend erwiderte Libby: „Ich könnte mich dran gewöhnen …“

 

 

 

 

 

 

Sonntag, 22. März

 

„Ganz schön mutig, einfach alle Zelte abzubrechen und auf blauen Dunst hier neu anzufangen. Ich gebe ehrlich zu, dass ich nicht sicher bin, ob ich mich das getraut hätte“, sagte Kyle.

Owen zuckte mit den Schultern. „Es gehörte vielleicht eine gewisse Portion Wahnsinn dazu, aber ich habe das nie ernsthaft angezweifelt.“

„Sie hätte hier in Quantico jemand anderen kennenlernen können.“

„Ich war mir meiner Sache einfach sehr sicher.“ Owen grinste unbeeindruckt und tastete unter dem Tisch nach Libbys Hand. Sie wandte den Kopf zu ihm und lächelte.

Es war nun das allererste Mal, dass sie zu viert miteinander ausgingen. Owen und Kyle waren einander schon mehrmals kurz begegnet und hatten da bereits festgestellt, dass sie einander sympathisch waren. Kurzerhand hatte Libby ein Essen zu viert in Quantico vorgeschlagen – eine Idee, die den anderen gut gefallen hatte.

Julie und Kyle waren inzwischen auch ein Paar. Libby beneidete ihre Freundin darum, dass sie Kyle eigentlich dauernd sah, denn diesen Luxus hatte sie mit Owen nicht. Er kam abends unter der Woche nach Quantico, wenn er es einrichten konnte, was ihm mit Glück an zwei Tagen gelang. Am Wochenende verbrachte er meist einen ganzen Tag mit ihr und er hatte auch schon in Quantico übernachtet. Kyles Mitbewohner hatte die Academy verlassen, weshalb Kyle für kurze Zeit ein Einzelzimmer gehabt hatte – eine Chance, die er und Julie natürlich nicht ungenutzt gelassen hatten.

Allerdings musste Libby zugeben, dass sie auch gar nicht mehr Zeit für Owen hatte. An den anderen Abenden und auch am Wochenende brauchte sie Zeit, um noch Aufgaben für die Academy zu erledigen. Im Augenblick saß sie an einer Ausarbeitung über Brian Leigh für Dormers Profiling-Seminar. Er hatte verschiedene Aufgaben verteilt: Wer aus persönlicher Erfahrung von etwas berichten konnte, das im Seminar interessant sein konnte, sollte das tun – und die anderen bekamen von ihm unterschiedliche Fallbeispiele, anhand derer sie selbst ein Profil erstellen sollten. Ein Profil von Brian Leigh sollte Libby auch ausarbeiten. Nick wusste, dass sie das alles selbst machen und nichts von dem verwenden würde, was Sadie damals über ihn erarbeitet hatte. Das wäre Libby auch zu einfach gewesen.

„Ganz unkompliziert dürfte es nach Abschluss der Academy für euch aber auch nicht werden, oder? Sollte Julie nach Hause zurückkehren, ist sie noch weiter weg, als Libby von mir entfernt war“, holte Owens Stimme Libby in die Gegenwart zurück.

Julie winkte ab. „Hör bloß auf. Ich arbeite gerade daran, eine Arbeitserlaubnis für die USA zu bekommen. Ich will nicht zurück. Aber je nachdem, wie lang das dauert, muss ich zurück, bis das bewilligt wird …“

Kyle zuckte mit den Schultern. „Natürlich musste ich mir unbedingt eine Engländerin aussuchen. Aber ich finde den Akzent so sexy!“

Julie lachte laut. „Manchmal bist du so verrückt, Kyle.“

„Das wird schon irgendwie. Wir machen uns gerade nicht so viele Gedanken darüber – ich weiß ja noch nicht, wo ich nach der Academy lande, und entsprechend haben wir keine Ahnung, wie es weitergehen wird.“

„Hm“, machte Owen. „Da sind Libby und ich eindeutig besser dran.“

„Aber du hast doch deine fünf bevorzugten Einsatzorte sicher schon angegeben“, sagte Libby.

„Klar“, erwiderte Kyle. „Mein Favorit wäre New York City, aber ich könnte mir auch Washington, Philadelphia oder Atlanta vorstellen. Chicago ist auch auf der Liste, da habe ich immerhin schon Kontakte, aber ich müsste nicht unbedingt zurück. Und du?“

Libby zuckte mit den Schultern. „Dormer sagt immer, er will mich in seinem Team. Er hat ja hier schon so einiges möglich gemacht, nicht zuletzt Julies Start hier mit mir, von daher mache ich mir da wenig Sorgen. Quantico ist meine Erstwahl, gefolgt von Washington, Baltimore, San Francisco und Los Angeles. In der Heimat braucht es sicher auch Profiler, aber ich rechne nicht ernsthaft damit, dass es mit Quantico nicht klappt.“

„Das wäre ja auch lächerlich – Owen ist extra für dich hergekommen und plötzlich landest du in Los Angeles …“ sagte Kyle grinsend. 

„Dann ziehe ich eben wieder um“, sagte Owen gleichmütig. „Mir war von Anfang an klar, dass ich mich da nach Libby richten werde. Richten muss, genauer gesagt.“

„Bei uns ist es anders herum“, sagte Julie. „Du gibst den Ton an, Kyle.“

„Das FBI, um genau zu sein. Du brauchst wirklich einen amerikanischen Pass, Jules …“

Kyle war der Erste, der Julie diesen Spitznamen verpasst hatte, aber sie mochte es. Libby fiel es noch schwer, sich daran zu gewöhnen, aber ihr musste es auch nicht gefallen. Julie war ziemlich verknallt in Kyle und träumte inzwischen in den buntesten Farben davon, für ihn in den USA zu bleiben.

„Heirate mich doch.“ Julie grinste breit.

„Wir werden sehen. Mache ich vielleicht, wenn du brav bist“, neckte Kyle sie.

„Macht es deinen Eltern nichts aus, wenn du plötzlich so weit entfernt lebst?“, fragte Owen Julie.  

„Von meinen Eltern will ich dazu gar nichts hören, speziell von meiner Mum. Sie ist damals auch aus Deutschland gekommen und für meinen Dad in England geblieben, genau wie seine Mutter zuvor auch. Das kennen die Thorntons schon.“

„Aber die Distanz zwischen England und Deutschland ist schon eine andere.“

„Ach, mal sehen, wie das alles wird. Im Moment habe ich ja keinen Einfluss drauf“, sagte Julie achselzuckend.

„Ich hoffe, das Bureau entscheidet weise“, sagte Kyle. „Ich könnte mir ja auch vorstellen, mit Jules zusammenzuarbeiten. Wie war das mit Libby?“

„So gut, dass ich ihr einmal quer durch die USA gefolgt bin“, erwiderte Owen grinsend.

„Libby hat mir mal erzählt, dass sie dir das Leben gerettet hat und wie das abgelaufen ist. Da kann ich echt nicht mithalten, auch wenn ich selbst schon die eine oder andere brenzlige Situation erlebt habe.“

„Libby hat erzählt, du wurdest auch mal angeschossen“, sagte Owen.

„Ja, das war bei der Festnahme eines Mitglieds der 18th Street Gang. Ich war als verdeckter Ermittler unterwegs und hatte mit den Kollegen den Zugriff abgesprochen, aber wie es der Teufel will, hat der fünfzehnjährige Bruder desjenigen, den wir festnehmen wollten, genau in dem Moment aus dem Fenster geschaut, als die Leute vom SWAT das Haus umstellen wollten. Ich weiß bis heute nicht, wie der dazu kam, aber er hat einem der SWAT-Männer genau ins Gesicht geblickt. Um meine Tarnung nicht auffliegen zu lassen, musste ich weiterhin so tun, als stünde ich auf der falschen Seite. Das wussten die Leute vom SWAT zwar, aber wie das eben so ist in einer Schießerei, wurde ich getroffen. Von unseren eigenen Leuten. Das war mehr oder weniger ein Blindgänger und es war auch keine schlimme Verletzung, aber blöd war es natürlich trotzdem.“

„Blöd“, wiederholte Owen grinsend. „Das wäre jetzt nicht meine Beschreibung gewesen.“

„Hat es dich auch schon mal erwischt?“

„Nein, immer nur meine Weste. Aber ich bin irgendwie ein echter Kugelfänger …“

Sie amüsierten sich prächtig darüber und tauschten Geschichten darüber aus, was sie schon alles erlebt hatten. Libby hatte da definitiv am meisten zu erzählen, woraufhin Kyle schließlich sagte: „Mit deinen beiden FBI-Eltern konntest du ja eigentlich nur hier enden.“

„Dabei war das erst gar nicht der Plan. Es hat ein bisschen gedauert, bis ich mir wirklich überlegt habe, dass ich zum FBI will.“

„Und welche spannenden Geschichten hast du so zu erzählen?“, erkundigte Owen sich bei Julie.

„Als ich zehn war, bin ich von den Mitgliedern der Continuity IRA entführt worden, die den Ebola-Anschlag auf das Parlament in London verüben wollten“, sagte sie.

„Was … warte. Diese Verrückten, die London mit Ebola verseuchen wollten?“

Julie nickte. „Genau die. Ich habe sie zufällig dabei beobachtet, wie sie den Anschlag vorbereitet haben, ohne zu wissen, was ich da sehe. Sie haben mich aber bemerkt und solange eingesperrt, wie sie da zugange waren, damit ich sie nicht verraten konnte.“

„Wow. Wie lang ist das jetzt her?“

„Fünfzehn Jahre. Erinnerst du dich daran?“

„Schon, ja. Das war auch hier in den Nachrichten. Ich kann mich nur nicht daran erinnern, dass du da involviert warst.“

„Ja, das wurde in den Nachrichten nicht erwähnt. Aber ich war mit meiner Mum und ihrem Kollegen von der Polizei in den Houses of Parliament und habe den dortigen Anschlag verhindert, weil ich einen der Typen wiedererkannt habe.“

„Das ist aber auch nicht von schlechten Eltern!“

Julie zuckte mit den Schultern. „Damals war das alles mehr ein großes Abenteuer für mich. Ich muss aber zugeben, dass ich den Beruf meiner Mum immer spannend fand.“

„Von eurem gemeinsamen Abenteuer hat Libby mir schon erzählt.“

„Abenteuer ist gut … aber du hättest ihren Dad sehen sollen, wie er da in bester Geheimdienstmanier bloß mit einem Messer bewaffnet die Russen auseinandergenommen hat. Ich hab das ja leider nur zum Teil gesehen, weil er mich weggeschickt hat, aber das hat schon gereicht. Allein gegen fünf.“

Owen blickte zu Libby. „Langsam will ich deinen Dad wirklich kennenlernen.“

„Oh, Matt hat öfter solche Aktionen gebracht. Schießereien mit Mexikanern im Wohnzimmer, Prügeleien mit Serienmördern … da ist er immer dabei.“ Sie grinste.

„Ihr seid wirklich eine unglaubliche Truppe“, sagte Kyle.

„Wer weiß, was noch kommt“, sagte Julie im Scherz.

Sie genossen den Abend und hatten viel Spaß zusammen. Es freute Libby, zu sehen, wie gut sich auch Kyle und Owen verstanden. Noch wusste wirklich niemand, was die Zukunft brachte, aber es hätte sie gefreut, wenn sie irgendwie den Kontakt hätten halten können. Besonders die Aussicht, dass Julie vielleicht blieb, gefiel ihr, auch wenn noch in den Sternen stand, ob das alles klappte.

Schließlich brachte Owen die anderen mit seinem Auto zu den Unterkünften zurück. Julie und Kyle verabschiedeten sich von ihm, während Libby sich noch ein wenig mit ihm an seinem Auto herumtrieb. Sie wollte noch nicht auf ihr Zimmer gehen.

„Wann sehe ich dich wieder?“, fragte sie.

„Mal sehen … morgen wird vermutlich ein langer Tag. Ich versuche, es am Dienstag zu schaffen.“

„Okay.“ Libby legte die Arme um ihn und küsste ihn. „Ich bin so froh, dass du hier bist.“

„Und ich erst. Das war die beste Entscheidung.“

Sie lächelte, stand noch ein wenig eng umschlungen mit ihm da und rang sich schließlich doch dazu durch, aufs Zimmer zu gehen.

„Ich liebe dich“, sagte sie, bevor sie sich von ihm löste und zum Gebäude ging.

„Ich dich auch“, erwiderte Owen, dann stieg er in sein Auto. Libby betrat das Gebäude mit einem Gefühl von Unruhe, wusste aber nicht, warum. Sie drehte sich noch einmal um und sah, wie Owen mit seinem Impala davonfuhr.

 

 

 

 

 

 

Montag, 23. März

 

„Manchmal sind es die Blutspuren, die eine Aussage widerlegen oder bestätigen. Wir unterscheiden allgemein zwischen Blutspritzern, Blutstropfen oder Transfermustern. Blutspritzer kommen zustande, wenn Blut sich von einer Wunde oder einem Gegenstand ausgehend durch Fliehkräfte verteilt und auf eine Oberfläche trifft.“ Hartwood zeigte anhand mehrerer Fotos in seiner Präsentation, was er meinte.

„Tropfen sind deutlich langsamer und hinterlassen andere Spuren. Sie treffen auf einen Untergrund, platzen dort regelrecht, rinnen irgendwo herunter und hinterlassen eine kleine Spur. Sie bewegen sich häufig deutlich passiver. Anhand dessen können Sie bestimmen, ob eine Blutspur möglicherweise erst nach dem Tod entstanden ist oder schon im Augenblick der Tötung durch den Angreifer hervorgerufen wurde.“  

Auch diesmal zeigte Hartwood auf Bildern, was typisch für Muster war, die durch Blutstropfen hervorgerufen wurden.

„Zum Schluss möchte ich noch auf Blutspuren eingehen, die durch den Transfer von anderen Flächen oder Gegenständen hervorgerufen wurden – Schleifspuren auf dem Boden etwa oder blutige Handabdrücke.“ Er rief neue Bilder auf. „Sie sehen, dass die entsprechenden Muster relativ charakteristisch wirken und viel über ihre Herkunft verraten. Es gibt aber auch sehr blutige Tatorte, bei denen im Nachhinein schwer zu sagen ist, was wann seinen Ursprung genommen hat.“

Das Forensik-Seminar hatte es Libby ebenfalls angetan, wenn auch nicht so sehr wie die Kurse in Profiling und Verhaltensforschung. Die liebte sie wirklich, das hätte sie sich den ganzen Tag lang anhören können. Im Forensik-Seminar lernte sie etwas über Fingerabdrücke und die Datenbank CODIS, in der sie gespeichert wurden, sie hatten schon über DNA-Profile und die Datenbank VICAP gesprochen, über Faserspuren, Ballistik, Toxikologie und sogar die Entwicklung von Insekten auf Leichen.

Während sie noch ihren Gedanken nachhing, rief Hartwood ein neues Foto auf. „Dieser besonders blutige Tatort befindet sich im Schlafzimmer von Antonio und Catarina DiMillo in Central Alameda, Los Angeles. Dort tötete vor zehn Jahren der Serienmörder Brian Leigh das ahnungslose Ehepaar in seinem Bett mit einer Axt.“

Libby beugte sich vor. Sie sah überall nur Blut – an der Wand, auf dem Bett, selbst an der Decke. Es sah fast aus, als hätte jemand großzügig mit einem Gartenschlauch Blut verteilt. Das war es jedoch nicht, was sie daran schockierte. Es war Sadies Fall gewesen. Libby konnte sich daran erinnern. Sie hatte damals erst seit einigen Monaten bei Sadie und Matt gelebt und Brian hatte Sadie und Detective Nathan Morris, mit dem sie gemeinsam ermittelt hatte, mit Briefen genarrt. Auch in diesem Fall hatte er einen geschrieben.

Auf dem nächsten Foto sah man die Leichen der DiMillos. Brian hatte ihnen die Schädel bis zur Unkenntlichkeit zertrümmert und versucht, der Frau den Kopf abzutrennen. Hartwood zeigte Nahaufnahmen der einzelnen Blutspuren: Kleine Spritzer, die von der Axt gegen die Wand geschleudert worden waren und längliche Spuren hinterlassen hatten. Tropfen, die an der Wand gelandet und herabgelaufen waren. Hartwood zeigte ihnen auch, dass Brian manches absichtlich mit der Hand verschmiert hatte, damit es schockierender aussah.

Julie saß ebenfalls reglos neben Libby und starrte auf die Fotos, die Hartwood vom Tatort zeigte. Libby hatte die Bilder noch nie gesehen, Sadie hatte ihr nur einmal von diesem Tatort erzählt und davon, dass man das Blut in der Luft hatte riechen können.

Während Hartwood über die Bedeutung von Untergrundmaterialien für die Blutspuranalyse sprach, raunte Julie Libby zu: „Mir wird ganz schlecht, wenn ich mir vorstelle, dass dieser Scheißkerl Brian sich an dich rangemacht und dich zweimal gekidnappt hat.“

Libby nickte kaum merklich. „Er war genau so krank, wie man aufgrund dieser Fotos vermuten würde.“

Julie nickte nur. Bis zum Ende des Kurses hörten sie Hartwood zu und verließen schließlich den Seminarraum. Libby wurde sich wohl nie daran gewöhnen, dass Fälle, die sie von ihrer Mutter kannte, ihr ohne Vorwarnung an der Academy begegneten. Beim FBI nahm niemand Rücksicht darauf, was sie auch richtig fand, aber manchmal erwischte es sie eben kalt.

Sie schlenderte gerade mit Julie in Richtung Treppenhaus, um auf den Weg zur Kantine zu machen, als ein fremder Mann im Anzug sich ihr mit ernster Miene in den Weg stellte.

„Miss Whitman?“, sagte er und sah ihr direkt in die Augen.

Überrascht blieb Libby stehen. „Richtig, das bin ich.“

„SSA Adam Green. Bitte begleiten Sie mich, ich muss mit Ihnen sprechen.“

Na, das klang ja gefährlich. Libby tauschte einen vielsagenden Blick mit Julie und begleitete den Mann zu den Aufzügen. Julie machte sich allein auf den Weg zur Kantine. Libby fragte sich, was jetzt passieren würde, aber Green sagte kein Wort, bis sie allein in einem der Aufzüge standen und nach oben fuhren.

„Bitte entschuldigen Sie den Überfall ohne Vorwarnung. Ich wollte mit Ihnen sprechen, weil wir Ihre Hilfe benötigen.“

„Meine Hilfe?“, wiederholte Libby überrascht. „Wobei?“

Green verließ als erster den Aufzug und Libby folgte ihm den Flur entlang bis in ein kleines Büro. Er bot ihr einen Platz an und schloss die Tür hinter ihr, bevor er sich ihr gegenüber setzte.

„Es geht um Ihre Herkunft, Miss Whitman. Sie sind als Liberty Nichols in der Fundamentalistischen Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage geboren, zumindest steht das in Ihrer Akte.“

Libby nickte. „Das ist richtig.“

„Die Kollegen in Utah bearbeiten gerade einen Fall in der Gemeinde Hildale, wo auch Sie geboren sind.“

„Okay“, erwiderte Libby zaghaft.

„Die Kollegen aus dem Büro in St. George haben zwar weitreichende Erfahrungen mit der FLDS-Gemeinde, aber im aktuellen Fall sind sie an ihre Grenzen gestoßen. Vorhin erhielt ich eine Mitteilung darüber, dass dringend jemand mit einem persönlichen Bezug zur Sekte gesucht wird, um die Ermittlungen voranzubringen, und da fiel mir ein, dass Sie ja bald mit Ihrer Ausbildung hier fertig sind.“

„Ja“, erwiderte Libby zaghaft. „Ich hatte gehofft, mit SSA Dormer in der BAU arbeiten zu können …“

„Sie verstehen mich falsch, es geht nicht darum, Sie nach Abschluss der Academy nach St. George zu holen. Sie sind längst für die BAU vorgemerkt, in Ihrer Akte existiert ein persönlicher Vermerk von SSA Dormer. Nein, es geht darum, dass Sie jetzt für diesen zeitlich begrenzten Einsatz nach Utah reisen und die Kollegen unterstützen sollen.“

Libby machte ein überraschtes Gesicht. „Ich soll was?“

„Ich habe Ihre Akte studiert, Miss Whitman, und ich halte Sie für fähig, das zu schaffen. Es geht um eine junge Frau, die eine wichtige Zeugin sein dürfte – genau wie Sie damals, als sie zu SSA Sadie Whitman und Special Agent Matt Whitman gekommen sind.“

Fragend sah Libby ihn an. Sie verstand kein Wort. „Ich soll nach Utah fliegen und da ermitteln?“

„Die Kollegen haben das Problem, dass alle von ihnen in der FLDS-Gemeinde bekannt und berüchtigt sind. Sie finden keinen Zugang zu der Zeugin. Wir brauchen jemanden, der die Mechanismen in der FLDS kennt – ein frisches Gesicht, aber jemand, der genau weiß, was er tut. Sie müssen ihr Vertrauen gewinnen.“

„Sie schicken mich nach Short Creek? Sie wissen aber, dass da jede Menge Sektenmitglieder leben, die mich noch aus meiner alten Heimat in Yucca Valley kennen dürften.“

„Ja, ich habe auch Ihre damalige Fallakte vorhin eingehend studiert. Mir ist klar, dass das riskant ist, aber Sie sind die beste Chance, die wir haben. Die Flüge sind bereits gebucht.“

Libby hatte das Gefühl, im falschen Film zu sein. „Sie haben Flüge gebucht? Ich bin Rekrutin hier an der Academy. Ich mache meine Abschlussprüfungen erst im Mai. Ich bin doch noch gar keine Agentin.“

„Ich weiß. Das wird sich nicht nachteilig für Sie auswirken, Sie bringen überall Bestleistungen, wie Ihre Ausbilder mir vorhin versichert haben. Im Idealfall sind Sie nur für ein paar Tage weg.“

Schweigend starrte Libby ihn an. Sie war wie vor den Kopf gestoßen. Das konnte nur ein schlechter Scherz sein. Sie befand sich mitten in der Ausbildung – und man schickte sie als Rekrutin in die Gemeinde der fundamentalistischen Mormonensekte, in der sie damals geboren war? Sie hatte die ersten Jahre ihres Lebens in den Zwillingsstädten Hildale und Colorado City gelebt, die genau auf der Grenze zwischen den Staaten Utah und Arizona lagen und als Ganzes Short Creek genannt wurden. Sie war noch ein kleines Mädchen gewesen und gerade erst zur Schule gegangen, als sie mit ihrer Familie und einigen anderen Gemeindemitgliedern nach einer Razzia des FBI weggezogen und nach Yucca Valley in Kalifornien gegangen war.

Das war überhaupt das einzige Mal gewesen, dass sie vor ihrer Flucht die Außenwelt kennengelernt hatte. Bis dahin hatte sie nur das Leben in Short Creek gekannt – und danach in der noch isolierteren Gemeinde in Yucca Valley in einer Gemeinschaft, in der die Mitglieder die himmlische Erlösung dadurch zu erlangen versuchten, dass die Männer mehrere Frauen heirateten. Libbys Mutter war eine von fünf Frauen ihres Vaters gewesen – nicht ihres leiblichen Vaters, wie sie Libby irgendwann anvertraut hatte.

Sie schüttelte den Kopf. „Das geht nicht. Das kann ich nicht machen, tut mir leid.“

Green beugte sich vor. „Miss Whitman, ich verstehe Ihre Bedenken, aber Sie haben erfahrene Agents an Ihrer Seite, die Sie unterstützen werden. Sie haben volle Befugnisse, bekommen selbstverständlich eine Dienstmarke und eine Waffe. Bringen Sie die Zeugin zum Reden und wenn die Kollegen haben, was sie brauchen, sind Sie im Handumdrehen wieder hier.“

Libby holte tief Luft. „Sie verstehen nicht – das geht einfach nicht. Ich mache das nicht.“

„Ich verstehe Ihre Bedenken, aber wenn ich Sie daran erinnern darf: Sie sind im Begriff, FBI-Agentin zu werden. Das Bureau kann Sie jederzeit dort einsetzen, wo Sie gebraucht werden.“

Libby verstand. Wenn sie sich jetzt quer stellte, gefährdete sie ihre Zukunft beim FBI.

Das war ja großartig.

Sie schluckte und sagte: „Wann geht es los?“

Green schaute auf die Uhr. „Der Flug geht in etwas über drei Stunden. Können Sie in fünfzehn Minuten unten sein? Wir bringen Sie nach Washington zum Flughafen. Wenn es geht, nehmen Sie nur Handgepäck mit, dann kriegen wir Sie auch am Flughafen problemlos durch die Sicherheitskontrollen, damit Sie den Flug noch schaffen.“

Libby starrte ihn an, als hätte er ihr gerade erzählt, dass der Mond grün war, nickte aber. „Ich werde ja nicht viel brauchen.“

„In Ordnung. Ich erwarte Sie unten am Haupteingang.“

Kommentarlos verließ Libby den Raum und beeilte sich, hinüber zu den Unterkünften zu kommen. Was war da gerade passiert? Hatte dieser Typ sie gerade wirklich nach Utah zur FLDS geschickt?

Sie konnte es nicht fassen. Zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte sie die Treppe hinauf und lief den Flur entlang zu ihrem Zimmer. Zu ihrer Überraschung war die Tür nicht abgeschlossen und als sie den Raum betrat, fand sie Julie dort vor.

„Da bist du ja“, sagte Julie. „Was ist los?“

„Ich fliege nach Utah.“ Libby öffnete ihren Schrank und holte ihren Rucksack heraus. Zahnbürste, Unterwäsche, Kleidung, Pass. Was brauchte sie noch?

„Nach Utah? Wann?“

„Jetzt. Also, in drei Stunden.“

Entgeistert starrte Julie sie an. „Was? Wieso?“

„Ich soll gegen die FLDS ermitteln.“

Julie lachte kurz. „Der war gut.“

„Das war kein Witz. Die meinen das ernst.“ Während sie sprach, stopfte Libby Unterwäsche in ihren Rucksack und lief hinüber ins Bad, um dort in Windeseile weiter zu packen.

„Die lassen dich gegen deine eigene Sekte ermitteln? Sind die übergeschnappt?“

„Jep“, erwiderte Libby, die in die Dusche griff und ihr Shampoo herausholte. Nachdem sie alles im Bad beisammen hatte, kehrte sie ins Zimmer zurück und überlegte kurz. Mit ihrem Handy schaute sie nach, wie warm es gerade in Utah war und stellte fest, dass es sich in Grenzen hielt. Es war noch früh im Jahr. Das war gut, Sommerkleidung hatte sie fast keine nach Quantico mitgenommen.

Unter Julies neugierigen Blicken holte sie ihren Pass aus einer abschließbaren Schublade und steckte ihn vorn in den Rucksack. „Habe ich alles?“

„Und jetzt stellen die dich von der Academy frei oder wie?“

„Ja, das ist wohl auch das Mindeste“, erwiderte Libby. „Die haben echt Humor …“

„Unfassbar.“ Julie ging zu ihrer Freundin und umarmte sie fest zum Abschied. „Meld dich zwischendurch mal, damit ich weiß, dass alles okay ist.“

„Mache ich. Wir sehen uns“, sagte Libby, schnappte sich ihre Jacke und verließ das Zimmer. Sie war gespannt, ob sie es in der kurzen Zeit tatsächlich bis zum Dulles International Airport und in ihr Flugzeug schaffte.

Wie abgesprochen wartete Green unten am Haupteingang auf sie. In den Händen hielt er einige Gegenstände. Vor der Treppe stand ein Chevrolet Suburban. Green nickte Libby zu und ging zu dem Wagen. Er stieg gemeinsam mit ihr hinten in den Wagen, der losfuhr, noch bevor sie sich angeschnallt hatten. Als Libby das erledigt und ihren Rucksack im Fußraum verstaut hatte, reichte Green ihr nacheinander die Dinge, die er mitgebracht hatte.

Zunächst gab er ihr ein ausgedrucktes Flugticket und erklärte ihr, dass sie ihn jederzeit kontaktieren sollte, sobald sie einen Rückflug buchen wollte. Libby studierte das Ticket und sah, dass er ihr einen Flug über Denver gebucht hatte, Landung in St. George um kurz vor neun Uhr abends Ortszeit.

„Hier haben Sie auch eine Dienstmarke und einen FBI-Dienstausweis“, sagte er. Erstaunt nahm Libby den Ausweis entgegen. Wo hatte er den so schnell herbekommen?

„Die Kollegen in Utah werden Ihnen eine Waffe geben, das kann ich hier ja schlecht vor dem Flug tun.“

Libby nickte bloß. Das verstand sich von selbst.

„Also schön … Es geht um eine junge Frau namens Rebecca Bell. Letzte Woche hat sie das FBI in St. George kontaktiert und angekündigt, den Ermittlern Informationen über ihren Ehemann John zu liefern. Genauer ist sie da nicht geworden. Sagt Ihnen der Name Bell etwas?“

Libby schüttelte den Kopf. „Sollte er?“

„Möglicherweise. John ist der Sohn von Merrill Bell, einem der Anführer der Gemeinde in Short Creek.“

„Schon möglich. Ich habe Short Creek verlassen, als ich sieben war. Daran erinnere ich mich nicht.“

„Welche Informationen Rebecca auch immer hatte, sie sind sicherlich wertvoll für uns. Es wurde ein Treffen vereinbart, zu dem sie nicht erschien. Die Kollegen haben dann in Short Creek nach ihr gesucht, aber Sie können sich denken, was passiert ist – erst wurde sie verleugnet und als die Kollegen sie gefunden haben, tat sie so, als wisse sie von nichts. Halb Hildale hat die Kollegen in dem Moment beobachtet.“

„Warten Sie doch einfach ab, vielleicht ist man ihr auf die Schliche gekommen und hat sie unter Druck gesetzt.“

„Ja, das dachten die Kollegen auch, aber Sie wissen ja, wie die FLDS mit Quertreibern umgeht. Es besteht Grund zur Sorge um ihre Sicherheit. Mit den Kollegen will sie nicht reden, aber vielleicht vertraut sie sich Ihnen an.“

Libby machte ein skeptisches Gesicht. „Glauben Sie, ja?“

„Wir müssen es versuchen. Sie sind in der FLDS aufgewachsen, Sie sind selbst von dort geflohen. Sie wissen, wie es dort zugeht und können sich da einfühlen. Wer, wenn nicht Sie, schafft es wohl, an Rebecca heranzukommen und ihr Vertrauen zu gewinnen?“

„Ich hoffe, ich kriege das hin.“ Daran hatte Libby nämlich ihre Zweifel.

„Versuchen Sie es einfach. Sie sind unsere beste Chance.“

Darauf erwiderte Libby nichts. Ihr gefiel das alles überhaupt nicht, aber sie hatte wohl keine Wahl.

„Die Kollegen werden Sie in St. George in Empfang nehmen und alles mit Ihnen durchgehen. Sie schaffen das schon.“

Schweigend starrte Libby aus dem Fenster. In Woodbridge verließen sie die Interstate 95 und folgten der Schnellstraße nach Nordwesten. Als es sich nahe des Flughafens staute, schaltete der Fahrer die mobile Blaulichteinheit ein und nutzte den Standstreifen, um schneller voranzukommen.

Es war ihnen wichtig. Sie wollten Libby unbedingt in diesen Flieger nach Utah bekommen.

Sie zog ihr Handy aus der Tasche und setzte sich so, dass Green nicht aufs Display schauen konnte, als sie Owen schrieb. Aus heute Abend wird nichts. Ich muss nach Utah. Ich rufe dich an, wenn ich in Denver bin und erkläre dir alles.

Owen hatte vermutlich Mittagspause, denn er antwortete ihr sofort. Okay – was zum Teufel machst du in Utah?

Ich erkläre es dir später. Ich liebe dich, schrieb Libby und legte das Handy wieder weg.

Es dauerte nicht mehr lang, bis sie sich dem internationalen Flughafen näherten. Libby schaute auf die Uhr – ein Uhr mittags. In etwas über anderthalb Stunden ging der Flug.

Doch Green und der Kollege, der sich nicht vorgestellt hatte, schienen sich deswegen keine Sorgen zu machen. Sie parkten einfach vor dem Terminalgebäude und beide Männer begleiteten Libby ins Gebäude. Mit ihren Ausweisen in der Hand gingen sie an der Warteschlange vor dem Check-In vorbei, holten Libby die Bordkarte und begleiteten sie auch bis zum Sicherheitscheck, wo sie es genauso machten und Libby mit gezückten Ausweisen gleich zum Anfang der Schlange schleusten und dem Sicherheitspersonal erklärten, dass sie Libby sofort abfertigen mussten. Libby war nicht überrascht, dass da niemand Einspruch erhob. Das FBI schindete immer und überall Eindruck.

„Sie werden das schon machen“, sagte Green, während Libby ihren Rucksack und ihr Handy in eine der Wannen legte, die schließlich durch einen Scanner geschoben wurde.

„Ich tue mein Bestes“, sagte sie.

„Melden Sie sich, wenn Sie etwas brauchen. Ich wünsche Ihnen einen guten Flug.“

Libby nickte und verschwand hinter dem Metalldetektor. Die Männer verabschiedeten sich und verschwanden. Anschließend nahm Libby ihre Sachen wieder in Empfang und machte sich auf den Weg zur Passkontrolle und zum Gate.

Durch die Unterstützung der Kollegen schaffte sie es pünktlich zum Gate und betrat wenig später das Flugzeug. Sie konnte es immer noch nicht fassen – sie flog nach Utah, um sich dort mit ihrer eigenen Sekte anzulegen. Es gab wenig, worauf sie weniger erpicht war.

Als der Flieger pünktlich abhob, lehnte Libby sich in ihrem Sitz zurück und schloss die Augen. Das war verrückt. Vollkommen verrückt. Sie war es, die dafür gesorgt hatte, dass die FLDS-Gemeinde in Yucca Valley inzwischen nur noch Teil der Geschichtsbücher war. Sie hatte den dortigen Anführer Raymond Johnson hinter Gitter gebracht, außerdem aber auch ihren eigenen Vater und Onkel. Sie hatte nie vergessen, wie sie vor Gericht darüber ausgesagt hatte, dass ihr Onkel sie damals als Vierzehnjährige missbraucht hatte – denn dass er sie vor der anstehenden Hochzeit gegen ihren Willen angefasst hatte, war nichts weniger als Missbrauch gewesen. Das hatte ja auch ihre Mutter dazu bewogen, ihrer einzigen Tochter bei der Flucht aus der Sekte zu helfen. Sie wollte nicht, dass es Libby wie ihr selbst erging und sie als eine von vielen Ehefrauen eines Mannes endete, der Frauen keinerlei Respekt entgegenbrachte.

Ein trostloses Leben hätte Libby erwartet: Nach ihrer Hochzeit hätte sie die Schule verlassen und im Haushalt ihres Onkels als seine fünfte Frau leben müssen. Ihr einziger Lebenssinn hätte darin bestanden, ihm Kinder zu schenken und den Haushalt zu führen – und Kinder entstanden in der FLDS selten durch einvernehmlichen Sex.

Sie konzentrierte sich aufs Atmen, während sie sich in ihre Jeans krallte. Sie hatte es bei anderen Frauen erlebt, die sich monatlich von den Machthabern der Priesterschaft vergewaltigen ließen, die als einzige in der Sekte Kinder zeugen durften. Samenbringer nannte man sie. Libbys Onkel war selbst einer gewesen, aber das hätte es nicht unbedingt besser gemacht.

Sie war dort aufgewachsen, aber sie hatte es immer gehasst. Dennoch war es ein hartes Stück Arbeit gewesen, nach ihrer Flucht in der richtigen Welt anzukommen und zu lernen, wie das Leben draußen eigentlich funktionierte. Inzwischen merkte man Libby ihre Herkunft längst nicht mehr an – etwas, was sie auch der liebevollen Unterstützung durch Sadie und Matt zu verdanken hatte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739465920
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (März)
Schlagworte
USA Profiler FLDS Entführung Spannung Sekte FBI Utah Ermittlungen Missbrauch Krimi Ermittler Psychothriller

Autor

  • Dania Dicken (Autor:in)

Dania Dicken, Jahrgang 1985, schreibt seit der Kindheit. Die in Krefeld lebende Autorin hat Psychologie und Informatik studiert und als Online-Redakteurin gearbeitet. Mit den Grundlagen aus dem Psychologiestudium schreibt sie Psychothriller zum Thema Profiling. Bei Bastei Lübbe hat sie die Profiler-Reihe und "Profiling Murder" veröffentlicht, im Eigenverlag erscheinen "Die Seele des Bösen" und ihre Fantasyromane. Die Thriller-Reihe um die FBI-Profilerin Libby Whitman ist ihr neuestes Projekt.
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Titel: Brave Mädchen schweigen still