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Wenn die Unschuld Feuer fängt

von Dania Dicken (Autor:in)
290 Seiten
Reihe: Libby Whitman, Band 3

Zusammenfassung

Libby Whitman hat es endlich geschafft: Sie ist Profilerin bei der Behavioral Analysis Unit des FBI in Quantico. Als ihre Kollegen das Profil eines Serienbrandstifters im nahen Richmond anfertigen, unterstützt sie das Team voller Elan. <br> Zeitgleich bittet sie jedoch auch ihr Freund Owen um Hilfe, der als Polizist in Washington arbeitet: Dort ist am helllichten Tag ein neunjähriger Junge auf einem Spielplatz brutal erschlagen worden, ohne dass jemand die Tat gesehen hätte. Libby möchte Owen und seinem Partner bei den Ermittlungen helfen und stellt schließlich eine gewagte These auf, was den möglichen Täter betrifft. <br> Als gleichzeitig in Richmond ein möglicher Brandstifter festgenommen wird, versuchen Libby und ihr Chef, Teamleiter Nick Dormer, den Verdächtigen mit allen Mitteln zum Reden zu bringen – erfolglos. Fast sieht es so aus, als würden die Ermittlungen in beiden Fällen ergebnislos verlaufen, doch dann überschlagen sich die Ereignisse …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

 

 

Dania Dicken

 

Wenn die Unschuld

Feuer fängt

 

Libby Whitman 3

 

 

Thriller

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Alles ist vergänglich und deshalb leidvoll.

 

Siddharta Gautama

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

Er hatte immer noch Herzrasen. Sie unbemerkt ans Bett zu fesseln war der schwierigste, gefährlichste Moment. Sobald er das geschafft hatte, war er auf der sicheren Seite.

Und er wählte sie ja sorgfältig aus. Nicht nur die Frauen, sondern auch ihre Apartments. Er musste es schaffen, dort unbemerkt rein- und wieder rauszukommen. Üblicherweise probierte er es erst einmal, wenn er eine Frau ausgewählt hatte. Er schaute sich die Gegebenheiten an und überprüfte, ob er sie auch ans Bett fesseln konnte. Das war von grundlegender Bedeutung.

Hier stimmte alles. Sie war hübsch, sie lebte allein, ihre Wohnung war perfekt und die Handschellen saßen bereits. Sie hatte es nicht gemerkt. Aber wenn sie feststellte, dass er da war, würde sie schreien wollen. Das musste er verhindern.

Dafür hatte er einen ihrer Slips aus ihrer Schublade genommen und beugte sich nun über sie. Während er versuchte, ihr den Slip in den Mund zu stecken, erwachte sie und wollte sofort um sich schlagen und schreien, aber beides ging nun nicht mehr.

Sie stieß schrille Laute der Panik aus und wimmerte dann. Natürlich, sie sah ja nur eine finstere Gestalt über sich. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen und lauschte einfach nur auf ihre erstickten, angstvollen Schreie, die von einem verzweifelten Schluchzen abgelöst wurden.

Aber jetzt brauchte er Licht. Er trat zurück und schaltete das Licht neben der Zimmertür ein. Panisch starrte sie ihn an, die Augen weit aufgerissen und heftig atmend.

Das war der Moment. Gerade genoss er es einfach, sie anzusehen und ihre Angst in sich aufzusaugen. Dass er sich nicht rührte, machte sie nervös. Schließlich begann sie wieder zu zappeln und versuchte vergeblich, zu schreien.

„Schht“, machte er und legte einen Finger an die Lippen. Natürlich hörte sie nicht auf ihn – erst recht nicht, als er sich ihr wieder näherte und ihr zeigte, dass er ein Messer in der Hand hielt. Sie wand sich verzweifelt in ihren Fesseln und versuchte, ihm zu entkommen, als er die Klinge an den schmalen Trägern ihres Nachthemdes ansetzte und sie nacheinander mit einem leichten Ruck zerschnitt.

Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie war vollkommen in Panik – ein Gefühl, das er glaubte riechen zu können. Er zerschnitt ihr Nachthemd von oben nach unten und entriss es ihr. Ihr Weinen wurde schriller. Für einen kurzen Moment musterte er sie, bevor er ihr auch den Slip vom Körper schnitt und beides neben dem Bett auf den Boden warf.

Sie war wunderschön. Ein Jammer, dass sie sterben musste.

Während sie wimmernd zu ihm aufblickte, beschloss er, es ihr zu sagen. „Du bist so schön.“

Doch sie jammerte nur. Sie konnte das Kompliment einfach nicht annehmen. Zu schade, denn sie sollte doch wissen, dass sie etwas Besonderes war.

Seine Blicke glitten über ihren entblößten Körper, ihre wunderbaren Proportionen. Während er sie ansah, spürte er, wie ihm das Blut in die Lenden schoss und er hatte große Mühe, der Verlockung zu widerstehen, aber es ging nicht. Das hätte vielleicht alles ruiniert.

Sie versuchte, sich verständlich zu machen, was sie natürlich nicht konnte. Er versuchte, die Beherrschung über sich wieder zurückzugewinnen, atmete tief durch und besann sich.

„Ich weiß, dass du Angst hast. Das ist gut so. Aber du verdienst all das hier. Du verdienst es, zu sterben, und ich werde dabei zusehen.“

Der Slip in ihrem Mund dämpfte den folgenden Schrei kaum. In Todesangst beobachtete sie, wie er zu der Kommode neben der Tür ging und die Flasche nahm. Sie zappelte heftig, doch als er begann, den Inhalt der Flasche auf ihren Möbeln zu verteilen, begriff sie und erstarrte vor Angst. Erstickt keuchend starrte sie ihn an, während er in seine Hosentasche griff und Streichhölzer zum Vorschein brachte.

Nein, wollte sie schreien, aber es ging nicht. Sie war halb wahnsinnig vor Angst. Wieder schloss er kurz die Augen, lauschte nur auf ihre Laute und genoss es.

Dann entzündete er das Streichholz und ließ es auf die Kommode fallen.

Das benzingetränkte Holz fing sofort Feuer. Erstickte Schreie der Panik erfüllten den Raum, während das Feuer sich ausbreitete und er in aller Seelenruhe zur Tür ging. Im Rahmen blieb er stehen, schaltete das Licht aus und beobachtete im Schein des Feuers, wie sie an ihren Handschellen zerrte, in Todesangst zappelte und winselte.

Die Vorhänge fingen Feuer. Ab da war es nur noch eine Frage der Zeit, bis der ganze Raum in Flammen stehen würde. Dass das niemand zu früh merkte, dafür hatte er gesorgt und alle Rauchmelder deaktiviert.

Nachdem die Kommode erst richtig in Flammen stand, breitete das Feuer sich auf den Kleiderschrank aus. Zwischendurch waren ihre ängstlichen Laute leiser geworden, doch als das Feuer ihr näher kam, versuchte sie wieder zu schreien. Sie wollte ihn anflehen, ihr zu helfen, aber er stand einfach da und beobachtete sie.

Nun hatte das Feuer ihren Nachttisch erreicht. Sie war außer sich und zappelte so heftig, dass das Bett zu beben begann, aber es war zu spät. Das Feuer griff auf ihre Decke über. Panisch versuchte sie wegzurutschen, doch irgendwann ging es nicht mehr. Nun hatte das Feuer sie erreicht und als sich ihr qualvoller Schmerz in ihre Schreie mischte, lauschte er der Sinfonie mit geschlossenen Augen.

 

 

 

Montag, 1. Juni

 

„Du wirst das schon gut meistern.“ Zuversichtlich schloss Owen Libby in seine Arme, drückte sie an sich und gab ihr einen Kuss. „Ich wünsche dir einen tollen Tag.“

„Danke“, erwiderte sie mit einem Lächeln. Eigentlich wollte sie ihn gar nicht loslassen, aber dann tat sie es doch. „Hab auch einen schönen Tag.“

„Wir sehen uns heute Abend.“

Libby nickte, schulterte ihre Tasche und stieg in ihr Auto. Sie legte die Tasche auf den Beifahrersitz, bevor sie sich anschnallte, den Motor startete und losfuhr.

Auf der Gegenfahrbahn war die Interstate 95 hoffnungslos verstopft. Eine Blechlawine wälzte sich Washington entgegen. Libbys Ziel lag jedoch außerhalb in Quantico, Virginia. Dort hatte sie schon die letzten fünf Monate verbracht, um die FBI Academy zu besuchen. Dort lag auch ihr Arbeitsplatz, denn die Behavioral Analysis Unit war in Quantico stationiert. Und Special Agent Libby Whitman gehörte nun dazu.

Sie war aufgeregt. Die ganze Fahrt über hatte sie Herzklopfen, zeigte am Checkpoint vor Quantico ihren FBI-Dienstausweis und wurde durchgelassen. Von dort waren es noch fünf Meilen bis zum FBI-Gebäude, Libby kannte sich dort aus.

Schließlich parkte sie dort und betrat das Hauptgebäude. Sie zeigte auch hier ihren Ausweis und machte sich dann auf den Weg zum Büro der Profiler. Einige Wochen zuvor war sie bereits dort gewesen und erinnerte sich gut daran, wo sie hin musste. Nachdem sie aus dem Aufzug gestiegen war, überquerte sie den Flur und öffnete eine Glastür. Stimmen drangen aus der Kaffeeküche, es saß bereits jemand am Computer.

Für einen Moment überlegte sie, was sie tun sollte, aber als sie Bewegung im Büro von Supervisory Special Agent Nicholas Dormer bemerkte, fasste sie sich ein Herz und durchquerte das Großraumbüro. Die Tür war nur angelehnt, Libby klopfte und wurde gleich hereingebeten. Nick machte ein erfreutes Gesicht, als er sie sah.

„Guten Morgen, wie schön, dass du da bist!“ Sofort stand er auf, ging um seinen Tisch herum und reichte ihr die Hand. Libby lächelte und erwiderte seinen kräftigen Händedruck.

„Auf diesen Tag habe ich lange gewartet“, sagte Nick und bedeutete ihr, sich zu setzen. Libby nahm Platz vor seinem Schreibtisch und beobachtete, wie er einen Safe in seinem Aktenschrank öffnete. Er holte eine Schatulle heraus und überreichte sie Libby.

„Deine Dienstwaffe“, sagte er. Angespannt nahm Libby die Schatulle entgegen und öffnete sie. Eine Glock – genau wie ihre Eltern welche gehabt hatten. Sie lächelte.

„Fühlt sich gut an, oder?“

Sie nickte heftig. „Ich kann kaum glauben, dass ich es wirklich geschafft habe.“

„Oh, ich schon. Ich wusste, dass du das Zeug dazu hast, als du beschlossen hast, es zu versuchen.“

Beinahe ein wenig ehrfürchtig schaute Libby sich in Nicks Büro um. „Wenn ich mir vorstelle, dass meine Mum früher auch hier war …“

„Dein Dad auch. Ich erinnere mich da an ein paar Momente … Ist das lang her. Die beiden müssen sehr stolz auf dich sein.“

„Das sind sie.“

„Machen sie sich Sorgen?“

Libby holte tief Luft. „Ja, aber sie versuchen, damit klarzukommen. Sie wollen mich nicht damit belasten.“

„Nein, das hatte ich auch nicht erwartet.“ Mit einem ermutigenden Lächeln stand Nick auf und sagte: „Komm, gehen wir schon mal in den Besprechungsraum. Gleich ist Teamsitzung, dann stelle ich dich den Kollegen vor. Im Team sprechen wir uns übrigens alle nur mit Vornamen an, das ist hoffentlich okay?“

„Unbedingt.“ Libby nickte und folgte Nick in den Nachbarraum. Es war ein geräumiges Konferenzzimmer mit einem großen Tisch in der Mitte, um den zahlreiche Stühle gruppiert waren. An einer Wand hing ein großer Fernsehbildschirm, in der Mitte des Tisches stand eine Telefonanlage mit Lautsprechern.

„Hier treffen wir uns jeden Montag, wenn wir nicht gerade einen Außeneinsatz haben, und gehen alles durch. Aktuell ermitteln wir gegen einen Serienbrandstifter in Richmond, Virginia. Wir stellen dir den Fall gleich vor, vielleicht hast du ja auch noch die eine oder andere gute Idee.“

„Ich bin gespannt.“

Es klopfte am Türrahmen und eine Frau Anfang vierzig mit langen braunen Haaren zog Nicks und Libbys Aufmerksamkeit auf sich.

„Alex“, sagte Nick und trat zur Seite. „Darf ich dir unsere neue Kollegin vorstellen? Special Agent Libby Whitman.“

„Sehr angenehm! Alexandra Parks, ich bin unser Sprachrohr nach außen. Ich korrespondiere mit FBI- und Polizeidienststellen im ganzen Land und übernehme auch die Kommunikation mit den Medien – Pressemitteilungen und so etwas.“

„Freut mich sehr“, sagte Libby.

„Ich habe schon mit deiner Mutter zusammen gearbeitet, wenn auch nicht sehr lang. Der Apfel fällt also nicht weit vom Stamm?“

Libby grinste. „Ich wollte eigentlich Erziehungswissenschaften studieren, aber jetzt bin ich hier …“

„Freut mich wirklich sehr.“

„Sind die anderen schon da? Könntest du Ihnen Bescheid geben, damit wir anfangen können?“, bat Nick.

„Bin schon unterwegs.“ Alexandra verschwand und während Nick und Libby schon einmal Platz nahmen, trafen nach und nach die anderen Kollegen ein. Erstaunt stellte Libby fest, dass sie einen der männlichen Kollegen kannte. Sie hatte ihn schon einmal in Los Angeles im Profilerteam von Cassandra Williams gesehen.

„Guten Morgen“, begrüßte Nick das Team, als alle Platz genommen hatten. „Heute darf ich euch unsere neue Teamkollegin vorstellen: Special Agent Libby Whitman, frisch von der Academy. Es ist mir eine besondere Freude, sie in unserem Team begrüßen zu dürfen, denn sie ist Sadie Whitmans Tochter. Einige von euch erinnern sich bestimmt an Sadie.“

„Oh, und wie“, sagte ein charismatischer Mann etwa in Nicks Alter und überlegte kurz. „Aber bist du nicht etwas zu alt, um Sadies Tochter zu sein? Sie hatte doch damals noch kein Kind.“

„Stimmt. Sadie und Matt haben mich adoptiert. Das war vor zehn Jahren in Los Angeles. Ich habe die beiden kennengelernt, weil Sadie sich nach meiner Flucht aus der FLDS um mich kümmern sollte.“

Er war sichtlich überrascht. „Du stammst aus dieser Polygamistensekte?“

Libby nickte. „Leider ja. Ich bin mit vierzehn geflohen und habe damals meine Mutter verloren. Mein Vater hat sie getötet, er ist im Gefängnis. So kam ich zu den Whitmans.“

„Wow. Was für eine Geschichte. Das war sicher schwierig für dich.“

„Ach, das ist lange her“, sagte Libby und lächelte.

„Libby hat vor kurzem sogar schon selbst gegen die FLDS ermittelt. Ich kenne sie schon lange und freue mich sehr darüber, dass sie in Sadies Fußstapfen tritt, denn genau wie ihre Mutter hat sie das Zeug zur Profilerin“, sagte Nick. „Sie kannte den Son of the Nightstalker Brian Leigh und hat mit dem kannibalistischen Serienmörder Charles Fletcher in Los Angeles um Sadies Leben verhandelt. Ich stand daneben und habe sie beobachtet, als sie mit ihm gesprochen hat. Libby hat Sadies Wissen und denselben Instinkt, das hat sie auch schon als Polizistin in San José bewiesen. Sie ist zwar noch jung und steht erst am Anfang ihrer Laufbahn, aber davon solltet ihr euch nicht irritieren lassen.“

Der Mann, der zuvor mit Libby gesprochen hatte, nickte anerkennend. „Das will was heißen! Ich erinnere mich gut an deine Mutter, sie war auch so ein Naturtalent. Willkommen in der BAU.“

„Danke.“ Libby lächelte schüchtern.

„Ich bin übrigens Ian Wainsworth. Inzwischen bin ich hier ein Urgestein, ich bin jetzt seit über fünfzehn Jahren dabei. Manchmal ist der Job hart und eine echte Herausforderung, aber ich mache ihn gern. Ursprünglich komme ich aus Florida und ich muss sagen, ich vermisse meine Heimat … Winter sind nicht so mein Ding! Liegt vielleicht auch daran, dass meine Eltern aus Puerto Rico kommen.“

„Sehr zu beneiden“, sagte Libby.

„Ja, nicht wahr?“

„Wollt ihr euch der Reihe nach vorstellen?“, fragte Nick die anderen.

„Belinda Merringer“, meldete sich eine Afroamerikanerin zu Wort, die Libby einige Jahre jünger als Ian schätzte. „Ich erinnere mich auch gut an deine Mutter und fand es immer schade, dass sie uns so bald wieder verlassen hat, auch wenn ich den Grund natürlich verstehen konnte. Ich selbst bin nun auch schon seit über einem Jahrzehnt bei der BAU und habe vorher als Therapeutin gearbeitet.“

Nun ergriff der junge Mann das Wort, der Libby schon zuvor aufgefallen war. „Mein Name ist Dennis Johnson. Wir kennen uns schon aus Los Angeles, dort habe ich einige Jahre als Profiler in Cassandra Williams’ Team gearbeitet. Dort habe ich auch noch kurz mit deiner Mutter zusammen gearbeitet und deshalb freue ich mich sehr, dass wir jetzt Kollegen sind.“

„Was hat dich hierher verschlagen?“, fragte Libby.

„Das war einfach Neugier. Ich wollte mal ein bisschen frischen Wind um die Nase und als hier im Team ein Platz frei war, habe ich mich beworben. Inzwischen habe ich hier auch eine Freundin, wir wollen nächstes Jahr heiraten.“

„Glückwunsch“, sagte Libby.

„Vermisst du Kalifornien?“

„Ein wenig schon, ja. Meine Familie ist dort, aber immerhin hat mein Freund mich begleitet. Er ist Detective in Washington.“

Dennis nickte anerkennend. „Nicht schlecht.“

Als nun Alexandra an der Reihe war, grinste sie und sagte: „Wir haben uns ja schon bekannt gemacht.“

Libby lächelte, dann war der nächste Kollege an der Reihe.

„Mein Name ist David Newport. Ich bin jetzt auch schon seit über zehn Jahren dabei und erinnere mich ebenfalls an deine Mutter. Toll, dass du jetzt bei uns bist.“

„Danke.“

Der letzte Kollege meldete sich zu Wort. „Ich bin Jesse Brooks und seit drei Jahren dabei. Ich kenne deine Mutter bloß von der Academy, dort hat sie mal während meiner Ausbildung über ihren Vater gesprochen. Das war wahnsinnig interessant und daraus habe ich viel mitgenommen. Ich hatte damals großen Respekt vor ihr.“

„Dass ihr alle meine Mum kennt“, sagte Libby verlegen.

„Sie war vielleicht nur ein halbes Jahr in der BAU, aber sie spricht ja regelmäßig in Quantico und durch ihre Fälle ist sie eine unserer renommiertesten Profilerinnen … oder sie war es vielmehr“, sagte Nick. „Ja, wir wissen, wer du bist und ich glaube, ich spreche fürs ganze Team, wenn ich sage, dass wir stolz darauf sind, dich bei uns zu haben.“

„Dankeschön“, sagte Libby erfreut.

„Also dann … Wie weit sind wir mit unserem Profil des Serienbrandstifters in Richmond?“

„So gut wie fertig“, sagte Jesse. „Vielleicht will Libby sich das auch alles ansehen, bevor wir es fertigstellen und Alex alles an die Presse gibt?“

„Unbedingt“, sagte Nick. „Alex, hast du schon etwas Neues für uns?“

„Einige kleinere Fälle, mit denen sich vermutlich auch einzelne Teammitglieder beschäftigen können. Wir haben eine Anfrage von der Polizei in Jacksonville, Florida. Sie haben einen Serienvergewaltiger, von dem sie gern ein Profil hätten. Die Polizei in Durham, North Carolina hat einige Mordfälle, bei denen sie einen Zusammenhang sehen. Das hätten sie gern von uns bestätigt – idealerweise mit einem Profil. Und in Fort Worth, Texas hat die Polizei einen besonders brutalen Mordfall, bei dem sie feststeckt.“

Dormer nickte aufmerksam. „Gut … Belinda, ich hätte gern, dass du dir die Sache aus Jacksonville anschaust. David, du kümmerst dich mit Dennis um die Sache in Durham und Ian kümmert sich mit Alex um die Sache in Fort Worth. Libby, du setzt dich mit Jesse und mir an unseren Brandstifter-Fall in Richmond.“

„Okay“, sagte Libby. Zu diesem Zweck blieb sie mit den beiden Männern sitzen, während die anderen den Raum verließen und sich an die Arbeit machten. Sie wollten sich später noch einmal zusammensetzen, wenn das Profil des Brandstifters fertig war.

„Dann wollen wir mal“, begann Nick. „Libby, ich würde vorschlagen, dass wir dir den Fall erst mal ohne unsere Schlussfolgerungen vorstellen, um dich nicht zu beeinflussen. Was meinst du?“

„Gute Idee“, sagte Libby und nickte.

„Also schön. In Richmond gab es in den letzten drei Monaten sechs verheerende Wohnungsbrände, allesamt Brandstiftungen. Bislang sind fünf Todesopfer zu beklagen – alles alleinstehende Frauen Mitte zwanzig bis Anfang dreißig. Das sechste Opfer ist noch am Leben, hat aber Verbrennungen dritten Grades erlitten und liegt immer noch im Koma. Ob sie überhaupt wieder aufwacht, ist fraglich. Wir haben also noch keinerlei hilfreiche Zeugenaussagen.“ Nick schaltete den großen Bildschirm ein und verband seinen Laptop damit, so dass er Libby die Fallakten nacheinander zeigen konnte.

Der erste Brand hatte Anfang Februar stattgefunden. Nick zeigte Libby Fotos des Opfers und des Tatortes. Alles in der Wohnung war total verkohlt. Das Opfer hatte sich in seinem Schlafzimmer befunden, der Täter hatte die Frau mit Handschellen an ihr Bett gefesselt. An der verkohlten Leiche waren die Handschellen noch erkennbar, sie hatten das Feuer überstanden.

Libby nickte konzentriert, stellte aber noch keine Fragen. Nick zeigte ihr auch die Fotos der anderen Opfer und Tatorte. Die Vorgehensweise war jeweils gleich: Die Frauen starben ans Bett gefesselt. Die Brände waren jeweils gelegt worden, indem der Täter die Möbel im Schlafzimmer mit Benzin übergossen und in Brand gesteckt hatte.

„Hast du Fragen?“, erkundigte Nick sich schließlich.

„Oh ja“, sagte Libby. „Haben die Frauen noch gelebt, als er die Feuer gelegt hat?“

„Jedes Mal, ja.“

„Und er legt das Feuer immer im Schlafzimmer mit dem lebenden Opfer darin? Sind die Frauen bei Bewusstsein?“

„Davon gehen wir aus. Er hat sie geknebelt, an den Leichen waren noch Rückstände zu finden.“

„Wurden die Frauen vergewaltigt?“

„Bei drei der Frauen konnte das nicht mehr geklärt werden, aber bei den anderen fanden sich diesbezüglich keine Hinweise, vor allem nicht bei der Überlebenden.“

„Tragen sie Kleidung?“

Nick schüttelte den Kopf. „Sie sind nackt.“

„Bricht der Täter in die Wohnung ein?“

„Ja, mitten in der Nacht. Es konnten jeweils Einbruchsspuren an Fensterrahmen entdeckt werden.“

Libby schloss kurz die Augen und überlegte. „Gibt es Rauchmelder?“

„Die gab es, aber die hat er immer entfernt oder deaktiviert.“

„Er bricht also in die Wohnungen ein … wann? Nachts, wenn die Frauen schlafen?“

„Ja, die Brände wurden allesamt zwischen zwei und vier Uhr nachts gemeldet.“

„Aber wenn er sie nicht vergewaltigt, will er zumindest dahingehend keine Spuren verwischen.“

„Nein, darum geht es ihm nicht“, stimmte Dormer zu.

„In welchen Abständen finden die Brände statt?“

„Alle zwei bis drei Wochen. Wenn wir danach gehen, haben wir noch etwas über eine Woche, bis er wieder zuschlägt.“

„Und es gibt absolut keine Zeugenaussagen?“

„Nein, nichts. Deshalb hat die Polizei uns auch um Hilfe gebeten. Sie wissen nicht, wo sie anfangen sollen.“

„Ja, glaube ich ihnen. Die Aufklärungsquote bei Brandstiftungen ist ja auch so ermutigend hoch.“

Jesse lachte, als sie das sagte, und als Libby ihn ansah, grinste er sie fröhlich an.

„Ähneln die Frauen einander irgendwie? Was verbindet die Opfer? Hat er sie gezielt ausgewählt?“, überlegte Libby weiter.

Dormer nickte. „Sie sind alle blond, ähnlich alt, ähnlicher Körperbau.“

„Was verbindet sie noch?“

„Sie wohnen alle in einem Umkreis von zwei Meilen.“

„Okay … Brandstifter sind ja meistens männlich und die Opfer sind alle Frauen, also würde ich behaupten, der Täter ist männlich. Ein Weißer … und er ist vermutlich jünger als seine Opfer.“

Dormer nickte. „Das hatten wir genau so festgestellt.“

„Er wird in der Nähe wohnen. Vielleicht sind die Opfer alle in denselben Supermarkt gegangen – er wird sie ausspähen und irgendwann bei ihnen einbrechen, wenn er weiß, dass sie schlafen und das Risiko einer Entdeckung möglichst gering ist. Er dringt in ihr Schlafzimmer ein, fesselt sie ans Bett, knebelt sie und entfernt ihre Kleidung. Er vergewaltigt sie zwar nicht, aber das hat alles etwas Sexuelles. Er entwürdigt sie, er liefert sie den Flammen aus. Wir können nicht ausschließen, dass er irgendwelche sexuellen Handlungen an ihnen vornimmt, oder?“

Nick schüttelte den Kopf. „Nein, da sind wir uns auch noch sehr uneins.“

„Okay … Er hat sie dann nackt ans Bett gefesselt und lässt sie zusehen, wenn er das Benzin auf ihren Möbeln verteilt. Sind es immer nur die Möbel?“

Dormer nickte. „So sagten es uns die Forensiker.“

Libby nahm sich noch einige Tatortfotos vor. In allen Schlafzimmern waren die Möbel auf beiden Seiten der Tür verbrannt und man konnte Rußspuren erkennen, wo Benzin auf den Boden getropft war.

„Er spart die Türen aus, oder?“, fragte Libby.

„Richtig. Da ist nie Benzin.“

„Das würde ja passen.“

„Inwiefern?“

„Er ist ein Pyromane, der fasziniert vom Feuer ist und von der Zerstörung, die es anrichtet. Er ist aber auch sadistisch veranlagt, denn er lässt die Frauen bei lebendigem Leib verbrennen und ich gehe jede Wette ein, dass er in der Tür steht und sich das so lang wie möglich ansieht.“

Jesse tauschte einen Blick mit Nick. „Du hattest Recht.“

„Womit?“

„Dass sie das kann.“

„Ich weiß“, erwiderte Nick trocken. Libby grinste kurz, versuchte aber, sich nicht ablenken zu lassen.

„Es erregt ihn sexuell, sich anzusehen, wie die Frauen qualvoll sterben. Es ist mitten in der Nacht und es dauert, bis die Nachbarn den Brand bemerken und die Feuerwehr rufen. Bis dahin sind die Frauen verbrannt und er ist aus den Wohnungen verschwunden“, fuhr Libby fort.

„So dachten wir uns das ebenfalls.“

Nun richtete Jesse sich direkt an Libby. „Du bist ganz schön schnell.“

„Das Szenario ist nicht alltäglich. Es geht gegen die Frauen, gegen diesen Typ Frau, er will ihnen damit was heimzahlen – oder sie stehen als Stellvertreterinnen für eine andere Frau, die ihn irgendwie geprägt hat. Es geht um eine blonde Frau und es geht um Feuer. Sein Modus Operandi ist speziell, ein Feuer zu legen ist ja auch für ihn nicht ungefährlich. Er könnte sie auch anders töten, aber das will er nicht. Er will sie bei lebendigem Leib verbrennen. Das sagt uns, dass er irgendwann in seinem Leben ein Schlüsselerlebnis mit Feuer hatte.“

„Ganz richtig, genau das glauben wir auch“, sagte Nick.

„Gut, aber was sagt uns das über ihn? Wir müssen ja wissen, wonach die Polizei suchen soll“, überlegte Libby laut. „Ist er vielleicht ein Pyromane?“

„Auf jeden Fall ist er ein Sadist, da waren wir uns auch einig. Wir sind ziemlich sicher, dass er die Frauen beim Sterben beobachtet. Er fesselt sie ans Bett, knebelt sie und nimmt ihnen die Kleidung weg. Da allein haben sie große Angst. Das wird noch schlimmer, wenn er das Benzin verteilt und den Raum in Brand steckt. Es ist ja, als würde er diese Frauen bestrafen wollen“, sagte Jesse.

„Er hat sicherlich pyromanische Züge“, sagte Nick. „Damit, dass er jünger ist als seine Opfer, hast du sicherlich Recht, Libby. Pyromanie hat ihre Wurzeln in der Kindheit und die meisten krankhaften Brandstifter sind männliche junge Erwachsene, perspektivlos, fast die Hälfte von ihnen ist vorbestraft.“

Libby nickte konzentriert. „Die Täter sind oft durch Frustration und Hass motiviert und viele haben eine sehr selbstunsichere Persönlichkeit. Die meisten Täter sind unverheiratet, wenn ich mich recht erinnere.“

„Stimmt. Da vermuten wir einen Knackpunkt.“

„Ja, das würde ich auch annehmen. Dass er die Frauen nackt ans Bett fesselt und sie dort sterben lässt, hat mit Sicherheit etwas Sexuelles.“ Nun zögerte Libby kurz und überlegte.

„Der Täter ist ein junger Mann, vielleicht um die zwanzig, perspektivlos und frustriert. Wahrscheinlich lebt er noch bei seinen Eltern und ich wette mit euch, er ist von einer blonden Frau abgewiesen worden.“

„Denkst du, er kennt eins der Opfer?“

Libby ließ sich Zeit mit der Antwort und schüttelte den Kopf. „Nein, das glaube ich nicht. Sie sind Stellvertreterinnen, denn an die Frau, um die es wirklich geht, traut er sich nicht heran.“

„Das haben wir ähnlich gesehen. Und warum ist Feuer sein Mittel der Wahl?“

„Er hatte sicherlich irgendein Schlüsselerlebnis mit Feuer in seiner Kindheit. Kein negatives, sonst würde er das Feuer jetzt nicht zu seinem Lustgewinn einsetzen – und das tut er. Feuer wird ihn in seinem Leben schon eine Weile begleiten. Vielleicht wollte er auch zur Feuerwehr und wurde abgelehnt?“

Jesse nickte anerkennend. „Das hatten wir uns auch überlegt. Pyromanen sind ja nicht selten bei der Feuerwehr, um dort mit Feuer zu tun zu haben und sich als Helden zu profilieren.“

„Wie lautet das Profil denn bis jetzt?“, fragte Nick.

Jesse rief eine Datei am Rechner auf und zeigte sie groß am Bildschirm an.

„Männlicher Weißer im Alter zwischen 18 und 25 Jahren, arbeitslos oder einfacher Hilfsarbeiter, wohnhaft bei seinen Eltern im Norden Richmonds, North Side oder Jackson Ward. Mit hoher Wahrscheinlichkeit leidet der Täter mindestens an einer selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung, ist aber zumindest intelligent genug, die Taten rational zu planen und sie so durchzuführen, dass man ihm nicht auf die Schliche kommt. Vermutlich kennt man ihn als ruhigen, unsicheren Menschen, der aber schlagartig explodieren kann, wenn er frustriert oder provoziert wird. Ein gelegentliches aggressives und antisoziales Verhalten ist bei ihm sehr wahrscheinlich. Möglicherweise ist er bereits wegen Brandstiftung, Vandalismus, Diebstahl oder Körperverletzung vorbestraft. Vermutlich hat er sich innerhalb der letzten drei Jahre bei der Feuerwehr beworben und wurde abgelehnt, eventuell wegen seiner Vorstrafen.

Er wählt seine Opfer gezielt aus und kundschaftet sie unauffällig aus. Er wird äußerlich und in seinem Verhalten nicht beunruhigend wirken, vermutlich bemerkt man ihn gar nicht. In der Vergangenheit hat er Zurückweisung durch eine blonde Frau erfahren – entweder wurde er von seiner Freundin verlassen oder eine Frau, für die er sich interessiert hat, hat sein Werben abgelehnt. Er fühlt sich abgehängt und versucht nun, sich durch die Brandstiftungen und die Morde Macht und Bestätigung zu holen. Allerdings ist er so selbstunsicher, dass er die Opfer nicht vergewaltigt, obwohl es definitiv eine sexuelle Komponente gibt.“

„Klingt doch alles sehr schlüssig“, fand Libby.

„Es deckt sich auch mit deinen Gedankengängen“, sagte Nick. „Ja, das klingt alles sehr gut. Ich denke, so können wir das an die Polizei in Richmond weiterleiten.“

Jesse lächelte. „Dann geben wir das gleich mal zu Alex.“

„Ja, klingt prima.“

„Kann ich mir die Unterlagen noch genauer ansehen?“, fragte Libby.

„Sicher, lass dich nicht aufhalten. Du kannst aber auch jederzeit die anderen unterstützen, wenn du möchtest. Schnupper ruhig mal überall rein und mach dich mit unserer Arbeit vertraut.“

„Klasse“, sagte Libby erfreut. Während Jesse und Nick mit Alexandra sprachen und das Profil fertig stellten, studierte Libby noch einmal die Fallakten. Für vieles gab es keine Beweise, weil das Feuer zahlreiche Spuren einfach vernichtet hatte. Dass der Täter in der Tür stand und seinen Opfern beim Sterben zusah, konnten sie nur behaupten, aber nicht beweisen. Libby überlegte noch, ob der Täter sexuelle Handlungen an seinen Opfern vornahm oder nicht, aber beweisen konnten sie auch das nicht und es war auch nur bedingt wichtig für ihr Profil.

Viel wichtiger war jetzt, das Profil an die Öffentlichkeit zu bringen und die Frauen in Richmond zu warnen. Alexandra nahm in die Pressemitteilung den Hinweis auf, dass alleinstehende Frauen ihre Wohnung sichern oder vorübergehend bei jemand anderem übernachten sollten. Blieb nur zu hoffen, dass sie den Täter fanden, bevor er wieder zuschlug. Libby stellte sich die Taten unendlich grausam vor.

In den Fallakten fiel ihr nichts mehr auf, woran sie nicht bereits gedacht hatten. Deshalb ging sie zu den Kollegen und erkundigte sich bei ihnen, wer Hilfe gebrauchen konnte. Als Belinda sie um Unterstützung bat, schluckte sie kurz, sagte aber nichts. Sie war jetzt Profilerin des FBI und sie würde fortan öfter mit Sexualverbrechen konfrontiert werden. Das war kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken – genau deshalb war sie doch hier: Um solchen Tätern das Handwerk zu legen. Sie holte tief Luft, straffte die Schultern und setzte sich zu Belinda.

 

 

„Ich hatte keine Ahnung, dass ich hier mit so vielen Menschen konfrontiert werden würde, die meine Mutter kennen“, sagte Libby.

„Ist dir das unangenehm?“, fragte Ian und nahm noch einen Bissen. Sie waren alle gemeinsam in die Kantine gegangen und Libby saß zwischen Nick und Belinda inmitten ihrer neuen Kollegen. Sie alle begegneten ihr mit Freundlichkeit, Offenheit und Neugier.

„Nein, ich hatte nur nicht damit gerechnet. Für mich ist Sadie eben meine Mum, aber ihr kennt sie ganz anders.“

„Sie war damals nur wenig älter als du jetzt, als sie zu uns gekommen ist, aber sie war sehr viel zurückhaltender. Wir haben sie ja noch mit bestehendem Zeugenschutz wegen ihres Vaters kennengelernt und erst etwas später erfahren, dass sie Rick Fosters Tochter ist“, sagte Belinda.

„Habt ihr ihn kennengelernt?“

„Ich habe ihn kennengelernt“, sagte Nick. „Ich war dabei, als er vom SWAT erschossen wurde. Hat er denn noch je eine Rolle gespielt, seit du bei den Whitmans lebst?“

Libby schüttelte den Kopf. „Nein, nicht wirklich. Sie hat mir von ihm erzählt, aber das war’s. Ich weiß, dass meine Eltern eine sehr bewegte Vergangenheit haben, aber sie haben immer versucht, das unter der Oberfläche zu halten.“

„Und wolltest du immer Profilerin werden?“, erkundigte Jesse sich.

„Nein, überhaupt nicht. Das hätte ich mir anfangs nie zugetraut, das kam erst mit der Zeit.“

Noch während Libby das sagte, bemerkte sie, wie Nick sie von der Seite ansah und versuchte, das wachsende Gefühl des Unbehagens nicht zuzulassen. Sie hatte gar keine Ahnung, ob er wusste, warum sie tatsächlich Profilerin geworden war. Hatte Sadie es ihm gesagt? Hatte er sich schlau gemacht? Libby wusste es nicht, aber sie beschloss, ihn zu fragen.

Während des Mittagessens unterhielten sie sich ungezwungen und lernten sich etwas besser kennen. Libby war froh darüber, dass die Kollegen sie so freundlich willkommen hießen. Als sie schließlich nach dem Mittagessen ins Büro zurückkehrten, begleitete Libby Nick noch ein Stück weit bis zu seinem Einzelbüro.

„Darf ich dich etwas fragen?“

„Sicher, komm mit“, erwiderte er und schloss die Tür hinter ihnen, als sie in seinem Büro waren. Libby setzte sich ihm gegenüber und suchte nach Worten. Nick ließ ihr Zeit und sagte nichts.

„Kennst du eigentlich meine Motivation dafür, dass ich Profilerin geworden bin?“, rückte sie schließlich mit der Sprache heraus.

Er nickte gleich. „Ich habe mit deiner Mum darüber gesprochen, als wir wegen der Geiselnahme an deiner Uni in San José waren. Hat sie dir nie davon erzählt?“

„Doch, ich weiß, dass sie mit dir darüber gesprochen hat, was ich werden möchte. Wir hatten nur nie darüber gesprochen, ob sie meinen Sinneswandel auch begründet hat.“

„Ja, das hat sie. Ich habe gefragt und dann hat sie mir davon erzählt. Nur oberflächlich, aber ich weiß es. Ich allein. Das wird hier niemand erfahren, wenn du nicht willst. Auf so etwas achte ich immer. Ich habe damals auch aus der Akte deiner Mutter herausgehalten, wer Sean Taylor war und was er ihr angetan hat. Das war kniffelig und ich musste einigen Leuten deshalb gut zureden, aber ich wollte nicht, dass dieses Drama sie durch ihre ganze Laufbahn hinweg begleitet.“

Libby nickte verstehend. „Danke, Nick. Das ist toll von dir.“

„Das ist selbstverständlich für mich. An deiner Mutter habe ich damals gesehen, dass man solche Erfahrungen nicht unterschätzen darf – in dem Sinne, dass sie auch etwas daraus gezogen hat. Sie hat denselben unbeschreiblichen Instinkt für Serienmörder, den ich bei dir auch vermute.“

„Nur ist bei mir nicht Rick Foster oder Sean Taylor der Grund dafür, sondern Brian Leigh.“

Überrascht zog Nick die Augenbrauen hoch. „Dabei hat Brian dich doch gar nicht dazu bewegt.“

„Nein, sicher … das war die extreme Opfererfahrung bei Ron Hawkins, das stimmt. Bei Brian war ich aber auch eins. Ihn kannte ich sogar ziemlich gut. Ich habe auch Tyler Evans erlebt … Nur weiß ich nicht, wie ich hier damit umgehen soll. Dass alle hier Sadie kennen, ist ziemlich einschüchternd.“

„Ja, aber viele der Kollegen hier kennen sie als die junge, zurückhaltende, beinahe schüchterne Agentin, die sich eher im Hintergrund gehalten hat und furchtbar schwer daran zu tragen hatte, dass ihr Vater ein sadistischer Frauenmörder war. Belinda, Ian, David und Alex haben sie damals erlebt und sie haben auch erlebt, was Sean Taylor getan hat. Im Kopf haben sie nicht die Sadie, die du kennst. Das solltest du vielleicht im Hinterkopf haben, wenn ihr über sie sprecht. Sie haben Sadie bei ihrem Ausscheiden aus unserem Team mit Gips, Prellungen und Schürfwunden gesehen und sie wussten, dass Taylor sie damals beinahe zugrunde gerichtet hat. In Los Angeles wusste aber niemand davon und nur so hatte Sadie die faire Chance auf einen völligen Neuanfang. In deiner Akte steht übrigens auch nicht ein Wort über Ron Hawkins. Über die FLDS steht da genug, ich konnte die Rekrutierungsabteilung ja nicht komplett grillen, aber er taucht nicht auf.“

Libby schluckte hart. „Wow, danke. Das hätte ich nicht gedacht.“

„Ich begreife solche Erlebnisse nicht als Krisen, die den Betreffenden schwächen, sondern als Chance. Deine Mum hat später jeden Killer mit traumwandlerischer Sicherheit in seine Einzelteile zerlegt, treffsichere Profile angefertigt und sie war hinterher eine ausgemachte Verhörspezialistin. Das konnte sie aber nur werden, weil ich dafür gesorgt habe, dass man sie nicht als Opfer abstempelt. Und was das angeht, ähnelst du ihr extrem. Du wandelst diese Erfahrung auch in Energie um und ich glaube, du hast auch den entsprechenden Mann an deiner Seite, der dich da unterstützt und dir den Rücken stärkt.“

Libby lächelte scheu. „Unterschätze nie einen Profiler.“

„Wie kommst du darauf?“

„Du hast ihn doch nur kurz kennengelernt.“

„Ja, aber das reichte mir. Er war hier, deinetwegen, und er ist dir sogar hierher gefolgt, ohne diesbezüglich nach deiner Meinung zu fragen – für dich, ganz ohne Kompromisse. Das hat dein Vater auch immer für deine Mutter getan.“

Libby lächelte. „Ich weiß. Und umgekehrt.“

„Ja, sicher. Haben deine Eltern ihn inzwischen kennengelernt?“

„Ja, vor einer Woche. Sie mögen ihn.“

„Das glaube ich gern. Im Übrigen kannst du jederzeit zu mir kommen und du kannst mich alles fragen.“

„Danke, Nick. Das weiß ich zu schätzen.“

Er lächelte und Libby stand wieder auf, um sein Büro zu verlassen. Sie begab sich nun zu David und Dennis, um ihnen ein wenig über die Schulter zu schauen, und die Zeit verging so rasch, dass Libby überrascht war, als der Feierabend gekommen war.

Gut gelaunt verabschiedete sie sich von den Kollegen, ging zum Auto und machte sich auf den Weg zum Freeway. Während sie in Richtung Washington fuhr, musste sie an Owen denken, der sich jeden Tag durch diesen Stau quälen musste, um zur Arbeit zu kommen. Entsprechend war sie auch nicht überrascht, als sie zuerst zu Hause eintraf.

Inzwischen hatte sie sich in Owens Wohnung gemütlich eingerichtet. Es war nun nicht mehr nur seine Wohnung, sondern ihre gemeinsame. Auf dem Rückflug von San Francisco hatte Libby sogar zusätzliches Gepäck gebucht, um noch einiges von ihren Eltern mitnehmen zu können, was dort zwischengelagert worden war. Seit dem Abschluss der Academy lebte sie nun fest bei Owen und genoss es aus vollen Zügen. Die Wohnung gefiel ihr, sie lag in einer gepflegten, zentralen Gegend und auch, wenn sie nun vergleichsweise früh zusammengezogen waren, lief es ziemlich gut. Owen hatte eine achtsame Art, mit ihr umzugehen und Libby liebte ihn ganz ohne jeden Vorbehalt.

Sie räumte ein wenig auf und hatte gerade begonnen, zu überlegen, was man zu Abend essen konnte, als die Eingangstür aufgeschlossen wurde und Owen die Wohnung betrat. Libby blickte auf und lächelte ihm zu.

„Hey“, begrüßte sie ihn und ging zu ihm. Die beiden umarmten einander, bevor Owen seiner Freundin einen tiefen Kuss schenkte.

„Schön, dich zu sehen. Hattest du einen guten Tag? Wie ist es gelaufen?“, fragte er.

„Sehr gut. Es war toll. Und bei dir?“

„Papierkrieg. Ich habe mich auf meine Aussage vor Gericht morgen vorbereitet. Bei dir war es mit Sicherheit spannender. Erzähl doch mal!“

„Hast du Hunger? Wir könnten uns Sandwiches zum Abendessen machen. Dann erzähle ich dir alles.“

Owen war einverstanden und ging zuerst ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Während Libby bereits alles Nötige aus dem Kühlschrank holte, kehrte er in Sweatshorts und T-Shirt zurück. In diesem T-Shirt sah Libby ihn gern, weil sich darunter die Konturen seiner Muskeln deutlich abzeichneten.

„Sind deine Kollegen nett?“, fragte Owen, während er sich ein Salatblatt auf die Brotscheibe legte.

„So weit ich das bis jetzt sagen kann, sind sie das. Jemand aus dem Profiler-Team aus Los Angeles ist jetzt hier, ich kenne ihn schon. Was aber viel krasser ist: Alle kennen meine Mum.“

„Na, das ist doch nicht so überraschend. Deine Mum ist ja auch wer.“

„Irgendwie war mir das nicht klar. Ich habe vorhin noch mit Nick darüber gesprochen und er hat mir zu verstehen gegeben, dass meine Mum früher ein ganz anderer Mensch war als heute.“

„Echt?“

„Ja … ich kann mir das gar nicht vorstellen, dabei wird es wohl ähnlich sein wie bei mir. Ich habe mich über die Jahre auch sehr verändert.“

Owen lächelte. „Das glaube ich dir.“

„Ich finde es schwer, mir Sadie so vorzustellen. Ich kenne sie so ungemein stark, aber das scheint mal anders gewesen zu sein. Und Nick … er hat sie immer unterstützt. Er hat mir vorhin gesagt, dass es in meiner Personalakte keinen Verweis auf Ron Hawkins gibt, dafür hat er gesorgt. Das hat er damals bei meiner Mum schon ähnlich gemacht.“

Owen nickte anerkennend. „Sehr anständig von ihm. Ich mochte ihn auf Anhieb.“

„Er ist großartig. Mich beschäftigt nur, was er vorhin über meine Mum sagte.“

„Inwiefern?“

Libby holte tief Luft. „Ich habe dir nie von ihrem Bruder erzählt.“

„Welchem Bruder? Ich weiß doch, dass sie einen hatte.“

„Ja, Toby. Sie hatte aber noch einen Bruder, den Pittsburgh Strangler Sean Taylor.“

Owen ließ sein Sandwich sinken. „Taylor war ihr Bruder?“

„Rick Fosters unehelicher Sohn aus einer Affäre, ja. Sadie hatte keine Ahnung, bis er sie gekidnappt hat und …“ Libby zog die Schultern hoch. „Sie hat mir von ihm erzählt. Von dem, was er mit ihr gemacht hat.“

Nach einem Moment des Schweigens murmelte Owen: „Verstehe.“

„Das muss furchtbar gewesen sein. Das ist ja schon lange her, aber meine Kollegen waren damals dabei. Irgendwie ist das seltsam.“

„Kann ich verstehen. Und wieder einmal habe ich eine noch höhere Meinung von deinen Eltern.“

Das entlockte Libby ein Lächeln. „Sie sind ja auch toll.“

Owen lächelte ebenfalls und biss wieder in sein Sandwich. Libby tat es ihm gleich und wollte schon davon erzählen, wie sie an dem Profil des Brandstifters gearbeitet hatte, als Owen unvermittelt sagte: „Jetzt weiß ich auch, warum dein Vater mich gebeten hat, ein Auge auf dich zu haben.“

Libby nickte gleich. „Damit war es ihm wirklich ernst.“

„Ja, ich glaube, ich verstehe das jetzt. Ich dachte bis jetzt immer, deine Mum hätte mit ihrem Vater so viel mitgemacht … aber ich glaube, das war eigentlich ihr Bruder, oder?“

„Das war anders, ja. Ihr Vater war für sie ein gewalttätiger Mistkerl, der seine Familie umgebracht hat, aber Taylor war ein sadistischer Killer, der nichts lieber getan hat, als Frauen in seinem Keller zu foltern.“ Nach kurzem Zögern fügte Libby hinzu: „Stell es dir vor wie bei Cassidy Maxwell – schlimmer.“

„Ja, ich weiß. Ich verstehe.“ Owen schluckte und griff nach ihrer Hand. „Natürlich habe ich ein Auge auf dich.“

Libby lächelte gerührt. „Ich weiß. Danke. Ich habe keine Angst. Im Gegenteil – ich habe heute gemerkt, dass ich richtig in dem Job bin.“

„Wow, das ist doch toll.“

„Ich habe an einem Profil mitgearbeitet, es geht um einen Fall von Serienbrandstiftung und Mord in Richmond.“

„Davon habe ich gehört.“

„Sie haben mir einfach nur die Infos gegeben, die sie von der Polizei hatten und haben mich machen lassen. Das Ergebnis war richtig.“

Owen lächelte. „Gut gemacht.“

„Ich bin gespannt, wie es weitergeht, aber das war schon eine tolle Erfahrung.“

„Das freut mich so für dich.“

Sie erzählte noch ein wenig und nachdem sie noch einige Dinge im Haushalt erledigt hatten, beschlossen sie, den Abend ruhig auf dem Sofa ausklingen zu lassen. Owen wirkte müde und auch Libby war ein wenig nach Faulenzen zumute, deshalb öffneten sie Netflix und gingen ihre Watchlist durch. Während Owen mit der Fernbedienung beschäftigt war, schmiegte Libby sich seitlich an ihn und strich mit den Fingerspitzen über seine Brust. Mit einem Lächeln legte Owen den Arm um sie und küsste sie aufs Haar.

So bedingungslos geliebt und sicher hatte sie sich nie gefühlt, bevor sie ihn kennengelernt hatte. Zufrieden schloss sie die Augen und genoss es, Owens Wärme zu spüren und einfach bei ihm zu sein. Mehr brauchte sie gerade nicht.

 

 

Donnerstag, 4. Juni

 

„Hast du denn noch was aus Richmond gehört?“, fragte Libby, während sie mit Nick die Teeküche wieder verließ.

„Zuletzt gestern. Seit der Veröffentlichung des Profils am Montag haben sie wirklich zahlreiche Hinweise erhalten, die sie jetzt eingehend prüfen. Das ist leider oft so – wir werden um Rat gebeten und nicht immer halten die Kollegen von der Polizei uns dann bezüglich des Fortschritts auf dem Laufenden. Du kannst aber sicher jederzeit dort nachfragen, wenn du etwas wissen willst.“

„Das würde mich schon interessieren.“

Nick lächelte. „So geht es mir auch bis heute. Ich weiß, ich sollte ein Profi sein, meine Arbeit machen und loslassen, aber das ist leichter gesagt als getan. Manche Kollegen führen Buch über diejenigen, die gerettet werden konnten.“

„Tolle Idee“, fand Libby.

„Manchmal macht es das auch schwerer. Wir sehen so viel in diesem Job … auch Dinge, an die wir nicht erinnert werden möchten. Der Job kann so furchtbar hässlich sein. Ich will ja nicht wieder von deiner Mum anfangen, aber da habe ich auch Bilder im Kopf, die ich lieber vergessen würde.“

„Ja, sicher. Ich muss meinen Weg erst noch finden, glaube ich. Dieser eine Fall in San José ging mir schon so nah, in dem ich mit Owen zusammen gearbeitet habe … Er sagte mir, er findet es auch nicht gesund, wenn man nichts an sich heranlässt.“

„Da hat er Recht.“ Nick lächelte und ging wieder in sein Büro. Libby setzte sich an ihren Schreibtisch, der gegenüber von Jesses Schreibtisch stand. Inzwischen hatte sie sich dort eingerichtet und sie hatte neben ihrem Bildschirm sowohl ein Foto von Owen als auch eins von Matt, Sadie und Hayley stehen, das sämtliche Kollegen schon eingehend bestaunt hatten.

In dieser Woche war sie hauptsächlich damit beschäftigt, den Kollegen über die Schulter zu schauen. Seit sie die Polizei in Richmond beraten und auch in den anderen Fällen Profile angefertigt hatten, lag kein neuer Fall mehr bei ihnen auf dem Tisch. Libby war ganz froh darüber, denn so konnte sie sich alles in Ruhe anschauen und sich in die Arbeit einfinden.

Gemeinsam mit den Kollegen machte sie pünktlich Feierabend und fuhr nach Hause. Unterwegs kam ihr die Idee, erst noch einkaufen zu gehen und sie schrieb Owen auf dem Parkplatz des Supermarktes in Arlington eine Nachricht, in der sie ihn fragte, ob er noch etwas brauchte. Sie war schon mitten im Laden, als sie auf dem Handy überprüfte, ob er geantwortet hatte, aber laut Statusmeldung hatte er die Nachricht noch nicht einmal gelesen. Libby versuchte, ihn anzurufen, doch es meldete sich nur die Mailbox.

Sie setzte den Einkauf fort, versuchte kurz vor der Kasse noch einmal, Owen anzurufen und zahlte schließlich. Nachdem sie alles ins Auto geladen hatte, schaute sie auf die Uhr und wunderte sich. Inzwischen war es schon fast halb sieben und von Owen kam immer noch keine Reaktion.

Vielleicht hatte er einen Fall reinbekommen. Libby beschloss, sich keine Gedanken zu machen, fuhr nach Hause und brachte die Einkäufe ins Haus. Danach versuchte sie erneut, ihren Freund anzurufen, doch wieder hatte sie nur die Mailbox dran. Sie legte auf und schrieb ihm eine Nachricht. Alles okay bei dir? Arbeitest du noch?

Das hatte sie so bei ihm auch noch nicht erlebt. Ihm war doch nichts passiert?

Sofort sprang ihr Kopfkino an. Verbissen versuchte Libby, es abzustellen und sich davon nicht verrückt machen zu lassen. Er war nur bei der Arbeit. Er war Detective, er musste einfach bestimmt länger arbeiten.

Aber hätte er ihr dann nicht Bescheid gegeben?

Sie hatten diese Situation noch nicht gehabt. Libby versuchte, sich damit zu beruhigen, dass er sicher einfach noch keine Gelegenheit gehabt hatte. Es hatte bestimmt nichts zu bedeuten. Es war nur ihr persönliches Problem, dass sie in so etwas gleich den Teufel hineininterpretierte.

Aber so hatte sie es schon erlebt. Dass jemand, der ihr nahe stand, nicht erreichbar war, hatte nie etwas Gutes bedeutet.

Sie überlegte schon, ob sie bei Owen im Büro anrufen und nach ihm fragen sollte, als ihr Handy plötzlich vibrierte und sie eine Nachricht von Owen erhalten hatte.

Sorry, Mordfall kurz vor Feierabend. Bin am Tatort. Melde mich.

Erleichtert atmete Libby auf und sammelte sich kurz, bevor sie antwortete: Danke. Hatte mir schon Sorgen gemacht. Bis später.

Sie wollte nicht kompliziert sein, sie wollte auch nicht wie eine Klette an ihm kleben. Nun hoffte sie auf sein Verständnis.

Es würde also noch etwas dauern, bis er nach Hause kam. Libby machte sich kurzerhand allein etwas zu essen, surfte ein wenig im Internet und überlegte dann, wie sie sich die Zeit vertreiben konnte. Schließlich hatte sie eine Idee und schrieb Julie eine Nachricht. Vielleicht hatte ihre Freundin ja Zeit, zu telefonieren und sie auf den aktuellsten Stand zu bringen.

Als Augenblicke später Antwort kam, rief Libby sie gleich an und hatte Julie auch sofort in der Leitung.

„Hey, ist ja toll, dass du anrufst. War dein Tag auch so verrückt wie meiner?“, erkundigte Julie sich mit ihrem immer noch unüberhörbaren britischen Akzent.

„Nein, verrückt war er eigentlich nicht. Warum, wie war deiner denn?“

„Ach, ich verzweifle hier nur an der ganzen Bürokratie. Wir sitzen zwischen Kartons in einem Apartment ohne Küche und für uns beide geht es in zehn Tagen los. Ob wir bis dahin hier eingerichtet sind? Ich habe meine Zweifel.“

Libby grinste, obwohl sie Julies Frustration durchaus verstehen konnte. Dabei hatte Julie schon Glück gehabt, denn tatsächlich hatte sie eine Doktorandenstelle am Psychologie-Lehrstuhl der New York University ergattert – in der Stadt, in die das FBI ihren Freund Kyle versetzt hatte. Alles war Schlag auf Schlag gekommen: Kyle hatte erfahren, dass er an seinen bevorzugten Einsatzort versetzt wurde und während er schon auf Wohnungssuche gegangen war, hatte Julie ein Vorstellungsgespräch an der NYU gehabt. Mit ihren Referenzen eines britischen Mastertitels in Psychologie und Kriminologie und dem Nachweis, dass sie die FBI Academy absolviert hatte, war sie problemlos in die engere Auswahl gekommen, aber gefolgt war ein echter Krimi: Die Zusage hatte sie drei Tage vor Ablauf ihres Visums erhalten, an einem Donnerstag, und hätte man ihr nicht freitags ein neues Visum ausgestellt, hätte sie trotzdem erst einmal das Land verlassen müssen.

„New York ist bestimmt so cool“, sagte Libby neidisch.

„Sobald das hier nicht mehr aussieht, als wäre eine Bombe eingeschlagen, müsst ihr herkommen. Unbedingt. In Hoboken selbst ist es zwar nicht so richtig aufregend, aber man kann rüber nach Manhattan sehen. Das ist der Hammer, ganz im Ernst.“

„Ich kann es mir vorstellen. Ich meine, ich habe jahrelang in Los Angeles gelebt, aber New York ist einfach viel, viel cooler.“

„Ich bin so froh, dass das letzte Woche mit dem Visum noch geklappt hat. Ich hatte solche Angst! Und überhaupt … ich habe die Stelle. Ich werde forschen und unterrichten. Das ist zwar nicht das, was ich eigentlich machen möchte, aber Ermittlerin in den USA kann ich ja nicht werden, solange ich keinen amerikanischen Pass habe …“

„Ziehst du das wirklich in Erwägung?“

„Das muss ich sehen. Ich wohne ja noch nicht mal seit zwei Wochen mit Kyle zusammen und ja, es ist verdammt weit weg von zu Hause. Ich muss auch demnächst unbedingt noch mal nach London. Aber wenn es mit Kyle gut läuft und ich hier wirklich meinen Doktortitel machen kann – warum nicht? Ich müsste Kyle eben heiraten, damit ich nach drei Jahren Aufenthalt hier einen amerikanischen Pass beantragen kann. Dazu kann ich ja jetzt noch nichts sagen.“

„Nein, das ist klar. Das ist trotzdem alles verdammt aufregend!“

„Ja, da sagst du was … so hatte ich mir das ja gar nicht vorgestellt, als ich hergekommen bin, um zur Academy zu gehen. Meine Eltern wären natürlich nicht traurig, wenn ich zurück nach England gehen würde und da könnte ich auch problemlos arbeiten, aber Kyle eben nicht. Und ich muss ja sagen, dass ich es schon verdammt großartig hier finde.“

„Ich kann diesen Zwiespalt verstehen. Meine Heimat liegt auch knapp dreitausend Meilen und drei Zeitzonen entfernt.“

„Ja, stimmt. Da ist es ja auch ziemlich unerheblich, dass keine Landesgrenzen dazwischen liegen.“

„In dieser Hinsicht schon, aber mir fehlt jetzt natürlich die Bürokratie.“

„Die ist auch wahnsinnig ätzend, das kann ich dir sagen. Da beißt sich die Katze ja auch in den Schwanz: Die Zusage für die Doktorandenstelle habe ich nur unter der Voraussetzung bekommen, dass ich ein Arbeitsvisum hier kriege und das Visum habe ich nur bekommen, weil ich die Zusage hatte.“

Libby lachte. „Ist ja bescheuert.“

„Total, oder? Ich muss mal sehen, wie das mit den Green Cards funktioniert. Selbst da wäre es am sinnvollsten, wenn ich Kyle heirate, denn dann bekäme ich sofort eine.“

„Oh Mann, du Arme. Ist das kompliziert.“

„Ja, leider. Ich musste jetzt noch allerhand Unterlagen fertig machen, einerseits für die Uni und andererseits für das Visum. Das das alles so kompliziert ist! Das kenne ich aus Europa gar nicht, meine Mum ist damals einfach von Deutschland nach England gegangen und dort geblieben.“

„Ja, das ist ziemlich cool in Europa.“

„Mal sehen, wie das alles wird. Am Wochenende müssen wir auf jeden Fall los und noch einiges für die Wohnung besorgen. Ich bin ja froh, dass es für uns beide nicht jetzt am Montag schon los ging, so wie bei dir.“

„Aber ich musste auch nicht groß umziehen, ich habe mich ja bloß bei Owen eingenistet.“

„Ich finde es immer noch so toll, dass er deinetwegen umgezogen ist. Das ist Liebe. Wie geht es ihm?“

„Gut soweit, aber er arbeitet noch. Vorhin hat er noch einen Mordfall reinbekommen. Bin gespannt, wann er heute nach Hause kommt.“

„Oh, dann drücke ich mal die Daumen. Und wie läuft es so bei dir in der BAU?“

Libby erzählte Julie davon und ihre Freundin hörte gespannt zu.

„Cool, dass du schon mithelfen konntest“, sagte Julie schließlich.

„Ja, auch wenn ich es natürlich toll fände, wenn wir schon einen richtigen Fall hätten. Bin mal gespannt, wie das in Richmond weitergeht.“

„Du kriegst deinen Fall bestimmt früh genug.“

„Ja, glaube ich auch. Ist ja eigentlich gut, dass es gerade nichts gibt, wo wir uns so reinhängen müssten.“

„Das stimmt. Ach, ich beneide dich so um diesen Job. Das würde ich auch gern machen … aber da muss ich ja noch eine Weile warten, bis ich überhaupt den amerikanischen Pass beantragen kann.“

„Und du müsstest dich an Kyle binden.“

Julie lachte. „Das klingt ja so, als wäre das eine Strafe.“

„Nein, das war jetzt vielleicht blöd formuliert.“

„Aber es stimmt. Ich weiß es selbst noch nicht. Das ist eine große Entscheidung und es ist noch zu früh, um sie zu treffen. Bislang läuft es gut mit uns, aber wir sind ja auch erst frisch zusammen.“

„Owen und ich auch, aber es ist, als würden wir uns ewig kennen.“

„Owen ist ja auch unheimlich toll. Du kannst dich glücklich schätzen.“

„Das tue ich“, sagte Libby und lächelte verträumt. Sie unterhielten sich noch ein bisschen, aber als Kyle sich zu Julie gesellte und sie fragte, wie lang sie noch telefonieren würde, beschloss Libby, sie nicht länger aufzuhalten. Die beiden verabschiedeten sich voneinander und Libby widmete sich schließlich einigen Kartons, die noch auszupacken waren.

Doch Owen tauchte immer noch nicht auf. Irgendwann ging Libby duschen und setzte sich hinterher noch aufs Sofa. Sie schaltete den Fernseher ein und ließ sich ein wenig berieseln, spielte parallel auf ihrem Handy herum und schaute immer wieder auf die Uhr.

Es war schon nach zehn, als die Tür endlich geöffnet wurde und Owen die Wohnung betrat. Libby setzte sich aufrecht und schaltete den Fernseher aus.

Langsam zog Owen seine Schuhe aus und kam Libby entgegen. Er umarmte sie wortlos und seufzte tief.

„Tut mir leid, dass ich dir nicht gleich Bescheid gesagt habe. Ich habe gar nicht dran gedacht, aber mir ist klar, dass du dir Sorgen gemacht haben musst.“

„Schon gut. Ich hatte vermutet, dass es einen guten Grund gibt.“

„Ja, war trotzdem dumm von mir. Aber es war wieder typisch – ich hatte meinen Rechner gerade aus und wollte bloß noch die Tasse in die Küche bringen, als das Telefon ging und es hieß, dass wir zu einem Tatort raus müssten. Leichenfund. Ich wusste erst gar nicht, was ich davon halten soll, uns hat nämlich keiner gesagt, worum es geht. Ich hatte eigentlich mit einem erschossenen Drogendealer gerechnet, als es hieß, die Leiche liegt am Shaw Skate-Park. Aber es war kein Dealer. Es war ein Kind.“

„Ein Kind?“, wiederholte Libby.

„Peter Cummings, neun Jahre alt. Er ist erschlagen worden, mitten am Tag, und niemand hat es gesehen.“

„Ein neunjähriges Kind? Mitten in DC und keiner hat es gesehen?“

„Bis jetzt nicht. Ich habe keine Ahnung, wo wir anfangen sollen. Solche Fälle hasse ich.“

Libby nickte mitfühlend. „Hast du Hunger?“

Owen schüttelte den Kopf. „Ich sehe die ganze Zeit diesen kleinen Jungen vor mir und seinen zertrümmerten Schädel … da war so viel Blut. Und wir haben absolut gar nichts. Ich habe jetzt schon Angst, dass wir den Schuldigen nicht finden können.“

Schweigend drückte Libby ihn an sich und strich ihm über den Rücken. „Das wird schon, du bist ein guter Ermittler.“

„Ich bin so fertig …“

„Setz dich aufs Sofa. Soll ich dir was zu trinken bringen?“

Owen nickte und rang sich ein Lächeln ab. „Danke. Bist ein Schatz.“ Er küsste sie auf die Wange und ließ sich schwer aufs Sofa fallen, während Libby ihm etwas zu trinken brachte. Sie brachte ihn dazu, sich mit dem Oberkörper in ihren Schoß zu legen und fuhr mit den Fingern durch sein Haar. Lächelnd schloss Owen die Augen und atmete tief durch.

„Du hast keine Ahnung, wie gut das gerade tut.“

„Meinst du? Ich weiß, wie es dir jetzt geht.“

Nun sah er sie wieder an. „Es ist wirklich toll, wenn der Partner selbst weiß, wie das ist.“

Libby lächelte. „Wir sind schon ein tolles Team.“

„Ja, das sind wir. Bin ich froh, jetzt hier zu sein.“

„Das glaube ich dir. Wenn ich dir irgendwie helfen kann …“

„Sei einfach da.“

„Ich meinte jetzt durchaus auf fachlicher Ebene. Falls du in dem Fall ein Profil brauchst, stelle ich das in der BAU vor.“

Nun lächelte Owen dankbar. „Gut zu wissen. Du bist wirklich großartig.“

„Ist doch klar.“ Libby drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und streichelte seine Brust. Sie konnte verstehen, dass er das gerade brauchte.

 

 

Freitag, 5. Juni

 

Owen verließ das Haus an diesem Tag eine ganze Weile vor Libby. Sie konnte es verstehen, denn er war motiviert, den Mörder des kleinen Peter zu finden. Hoffentlich kam er da weiter.

Sie frühstückte in Ruhe und machte sich dann auf den Weg nach Quantico. Dort angekommen, wollte sie sich gerade an ihren Schreibtisch setzen und den Computer hochfahren, als Nick aus seinem Büro kam und zielstrebig auf sie zusteuerte.

„Guten Morgen. Schön, dass du schon da bist. Lust auf einen Ausflug?“

„Klar, immer. Wohin geht’s?“

„Nach Richmond. Irgendwann gestern Abend ist das überlebende Opfer des Brandstifters aus dem Koma erwacht. Gestern Abend war die Frau noch nicht so richtig stabil und sie wirkte schwer traumatisiert auf die Detectives, weshalb sie uns baten, mit ihr zu sprechen. Da hätte ich dich gern dabei.“

„Oh, selbstverständlich. Das mache ich gern.“

„Ich kann selbst nicht mitkommen, aber ich denke, wenn du Belinda und Jesse begleitest, sollte das vollkommen ausreichend sein.“

„Klar, das kriegen wir hin“, sagte sie motiviert. Als Augenblicke später Belinda das Büro betrat, sprach Nick auch mit ihr noch einmal. Jesse wusste bereits Bescheid und so saßen sie keine Viertelstunde später in einem Chevrolet Suburban des FBI und fuhren nach Richmond. Jesse hatte sich ans Steuer gesetzt und Belinda hatte freiwillig auf der Rückbank Platz genommen, so dass Libby sich neben Jesse setzte.

„Bin gespannt, ob die Frau uns irgendwas sagen kann“, sagte er, während er sich durch den zähen Verkehr auf der Interstate 95 nach Süden quälte.

„Wenn sie noch völlig neben der Spur wäre, hätte man uns nicht gebeten, zu kommen“, gab Belinda zu bedenken und wandte sich dann an Libby. „Nick sagte mir, du sollst es ruhig mal versuchen.“

„Was? Mit ihr sprechen?“, fragte Libby.

„Genau. Möchtest du?“

„Natürlich, gern.“

„Wir sind ja auch dabei, falls es Probleme gibt. Da musst du dir keine Sorgen machen.“

„Das kriegt sie hin“, sagte Jesse zuversichtlich. Libby lächelte ihm dankbar zu, was er bereitwillig erwiderte. Er war ihr sehr sympathisch und das nicht bloß, weil er nur wenig älter war als sie. Er hatte eine offene, aufgeweckte Art, wegen der man ihn einfach gern haben musste.

Während der Fahrt nutzte Libby die Gelegenheit, beide noch ein bisschen besser kennenzulernen. Belinda erzählte, dass ein spezieller Fall in ihrer Laufbahn als Therapeutin sie dazu motiviert hatte, zur BAU zu gehen. Eine Frau war einem Serienvergewaltiger zum Opfer gefallen und hatte knapp und mit schwersten Verletzungen überlebt. Sie war extrem traumatisiert gewesen und Belinda hatte versucht, ihr zu helfen. Sie hatte auch erst geglaubt, es geschafft zu haben, aber dann hatte sie vom Selbstmord der Frau erfahren und war motiviert gewesen, Verbrechensopfern anders zu helfen und nicht erst dann, wenn schon alles zu spät war.

„Deshalb hast du am Montag auch diesen Vergewaltigungsfall bekommen“, stellte Libby deshalb fest.

Belinda nickte. „Das macht mir nichts aus, damals habe ich von der Frau so viel gehört, was mir jetzt hilft. Das ist meine Stärke, so bin ich dem Team am nützlichsten. So machen wir das hier.“

Libby nickte zustimmend. Schließlich erzählte Jesse von sich – er war, genau wie Libby, erst bei der Polizei gewesen und hatte es dann zum FBI geschafft.

„Ich bin aus St. Louis, da hatte ich auch mit einigen echt üblen Verbrechen zu tun. Manches haben wir nicht aufgeklärt, wir waren chronisch überlastet – aber einmal hatten wir Unterstützung von den Profilern aus Quantico und deren Arbeitsweise hat mich so beeindruckt, dass ich auch zum FBI wollte. Zum Glück hat es funktioniert.“

„Ist doch großartig“, fand Libby.

„Ich mache es auch richtig gern. Es ist manchmal ein harter Job, aber wem sage ich das … Du kennst das ja schon.“

„Stimmt. Trotzdem bin ich auch froh, hier zu sein“, sagte Libby.

Sie unterhielten sich bis zu ihrer Ankunft in Richmond. Die Polizei hatte ihnen gesagt, dass Natalie Wells in der Uniklinik lag und sie wurden nur unter Vorlage ihrer Ausweise vorgelassen, denn die Frau stand unter Polizeischutz. Ein Beamter wartete vor ihrer Tür, aber er wusste Bescheid und ließ sie ins Zimmer.

Natalie hatte ein Einzelzimmer. Es war abgedunkelt, sie hing noch an Schläuchen und Kabeln, war aber nicht mehr intubiert. Mit trübem Blick starrte sie aus dem Fenster und reagierte nicht, als die Profiler ins Zimmer kamen. Belinda und Jesse hielten sich auf Anhieb im Hintergrund, doch das verunsicherte Libby nicht. Ermutigend nickte Belinda ihr zu, so dass Libby in Natalies Blickfeld trat.

Die Frau war entsetzlich verbrannt. Sie war überall am Körper verbunden, aber einige Brandverletzungen lagen auch offen. Es war kein schöner Anblick, aber Libby versuchte, ihn zu ignorieren. Hier ging es um den Menschen.

„Miss Wells, ich bin Special Agent Libby Whitman vom FBI in Quantico. Ich bin Profilerin. Die Polizei hat uns im Fall des Serienbrandstifters von Richmond zur Unterstützung hinzugezogen und deshalb würde ich gern mit Ihnen reden. Ich bin in Begleitung meiner beiden Kollegen, den Special Agents Belinda Merringer und Jesse Brooks.“

Doch Natalie reagierte gar nicht. Libby zog sich einen Stuhl heran und setzte sich genau in ihr Blickfeld, dann sagte sie: „Es tut mir sehr leid, dass Ihnen das passiert ist. Vielleicht können Sie uns helfen, den Mann zu finden, der dafür verantwortlich ist.“

„Und was bringt das?“, fragte Natalie mit rauer Stimme, ohne Libby anzusehen. „Ich bin total entstellt … ich werde noch so oft operiert werden müssen. Was für ein Leben wartet denn jetzt auf mich?“

Mit dieser bodenlosen Verzweiflung hatte Libby nicht gerechnet. Das traf sie unvermittelt und hart. Sie schluckte und sagte: „Das kann ich gut verstehen, aber es ist Ihr Leben. Es ist noch da. Würde es Ihnen helfen, zu wissen, dass der Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen wird?“

Natalie seufzte mutlos. „Eigentlich ist mir das egal … ich denke gerade, ich hätte besser sterben sollen.“

Libby schüttelte den Kopf. „Nein, nicht doch. Ich kann mir vorstellen, dass das alles gerade zu viel ist, aber Ihr Leben kann er Ihnen nicht nehmen.“

„Ich kann bloß mit Ihnen reden, weil ich Fentanyl bekomme. Sonst würde ich schreien vor Schmerz.“

„Ich weiß. Ich verstehe. Bitte helfen Sie uns, den Täter zu finden. Wir wollen ihn zur Verantwortung ziehen und verhindern, dass er das wieder tun kann. Er wird es wieder tun wollen. Das darf nicht passieren.“

Natalie schluckte hart. „Was wollen Sie denn hören?“

„Können Sie ihn uns beschreiben?“

Für einen kurzen Moment überlegte Natalie und schwieg, aber dann sagte sie: „Ich weiß nicht, wo er auf einmal hergekommen ist. Ich habe ja schon geschlafen. Er stand im Schlafzimmer und hat mir Handschellen angelegt, ohne dass ich es gemerkt hätte. Ich bin erst wach geworden, als er mir was in den Mund gesteckt hat, damit ich nicht schreien kann. Ich war so in Panik. Ich habe natürlich trotzdem versucht, zu schreien. Dann hat er das Licht angemacht und … und ich habe ihn gesehen. Er war relativ groß, schlaksige Statur … ich weiß nicht, wie alt. Anfang zwanzig vielleicht. Er hatte sich nicht maskiert, da wusste ich schon, dass er mich nicht am Leben lassen will.“ Ein Schluchzen unterbrach sie kurz. „Er ist blond, hat ganz kurzes Haar … blaue Augen. Ein dürrer Typ. An seiner Stimme würde ich ihn wiedererkennen.“

„Das ist großartig, Natalie. Das machen Sie wirklich toll“, sagte Libby. „Was ist dann passiert?“

„Dann … oh Gott, ich kann das nicht.“

„Lassen Sie sich Zeit. Es ist alles gut.“ Im Augenwinkel merkte Libby, wie Belinda zufrieden lächelte. Jesse stand einfach nur da und hörte zu.

„Ich hatte solche Angst. Er stand einfach nur da und hat mich angestarrt. Dann hatte er ein Messer in der Hand. Er … er hat mein Nachthemd aufgeschnitten. Er hat all meine Kleidung zerschnitten, bis ich nackt war, und er hat sie weggenommen.“ Natalie wollte weinen, aber sie konnte nicht. „Ich dachte, er vergewaltigt mich jetzt, aber das hat er nicht. Er hat mich nur angestarrt und meinte, ich wäre schön.“

„Er hat sie nicht angefasst?“

„Nein, wobei ich immer damit gerechnet habe, dass er es tut. Er hatte eine Erektion, das konnte ich sehen. Aber er hat nur mit mir geredet, hat mir Angst gemacht. Es schien ihm zu gefallen, sich anzusehen, wie ich geweint und versucht habe, ihn anzuflehen, mir nichts zu tun. Das hat ihm den Kick gegeben.“

Libby nickte ernst. „Hat er noch etwas gesagt?“

„Dass ich es verdiene. Dass er mir zusehen wird, wenn ich sterbe. Dann ist er zur Tür gegangen und hat eine Flasche genommen. Den Inhalt hat er über meine Kommode gegossen und meinen Kleiderschrank damit bespritzt, bevor er alles mit einem Streichholz angesteckt hat. Ich war wahnsinnig vor Angst. Und während alles Feuer fing, stand er einfach in der Tür und hat zugesehen. Das ganze Zimmer stand bald in Flammen, auch das Bett …“ Nun begann Natalie, verzweifelt zu wimmern. „Ich weiß noch, welche Schmerzen das waren, als das Feuer meinen Körper verbrannt hat … und wie mein eigenes verbranntes Fleisch riecht …“

Nicht nur am Patientenmonitor war deutlich sichtbar, wie aufgewühlt Natalie war. Ihr Puls schoss in die Höhe, aber auch so war offensichtlich, dass sie kurz vor einem Zusammenbruch stand.

„Schon gut, alles in Ordnung“, sagte Libby schnell. „Sehen Sie mich an und konzentrieren Sie sich aufs Atmen. Sie sind im Krankenhaus, es ist vorbei. Ganz ruhig.“

Tatsächlich hörte Natalie auf sie und es gelang Libby, sie zu beruhigen. Als Natalie sich wieder gefangen hatte, fragte Libby: „Haben Sie noch bemerkt, wie er gegangen ist?“

„Nein … ich glaube, er war noch da, als ich bewusstlos geworden bin. Ich habe mit allem abgeschlossen und dachte, ich sterbe. Dass ich noch lebe, habe ich immer noch nicht ganz begriffen.“

„Das ist ja verständlich, Sie lagen ja auch länger im Koma.“

„Wäre ich doch bloß nicht wach …“

„Aber Sie haben gerade unser Profil bestätigt. Wir hatten angenommen, dass der Täter ein junger Mann ist und wir haben auch seine Vorgehensweise verstanden. Mit Ihrer Beschreibung stehen unsere Chancen gleich viel besser, ihn zu schnappen. Das war großartig.“

Natalie atmete tief durch. „Ich weiß nicht, wer er ist. Ich habe ihn nie zuvor gesehen und ich weiß auch nicht, warum er mich genommen hat. Ich weiß nur, dass er ein kranker Perverser ist ...“

„Wir finden ihn, Natalie. Vielleicht können Sie ihn ja sogar so genau beschreiben, dass wir ein Phantombild anfertigen können. Dafür kann ein Zeichner zu Ihnen kommen.“

„Vielleicht … Bitte verhindern Sie, dass er das wieder tut.“

„Deshalb sind wir hier“, sagte Libby. „Vielen Dank, Natalie. Sie haben uns wirklich sehr geholfen.“

Sie wollte die Frau nicht länger strapazieren als nötig, denn Natalie war schwer verletzt und ziemlich benebelt von den Medikamenten. Dass sie überhaupt noch lebte, grenzte an ein Wunder. Die Profiler verabschiedeten sich und verließen den Raum. Auf dem Flur nickte Belinda Libby zu und sagte: „Das war gut. Woher hast du diese Erfahrung? Du bist doch noch so jung.“

„Von Sadie. Ich weiß, wie sie mit Opfern gesprochen hat. Ich weiß auch noch, wie sie damals mit mir gesprochen hat.“

Belinda lächelte. „Bitte sag ihr doch, dass sie uns in Quantico besuchen soll, wenn sie mal wieder hier ist.“

„Klar, das mache ich.“

„Dann sehen wir mal, dass wir wirklich einen Zeichner herholen“, sagte Jesse. „Dass sie ihn uns beschreiben kann, bringt uns wirklich einen großen Schritt voran.“

Libby nickte und sie fuhren noch zur Polizei von Richmond, wo sie kurz Bericht erstatteten und einen Zeichner anforderten, bevor sie sich auf den Rückweg nach Quantico machten. Als sie dort eintrafen, war es schon an der Zeit für die Mittagspause und in der Kantine erkundigte Nick sich, wie es gelaufen war. Jesse und Belinda berichteten ihm davon, dass sie nicht ein Wort gesagt hatten, was Libby schon fast peinlich war. Nick äußerte sich mit allem sehr zufrieden und am späten Nachmittag kam er mit einem Fax von der Polizei aus Richmond, die nun ein Phantombild zur Veröffentlichung fertig hatte. Libby freute sich, dass es nun endlich voranging mit den Ermittlungen, denn dieses Phantombild erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass sie den Täter rechtzeitig vor der nächsten Tat fassten, enorm.

„Das war eine tolle Leistung“, sagte Nick, während alle sich zum Aufbruch bereit machten. „Ich wünsche euch ein schönes Wochenende. Habt ihr euch mehr als verdient.“

„Danke“, sagte Libby. „Dir auch ein schönes Wochenende.“

„Wir sehen uns am Montag – es sei denn, in Richmond würden wir gebraucht.“

Libby nickte, griff nach ihrer Tasche und verließ das Büro. Sie hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen, denn Owen würde sowieso noch nicht zu Hause sein. Auf dem Freeway herrschte relativ viel Betrieb, doch schließlich hatte sie es nach Arlington geschafft und betrat ihre Wohnung.

Es war einsam und still dort. Sie überlegte, ob sie mit ihren Eltern telefonieren sollte, aber in Kalifornien war es erst früher Nachmittag und somit war die Wahrscheinlichkeit nicht sehr hoch, dass sie jemanden zu Hause antreffen würde.

Stattdessen packte sie weiter aus und ging im Internet auf die Suche nach Wanddekorationen. Zahlreiche Wände waren immer noch kahl, was für sie wenig wohnlich war.

Gegen Viertel nach sieben kam Owen nach Hause. Er wirkte gestresst und müde, als er die Schuhe auszog und seinen Schlüssel weglegte. Zwar rang er sich ein Lächeln ab, als Libby zu ihm kam, aber das tat er nur ihr zuliebe.

„Hey“, sagte sie und umarmte ihn zur Begrüßung. „Schön, dass du da bist.“

„Ich sterbe vor Hunger. Wie ist es mit dir? Bestellen wir uns was?“

Eine Kleinigkeit wollte Libby auch nehmen. Owen suchte sich schnell etwas aus und bat sie, zu bestellen, während er sich umzog. Libby hatte die Bestellung gerade aufgegeben, als er zurückkam und auf dem Sofa Platz nahm.

„Wie war dein Tag?“, fragte er.

„Gut. Das überlebende Opfer des Brandstifters ist aufgewacht. Wir haben jetzt ein Phantombild.“

„Oh, das ist toll. Damit wird die Luft dünn für ihn.“

„Würde ich auch sagen. Und wie war es bei dir?“

Owen rieb sich kurz die Schläfen, bevor er antwortete. „Das wird ein Horror-Fall. Benny und ich wissen gar nicht, wo wir anfangen sollen. Wir haben heute sämtliche Überwachungskameras in der Gegend ausgewertet und alle Kids und Jugendlichen befragt, die am Skate-Park anzutreffen waren. Viele waren auch gestern dort, aber niemand hat etwas gesehen. Keine verdächtige Person, nichts. Niemand hat Schreie gehört. Das ist absolut lächerlich, das ist ein öffentlicher, gut einsehbarer Platz.“

Owen holte sein Handy heraus und zeigte Libby eine Karte des Gebietes. Neben dem Skate-Park lag ein Basketballplatz, eine zweispurige Straße führte daran vorbei. Angrenzend befand sich ein Sandplatz, auf dem viele Kinder spielten. Im Norden wurde das Gebiet von einem Parkplatz und einem Hundepark begrenzt.

„Hier lag die Leiche.“ Owen zeigte auf das östliche Ende des Spielplatzes neben dem Parkplatz. Daneben erhob sich ein Gebäude, außerdem stand dort ein großer Baum.

„Der Junge lag hier neben dem ersten geparkten Wagen. Es geht mir nicht in den Kopf, dass das niemand gesehen hat. Gut, das benachbarte Gebäude hat nur ein Fenster, aber im Hundepark war Betrieb, auf dem Spielplatz und im Skate-Park waren Kids unterwegs. Das ist allerdings die einzige Stelle auf dem Gelände, die von der Straße aus kaum einsehbar ist.“

„Entschuldige die Frage, aber ist denn der Fundort auch der Tatort?“

Owen fand die Frage nicht seltsam. „Ja, es ist der Tatort, das legen die Spuren nah. Pass auf.“

Er öffnete seine Fotos und zeigte Libby die Aufnahmen der Spurensicherung. Peter lag mit zertrümmertem Schädel auf dem Asphalt gleich neben einem geparkten Wagen in einer riesigen Blutlache.

„Es sind Blutspritzer an dem Wagen gesichert worden und – entschuldige, wenn ich das so sage – Knochen- und Gewebeteile des Jungen konnten ebenfalls im direkten Umkreis gefunden werden. Er ist dort getötet worden. Das muss blitzschnell gegangen sein, wir haben schon ermittelt, dass es zwischen Viertel vor fünf und fünf Uhr passiert sein muss, denn um kurz nach fünf wurde er gefunden und eine Gruppe von Kids war bis etwa Viertel vor fünf dort und hat gespielt. Zu dem Zeitpunkt lag dort noch keine Leiche.“

„Habt ihr denn die Tatwaffe?“

„Ja, die haben wir tatsächlich. Die lag in einem Müllcontainer neben der Baptistenkirche auf der anderen Seite des Hundeparks. Es ist ein Baseballschläger, wir haben daran Blutspuren und Fingerabdrücke sichern können.“

„Jemand hat dem Jungen mit einem Baseballschläger den Schädel zertrümmert?“ Libby schüttelte fassungslos den Kopf. „Aber das geht schnell. Zwei, drei gezielte Hiebe und es ist vorbei.“

Owen nickte. „So muss es auch gewesen sein. Die Baptistenkirche hat zwar ihre Eingänge mit Videokameras bestückt, aber leider nicht die Gegend um die Müllcontainer. Wir vermuten, dass der Täter nach Norden hin verschwunden ist, aber wir haben niemanden auf den Videoaufnahmen aus der Nähe, der sich irgendwie verdächtig verhält.“

„Okay … habt ihr denn schon Obduktionsergebnisse?“

„Ja. Nichts, was überraschen würde – Peter wurde mit dem Baseballschläger erschlagen. Ansonsten hat man ihm nichts getan. Er stammt aus einer einfachen, aber stabilen Familie und hat noch einen kleinen Bruder. Die Familie wohnt keine halbe Meile vom Skate-Park entfernt auf der Corcoran Street. Peter war sehr oft am Skate-Park und hat dort mit Freunden gespielt. Tagsüber ist das für Kinder ungefährlich, erst abends treiben sich dort zunehmend Jugendliche und eben auch Dealer herum. Ganz in der Nähe liegt auch seine Schule. Es ist der einzige Treffpunkt für Kinder und Jugendliche weit und breit.“

„Gibt es ähnliche Verbrechen?“

„Das habe ich erst oberflächlich geprüft, dabei jedoch nichts gefunden. Ich habe heute mit den Eltern und der Lehrerin gesprochen und wir waren stundenlang wegen Zeugenaussagen vor Ort, aber wir treten absolut auf der Stelle.“

„Okay … was hältst du davon, wenn du mich morgen mal zum Tatort bringst?“

Dieser Vorschlag überraschte Owen sichtlich. „Kann ich machen.“

„Vielleicht fällt mir da was auf. Ich kann mich da besser einfühlen, wenn ich selbst dort bin.“

„Natürlich. Wenn du möchtest … Ich werde morgen sowieso ins Büro müssen.“

„Ja, klar. Ich würde mich freuen, wenn ich dir helfen könnte.“

Owen lächelte und bedankte sich mit einem Kuss. „Das wäre wirklich toll.“

„Dafür hast du mich doch, oder?“

Jetzt lachte er. „Was, dafür, dass du mir bei der Arbeit hilfst? Wohl kaum.“

„Du weißt doch, wie ich das meine.“

„Na klar. Aber im Moment bin ich froh über meinen Feierabend und darüber, hier zu sein. Tote Kinder sind mit die schlimmsten Fälle, die man haben kann.“

„Ja, das stimmt. Aber du wirst den Verantwortlichen schon finden.“

„Ich hoffe es. Jetzt will ich erst mal abschalten und was essen.“

Dieses Bedürfnis konnte Libby nur zu gut verstehen, aber es dauerte zum Glück auch nicht mehr lang, bis der Pizzabote kam.

 

 

Samstag, 6. Juni

 

 

Owen war besser gelaunt, nachdem er erst einmal ausgeschlafen hatte. Er sprang schnell unter die Dusche, während Libby das Frühstück vorbereitete. Nachdem sie mit Frühstücken fertig waren, schrieb Owen seinem Partner eine Nachricht und sie machten sich auf den Weg nach Washington. Wie immer führte der Weg sie vorbei am Pentagon, über den Potomac und unter der National Mall hindurch. Als sie ihr Ziel erreicht hatten, parkte Owen auf dem Parkplatz der Baptistenkirche gleich neben den Absperrbändern der Polizei. Sie stiegen aus und Libby ließ die Gegend auf sich wirken.

Eigentlich war der Parkplatz durch einen Zaun vom Spielplatz getrennt, aber der Zaun hatte zahlreiche Löcher und fehlte auf einem gut fünf Meter langen Stück völlig. Direkt angrenzend lag auch der Hundepark, in dem an einem Samstagvormittag viel Betrieb herrschte. Die Leute beobachteten sie neugierig, während sie sich umsahen.

Libby musste nicht fragen, wo Peter gelegen hatte. Die Blutflecken waren immer noch sichtbar, die Absperrung war weiträumig drumherum gezogen. Dessen ungeachtet tauchte Libby unter dem Absperrband hindurch und stellte sich neben die Blutflecken. Sie drehte sich einmal im Kreis und schaute in jede Richtung, sagte jedoch nichts. Owen schwieg ebenfalls und ließ seine Freundin gewähren.

Im Anschluss ging Libby hinüber zum Hundepark und betrat das eingezäunte Gelände durch den Haupteingang. Sie versuchte vom Hundepark aus zum Tatort zu blicken und stellte fest, dass sie immer gerade so weit entfernt war, dass nichts Genaues dort zu erkennen war. Anschließend nahm sie den gesamten Spielplatz bis hinunter zum Skate-Park und zum Basketballplatz unter die Lupe, doch egal wo man sich befand, man hatte keine gute Sicht auf den Tatort.

„Theoretisch hätte der Täter auch nach Süden fliehen können, nachdem er erst den Baseballschläger losgeworden ist“, sagte Libby mit Blick auf einen schmalen gepflasterten Fußweg entlang des Spielplatzes.

„Hältst du das für wahrscheinlich?“

„Für wahrscheinlich nicht, aber für möglich. So wie ich das sehe, ist der Tatort auf dem ganzen Gelände hier der einzige Ort, der von allem weit genug entfernt ist, um schlecht einsehbar zu sein. Der Baum wirft noch zusätzlich Schatten und versperrt die Sicht von der Straße aus. Wenn die Tat schnell gegangen ist, und davon ist ja auszugehen, hat das vermutlich wirklich niemand gesehen. Theoretisch hätte der Täter ihn im Vorbeigehen erwischen und einfach niederschlagen können. War Peter denn mit niemand Bestimmtem hier?“

„Doch, mit einem Freund. Der wurde aber um halb fünf von seiner Mutter angerufen und sollte nach Hause kommen. Ich habe schon mit ihm gesprochen, er sagte mir, dass Peter noch ein wenig mit seinem BMX-Bike dort herumfahren wollte. Das Fahrrad haben wir im Übrigen nicht gefunden.“

„Ach was.“

„Wir wissen noch nicht, was wir davon halten sollen.“

„Also war er zum Zeitpunkt der Begegnung mit dem Täter so gut wie allein“, schloss Libby.

Owen nickte. „Andere Kinder haben ausgesagt, dass er hier herumgefahren ist. Er ist auch im Kreis um den Spielplatz herumgefahren, über die gepflasterten Wege, über den Platz und die Quarterpipes im Skate-Park. Er wurde hier überall gesehen, nur hat niemand gesehen, wie sein Mörder ihn angesprochen hat.“

„Es muss also jemand sein, der hier nicht weiter aufgefallen ist. Ein Fremder und vor allem ein fremder Erwachsener wäre hier sicherlich bemerkt worden“, sagte Libby.

„Ja, wahrscheinlich. Uns ist auch immer noch nicht klar, was das Motiv für die Tat ist. Wollte jemand dem Jungen sein Fahrrad stehlen? Gab es Streit wegen irgendwas?“

Libby wollte schon etwas erwidern, als sie bemerkte, wie Owen plötzlich neugierig in Richtung des Parkplatzes schaute. Von dort kam ein dunkelhaariger Mann Mitte dreißig zielstrebig auf sie zu und Owen lächelte.

„Du hast mir nicht gesagt, dass du in Begleitung kommst“, sagte der Mann und nahm gleich Kurs auf Libby. „Benny Morgan, ich bin Owens Partner. Du musst Libby sein.“

Libby hielt ihm die Hand hin und nickte. „Guten Morgen, freut mich sehr, dich kennenzulernen.“

Benny blickte zu Owen. „Was wird das hier, ermittelt ihr etwa?“

„So in der Art. Ich habe Libby davon erzählt, dass wir keinen Ansatzpunkt haben und sie sagte, sie will sich den Tatort mal ansehen.“

„Ja, wieso nicht. Ich hatte noch nie mit Profilern zu tun, aber man erzählt ja die wildesten Geschichten über euch.“

„Tut man das?“, fragte Libby.

„Ich habe da schon alles gehört, vom abgehobenen, leicht autistischen Spinner bis hin zum Hellseher. Bin mal gespannt, was davon stimmt.“

Jetzt lachte sie. „Vermutlich gar nichts, aber die Beurteilung überlasse ich dir.“

Benny grinste freundlich. „Und was hast du bis jetzt herausgefunden?“

„Wir sprachen gerade darüber, dass der Täter jemand sein muss, der sich hier ins Bild fügt. Er ist niemandem aufgefallen und er hat Peter gänzlich unbemerkt erschlagen. Ein fremder Erwachsener hätte das nicht geschafft.“

„Nein, vermutlich nicht. Ich vermute ja, dass ihm jemand sein Fahrrad stehlen wollte.“

„Aber erschlägt man deswegen jemanden so brutal mit einem Baseballschläger?“, wandte Owen ein.

„Es sind auch schon Leute wegen zwanzig Dollar erschossen worden. Möglich ist alles.“

„Ja, das stimmt schon, aber kein Zeuge hat hier jemanden mit einem Baseballschläger gesehen.“

„Tatsache ist, dass jemand mit einem Schläger hier war. Was, wenn der Täter jemand ist, der sich regelmäßig hier aufhält? Jemand, den Peter kennt? Deshalb hat Peter auch nicht geschrien“, sagte Libby.

„Und wer?“, fragte Owen.

„Einer der Jugendlichen hier. Oder eins der Kinder.“

Sie spürte Owens und Bennys fragende Blicke auf sich, als sie das sagte, und Benny sagte gleich: „Das ist so unwahrscheinlich.“

„Ja, aber es ist die beste Erklärung, die mir einfällt. Nur jemand, der hier sozusagen zum Inventar gehört, konnte Peter unbemerkt töten.“

Owen nickte. „Das stimmt, aber weißt du, wie selten das ist?“

„Ja, der Anteil von Kindern und Jugendlichen an allen Mordverdächtigen liegt bei etwas über 0,1 Prozent“, sagte Libby wie aus der Pistole geschossen.

„Verdammt, wieso weißt du so was?“, fragte Benny und lachte.

„Weil Profiling zum großen Teil was mit Statistiken zu tun hat. Wir orientieren uns ja an Fallbeispielen. Wenn ich ein Szenario vor mir habe, versuche ich immer, das entsprechend meines Wissensstandes einzuordnen. Dass etwas selten ist, heißt für mich auch überhaupt nichts. Ich behalte es zwar im Hinterkopf, aber die Vorgehensweise hier ist so stark einzugrenzen, dass keine andere Möglichkeit wirklich plausibel erscheint. Peter muss seinen Mörder gekannt haben, weil er keinerlei Gegenwehr geleistet zu haben scheint – oder hatte er Verletzungen, die darauf hinweisen, dass er sich gewehrt hat?“

Owen schüttelte den Kopf. „Nein, absolut nicht.“

„Er hat den Täter nah genug an sich herangelassen, damit das geschehen konnte, und er hat nicht geschrien. Das hat noch dazu beigetragen, dass niemand etwas bemerkt hat. Aber ihr habt ja auch ermittelt, dass niemand etwas gesehen haben will. Ich sage euch was: Die meisten Anwesenden hier haben den Täter gesehen und sie kennen ihn. Der war nicht unsichtbar, er ist nur nicht aufgefallen und an einem Ort wie diesem spricht das für einen Jugendlichen oder ein Kind. Diese Annahme lässt sich noch dadurch untermauern, dass Peter so jung war.“

„Dann haben wir vielleicht schon mit dem Täter gesprochen“, murmelte Benny erschrocken.

„Ja, das ist sogar sehr wahrscheinlich. An eurer Stelle würde ich noch mal mit allen Zeugen sprechen, diesmal aber mit dem Hintergedanken, dass jeder von ihnen ein möglicher Täter ist. Ihr könntet auch Fingerabdrücke nehmen lassen.“

Owen und Benny tauschten einen vielsagenden Blick und Owen nickte schließlich. „Wenn das stimmt, ist das echt ein Ding.“

„Ich kann mich da gern noch genauer für euch schlau machen. Meine Kollegen und ich bearbeiten Verbrechen gegen Erwachsene, um Verbrechen gegen Kinder kümmert sich ein anderes Team. Die werden mir sicher noch mehr dazu sagen können.“

Nun nickte Benny anerkennend. „Wenn das mal kein behördenübergreifendes Arbeiten ist.“

Owen grinste. „Es hat schon seine Gründe, dass meine Freundin beim FBI ist.“

„Ja, ich merke das schon. Schade, dass du nicht mehr bei der Polizei bist, Libby.“

Sie zuckte belustigt mit den Schultern. „Ich wollte unbedingt zu den Profilern. Hab’s bis jetzt nicht bereut.“

„Okay, packen wir es an“, sagte Benny voller Tatendrang.

„Ich sehe dann mal, was ich noch für euch herausfinden kann, wenn ihr mögt“, schlug Libby vor.

„Willst du dann mein Auto nehmen und mich später wieder abholen?“, fragte Owen.

„Gute Idee. Meld dich einfach.“

Owen und Libby verzichteten in Bennys Anwesenheit auf eine zu private Verabschiedung und während Owen zu Benny ins Auto stieg, setzte Libby sich in das Auto ihres Freundes und machte sich auf den Heimweg.

Hatte sie den beiden jetzt einen Floh ins Ohr gesetzt? Hoffentlich nicht. Aber sie war sich sehr sicher, dass das, was sie gesagt hatte, Sinn ergab. Dennoch hatte sie das Bedürfnis, jemanden zu fragen, ob dem auch wirklich so war. Sie hatte nur keine Ahnung, wer das an einem Samstag sein sollte. Sollte sie Nick anrufen? Sie wollte ihn eigentlich nicht am Wochenende stören und glaubte ohnehin, dass die Kollegen des anderen BAU-Teams die richtigen Ansprechpartner waren, aber ob sie von denen einen erreichen würde, stand auch in den Sternen.

Schließlich überlegte sie, einfach zu Hause in Kalifornien anzurufen. Als sie wieder zu Hause in Arlington war, war es inzwischen auch so spät, dass man in Kalifornien durchaus schon gefrühstückt haben konnte, deshalb beschloss Libby, es zu riskieren und rief bei ihren Eltern in Pleasanton an. Sie hatte gleich ihre Mutter am Apparat, was ihr sehr gelegen kam.

„Wie schön, dass du anrufst“, freute Sadie sich. „Wie geht es dir denn? Wie war deine erste Woche bei der BAU?“

„Wahnsinnig toll. Ich muss mich zwar erst noch dran gewöhnen, dass dich da jeder irgendwie kennt, aber zumindest eilt dir ja ein guter Ruf voraus.“

„Na, da bin ich aber beruhigt.“ Sadie lachte. „Wer ist denn aktuell noch im Team, den ich kenne?“

„Belinda, Ian, David und Alexandra. Oh, und Dennis Johnson aus Los Angeles ist jetzt hier.“

„Was, ehrlich? Das wusste ich nicht. Wie kommt das?“

„Ich weiß nicht, ich glaube, er wollte einfach bei den Urvätern des Profiling mitmischen.“

„Und was habt ihr diese Woche so gemacht?“

Libby erzählte Sadie von dem Fall des Serienbrandstifters, was Sadie sich sehr gespannt anhörte. Schließlich sagte sie: „Einen solchen Fall hatte ich nie, aber die Aufklärungsrate bei Brandstiftungen ist ja wirklich entmutigend. Insofern habt ihr Glück, dass ein Opfer überlebt hat und euch jetzt sogar ein Phantombild liefern konnte.“

„Ja, ich weiß. Die arme Frau … sie wird nie wieder leben können wie vorher. Das tat mir so leid. Sie war so verzweifelt.“

„Kann man ja verstehen. Ich kann mir nur zu gut vorstellen, wie sie sich fühlen muss.“

Libby wusste, das waren keine leeren Worte von Sadie, sie meinte es so. „Vielleicht wird es einfacher für sie, wenn wir den Täter fassen.“

„Ja, wer weiß. Und wie geht es Owen?“

„Er hat am Donnerstag einen neuen Mordfall reinbekommen, bei dem ich ihm gerade zu helfen versuche.“

Sadie lachte. „Ja, das kenne ich nur zu gut. Worum geht es da?“

„Um ein totes Kind. Ich war vorhin mit Owen am Tatort, um mir eine eigene Meinung zu bilden.“

„Das ist immer gut.“

„Du kannst mir vielleicht helfen, Sadie.“

„Ich kann es versuchen. Schieß los.“

Libby beschrieb ihr das Szenario so objektiv wie möglich und ließ sämtliche Schlussfolgerungen weg. Es überraschte sie nicht, dass ihre Mutter schließlich sagte: „Da scheint ihr aber was Seltenes erwischt zu haben.“

„Was meinst du?“

„Ich glaube, der Täter ist ein Kind.“

„Ja, glaube ich auch. Du kannst dir vorstellen, wie Owen und sein Partner mich angeschaut haben, als ich ihnen das gesagt habe.“

„Das kann ich mir nur zu gut vorstellen.“

„Weißt du irgendwas über kindliche und jugendliche Täter?“

„Nein, nicht wirklich. Ich weiß, dass Julies Mum mal einen jugendlichen Täter hatte, aber der litt auch an paranoider Schizophrenie. Ich würde aber vermuten, dass es bei allen Tätern, die so jung schon zu solchen Verbrechen in der Lage sind, um Psychopathie geht. Wer so jung motiviert ist, zu töten, kommt aus keinem soliden Elternhaus und ist vermutlich persönlichkeitsgestört. Vielleicht solltest du mal eure Kollegen von Crimes against Children danach fragen.“

„Ja, das hatte ich auch schon überlegt. Mich hatte bloß die Tatsache davon abgehalten, dass Samstag ist.“

„Zur Not ruf einfach zuerst Nick an. Der ist nicht sauer, wenn du ihn am Wochenende störst.“

„Wenn du das sagst.“

„Ja, so gut kenne ich ihn.“

„Ich habe diese Woche übrigens kurz mit ihm gesprochen, weil ich wissen wollte, ob er von Ron Hawkins weiß. Das hat er nie durchblicken lassen. Aber du hast es ihm erzählt.“

„Ja. War das falsch?“

„Nein, gar nicht. Er hat es aus meiner Akte rausgehalten, genau wie damals bei dir Seans Namen.“

„Ja, das hat er mir auch zugesagt. Ich hatte aber auch nichts anderes erwartet, sonst hätte ich ihm das auch nicht gesagt.“

„Er ist ein toller Chef.“

„Ich habe es auch immer bedauert, nicht länger mit ihm gearbeitet zu haben.“

„Kann ich verstehen. Er hat mir gegenüber angedeutet, wie das damals gewesen sein muss. Es ist seltsam für mich, mit Leuten zusammenzuarbeiten, die dich zwar kennen, aber nur von früher.“

„Solange es dich nicht stört.“

„Nein, gar nicht. Es ist toll. Ich bin gespannt, was noch alles kommt.“

„Ich auch. Es ist toll, das beobachten zu dürfen. Nur weiter so.“

„Und wie geht es euch?“

„Bestens. Hayley freut sich wahnsinnig auf die Ferien und unseren Urlaub. Ich freue mich aber auch darauf.“

„Was habt ihr jetzt noch mal genau geplant?“

„Wir fahren zum Lassen Volcanic National Park, von dort aus zum Lake Tahoe und auf dem Rückweg halten wir in Waterford.“

„Das klingt doch toll.“

„Das wird es sicher auch. Mal sehen, ob wir zum Ende der Ferien hin auch noch mal einen Trip an die Küste unternehmen. Ich bin doch so gern dort.“

„Ich auch. Wenn ich dir so zuhöre, bekomme ich gleich noch mehr Heimweh.“

„Oh, du hast Heimweh?“

„Ein bisschen. Manchmal. Landschaftlich hat Virginia jetzt nicht so viel zu bieten …“

„Da tust du den Appalachen aber Unrecht.“

„Ja, okay. Aber die Gegend um Quantico ist ja eher langweilig.“

„Das stimmt. Wobei das Central Valley in Kalifornien auch keine Schönheit ist.“

„Ich vermisse es trotzdem. Ich liebe die Bay Area. Oh, und bevor ich es vergesse: Belinda sagte, du sollst dich mal wieder blicken lassen.“

„Oh, das ist aber lieb. Ja, mal sehen, vielleicht spreche ich im Herbst an der Academy. Dann komme ich euch bei der BAU besuchen.“

„Das wäre ja klasse.“

„Wird auch mal wieder Zeit.“

Sie sprachen nicht mehr lang und Libby beschloss, Sadies Rat zu beherzigen und Nick anzurufen. Als er ans Telefon ging, klang er beinahe ein wenig amüsiert.

„Du sollst dich am Wochenende doch entspannen“, sagte er statt einer Begrüßung.

„Ich bin ganz entspannt“, erwiderte sie amüsiert. „Ich habe nur eine Frage an dich.“

„Schieß los.“

„Mein Freund hat einen Fall, in dem er mich um Rat gebeten hat. Ein Kind wurde unbemerkt auf einem öffentlichen Spielplatz in DC erschlagen. Ich war vorhin mit ihm dort und habe vermutet, dass der Täter selbst ein Kind sein könnte.“

„Selten, aber möglich.“

„Ja, ich weiß. Ich habe festgestellt, dass ich deshalb auch nicht sehr viel darüber weiß. Ich würde ihm gern noch ein paar Infos liefern, bräuchte dafür aber erst mal selbst welche. Denkst du, die Kollegen von Crimes against Children sind da der richtige Ansprechpartner?“

„Würde ich sagen. Der Teamleiter, Christopher Kavanaugh, ist ein großartiger Mann. Ich gebe dir mal seine Nummer. Grüß ihn schön von mir, wenn du mit ihm sprichst.“

„Und es ist okay, wenn ich ihn jetzt anrufe?“

„Ach, sicher. Vielleicht sind sie sowieso im Büro, das weiß ich nicht.“

„Danke, das versuche ich.“

„Meld dich jederzeit, wenn du was brauchst.“

Libby stimmte zu und verabschiedete sich von ihm, nachdem er ihr Kavanaughs Nummer gegeben hatte. Zwar traute sie sich immer noch nicht so recht, dort anzurufen, aber schließlich fasste sie sich ein Herz und wagte es. Zu ihrer Überraschung war der Mann sofort am Apparat.

„Kavanaugh“, meldete er sich knapp.

„Libby Whitman, ich bin die neue Kollegin in Nick Dormers Team“, stellte Libby sich vor. „Ich soll Sie von Nick grüßen. Er sagte mir, dass Sie mir vielleicht in einem Mordfall an einem Kind weiterhelfen können.“

„Gut möglich. Wurde der Fall Ihnen angetragen?“

„Es ist der Fall meines Lebensgefährten. Er ist Detective beim MPDC.“

„Ah. Ich sage Ihnen was: Kommen Sie doch nach Quantico, wenn es Ihnen recht ist. Ich sitze hier im Büro über einem gähnend langweiligen Bericht und würde den Fall gern mit Ihnen durchgehen. Wie hört sich das an?“

„Bin schon unterwegs“, sagte Libby.

 

 

Die Crimes against Children-Abteilung der BAU hatte ihr Büro eine Etage unter dem Büro von Libbys Team, das wusste sie bereits. Sie fand problemlos zu Kavanaugh, der in seinem Büro am Rechner saß und mit einem Lächeln aufblickte, als er sie in der Tür sah. Er war ein sympathischer, väterlich wirkender Typ um die fünfzig.

„Agent Whitman?“, fragte er und Libby nickte.

„Kommen Sie herein, setzen Sie sich. Möchten Sie etwas trinken?“

„Danke, im Augenblick nicht. Schön, dass ich vorbeikommen konnte.“

„Ich bin froh über ein wenig Abwechslung, das kommt mir gerade recht. Sie sind erst seit Anfang der Woche hier, oder?“

Libby nickte. „Ja, seit Montag.“

„Ich habe Sie mit den Kollegen in der Kantine gesehen. Freut mich, dass wir uns jetzt auch kennenlernen.“

„Mich auch. Es hatten sich ja noch keine Berührungspunkte ergeben.“

„Bis jetzt. Dann erzählen Sie mal – es geht um einen Mordfall in DC? Haben Sie einen Namen für mich?“

„Das Opfer hieß Peter Cummings.“

„Schauen wir uns das doch mal in der Datenbank an.“ Kavanaugh drehte seinen Bildschirm, so dass Libby etwas sehen konnte, und suchte in VICAP nach dem Namen Cummings. Er nickte zufrieden, als er sah, dass alle relevanten Informationen in der Datenbank erfasst waren.

„Haben Sie Ihrem Lebensgefährten da Beine gemacht, damit das auch alles sauber drinsteht?“, fragte er nicht ganz ernst gemeint und grinste. „Sieht man leider nicht so oft, dass das wirklich so gewissenhaft erfasst wird.“

„Oh, gewissenhaft ist er.“

„Also dann …“ Kavanaugh begann, die Fallinformationen zu studieren und nickte schließlich. „Sie waren vorhin am Tatort?“

„Ja, um mir einen Eindruck zu verschaffen. Mein Freund und sein Partner waren frustriert, weil sie nicht wussten, womit sie es zu tun haben, deshalb habe ich meine Hilfe angeboten.“

„Und wie kann ich Ihnen nun helfen?“

„Ich hatte vorhin angenommen, dass der Täter vielleicht selbst ein Kind oder ein Jugendlicher ist.“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Weil er niemandem aufgefallen ist. Es herrschte Betrieb am Skate-Park und auf dem Spielplatz, aber niemand hat gesehen, wie der Junge erschlagen wurde. Niemandem ist ein Verdächtiger aufgefallen. Er muss also sozusagen unsichtbar sein – jemand, der dort hingehört.“

Kavanaugh nickte zustimmend. „Würde dazu passen, dass jugendliche Täter in solchen Umfeldern morden.“

„Deshalb bin ich hier. Ich weiß nicht viel über Kinder als Täter – nur, dass es selten ist.“

„Sehr sogar. In Ihrem Fall könnte es trotzdem passen.“

„Also habe ich vorhin keinen Unsinn erzählt.“

„Nein, überhaupt nicht.“ Kavanaugh rief ein Dokument auf und zeigte Libby ein paar Statistiken. „Wenn wir uns die Zahlen ansehen – im Jahre 2016 gab es in den USA 17250 Mordfälle, davon 1865 Opfer unter achtzehn Jahren. Von allen Tätern waren ganze 25 jünger als vierzehn Jahre. 46 Täter waren vierzehn Jahre alt, 115 Täter waren fünfzehn, ab da steigen die Zahlen rapide. Verglichen mit der Gesamtzahl ist das natürlich ein verschwindend geringer Anteil. Allerdings können wir auch feststellen, dass jeder fünfte Mord an einem Kind von einem anderen Kind begangen wird.“

„Das ist doch eine griffige Zahl.“

„Würde ich auch sagen. Insofern ist Ihr Gedankengang wirklich alles andere als abwegig und Sie merken, dass wir tatsächlich recht oft mit jungen Tätern zu tun haben.“

Libby nickte. „Was können Sie mir noch sagen?“

„Laut Statistik ist der Täter in Ihrem Fall etwa zehn bis dreizehn Jahre alt. Die meisten kindlichen Mordopfer werden entweder erschossen oder erschlagen, insofern passt dieser Fall voll ins Bild. Die meisten solcher Taten finden zwischen der Mittagszeit und dem Einbruch der Dunkelheit statt, völlig entgegengesetzt zu Mordfällen bei Erwachsenen. Außerdem gehen die meisten Taten, so wie in Ihrem Fall, wahnsinnig schnell – nach fünf Minuten ist häufig alles schon vorbei. Täter und Opfer kennen sich typischerweise, und sei es nur flüchtig. Sehr oft ist die Tat tatsächlich geplant – will heißen, dass der Täter seine Waffe, wie in Ihrem Fall, mitbringt. Viele spähen ihr Opfer sogar vorab aus, das kann auch hier der Fall gewesen sein.“

„Was denken Sie über das Motiv?“

„In solchen Fällen ist das typischerweise etwas, das ein Jurist als niedere Beweggründe betiteln würde. Am besten hole ich etwas weiter aus und spreche zuerst die Persönlichkeitseigenschaften eines solchen Täters an. Kinder, die andere Kinder töten, sind fast immer in irgendeiner Weise verhaltensauffällig. Sie erbringen nur durchschnittliche oder unterdurchschnittliche schulische Leistungen und zeigen sich häufig gefühlskalt, empathie- und gewissenlos, oft auch einfach sehr aggressiv. Der typische Täter hat mehrere Geschwister, lebt bei seiner Familie und die Eltern-Kind-Beziehung ist gestört. Fragt man etwa die Lehrer solcher Kinder, würden sie die Betroffenen als dissoziale Außenseiter bezeichnen. Sie verfügen häufig nur über eine sehr geringe Frustrationstoleranz und es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Täter schon vorab durch gesetzwidriges Verhalten aufgefallen sind, doch natürlich sind sie dann meist noch zu jung, um Konsequenzen fürchten zu müssen. Das führt dann häufig dazu, dass sie sich ziemlich enthemmt fühlen und unbeeindruckt weitermachen.“

„Das kann ich mir vorstellen.“

„Es gibt aber auch einen anderen Tätertyp: Das sind dann die durchsetzungsschwachen, selbstunsicheren und konfliktscheuen Kinder, die vor allem im Kreis der Familie auffällig werden. Jedenfalls sind die Gründe für solche Taten, nach denen Sie vorhin fragten, oft erschreckend. Bei älteren Tätern und ihren Opfern kommen gelegentlich sexuelle Motive ins Spiel, die wir natürlich bei jüngeren Betroffenen nicht haben und die wohl auch hier nicht vorliegen. Aber es ist alles dabei von diffusen Eifersuchts- und Hassgefühlen über Neid, Habgier oder auch bloße Neugier. Wir hatten es schon, dass der Täter uns hinterher sagte: Ich wollte nur mal sehen, wie es ist, jemanden zu töten.“

„Bei Kindern?“ Libby konnte es kaum glauben.

„Ja, gerade bei Kindern. Ed Kemper hat das gesagt, nachdem er mit fünfzehn seine Großeltern erschossen hat. Das war sein erster Mord.“

Libby nickte. Daran erinnerte sie sich.

„Es haben auch schon zwei zwölfjährige Mädchen eine Freundin in den Wald gelockt und neunzehn Mal auf sie eingestochen, um die Sagengestalt des Slender Man zu besänftigen. Das war 2014 in Wisconsin. Glücklicherweise hat das Opfer überlebt.“

„Das ist verrückt.“

„Ja, diese Äußerung fällt bei unserer Arbeit öfter. Im Gegensatz zu erwachsenen Tätern haben Kinder und Jugendliche übrigens wesentlich häufiger Erfolg. In 94 Prozent aller Fälle sind sie bei ihren Tötungsvorhaben erfolgreich, was dadurch zu erklären ist, dass ihre Opfer meist nicht besonders wehrhaft sind. Erwachsene haben ja nur in rund der Hälfte der Fälle Erfolg.“ 

„Das wusste ich nicht.“

„Es ist auch ein Gedanke, den niemand gern zulassen möchte. Ein Satz, den ich bei meiner Arbeit oft sage, lautet: Es gibt nichts, was es nicht gibt. Es gibt auch dreizehnjährige Serienmörder.“

Dem wagte Libby nicht zu widersprechen, denn sie hatte Brian Leigh erlebt.

„Sie haben es vielleicht gesehen, Peter war mit seinem BMX-Bike unterwegs, das bis jetzt nicht gefunden wurde“, sagte sie nach einer kurzen Pause. „Denken Sie, das könnte der ausschlaggebende Punkt gewesen sein? Er ist wohl unmittelbar vor der Tat damit auf dem Gelände herumgefahren.“

„Ja, sicher. Der Täter könnte ihn angesprochen haben, wollte vielleicht auch mal damit fahren, wollte es ihm wegnehmen – und als Peter sich geweigert hat, wurde er aggressiv.“

„So einfach“, murmelte Libby.

„Das haben wir tatsächlich immer wieder. Sie könnten den Täter finden, indem Sie ermitteln, was aus dem Fahrrad geworden ist. Veröffentlichen Sie ein Foto davon. Der Täter muss es ja mitgenommen haben, wenn es jetzt verschwunden ist. Bestimmt ist ihm inzwischen klar, dass man ihn deshalb mit dem Mord in Verbindung bringen kann und er versucht vielleicht, es zu verstecken oder loszuwerden.“

„Mein Freund und sein Partner wollen sich alle Zeugen noch mal unter der Prämisse vornehmen, dass jeder von ihnen der Täter sein könnte.“

„Ja, unbedingt. Sagen Sie den beiden das, was ich Ihnen gerade gesagt habe, damit sie wissen, nach wem sie Ausschau halten müssen. Wenn man es erst mal geschafft hat, den Gedanken zuzulassen, dass man ein Kind sucht, ist es meist gar nicht mehr besonders schwierig, den Täter auch wirklich zu finden.“

„Vermutlich. Damit haben Sie mir schon sehr geholfen, Agent Kavanaugh.“

„Sehr gern. Wenn Sie wieder Hilfe brauchen, melden Sie sich einfach. Halten Sie mich auf dem Laufenden, ich würde mich freuen.“

Libby versprach es, verabschiedete sich von ihm und begab sich eine Etage höher in ihr eigenes Büro. Dort startete sie ebenfalls VICAP am Rechner und rief Peters Fallakte für sich auf. Sie kannte die offiziellen Tatortfotos noch gar nicht und wollte sich unbedingt ein eigenes Bild von allen Tatumständen machen.

Der Anblick von Peters Leichnam war schwer zu ertragen. Er lag, genau wie Owen es beschrieben hatte, neben einem parkenden Auto in einer riesigen Blutlache. Man hatte ihm den Schädel mit brachialer Gewalt eingeschlagen, je nach der Perspektive der Aufnahmen war gut erkennbar, dass die Schädeldecke stellenweise tief eingedrückt war. Er lag mit offenen Augen da, den Mund zum Schreien verzerrt. Auf seinem T-Shirt war ein freundlich grinsendes Alien aufgedruckt, das Libby an die Figuren aus Die Monster AG erinnerte.

Er war noch so jung gewesen. Das Blut war gegen den parkenden Wagen gespritzt und daran herunter geronnen. Selbst auf den Fotos waren die Knochensplitter erkennbar, die sich in der Umgebung verteilt hatten.

Die Kraft musste man auch erst mal aufbringen, aber Baseballschläger waren gefährliche Waffen. Sie musste daran denken, wie Tyler Evans damals mit einem auf ihren Vater eingedroschen hatte und wie es Matt danach gegangen war. Für längere Zeit war sein Sehvermögen eingeschränkt gewesen – sie konnte sich also vorstellen, was hier bei Peter geschehen war.

Und das sollte ein Kind getan haben? Sie konnte es Owen und Benny nicht verübeln, dass sie diese Idee nicht entwickelt hatten.

Sie studierte die Fallakte eingehend, schaltete aber schließlich ihren Rechner aus und machte sich wieder auf den Heimweg. Sie hatte gerade genug gesehen und erfahren, um sich ein Bild machen und eine Meinung bilden zu können.

Doch als sie in Arlington in ihrer Wohnung ankam und dort ganz allein war, wurde ihr zum ersten Mal schmerzlich bewusst, dass sie außer Owen niemanden in der Nähe hatte. Ihre Kollegen hatte sie gerade erst kennengelernt, ihre Familie war in Kalifornien und Julie in New York. Gerade war sie ganz allein.

Sie beschloss, das Beste daraus zu machen und vertrieb sich die Zeit im Internet und mit einer neuen Netflix-Serie. Sie wollte auch nicht unbedingt die Wohnung verlassen, weil sie gleich bereit sein wollte, wenn Owen Feierabend hatte.

Das dauerte allerdings bis zum Abend. Es war schon halb sieben, als er ihr schrieb, dass sie sich auf den Weg machen sollte. Libby fuhr sofort los und war nach kurzer Zeit mitten in Washington bei der Polizei. Sie schrieb Owen, dass sie unweit des Haupteingangs parkte und auf ihn wartete und wenig später kam er auch schon aus dem Gebäude. Er ging schnurstracks zum Auto, setzte sich auf den Beifahrersitz und begrüßte seine Freundin mit einem Kuss.

„Danke, dass du mich abholst“, sagte er.

„Ist doch klar, schließlich ist das ja dein Auto.“

Owen grinste, während Libby losfuhr.

„Hast du schon gegessen?“, fragte er.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739477619
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juni)
Schlagworte
Profiling Profiler Kindstötung Serienmord Entführung Krimi Spannung FBI Pyromanie Psychothriller Ermittler

Autor

  • Dania Dicken (Autor:in)

Dania Dicken, Jahrgang 1985, schreibt seit der Kindheit. Die in Krefeld lebende Autorin hat Psychologie und Informatik studiert und als Online-Redakteurin gearbeitet. Mit den Grundlagen aus dem Psychologiestudium schreibt sie Psychothriller zum Thema Profiling. Bei Bastei Lübbe hat sie die Profiler-Reihe und "Profiling Murder" veröffentlicht, im Eigenverlag erscheinen "Die Seele des Bösen" und ihre Fantasyromane. Die Thriller-Reihe um die FBI-Profilerin Libby Whitman ist ihr neuestes Projekt.
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Titel: Wenn die Unschuld Feuer fängt