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Ihre Schreie sind Musik

von Dania Dicken (Autor:in)
295 Seiten
Reihe: Libby Whitman, Band 5

Zusammenfassung

In New York State wird die Leiche einer vermissten Frau gefunden, die Spuren jahrelanger, brutaler Folter aufweist. Weil der Fall schon der vierte einer Entführungs- und Mordserie ist, zieht die örtliche FBI-Dienststelle die Profiler aus Quantico hinzu. Special Agent Libby Whitman und ihre Kollegen reisen nach New York, um ein Profil des sadistischen Frauenhassers zu erstellen. Sie entwickeln schnell den Verdacht, dass der Täter aktuell noch weitere Frauen in seiner Gewalt haben könnte. <br> Als in einer Stadt vor den Toren New Yorks die seit sechs Jahren vermisste Mary Jane Cox mit Spuren schwerster Misshandlungen und Folter auftaucht, ahnen die Profiler schnell, dass auch sie ein Opfer des gesuchten Täters ist. Libby versucht, das Vertrauen der schwer traumatisierten Mary Jane zu gewinnen, um mehr über den Täter und sein Versteck zu erfahren. Doch als Mary Jane sich Libby öffnet und von ihrem jahrelangen Martyrium erzählt, bemerkt Libby schnell die Ungereimtheiten in Mary Janes Geschichte ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dania Dicken

 

Ihre Schreie sind Musik

 

Libby Whitman 5

 

 

Thriller

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

Die Lüftungsanlage rauschte ganz leise. Anfangs hatte sie es gar nicht gehört, aber mittlerweile erschien es ihr ohrenbetäubend laut. Ganz oft war dieses Rauschen alles, was man in diesem Keller hörte.

Oder war es eher ein Kerker?

Sie hatte die Beine angewinkelt und die Arme darum geschlungen. Zusammengekauert saß sie in der rechten hinteren Ecke ihrer Zelle auf der dünnen Isomatte und starrte auf den Lichtstreif am Boden unter ihrer Zellentür. Da waren bloß zwei kleine Lämpchen an dem Codeeingabefeld neben der Stahltür draußen, doch diese Lämpchen erhellten den ganzen Keller. Sie waren die einzige Lichtquelle.

Mit der Zeit hatte sie sich an die Abwesenheit von Licht gewöhnt. Sie hatte sich auch daran gewöhnt, dass sie nicht mehr wusste, was Wärme war.

Sollte das jetzt ihr Schicksal sein? Für immer?

Manchmal fragte sie sich, ob sie überhaupt noch leben wollte. Das hier war ja kein Leben. Das war nichts weiter als Folter.

Genau das wollte er, dessen war sie sich bewusst. Das war alles, worum es ihm ging. Immer.

Sie spürte sich kaum noch. Bedingt durch die Dunkelheit fühlte sie sich fast schwerelos. Manchmal legte sie sich mit ausgebreiteten Armen auf den Boden und schloss die Augen, dann glaubte sie zu schweben. Sie dachte dann an ihren Freund und ihre Familie. Suchten sie überhaupt noch nach ihr? Würde sie sie je wiedersehen?

In den benachbarten Zellen war es ebenfalls still. Manchmal sprachen sie, doch nicht jetzt. Oft gab es auch gar nichts zu sagen. Worüber sollten sie sprechen? Über die letzte Folter? Über die nicht enden wollenden Schmerzen?

Sie konnte nicht fassen, dass er einfach damit durchkam. Schon so lange. Niemand war je gekommen, um ihn aufzuhalten. Um sie zu befreien und alldem ein Ende zu machen.

Sie begann leise zu summen. Manchmal machte es das besser. Erst, als Dawn in der Zelle nebenan einstimmte und zu singen begann, begriff sie erst, was sie da eigentlich summte. Es war Amazing Grace.

Nun sang sie auch. An den Text erinnerte sie sich noch, was geradezu an ein Wunder grenzte. Die Dunkelheit und Stille dieses Kellers lähmten alle Gedanken.

Die anderen stimmten allmählich mit ein, bis ihre Stimmen die Finsternis ausfüllten. Direkt fühlte sich alles wärmer an – tröstlich. Hoffnungsvoll.

Vielleicht würde man sie doch irgendwann finden und retten. Vielleicht kam sie hier doch raus, bevor er sie tötete.

Sie sangen zusammen und fühlten sich in diesem Moment verbunden. Sie waren nicht allein.

Sie sangen laut, doch nicht so laut, dass sie das Piepen der Sicherheitstür nicht gehört hätten. Schlagartig verstummte der Gesang und Adrenalin schoss ihr ins Blut. Ihr Puls schnellte in die Höhe und sie hielt die Luft an. Draußen flammte grelles Neonlicht auf.

Wohin ging er? Welche Zelle würde er öffnen?

Sie schloss die Augen und sandte ein Stoßgebet, dass es nicht ihre sein würde. Bitte nicht schon wieder. Das würde sie nicht ertragen. Unmöglich. Die blutigen Peitschenstriemen auf ihrem Rücken vom letzten Mal waren ja noch gar nicht verheilt. Weitere Folter ertrug sie nicht. Das konnte sie nicht.

Schlüssel klimperten. War da ein Schatten vor der Tür? Konnte sie ihn sehen?

Ja, da war ein Schatten. Sie wimmerte leise und betete, dass er vor der Nachbarzelle stand und nur einen Schatten bis zu ihrer warf. Bitte nicht … bitte, bitte nicht …

„Singt ruhig weiter“, sagte er. „Das würde mir gefallen.“

Sie hörte, wie eine Tür geöffnet wurde. Es war nicht ihre. Das war nebenan.

„Komm mit“, sagte er. Nebenan bewegte sich etwas, sie hörte Schritte.

Nicht sie. Es traf nicht sie.

„Setz dich“, sagte er etwas weiter entfernt. War das gut? War das nicht gut?

Sie hörte leises Schluchzen. Dann kam er zurück und öffnete noch eine Zelle.

Ihr wurde kalt. Er holte sie alle. Drei von ihnen würden Zuschauer sein und eine …

Nun betete sie, dass er als nächstes sie holte, denn er holte immer die Zuschauer zuerst. Zuletzt kam diejenige, die er foltern wollte.

Sie biss sich fast die Lippen blutig, während sie angespannt lauschte. Stimmen, leises Weinen. Schritte. Hatte sie da noch eine Tür gehört? Oder doch nicht?

Bitte nicht sie. Bitte.

Ihr Herz raste und sie hätte vor Panik fast geschrien. Die Schritte kamen wieder näher und ein Schatten erschien vor ihrer Tür. Der Schlüssel wurde im Schloss gedreht, die Tür schwang auf und das kalte Neonlicht blendete sie. Schemenhaft hoben sich seine Umrisse dagegen ab. Sie hob schützend die Hände und hätte fast geschrien.

Sie rührte sich nicht. Bestimmt war sie nicht die letzte. Das durfte sie nicht sein. Nicht schon wieder.

„Steh auf“, herrschte er sie an. Sie reagierte sofort und tat es. Sie hatte auf die harte Tour gelernt, dass sie ihm besser gehorchte.

Er ließ ihr keine Wahl. Ihr nicht und auch den anderen nicht.

Als sie stand, packte er sie am Arm und zog sie aus ihrer kleinen Zelle. Die anderen drei Zellen standen bereits offen und waren leer.

Sie begriff. Todesangst schnürte ihr die Kehle zu. Sie wimmerte und wollte sich losreißen, aber da krallte er sich nur noch fester in ihren Oberarm und zerrte sie in Richtung der Folterkammer.

„Wenn du dich wehrst, wird es nur schlimmer für dich“, sagte er. Schluchzend stolperte sie hinter ihm her und betete, dass es nicht so schlimm werden würde. Nicht so schmerzhaft. Nicht so endlos …

Dann hatte sie den anderen Raum erreicht.

 

 

 

Samstag, 20. März

 

„Ja, ich will.“ Während Julie das mit fester Stimme sagte, strahlte sie übers ganze Gesicht. Kyle erwiderte ihr Lächeln und sie mussten sich vom Standesbeamten nicht erst zum nächsten Schritt auffordern lassen. Sie umarmten und küssten sich unter dem lauten Applaus der Anwesenden und als Julie Kyle wieder losließ, bemerkte Libby von der Seite die Freudentränen im Gesicht ihrer Freundin.

Sobald etwas Ruhe eingekehrt war, bat der Standesbeamte Julie und Kyle, die Urkunde zu unterzeichnen. Er gab die Erklärung ab, dass sie den Familiennamen Thornton führen würden, was Libby absolut großartig fand.

Tatsächlich war es Kyles Idee gewesen. Er hatte es Julie angeboten, noch bevor sie das Thema angesprochen hatte. Begründet hatte er es damit, dass sie für ihn ihre Heimat und ihr ganzes altes Leben aufgab, um bei ihm in den USA leben zu können, deshalb wollte er als Liebesbeweis ihren Nachnamen annehmen. Da hatte Julie tatsächlich nicht lang gezögert und das Angebot einfach angenommen. Kyle hatte Owen außerdem im Vertrauen verraten, dass er den Namen Thornton unheimlich klangvoll fand und ihn mit Stolz tragen würde.

Als Libby zu Julies Vater spähte, sah sie, dass er ebenfalls fast vor Stolz platzte. Er hatte es seinem Schwiegersohn hoch angerechnet, dass er Julie diesen Liebesbeweis erbracht hatte und er wirkte sehr glücklich damit, seine Tochter jetzt verheiratet zu sehen. Und das, obwohl es bedeutete, dass er sie in die weite Ferne verlor.

Gregory Thornton war deutlich ergraut, seit Libby ihn zuletzt vor einigen Jahren gesehen hatte. Er war auch gute zehn Jahre älter als Matt. Libby wusste, dass ihre Eltern im Vergleich wahnsinnig jung waren, was sie jedoch zu schätzen wusste. Tatsächlich kannte sie es kaum anders, denn ihre leibliche Mutter war bei ihrer Geburt erst siebzehn Jahre alt gewesen.

Es war nicht die erste Hochzeit, die Libby seit ihrer Flucht aus der FLDS vor über zehn Jahren miterlebte und trotzdem war es für sie immer wieder aufs Neue ein spezielles Erlebnis, zu sehen, wie so etwas in der normalen Welt ablief. In der FLDS hatte sie zu viele Mädchen gesehen, die in selbstgenähten weißen Kleidern mit Tiara im Haar von der Pferdekutsche in den Tempel geführt und dort nicht nur von ihrem neuen Mann, sondern auch von dessen erster Frau in die Familie aufgenommen wurden. Sie hatte oft beobachtet, wie die Erstfrau ihre Hand auf die ihres Mannes und seiner neuen Frau legte, um ihr Einverständnis zu signalisieren.

Aber sie hatte auch beobachtet, wie es danach weiterging. Wie aus einstmals lebensfrohen halbwüchsigen Mädchen ernste Frauen wurden, die in ihrem Leben gefangen waren. Die nichts kannten außer Heim, Schwangerschaften, Kindern, Küche und Vergewaltigung.

Ihr Blick wanderte zu Owen und sie griff nach seiner Hand. Er erwiderte ihren Händedruck und lächelte ihr zu. Sie bemühte sich, das Lächeln zu erwidern, damit er nicht merkte, welche finsteren Gedanken ihr gerade durch den Kopf gegangen waren.

Er war nicht so. Er respektierte sie vollkommen und dafür liebte sie ihn über alles. Mit ihm führte sie eine gleichberechtigte Beziehung auf Augenhöhe und sie freute sich schon wahnsinnig auf ihre eigene Hochzeit im Sommer.

Nachdem die Zeremonie beendet war, machten sie Fotos mit der gesamten Hochzeitsgesellschaft. Natürlich waren nicht nur Julies Eltern aus England gekommen, sondern auch Gregorys Bruder Jack mit seiner ganzen Familie. Libby hatte ihn in der Vergangenheit einmal kennengelernt und mochte ihn. Wenn sie sah, wie selbstverständlich er mit seinen Kindern umging, konnte sie sich kaum vorstellen, dass er in der Vergangenheit mal ein echter Schürzenjäger gewesen sein sollte. Aber das war lange her, seine Kinder waren schon erwachsen.

Aus Chicago war Kyles gesamte Verwandtschaft angereist, seine Eltern und Geschwister, seine rüstige Großmutter, Onkels und Tanten. Außerdem hatte Kyle einige FBI-Kollegen und einen alten Schulfreund eingeladen, während Julie sich Verstärkung von der Universität geholt hatte.

Nach dem Fototermin fuhren sie zum Restaurant im nördlich gelegenen Edgewater. Kyles und Julies Eltern hatten sich zusammengetan, um dem jungen Paar die Hochzeitsfeier in einem gehobenen Restaurant direkt am Hudson mit Blick auf Manhattan zu ermöglichen.

Julie strahlte an diesem Tag übers ganze Gesicht. Sie war eine wunderschöne Braut, sie trug ein schlichtes, aber äußerst elegantes weißes Kleid und hatte sich ihre dunkelbraunen Locken hübsch frisieren lassen. Libby gönnte ihr dieses Glück von Herzen und bezweifelte, dass sie auf ihrer eigenen Hochzeit so toll aussehen würde.

Im Restaurant hieß man sie mit einem Sektempfang willkommen, bevor Kuchen serviert wurde. Anschließend widmeten sie sich einigen Spielen und einer Bildershow, die Kyles Bruder vorbereitet hatte. Darin hatte er auch Fotos von Julie eingebaut, die sie als Kind und Jugendliche in England zeigten. Libby wurde fast ein wenig wehmütig, wenn sie sich vorstellte, was Julie alles zurückließ. Gefühlt lebte sie selbst näher an ihrer Familie, was kaum stimmte – aber immerhin befand sie sich noch im selben Land.

Julie und Kyle hatten beschlossen, lieber in einem etwas kleineren Kreis zu feiern, was Libby gut verstehen konnte. Die Einladungen zu ihrer eigenen Hochzeit waren bereits verschickt und sie und Owen hatten auch längst nicht jeden eingeladen. Es war immer eine Frage der Distanz und sie hatten lange mit sich gerungen, wo sie feiern wollten, doch dann hatten sie sich für Virginia entschieden. Leider war Kalifornien jetzt nicht mehr ihr Zuhause.

Die Zeit verging wie im Flug und kurz vor dem Abendessen vernahm Libby plötzlich Gregs Stimme, als er um Ruhe bat. Schließlich war es still und alle Augen waren auf ihn gerichtet. Die Rede des Brautvaters. Er war sichtlich nervös und suchte für einen Moment nach Worten.

„Es ist schon über ein halbes Jahrhundert her, dass mein Vater beruflich in Deutschland unterwegs war. Dort hat er eine Frau kennengelernt, Anna Leitner. Die beiden haben sich ineinander verliebt und weil sie Englisch sprach, aber er kaum Deutsch, ist sie ihm nach England gefolgt und wenig später kam, was kommen musste – erst ich und dann mein Bruder Jack.“

Damit hatte er die Lacher auf seiner Seite und fuhr fort. „Bis zu ihrem Tod hat meine Mutter ihr Leben aus Liebe in England verbracht. Ich selbst habe vor über zwanzig Jahren dort auch eine junge Frau kennengelernt, die ebenfalls aus Deutschland kam – meine Frau Andrea, die ebenfalls der Liebe wegen in England geblieben ist und mich dort geheiratet hat. Eigentlich war es unvermeidlich, dass nun meine eigene Tochter dem Ruf der Fremde folgt. Sie macht dabei keine halben Sachen und hat mehr als eine Zeitzone durchquert, um etwas für ihr berufliches Fortkommen zu tun – und natürlich hat sie einen Mann kennengelernt, der seine Heimat auch zu ihrer machen möchte.“

Er machte eine Pause und blickte zu Julie und Kyle. „Deshalb sind wir heute hier – wir feiern die Liebe, die Grenzen überschreitet und überall dort Bestand hat, wo man sich zu Hause fühlt. Ich muss zugeben, dass es verdammt hart für mich sein wird, nun mit der Endgültigkeit zu leben, dass meine Tochter ihren neuen Lebensmittelpunkt mehr als dreitausend Meilen entfernt von ihrer Heimat setzt. Glücklicherweise leben wir heute in Zeiten von Videoanrufen und nicht mehr in der Ära, in der Transatlantikgespräche ein halbes Vermögen gekostet haben. Außerdem ist New York nicht nur zur Weihnachtszeit eine Reise wert. Meine Tochter ist heute in die Fußstapfen ihrer Mutter und ihrer Großmutter getreten und ich bin sicher, dass sie die Herausforderungen genauso gut meistern wird.“

Obwohl er noch gar nicht fertig war, sprang Julie auf, lief das kurze Stück zu ihrem Vater und fiel ihm um den Hals.

„Ich heule gleich, Daddy, ihr werdet mir doch alle wahnsinnig fehlen!“, sagte sie unter Tränen. Gregory drückte sie an sich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

„Ich bin stolz auf dich“, sagte er. „Auf dich und auf die Entscheidung, die du getroffen hast. Du hast dir einen tollen Mann ausgesucht – einen, der jeden Tag etwas Gutes für sein Land tut. Ich habe keinen Zweifel daran, dass das für dich ebenso gilt. Es erfüllt mich mit großem Stolz, Kyle Thornton als neues Mitglied in unserer Familie begrüßen zu dürfen. Komm zu uns.“ Mit einem Lächeln gab Greg Kyle einen Wink, der unsicher aufstand und sich zu seiner Frau und seinem Schwiegervater gesellte.

„Versprecht mir bitte eins, ihr beiden: Seid immer glücklich. Tut das, wovon ihr überzeugt seid und achtet gut aufeinander. Genießt das Leben, feiert eure Liebe und wenn euch danach ist, setzt ihr bitte eine Handvoll wunderschöner Enkelkinder in die Welt. Ich freue mich auf alles, was da kommen wird.“

Er breitete einen Arm aus und drückte sowohl Julie als auch Kyle an sich. Die Gäste applaudierten, einige sogar im Stehen. Libby entging nicht, mit welchem Gesichtsausdruck Owen die Szene beobachtete. Es rührte ihn, aber gleichzeitig machte es ihn traurig. Er wünschte sich so etwas auch, doch das Verhältnis zu seiner Familie war leider ein anderes. Dabei war Libby sicher, dass Matt garantiert Ähnliches über ihn zu sagen hätte. In einigen Monaten würde sie es wissen.

Greg bekam viel Zuspruch für seine Rede, bevor das Essen serviert wurde. Sie schlemmten im Überfluss und Libby genoss es sehr, mit Blick auf die Skyline Manhattans dazusitzen und ihre beste Freundin zu feiern.

Nach dem Dessert wurde abgeräumt und schließlich legten Julie und Kyle gekonnt den Hochzeitstanz hin. Damit war die Tanzfläche eröffnet. Libby beobachtete das Treiben lieber vom Rand aus und huschte irgendwann zur Toilette. Auf dem Rückweg begegnete sie Andrea, die gerade auf die Außenterrasse wollte, um frische Luft zu schnappen.

„Was dagegen, wenn ich dich begleite?“, fragte Libby, während Andrea die Tür schon geöffnet hatte.

„Um Himmels Willen, nein. Ich würde mich freuen!“

Mit einem Lächeln folgte Libby Andrea nach draußen. Eine frische Brise wehte ihnen um die Nase, obwohl es ein für die Jahreszeit vergleichsweise milder Tag war.

„Eine tolle Rede hat Greg gehalten“, sagte Libby, während sie ans Geländer gelehnt dastand und auf Manhattan blickte.

„Ich fand sie auch schön. Aber es fällt ihm schwer. Schwerer, als man vermutlich herausgehört hat.“

„Das glaube ich. Es ist so schrecklich weit.“

„Du kennst das ja selbst.“

Libby nickte. „Meine Heimat ist nicht hier, aber ich bin so wahnsinnig gern bei der BAU.“

„Das glaube ich. Dorthin hätte ich auch immer gewollt, hätte es dafür eine realistische Chance gegeben. Julie bekommt diese Chance vielleicht jetzt. Sie wird mir auch unheimlich fehlen, gar keine Frage – sie ist mein einziges Kind und wenn sie hier mal Kinder bekommt, sehe ich die kaum aufwachsen. Das ist hart.“

Die Blicke der beiden trafen sich und Libby sagte: „Ich habe auch keine Ahnung, wie ich das mal machen soll.“

„Glaube ich dir. Ich habe deine Mutter immer bewundert, weil sie so schnell nach der Geburt deiner kleinen Schwester wieder eingestiegen ist. Ich glaube, da gehen die Uhren hier in den Staaten etwas anders, das habe ich damals für mich nicht gesehen – es aber auch nie bereut. Meine Tochter stand immer an erster Stelle und ich bin wahnsinnig stolz auf das, was aus ihr geworden ist.“

Libby lächelte. „Sie ist einfach toll.“

„Jetzt promoviert sie in den USA – wenn sie das durchzieht, hat sie einen höheren akademischen Grad als ich. Und wenn sie es zum FBI schafft, könntet ihr Kollegen sein.“

„Das wäre mein Traum“, gab Libby zu.

„Ja, dieser Job ist leichter, wenn man ihn mit Freunden macht. Das ging mir auch immer so. Zu Hause in Norwich gab es einen Polizisten, der mich unterstützt hat – fast so ein bisschen wie mit Owen und dir. Und dann gab es da meinen Mentor im Londoner Profiler-Team, der leider auch schon viel zu lang tot ist.“

„Starb er wegen des Jobs?“

Andrea nickte. „Er hat das ultimative Opfer gebracht. Dieser Job hat Schattenseiten, das weiß niemand so gut wie ich. Doch, deine Mum vielleicht. Ich würde mir so wünschen, dass das für meine Tochter und dich nicht gilt.“

„Hast du Angst um sie?“

„Nicht mehr als jede andere Mutter auch Angst um ihre Tochter haben würde. Das liegt gar nicht bloß an diesem Job.“

„Ich bin hier, ich habe ein Auge auf sie.“

„Danke, das weiß ich. In dir hat Julie die beste Freundin, die sie sich wünschen kann.“ Andrea lächelte und legte eine Hand auf Libbys Schulter.

„Ich würde mir tatsächlich wünschen, dass sie die US-Staatsbürgerschaft erhält und zum FBI kommt“, sagte Libby.

„Das ist zumindest ihr Ziel. Sie ist glücklich an der Uni, aber das ist Theorie. Sie will in die Praxis, das wollte ich auch immer. Durch Kyle hat sie jetzt die realistische Chance, das dort zu tun, wo das Profiling geboren wurde. Da werden Greg und ich jetzt loslassen müssen. Wichtig ist, dass sie glücklich ist.“

„Ja, ich denke, das ist sie hier.“

„Das denke ich auch. Ich bin wirklich froh, dass Flüge hierher inzwischen bezahlbar sind.“

Libby lächelte. „Amerikanischer Alltag. Wenn man hier irgendwo hin will, sitzt man verdammt schnell im Flieger. Die Distanzen hier sind irre.“

Andrea nickte zustimmend. „Willst du denn hier bleiben?“

„Erst mal ja. Ich weiß, welches Glück ich habe, in der BAU sein zu dürfen. Gerade sind wir glücklich hier.“

„Ihr heiratet ja auch bald.“

„Ja, darauf freue ich mich wahnsinnig. Ich habe genau den Mann gefunden, der zu mir passt.“ Libby lächelte verträumt.

„Das ist so viel wert … mit Greg hatte ich seinerzeit öfter meine Differenzen wegen meines Jobs. Teilweise sehr ernsthaft. Aber ich spreche wahrscheinlich für deine Mutter und auch für dich, wenn ich sage, dass es wichtig ist, einen Partner zu haben, der hinter einem steht.“

„Ja … mein letzter Freund konnte das nicht. Er war schon überfordert, als ich zur Polizei gegangen bin.“

„Das ist hier in den Staaten auch sicher etwas anderes als drüben bei uns in England. Unsere Polizei ist standardmäßig nicht mal bewaffnet. Ich freue mich auf jeden Fall, dass meine Tochter eine so gute Freundin in dir gefunden hat. Sie hat hier drüben nicht bloß Kyle, sondern auch dich. Das ist ein gutes Gefühl.“

Libby lächelte gerührt. „Danke, dass du das sagst.“

„Das ist mein Ernst. Ich kenne dich schon so lange und habe erlebt, welchen Weg du gegangen bist. Ich bewundere deine Zielstrebigkeit. Damit kannst du es weit bringen.“

„Danke, Andrea.“

Wortlos umarmte Andrea Libby und kurz darauf gingen sie wieder hinein, weil ihnen zu kalt wurde. Als Libby sah, dass Owen bei Greg stand, grinste sie. Das Brautpaar war damit beschäftigt zu tanzen und als Owen zu ihr kam, fragte sie: „Ernste Männergespräche?“

„Nein, gar nicht. Er hat mich ein bisschen ausgefragt, wollte mehr über mich erfahren. Und bei euch?“

„Wir haben ein bisschen über die Zukunft gesprochen. Über den Job. Du weißt, Profiler unter sich …“

„Ich kann es mir denken. Ich mag Julies Eltern, auch wenn sie deinen nicht das Wasser reichen können.“

Libby lächelte geschmeichelt. „Jetzt schleimst du dich ein.“

„Das ist mein Ernst. Aber deine Eltern kenne ich auch besser.“

„Ich kenne Julies Eltern auch nicht so gut, wie ich gern würde. Vielleicht ändert sich das noch.“

„Feiner Zug auf jeden Fall von Kyle, dass er ihren Namen angenommen hat. Würdest du das für uns nicht auch wollen?“

Libby zuckte mit den Schultern. „Würde ich nie von dir verlangen. Wenn, dann entscheidest du das.“

„Na ja, mal sehen. Ich freue mich schon so auf unsere Hochzeit. Wenn die auch nur annähernd so schön wird wie diese hier, bin ich zufrieden.“ Da konnte Libby ihm nur zustimmen. Sie kannte seine Bedenken bezüglich seines Bruders, aber wie üblich war sie in dieser Hinsicht ziemlich unerschrocken. Sie maß der Hochzeit jedoch auch keine allzu große Bedeutung bei. Zwar freute sie sich darauf, aber sie liebte Owen schon jetzt mit jeder Haarspitze. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass das je mehr werden würde.

 

 

Donnerstag, 15. April

 

Erleichtert verließ Libby die Interstate und fuhr nach Arlington hinein. Gleich war sie zu Hause. Sie hatte im Stau gestanden, weil aufgrund eines Unfalls zwei Fahrspuren auf dem Freeway gesperrt worden waren. Normalerweise hatte sie Glück, da sie antizyklisch unterwegs war, aber leider nicht an diesem Tag.

Keine drei Minuten später hatte sie vor dem Haus geparkt und betrat die Wohnung. Owen war schon dort, sie fand ihn im Arbeitszimmer am Laptop und schlang von hinten die Arme um ihn. Mit einem Lächeln schloss er die Augen und seufzte zufrieden. „Da bist du ja endlich.“

„Der Verkehr war die Hölle.“

„Wem sagst du das?“ Owen hatte meist nicht so viel Glück wie sie, er stand weitaus öfter im Stau, obwohl seine Fahrtstrecke erheblich kürzer war.

„Wie war dein Tag?“

„Ziemlich langweilig, und deiner?“

„Langweilig war er nicht, aber schön war es auch nicht. Ich habe mit Belinda und Jesse weiter an dem Profil des Serienvergewaltigers in Florida gearbeitet.“

„Oh“, machte Owen wissend und verzog das Gesicht. „Genau dein Ding, oder?“

„Ich hasse Vergewaltiger.“ Sogar wie die Pest. Den ganzen Tag lang war ihr durch den Kopf gegangen, wie gern sie diesen Täter kastriert hätte. Er war in Tampa, Florida aktiv und überfiel dort nachts alleinstehende Frauen in ihren Schlafzimmern. Er war stets maskiert und spritzte seinen Opfern Ketamin, um sie außer Gefecht zu setzen. Dann fesselte er sie und wartete in aller Seelenruhe, bis sie wieder halbwegs bei Sinnen waren, um sie zu vergewaltigen. Stundenlang. Seine DNA hatten sie und sie wussten, dass er ein Weißer war, aber das war dann auch schon alles. Er sprach nie und wenn er fertig war, ließ er die Frauen gefesselt und geknebelt zurück und verschwand durchs Fenster.

Libby hatte zwei Tage lang üble Gewaltgelüste verspürt, während sie Fotos und die Aussagen der Opfer studiert hatte. Sadistischer, perverser Mistkerl. Sie waren fast fertig mit ihrem Profil – dieser Täter war der typische Sexualsadist, er steigerte sich bereits und in Tampa hatte die Polizei Angst, dass er zum Mörder wurde. Deshalb hatten sie die BAU um ein Profil gebeten, um ihn nach Möglichkeit vorher zu schnappen.

Belinda kannte sich gut mit solchen Verbrechen aus und Nick wusste, dass er auch Libby bei solchen Delikten jederzeit um Rat fragen durfte. Bis jetzt wusste von den übrigen Kollegen immer noch keiner, dass Libby selbst mal vergewaltigt worden war, obwohl sie inzwischen den Verdacht hatte, dass sie es ahnten. Jesse hatte sie manchmal fragend angesehen, aber sie wollte sich nicht erklären. Ron Hawkins war für sie inzwischen nur noch eine düstere Erinnerung und sie war ja schließlich nicht Profilerin geworden, um jetzt mit Samthandschuhen angefasst zu werden. Das tat Owen auch nicht, obwohl er natürlich immer achtsam damit umgegangen war.

„Ich habe Hunger. Heute Mittag war mir nicht so sehr nach Essen, mir ging immer durch den Kopf, wie der Typ seine Opfer gefoltert hat. Wie sieht’s bei dir aus?“, fragte Libby, als wäre es das Normalste der Welt und wunderte sich entsprechend, als Owen sie grinsend ansah.

„Interessant, welche Themen du so zusammen in einem Satz ansprechen kannst“, sagte er. „Ich hatte zwar heute Mittag was, aber ich könnte schon wieder was essen …“

Sie beschlossen, sich eine Riesenpizza zu teilen und Libby zog sich erst mal um, nachdem sie ihre Bestellung beim örtlichen Lieferdienst aufgegeben hatten. Bloß raus aus der Bluse und rein in den Sweatpullover. Inzwischen war es kühl und gerade war ihr nach Kuscheln auf dem Sofa zumute. Dort setzte sie sich mit Owen hin, bis das Essen kam und bat ihn, von seinem Tag zu erzählen, weil sie keine Lust hatte, über einen Vergewaltiger zu sprechen. Das war wirklich nicht gerade ihr Lieblingsthema.

Keine halbe Stunde später war die Pizza da und sie beschlossen, faul auf dem Sofa sitzen zu bleiben, wo Libby sich zufrieden an Owen gelehnt hatte. Zwar waren sie irgendwie gefangen in ihrem Alltagstrott, aber sie machte ihren Traumjob und Owen war auch glücklich. Vor allem waren sie zusammen glücklich und das zählte. Am Rand des Couchtischs lag ein Brautmodenkatalog, den Libby immer wieder unentschlossen durchblätterte. Sie wusste einfach nicht, ob sie wirklich in Weiß heiraten wollte. Owen wünschte es sich, aber irgendwas hielt sie zurück und sie hatte keine Ahnung, was es war.

Sie war fast fertig mit dem Essen, als das Telefon klingelte. Mit einem Blick stellte sie fest, dass es Julie war und lächelte. Owen nickte wissend und nahm noch einen Bissen.

„Hey, Jules“, begrüßte Libby ihre beste Freundin. Inzwischen hatte sie den Spitznamen übernommen, den Kyle seiner Frau gegeben hatte.

„Hey, Libby, wie geht es dir?“

„Ach, ganz gut. So gut, wie es einem geht, wenn man sich den ganzen Tag in einen Vergewaltiger reingedacht hat.“

„Also, das kann ich bestens verstehen. Ich stecke ja mitten in der Vorbereitung der Interviews für mein Forschungsprojekt … davor habe ich ganz schön Respekt, das muss ich sagen.“

„Kann ich mir vorstellen. Ich hoffe, die Polizei in Tampa kriegt dieses Dreckschwein bald, an dessen Profil wir heute gearbeitet haben. Dann kannst du den auch gleich interviewen.“

Julie lachte. „That’s the Spirit! Danke auf jeden Fall, dass du deine Beziehungen hast spielen lassen. Professor Davis war ganz schön beeindruckt, als ich ihr sagte, wen ich interviewen werde.“

Julie hatte Libby im letzten Jahr darum gebeten, ihr vielleicht ein paar Interviews mit verurteilten Sexualverbrechern im Gefängnis zu ermöglichen. Libby hatte die Bitte an Nick weitergeleitet, der ein paar Strippen gezogen und die nötigen Genehmigungen für Julie eingeholt hatte, die sich im Rahmen ihrer Doktorarbeit vor allem mit der Frage nach der Prävention von Sexualverbrechen beschäftigte. In dieser Hinsicht waren Interviews mit entsprechenden Tätern von fundamentaler Bedeutung und sie hatte sich einige herausgesucht, die in New York, New Jersey und Pennsylvania einsaßen und mit denen sie sprechen wollte. Darunter waren Serienvergewaltiger wie der, hinter dem die BAU jetzt her war, aber auch Serienmörder.

Inzwischen war Julie klar, dass sie bei Sadisten kaum auf freiwillige Prävention setzen konnte. Sie wollte sich aber genauer mit den Anzeichen für drohende Verbrechen auseinandersetzen und ein neues Präventions- und Therapieprogramm ausarbeiten, das gefährdeten Tätern dabei helfen sollte, die Perspektive ihrer Opfer einzunehmen und sich bewusst zu machen, was sie mit ihren Taten anrichteten. Libby wusste nicht, ob so etwas wirklich Erfolg haben konnte, denn es gab diese Täter, die eine Gefahr für die Gesellschaft waren und nicht wieder auf freien Fuß gesetzt werden konnten. Julies Idee setzte allerdings etwas früher an: Sie verfolgte den Plan, solche schlimmen Verbrechen zu verhindern, bevor sie passierten. Dafür mussten aber Sozialarbeiter und Psychologen entsprechend geschult sein, um zu erkennen, ob ein Vergewaltiger vielleicht das Potenzial zum Serienmörder in sich trug.

„Wen wirst du denn so interviewen?“, fragte Libby.

„Den Allentown Ripper zum Beispiel … oder den Bridgeport Rapist. Ich überlege auch tatsächlich, ob ich dich nicht ganz offiziell befragen soll.“

„Mich?“

„Du kanntest den Son of the Nightstalker, und du kanntest ihn gut. Er hat dich zweimal gekidnappt. Du kannst mir ganz viel Input liefern, der bei der Entwicklung meines Präventionsprogramms helfen könnte, denn du kennst die Perspektive der Opferseite.“

Libby atmete tief durch. „Puh … ich hatte irgendwie befürchtet, dass du das mal sagst.“

„Du musst nicht.“

„Aber ich weiß, dass es dir helfen würde.“

„Ja, das muss ich zugeben.“ Julie lachte verlegen. „Überleg es dir in Ruhe. Es ist ja noch ganz viel Zeit.“

„Okay, mal sehen.“

„Eigentlich rufe ich gar nicht deshalb an, sondern wegen Kyle.“

„Was ist denn mit ihm?“

„Es geht um einen Fall der FBI-Dienststelle in New York. Ich gebe ihn dir mal, dann kann er es dir selbst erklären.“

„Okay“, sagte Libby überrascht.

„Hi“, vernahm sie Kyles Stimme. „Ich habe ein kleines Attentat auf dich vor.“

„Hab ich schon gehört. Erzähl mal.“

„Das ist überhaupt nicht mein Fall, aber ich habe mitbekommen, dass die Kollegen mit ihren Ermittlungen in einer Sackgasse stecken und die ganze Sache klang mir sehr nach einem Fall für dich und deine Kollegen.“

„Worum geht es denn?“

„Um eine Mordserie an Frauen, die sich nun schon seit gut zehn Jahren zieht.“

„Wow. Klingt nicht gut.“

„Nein … vielleicht kennt euer Team den Fall schon längst, das weiß ich nicht. Deshalb wollte ich dich fragen. Vor knapp zehn Jahren ist die erste Leiche aufgetaucht und vor zwei Wochen die inzwischen vierte. Die Kollegen sind sich sicher, dass die Fälle zusammenhängen, denn es sind immer dieselben Merkmale: Junge Frauen Anfang oder Mitte zwanzig verschwinden spurlos und dann tauchen nach drei oder fünf Jahren ihre Leichen auf – und die sind in keinem guten Zustand. Abgemagert und mit Narben übersät. Wer auch immer sie hat, foltert sie die ganze Zeit über. Die Toten hatten verheilte Knochenbrüche, zahllose Schnittwunden, Fesselmale … einer von ihnen hat er die Augen ausgestochen. Ich hab das alles heute Mittag in der Kantine erfahren und musste gleich an dein Team denken. Dieser brutale Bastard foltert sie jahrelang.“

„Missbraucht er sie auch?“

„Es konnte nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden, sagen wir so. Darum scheint es ihm aber nicht hauptsächlich zu gehen. Er scheint sie irgendwo unterirdisch festzuhalten, denn der Gerichtsmediziner hat entsprechende Mangelerscheinungen an den Leichen festgestellt. Ich weiß nicht, was diese kranke Sau mit den armen Frauen vorhat, aber die Kollegen haben inzwischen die Befürchtung, dass nicht eine die andere ablöst, sondern er sogar mehrere gleichzeitig in seiner Gewalt hat.“

Libby verzog das Gesicht. „Wie kommen sie darauf?“

„Weil die Opfer immer erst gefunden wurden, nachdem das nächste schon lange verschwunden war. Die zweite Frau wurde zum Beispiel zwei Jahre vor Auffinden der Leiche der ersten gekidnappt.“

„Dann verfolgt er irgendeinen Plan.“

„Mit absoluter Sicherheit. Die Kollegen gehen davon aus, dass er auch jetzt mindestens eine Frau in seiner Gewalt hat und es ist nur eine Frage der Zeit, bis er sich die nächste holt. Er hat sich die dritte nur kurz nach Auftauchen der Leiche der ersten geholt.“

„Aber sie sind sicher, dass es derselbe Täter ist?“

„Ja … weil er ihnen eine Art Brandzeichen verpasst. Gerade so, als gehörten sie ihm.“

„Du liebe Güte.“ Libby war ehrlich entsetzt.

„Sag ich ja. Ich musste wirklich gleich an euch denken.“

„Und wissen deine Kollegen, dass du die BAU ins Boot holen willst?“

„Noch nicht. Ich habe ja eigentlich gar nichts mit dem Fall zu tun – die meisten Infos, die ich dir gerade gegeben habe, habe ich mir nach der Pause aus dem System gezogen. Ich dachte, ich frage dich erst mal, ob ihr von dem Fall wisst.“

„Auf Anhieb sagt es mir nichts. Ich müsste morgen mal im System nachsehen. Kannst du mir die Namen der Opfer sagen?“

„Ja, die habe ich mir aufgeschrieben. Das ist einmal Beverly Collins aus Kingston, sie ist vor dreizehn Jahren verschwunden und war damals 22. Ansonsten habe ich hier noch Louise Harper, Dawn Bryant und Victoria Lee.“

„In Ordnung, ich werde mal schauen, ob ich sie finde. Wird vermutlich funktionieren.“

„Beverly Collins wurde vor knapp zehn Jahren gefunden. Die Abstände werden immer größer, er wird also besser in dem, was er vorhat. Die Kollegen haben sich jedenfalls wahnsinnig darüber aufgeregt, dass sie bis heute nicht auch nur einen echten Verdächtigen haben.“

Libby hatte sich den Hörer unters Kinn geklemmt und bat Kyle, die Namen und Daten noch einmal zu wiederholen. Er gab ihr alles durch und sie schrieb aufmerksam mit.

„Ich frage morgen mal bei Alex und Nick, ob der Fall ihnen was sagt. Denkst du denn, die Kollegen sind aufgeschlossen für die Hilfe der Profiler?“, fragte sie.

„Ich denke, schon. Keine Ahnung, warum sie nicht längst gefragt haben, wenn dem tatsächlich so sein sollte. Aber vielleicht könnt ihr ja helfen.“

„Das wäre schön. Also, ich hake da mal nach und dann gebe ich dir Bescheid. Kannst du mir deine Büronummer geben?“

„Sicher.“ Kyle diktierte sie ihr und Libby versprach, sich zu melden. Anschließend gab er ihr noch einmal Julie, die ganz aufgeregt klang.

„Das wäre ja total irre, wenn das ein Fall für euch wäre, was? Ihr müsstet dann herkommen und …“

Libby lachte. „Das könnte dir so passen, was?“

„Ja, das könnte mir enorm gut passen, das weißt du. Unser Schlafsofa ist für dich reserviert.“

„Ich weiß. Danke. Ich spreche Nick morgen gleich mal auf den Fall an. Nicht unwahrscheinlich, dass er ihm was sagt.“

„Nick weiß doch sowieso alles. Macht es dir immer noch Spaß in seinem Team?“

„Du kannst ja Fragen stellen. Es ist ein harter Job, aber das, was du machst, ist ja auch nicht besser.“

Nun lachte Julie und stimmte Libby zu. Sie unterhielten sich sehr vertraut und Libby hörte deutlich, dass ihre Freundin ziemlich glücklich war. Das freute sie sehr, denn sie stellte es sich als einen enorm großen Schritt vor, für die Liebe in ein weit entferntes Land zu ziehen und ein vollkommen neues Leben zu beginnen. Ganz so schlimm war es bei ihr selbst dann doch nicht.

Als sie schließlich das Gespräch beendet hatte und zu Owen zurückkehrte, der auf dem Sofa mit seinem Handy herumspielte, blickte er auf und fragte: „Ging es schon wieder um die Arbeit?“

„Sozusagen, ja … Kyle ist da auf einen Fall aufmerksam geworden, nach dem ich Nick jetzt mal fragen muss. Klingt fast so, als könnten die Kollegen oben in New York Hilfe gebrauchen.“

„Wehe, du verlässt mich schon wieder“, scherzte Owen.

„Ich verlasse dich nie, Owen Young.“ Mit erwartungsvollem Gesicht stand sie vor ihm und nachdem er sein Handy weggelegt hatte, setzte sie sich ihm zugewandt auf seinen Schoß und legte die Arme um ihn. Wortlos küsste sie ihn und schloss die Augen. Sie mochte den Geruch seines Aftershaves. Als er seine Hände auf ihren Po legte, während er den Kuss erwiderte, lächelte Libby und spürte, wie das in ihr ein wohliges Kribbeln auslöste.

„Ich liebe dich“, sagte Owen und Libby sah ihn wieder an. „Ich bin so glücklich darüber, dass wir auch bald heiraten, weißt du das?“

„Natürlich weiß ich das. Ungefähr so glücklich wie ich, oder?“ Grinsend fuhr sie mit einer Hand unter sein T-Shirt und versank mit ihm in einem weiteren tiefen Kuss.

 

 

 

Freitag, 16. April

 

Der Duft von Kaffee lag in der Luft, als Libby das Büro der Behavioral Analysis Unit in der FBI Academy, Quantico betrat. Nun war sie schon seit fast einem Jahr hier und es fühlte sich so an, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Die Kollegen grüßten sie freundlich und sie setzte sich erst kurz an ihren Rechner, bevor sie sich wieder zu Belinda und Jesse gesellte, um mit ihnen das Profil des Vergewaltigers aus Tampa fertigzustellen. Sie wollten es unbedingt noch vor der Mittagspause beim Tampa Police Department haben und als sie zwei Stunden später fertig waren, stellten sie es Nick vor, der es sich gespannt anhörte und schließlich beifällig nickte.

„Klingt alles sehr plausibel. Ich werde Alex bitten, das Profil so nach Tampa weiterzuleiten. Das war gute Arbeit.“

„Danke“, sagte Belinda und während sie und Jesse schon aufstanden, um wieder zu ihren Arbeitsplätzen zurückzukehren, blieb Libby sitzen und blickte zu Nick. „Kann ich dich was fragen?“

„Immer doch. Worum geht es?“ Nachdem Belinda und Jesse das Büro verlassen hatten, setzte Nick seinen typischen interessierten Gesichtsausdruck auf.

„Ich habe gestern mit Julie telefoniert. Ihr Mann hat mich auf einen Fall aufmerksam gemacht, den die Kollegen in der New Yorker Dienststelle bearbeiten. Er fragte mich, ob wir in dem Fall mal ein Profil erstellt hätten, weil er das so passend für uns fand“, begann Libby. „Irgendjemand ermordet in New York State junge Frauen, nachdem er sie jahrelang gefangen gehalten und gefoltert hat – wahrscheinlich mehrere gleichzeitig.“

Nick machte ein unschlüssiges Gesicht. „Noch klingelt da nichts.“

„Einem Opfer hat er die Augen ausgestochen. Die Frauen sind alle Anfang oder Mitte zwanzig, er verpasst ihnen sein eigenes Brandzeichen und Sex scheint für ihn gar nicht so sehr im Vordergrund zu stehen.“

„Hast du einen Namen für mich?“

Libby holte ihren Zettel heraus. „Beverly Collins.“

„Beverly Collins … wann war das?“

„Ihre Leiche wurde 2011 gefunden.“

„Wie viele Opfer gab es insgesamt?“

„Bis jetzt vier. Die anderen hießen Louise Harper, Dawn Bryant und Victoria Lee.“

Nun zeichnete sich Erkenntnis auf Nicks Gesicht ab. „Ja, ich erinnere mich. Louise Harper war das mit den ausgestochenen Augen.“

Diese Aussage überraschte Libby. „Das weiß ich gar nicht.“

„Ich erinnere mich. Die Kollegen hatten uns damals um ein Profil gebeten.“

„Ach was.“

„Das müsste 2014 gewesen sein. Die Mordserie ist also weiter gegangen?“

Libby nickte. „Was hattet ihr denn damals angenommen?“

„Mal sehen … komm mit.“ Nick stand auf und ging zu seinem Schreibtisch. Libby nahm auf dem Stuhl davor Platz, bevor er seinen Bildschirm zu ihr drehte. Auf seinem Computer öffnete er einen Ordner mit Unterlagen aus 2014 und suchte ein bisschen, bis er ein Profil von Oktober 2014 fand, das sie für die Dienststelle in New York City angefertigt hatten. Als Opfer aufgeführt waren nur Beverly Collins und Louise Harper. Beverly war 2008 aus Kingston, New York verschwunden und Anfang 2011 tot aufgefunden worden. Mit dem Fund von Louise Harpers Leiche 2014 hatte die Polizei es dem FBI übergeben, denn Louise hatte man die Augen ausgestochen und nun war schon die zweite Frauenleiche aufgetaucht, die dasselbe Brandzeichen trug. Es war eine liegende Acht, das Zeichen für Unendlichkeit.

„Das ist ganz schön makaber“, fand Libby.

„Wir haben damals festgehalten, dass er definitiv ein Sadist ist, auch wenn wir keinerlei Hinweise darauf finden konnten, dass er die Opfer vergewaltigt hat. Wir haben ihn dem kompensatorischen Sadismus zugeordnet.“

„Also tritt für ihn die Folter seiner Opfer an die Stelle von Sex.“

Dormer nickte. „Ganz genau. Dass er sie foltert, ist für ihn wie Sex. Dafür braucht er keine Penetration. Die hat er sich auf andere Weise geholt, zum Beispiel mit den vielen kleinen Verletzungen durch Messer. Er hat Beverly damals fast drei Jahre gefangen gehalten, bevor er sie getötet hat, und Louise war schon ein Jahr nach Beverlys Entführung ebenfalls dort. Sie hat er wesentlich länger behalten und bei ihr waren die Verletzungen auch deutlich ausgeprägter.“

„Was habt ihr über ihn angenommen?“

Nick seufzte tief. „Wir hatten nicht viel, das weiß ich noch. Es war zwar ein solides Profil, aber uns fehlte einfach wahnsinnig viel. Wir haben die Standards angenommen: Ausgehend von der Tatsache, dass die Opfer Weiße waren, haben wir festgehalten, dass er auch ein Weißer ist, etwa 25 bis 30 Jahre alt. Wir hatten nichts zum Verschwinden der jungen Frauen, deshalb können wir über seine sozialen Fähigkeiten nur spekulieren. Am wahrscheinlichsten war damals, dass er sie tatsächlich unbemerkt ins Auto gezerrt hat. Aber wer es schafft, gleich mehrere Frauen so lang irgendwo gefangen zu halten, ist intelligent und organisiert und er verfügt neben finanziellen auch über die nötigen räumlichen Möglichkeiten. Dass er vorbestraft ist, ist nicht allzu wahrscheinlich, denn er ist beherrscht genug, das alles jahrelang durchzuziehen. Allerdings ist er auch brutal und besessen von dem Wunsch, andere zu dominieren. Vermutlich lebt er deshalb nicht in einer Beziehung, weil er so bestimmend ist, dass sich dem niemand unterordnen will. Wir hatten vermutet, dass der ersten Entführung ein kürzlicher Bruch einer Beziehung vorangegangen ist, die er geführt haben könnte und an der ihm was gelegen hat. Wir haben die Taten als einen Ausdruck des Verlangens gesehen, sich jemanden zueigen zu machen und vollkommen zu unterwerfen und weil es ihm im wahren Leben nicht gelungen ist, sich so etwas aufzubauen, hat er begonnen, Frauen zu entführen. Er wird schon ein gewisser Sonderling sein, aber er hat sein Leben im Griff.“

„Offensichtlich. Er macht das jetzt seit dreizehn Jahren. Inzwischen gibt es vier Tote und es ist ja anzunehmen, dass er aktuell noch weitere Frauen in seiner Gewalt hat.“

„Vermutlich, ja … sag mir doch noch mal die Namen der anderen Opfer.“

In VICAP suchte Nick nach Dawn Bryant, die mit 23 verschwunden war – diesmal allerdings nicht in New York State, sondern in Connecticut. Sie war 2010 als vermisst gemeldet worden und ihre Leiche war 2017 wieder aufgetaucht. Victoria Lee aus Ellenville, New York, war mit 25 verschwunden. Das war 2013 gewesen und ihre Leiche war vor zwei Wochen gefunden worden.

Kyle hatte Recht gehabt. Die Abstände wurden wirklich immer größer. Der Täter war zufriedener mit sich und seiner Vorgehensweise.

„Wenn Victoria Lee das letzte gefundene Opfer ist … sie ist 2013 verschwunden. Das ist eine Ewigkeit her. Anfangs hat er sich die Opfer jährlich geholt, zwischen Dawn und Victoria lagen schon drei Jahre … aber jetzt ist es fast sieben Jahre her, dass er das letzte Opfer entführt hat?“ Nick schüttelte den Kopf. „Niemals. Wenn er auch nur den Abstand von drei Jahren beibehalten hat, befinden sich jetzt noch mindestens zwei Frauen in seiner Gewalt.“

Libby betrachtete ihren Zettel und die Daten darauf. Beverly hatte er drei Jahre gehabt, Louise schon fünf, Dawn sieben und Victoria acht. Zwischenzeitlich hatte er sogar drei Frauen zeitgleich bei sich gehabt – mindestens.

„Du hast Recht. Er ist noch dabei und allein deshalb bräuchte es dringend ein neues Profil“, sagte sie.

„Mehr als dringend, ja. Wir wissen jetzt mehr und können viele Annahmen korrigieren, aber vor allem ist es wichtig, die anderen Frauen zu finden. Ich denke, wir sollten die Kollegen in New York unbedingt unterstützen.“

„Die wissen noch gar nicht von ihrem Glück, dass Kyle mich auf den Fall angesprochen hat …“

„Okay, dann lass ihn mal die Lage peilen. Er soll den zuständigen Ermittlern ruhig sagen, dass er jemanden aus der BAU kennt und angesprochen hat und wir jetzt gern helfen würden.“

Libby nickte. „Ich rufe ihn sofort an.“

„In Ordnung. Ich muss selbst kurz telefonieren, aber gib mir bitte Bescheid, wenn du etwas weißt.“

Sie versprach es und kehrte an ihren Schreibtisch zurück, wo sie gleich zum Hörer griff und Kyles Nummer wählte.

„Special Agent Thornton, FBI New York“, meldete er sich und brachte Libby damit zum Grinsen. FBI Special Agent Kyle Thornton. Das war großartig.

„Guten Tag, Special Agent Thornton, hier spricht Special Agent Libby Whitman aus Quantico“, sagte sie und musste sich ein Lachen verkneifen.

„Ich grüße Sie, Agent Whitman. Was kann ich für Sie tun?“, spielte er das Spiel kurz mit und lachte. „Hast du mit deinem Team gesprochen?“

„Ich komme gerade von SSA Dormer. Die BAU hat 2014 tatsächlich ein Profil in dem Fall erstellt, aber damals waren es erst zwei Opfer. Dormer war nicht ganz glücklich mit dem Profil, weil er meinte, dass es damals kaum Informationen gab. Als ich ihm vorhin von den zwei neuen Opfern erzählte, war er gleich sehr zuversichtlich, das Profil noch einmal neu erarbeiten zu können. Außerdem haben wir nachgerechnet und sind zu dem Schluss gekommen, dass der Täter noch mindestens zwei weitere Opfer aktuell in seiner Gewalt hat. Die leben noch.“

„Oh. Wow. So weit habe ich noch gar nicht gedacht – ich weiß nicht, ob die Kollegen sich das schon überlegt haben.“

„Geh mal zu ihnen und erzähl davon, dass du mit mir darüber gesprochen hast, weil du mich kennst. Wir möchten ihnen unsere Unterstützung anbieten.“

„Okay, bin so gut wie unterwegs. Ich melde mich gleich wieder bei dir.“

Libby war einverstanden und legte auf. Das war ja monströs. Vier Tote und zwei, vielleicht drei weitere entführte Frauen … so viele Opfer. Sie mussten etwas tun.

Während sie auf Kyles Rückruf wartete, konnte sie sich kaum auf etwas anderes konzentrieren. Schließlich öffnete sie VICAP und rief die Fallakte von Louise Harper auf.

Man hatte die Leiche in einem einsamen Waldstück gefunden, da war sie bereits drei Tage tot gewesen. Sie war nackt und lag verrenkt im Unterholz. Am auffälligsten war die Tatsache, dass er ihr die Augen ausgestochen hatte. Unwillkürlich musste Libby an Marcus Greene denken, der auch die Augen seiner Opfer entfernt hatte.

Die Fotos waren ein Kabinett des Grauens. Ihre Handgelenke waren regelrecht vernarbt von Fesselmalen, ähnliches galt für ihre Fußgelenke. Als Libby die Aufnahmen weiter studierte, sah sie die unzähligen kleinen Schnittwunden auf Louises geschundenem Körper. Er hatte sie immer wieder geschnitten – nicht tief, nur um ihr weh zu tun. Um sie zu quälen. So, wie Sean Taylor es damals mit Sadie getan hatte.

Libby schluckte hart und überflog den Obduktionsbericht. Es war die Rede von Knochenbrüchen – von Frakturen der Unterschenkel und Rippen, außerdem schien er ihr die Finger gebrochen zu haben, denn die Gelenke waren teilweise versteift. Die Brüche waren schon seit längerem verheilt, doch man wusste, dass Louise sie vor ihrer Entführung nicht gehabt hatte.

Libby ahnte, warum er ihr die Brüche an den Beinen beigebracht hatte. Sie hatte nicht fliehen sollen.

Sie las von verschiedensten Verletzungen. Louise hatte Löcher in Ober- und Unterlippe, die bereits wieder verheilt waren und Narben an den Brüsten, die auf Schnitt- und Stichwunden hindeuteten. Eine ihrer Brustwarzen fehlte und das Narbenmuster verriet, dass er sie aller Wahrscheinlichkeit nach abgebissen hatte. Für einen kurzen Moment hielt Libby die Luft an und sammelte sich, bevor sie weiterlas.

An den Innenseiten der Oberschenkel hatte sie zahlreiche Schnitte, ebenso an den Genitalien. Libby las an der Stelle nicht weiter und war heilfroh, als das Telefon klingelte und Kyle sie anrief. Ihr war heiß und ihr Herz raste.

„Ich habe mit den Kollegen gesprochen. Die hatten schon überlegt, die BAU ins Boot zu holen, ich habe also mit eurem Angebot offene Türen eingerannt“, sagte er ohne Umschweife.

„Ehrlich? Ist doch großartig! Ich werde es Nick gleich berichten.“

„Ja, mach das … er soll doch einfach mal SSA Alexander Reed anrufen und die Details mit ihm klären. Hast du was zu schreiben?“

Libby bejahte und notierte die Nummer von Agent Reed. „Ich gehe gleich zu Nick. Das wäre ja toll, wenn wir zu euch kämen, um euch bei den Ermittlungen zu unterstützen.“

„Ja, absolut. Julie würde sich irrsinnig freuen, wenn du bei uns übernachten würdest.“

„Na, aber sicher doch. Was denkst du, wie ich mich darüber freuen würde!“

„Sag Bescheid, wenn du Näheres weißt.“

Libby versprach es ihm und legte auf, bevor sie mit ihrem Zettel zu Nicks Büro ging. Er telefonierte noch, aber er winkte sie herein und beendete kurz darauf sein Gespräch.

„Und?“, fragte er mit vielsagendem Gesicht.

„Sie hatten schon darüber nachgedacht, uns zu kontaktieren. Wir sind ihnen herzlich willkommen. Kyle hat mir gerade die Nummer des zuständigen Ermittlers gegeben, damit du dich mit ihm kurzschließen kannst.“

„Hervorragend, das lief doch gut“, freute Nick sich. Libby reichte ihm den Zettel und er machte sich gleich wieder daran, zu telefonieren.

Jetzt ging es ihr besser. Sie bearbeitete ein paar liegen gebliebene Mails, bis Nick etwa zwanzig Minuten später erschien und um die Aufmerksamkeit der Kollegen bat.

„Wir haben einen neuen Fall, und zwar in New York. Ein Fall, an dem wir 2014 schon einmal gearbeitet haben. Vielleicht erinnert sich jemand an die beiden Frauen, die nach ihrer Entführung jahrelang gefoltert und schließlich ermordet wurden. Einer hatte er die Augen ausgestochen.“

Ian nickte sofort. „Das weiß ich noch. Der Kerl läuft also immer noch frei rum.“

„Leider – und er hat in der Zwischenzeit zwei weitere Frauen getötet und mit Sicherheit aktuell noch andere in seiner Gewalt. Die letzte Leiche wurde gerade vor zwei Wochen gefunden. Ich habe jetzt mit dem zuständigen Ermittler besprochen, dass wir ab Montag in der New Yorker Dienststelle die Ermittlungen unterstützen.“

„Cool“, sagte Dennis und erntete ein Grinsen der anderen Kollegen.

Nick lächelte. „Das ist sicher einer der interessanteren Einsatzorte, aber freut euch nicht zu früh. Der Fall wird unschön. Wer will und gerade nichts Besseres zu tun hat, kann sich ja schon mal darüber informieren.“

Nick nannte den Kollegen die Namen der Opfer und Libby beschloss, sich auch die anderen Fallakten noch anzusehen. Allerdings bereute sie es schnell wieder, denn die übrigen Fotos waren genauso scheußlich wie die von Louise Harper – mit dem Unterschied, dass er den anderen Opfern nicht die Augen ausgestochen hatte. Gefoltert hatte er sie trotzdem, und zwar jahrelang. Und denken konnte sie sich nur das, was sie anhand der Narben sehen konnte. Sie wusste gut genug, dass es noch zahllose weitere Foltermethoden gab, deren Spuren hinterher nicht sichtbar waren – Dinge, die auf die Psyche einwirkten.

Es gab immer wieder Momente, in denen sie ihren Job hasste. Sie wollte gar keine Fotos von jungen Frauen sehen, die jahrelang brutal misshandelt worden waren. Widerlicher, kranker Mistkerl. Sie wusste selbst gut genug, wie es war, gefesselt alles Mögliche über sich ergehen lassen zu müssen.

Sie stand auf und ging in die Küche, um sich etwas zu trinken zu holen. Dort war das Fenster offen und sie genoss den frischen Luftzug.

Sie war doch hier, um so etwas zu verhindern. Natürlich war es hart und es brachte sie immer wieder an ihre Grenzen, aber das hatte sie vorher gewusst. Sie musste diesen Frauen helfen und das ging nur, wenn sie das nicht an sich heranließ und ihre Arbeit machte.

Libby kehrte an ihren Arbeitsplatz zurück und schaute sich die aktuellsten Fotos an, die von Victoria Lee stammten. Sie war regelrecht dürr. Ihre Rippen stachen hervor, ihre Handgelenke wirkten knochig. Sie waren vernarbt und gleichzeitig verschorft. Victoria trug, genau wie die anderen, das Branding mit der liegenden Acht. Ihre Haut war blass, ihre Wangen eingefallen. Es gab Fotos, die vernarbte Striemen auf ihrem Rücken zeigten – Peitschenhiebe. Was war dem Kerl alles eingefallen?

Dann bemerkte sie auf einem Foto eine Narbe an Victorias rechter Hand. Es war eine kurze, schmale Linie, die auf einen Messerstich hinwies. Das nächste Foto zeigte eine ähnliche Linie auf der Unterseite der Hand. Der Rechtsmediziner hatte vermutet, dass der Täter ihr ein Messer durch die Hand gestochen hatte.

Libby überflog den Obduktionsbericht weiter. Als sie las, dass der Täter Victoria im Genitalbereich grausam verstümmelt hatte, spürte sie, wie ihr übel wurde. Was sie da las, erinnerte sie an die grausamen Beschneidungsrituale, die heutzutage immer noch aus fadenscheinigen religiösen Gründen im afrikanischen Raum durchgeführt wurden und den betroffenen Frauen lebenslange Qualen bescherten. Der Gerichtsmediziner hatte außerdem vermutet, dass der Täter sie mit irgendwelchen Gegenständen so heftig traktiert hatte, dass sie hinterher aller Wahrscheinlichkeit nach inkontinent gewesen war.

Libby verließ VICAP und biss sich auf die Lippen. Für einen Moment schloss sie die Augen und konzentrierte sich aufs Atmen. Sadie hatte ihr mal einige Übungen gezeigt, um Stress abbauen zu können. Dabei war es wichtig, die eigenen Gedanken auf etwas anderes zu lenken als den Stressor und bewusst zu atmen.

„Alles okay?“, vernahm sie plötzlich eine Stimme von hinten. Es war Jesse.

Libby öffnete die Augen wieder und drehte sich mit einem bemühten Lächeln zu ihm um. „Ja, geht schon. Es ist nur immer schwierig, bei diesem brutalen Wahnsinn das eigene Kopfkino ausgeschaltet zu lassen.“

„Das kann ich verstehen. Ich hasse das und jeden Mann, der so etwas tut, aber ich habe keine Ahnung, wie das sein muss, wenn man als Frau sieht, was anderen Frauen angetan wurde.“

„Beschissen“, sagte Libby unverblümt. „Aber deshalb sind wir ja hier, oder? Um das zu beenden.“

„Du sagst es.“ Jesse lächelte und setzte seinen Weg in die Küche fort. Bis zur Mittagspause saß Libby die Zeit einfach aus, ohne VICAP noch einmal zu öffnen. Sie würde sich früh genug wieder mit den grausamen Details dieses Falles befassen müssen, da musste sie keine Fleißpunkte sammeln, indem sie sich das alles jetzt schon antat. Sie wusste, dass Nick das nicht von ihr verlangte.

Bis zum Feierabend begann sie, die Vermisstenakten aus New York zu durchsuchen. Junge Frauen Anfang zwanzig, die in den letzten sieben Jahren verschwunden und nicht wieder aufgetaucht waren. Es waren einige und Libby kam für sich zu keiner sinnvollen Eingrenzung. An diesem Tag machte sie pünktlich Schluss, weil sie inzwischen Kopfschmerzen hatte, und zu Hause angekommen ging sie gleich auf der Suche nach einer Schmerztablette, nachdem sie Owen begrüßt hatte.

„Was ist los?“, fragte er anteilnehmend, weil er sofort spürte, dass etwas sie bedrückte.

„Am Montag geht’s nach New York. Der Fall, auf den Kyle mich gebracht hat. Ich habe mich heute damit beschäftigt, wie der Täter seine Opfer quält …“

Wortlos umarmte Owen seine Freundin und drückte sie an sich. Libby war so froh, es ihm nicht erklären zu müssen und einfach auf sein Verständnis vertrauen zu können.

„Ihr werdet ihn finden“, sagte er zuversichtlich.

„Hoffentlich diesmal. Wir hatten tatsächlich schon ein Profil zu diesem Fall. Genützt hat es nichts.“

„Was nicht eure Schuld ist.“

„Nein, ich weiß … Aber jetzt habe ich wieder Bilder im Kopf.“

Owen seufzte und gab ihr einen Kuss. „Was kann ich tun, um dir zu helfen?“

„Ich weiß nicht …“ Libby kam nicht dazu, sich darüber Gedanken zu machen, weil das Telefon klingelte. Es überraschte sie nicht, dass Julie anrief.

„Hey, Kyle hat mir vorhin gesteckt, dass du tatsächlich mit deinem Team herkommst!“, überfiel Julie sie voller Enthusiasmus. „Ich wollte euch einen Vorschlag machen. Möchtet ihr morgen beide herkommen? Habt ihr Zeit und Lust? Dann könnte Owen immerhin bis Sonntag Abend bleiben und dich gebe ich sowieso nicht mehr her …“

So weit hatte Libby noch gar nicht gedacht, aber sie musste zugeben, dass die Idee ihr gefiel. Sie erzählte Owen davon und er war sofort einverstanden.

„Das wäre toll, Wochenenden in New York sind super. Ich fahre dann einfach Sonntag Abend allein zurück und weiß dich ja dann in den besten Händen“, sagte er.

Libby lächelte. Dieser Vorschlag motivierte sie gleich enorm.

„Abgemacht“, sagte sie in den Hörer. „Wir sehen zu, dass wir morgen Mittag bei euch sind.“

„Klasse!“, freute Julie sich lautstark. Das wirkte so ansteckend, dass Libby lächeln musste.

 

 

 

Sonntag, 18. April

 

In New York wurde es wirklich nie langweilig. Am Samstag hatten sie sich in Manhattan ins Getümmel gestürzt und waren shoppen gegangen, nachdem sie am Times Square günstig Resttickets für das Musical Aladdin am Abend ergattert hatten. Zwar hatten sie nur jeweils zwei Plätze in zwei hintereinander liegenden Reihen bekommen, aber das fanden sie nicht schlimm. Beim Musical amüsierten sie sich dafür großartig und hatten gemeinsam einen wunderbaren Abend.

Am Sonntag unternahmen sie erst eine Fahrt mit der Roosevelt Island Tram, einer über den East River führenden Seilbahn, die Libby aus den Spiderman-Filmen kannte. Anschließend statteten sie dem ehrwürdigen American Museum of Natural History einen Besuch ab und machten abschließend einen Spaziergang im Central Park, bevor sie auf Owens Bitten hin einen Überfall auf Shake Shack starteten.

Libby mochte New York. Sie wusste jetzt, warum Kyle dorthin hatte versetzt werden wollen. Bei Milkshakes und Burgern saßen sie zusammen in einer Ecke im Keller des Restaurants, lachten und hatten Spaß. Kyle war inzwischen auch zu einem Freund für Owen geworden, was Libby freute. Sein einziger anderer Freund in der Gegend war sein Partner Benny, deshalb war sie froh, dass er sich so gut mit Julies Mann verstand. Allerdings hatten die beiden auch einige Gemeinsamkeiten.

Sie unterhielten sich viel über ihre Jobs, bis Kyle sagte: „Mann, bewirb dich doch einfach noch mal beim FBI, was meinst du? Das wäre absolut was für dich.“

„Ja, kann sein … aber meinen verpatzten Hörtest von damals macht das ja auch nicht ungeschehen“, erwiderte Owen.

„Du weißt, dass Nick ein gutes Wort für dich einlegen kann“, erinnerte Libby ihn.

„Ach, ich weiß nicht. In DC habe ich Benny. Er ist ein toller Partner und ich bin überhaupt zufrieden mit meinem Job beim MPDC“, sagte Owen zögerlich.

„Du musst ja nicht. War nur so eine Idee“, entgegnete Kyle.

„Ist ja nicht, dass ich nicht manchmal überlege … aber eigentlich will ich gerade nichts ändern“, gab Owen zu.

„Musst du ja auch nicht. Heiratet ihr erst mal.“

„Das machen wir.“ Unvermittelt gab Owen Libby einen Kuss und sie lachte.

In der Dämmerung fuhren sie zurück nach Hoboken und dort angekommen war es auch schon an der Zeit für Owen, sich von den anderen zu verabschieden und nach Arlington zurückzukehren. Das machte Libby traurig. In diesem Moment wollte sie ihn nicht hergeben, aber er musste am nächsten Morgen pünktlich bei der Arbeit sein.

Sie umarmte ihn zum Abschied und gab ihm einen Kuss, als sie vor seinem Auto standen. Schließlich stieg er ein und fuhr los. Libby blickte ihm hinterher und spürte einen kleinen Stich, aber sie wusste, das brachte der Job eben mit sich und bald würde sie ihn wiedersehen.

„Ihr seid süß zusammen“, sagte Julie, während sie hinauf ins Apartment gingen.

„Nicht so wie ihr“, erwiderte Libby grinsend. „Wie ist es denn so, verheiratet zu sein?“

Julie zuckte mit den Schultern. „Nicht anders als vorher eigentlich. Allerdings ist es schon enorm cool, dass ich jetzt eine Green Card habe.“

„Immerhin. Der erste Schritt zur Staatsbürgerschaft.“

„Ja … Ende nächsten Jahres kann ich den Antrag stellen. Keine Ahnung, was zuerst fertig ist – mein Pass oder meine Doktorarbeit?“ Sie lachte. Kyle verzog sich ins Schlafzimmer, um dort am Laptop einen Film zu sehen. Das hatte er von sich aus vorgeschlagen, um den Freundinnen ein bisschen Zeit für sich zu lassen.

„Und du? Hast du auch so viel Spaß daran, dich um die Hochzeitsvorbereitungen zu kümmern?“, fragte Julie ihre Freundin und nahm einen Schluck aus ihrem Glas. Auf dem Tisch standen ein paar Knabbereien, im Hintergrund lief leise Musik. Kasabian, die Julie aus England mitgebracht hatte.

Libby zuckte unschlüssig mit den Schultern. „Ich weiß nicht … ich freue mich total, aber ich weiß ja nicht mal, was ich anziehen soll.“

„Nicht? Also, ich habe vielleicht nicht in einer Kirche geheiratet … drüben in England sind wir ja alle kleine Heidenkinder, seit die katholische und die anglikanische Kirche sich damals im Mittelalter so in den Haaren lagen. Aber trotzdem wollte ich dieses weiße Kleid.“

„Das ist auch total schön, aber … ich weiß nicht. Sähe ich darin nicht total verkleidet aus?“

„Süße, du warst der Hammer auf meiner Hochzeit. Kleider stehen dir total gut.“

„Irgendwie fühle ich mich wohler in einer kugelsicheren Weste …“

Julie lachte schallend. „Das ist wieder so typisch, weißt du? Aber ich glaube, ich weiß, was du meinst. Du hast Angst vor dem, wofür es steht, oder?“

Libby überlegte kurz. „Wie meinst du das?“

„Na, ich kenne die Irren ja nicht sonderlich gut, mit denen du die ersten vierzehn Jahre deines Lebens verbracht hast, aber ich könnte mir vorstellen, dass du irgendwo ganz tief in dir drin Angst vor dem Heiraten hast, weil du das seit damals mit etwas Schlechtem verbindest.“

Nachdenklich erwiderte Libby den Blick ihrer Freundin. „Da könntest du schon Recht haben.“

„Ja, das weiß ich, deshalb sage ich das ja. Das lief auch immer mit weißen Kleidern ab, oder?“

Libby nickte. „So wie in vielen Gesellschaften der Welt.“

„Du musst es ja nicht tun, wenn du nicht willst. Zieh sonst halt ein knallrotes Kleid an, wenn es dir Spaß macht. Aber wenn du es doch willst und dich bloß nicht traust, weil dir da irgendein Mist im Kopf rumschwebt, solltest du daran vielleicht noch arbeiten, bevor dir das den Spaß verdirbt.“

„Du hast Recht … ich meine … ich weiß ja, dass nichts Schlimmes passiert. Ich liebe Owen wahnsinnig und ich bin ja, anders als in der FLDS, nicht plötzlich sein Eigentum, nur weil wir verheiratet sind. Aber ich bin so sozialisiert worden. Ich habe auch Mädchen in weißen Kleidern weinen sehen, verstehst du? Ich weiß nicht, ob ich das je aus dem Kopf kriege.“

„Dann lass das mit dem weißen Kleid. Das ist dein Tag und du sollst das genießen. Ich komme aber auch gern runter nach Arlington und gehe mit dir auf die Suche, wenn du möchtest. Das ist etwas, wo man eine Freundin gut gebrauchen könnte. Männer sind da unnütz.“

Libby grinste. „Da hast du Recht. Ich stelle mir gerade vor, wie Owen irgendwann schlafend auf einem Stuhl sitzt, nur weil ich das achtzehnte Kleid anprobiere.“

Julie kicherte. Sie saß im Schneidersitz neben Libby auf dem Sofa und knabberte ein paar Chips.

„Oder ich nehme wirklich ein rotes Kleid“, sagte Libby plötzlich. „Steht mir ohnehin besser als Weiß. Ich bin blond, wie gut sieht da ein weißes Kleid an mir aus? Mit deinen braunen Locken hast du ausgesehen wie eine Disneyprinzessin, aber ich …“

„Ach, jetzt red das nicht klein. Aber ja, in einem roten Kleid wärst du der Hammer. Eine echte Bombe.“

„Und es wäre ein Statement. Es wäre ein wunderbares Fuck you an meine Herkunft.“ Nun grinste Libby breit.

„Ah, so gefällst du mir schon viel besser. Also ein rotes Kleid. Das kriegen wir hin. Und die passende Unterwäsche für die Hochzeitsnacht.“

Libby warf Julie einen schiefen Blick zu. „Wird das nicht viel zu sehr überbewertet?“

„Schon ein wenig … Kyle und ich waren so müde, dass wir bloß noch alles ausgezogen haben und ins Bett gefallen sind. Aber wir haben es nachgeholt.“ Julie machte ein vielsagendes Gesicht.

„Ich bin bloß froh, dass niemand es in meinem Leben geschafft hat, mir den Spaß daran zu versauen“, murmelte Libby. „Versucht haben es ja mehrere.“

Mit einem Mal wirkte Julie ernst. „Das ist mies, ganz ehrlich.“

„Sei froh, dass du das nie erlebt hast.“

Julie legte einen Arm um ihre Freundin. „Aber wie du schon sagtest, du lässt dir ja nicht den Spaß daran verderben.“

„Nein, sicher. Ich bin froh, dass ich Owen schon davon erzählt habe, bevor wir zusammen waren. Ich weiß nicht, wie ich das später hätte sagen sollen.“

„Das verstehe ich gut. Zum Glück beweist er ja, dass Männer auch ganz anders sein können.“

„Ja, er war da immer super und verständnisvoll. Trotzdem werde ich nie vergessen, was passiert ist. Das macht irgendwas kaputt.“

Julie nickte. „Deshalb finde ich auch meine Arbeit so wichtig. So lange in unserer Gesellschaft jede siebte Frau mit irgendeiner Form sexueller Gewalt konfrontiert wird, gibt es einfach noch viel zu viel zu tun. Ich bin ja mal gespannt, was diese Typen mir im Knast erzählen werden und wie ich das wegstecke.“

„Das wird hart. Ich weiß noch, wie Brian Leigh mir erzählt hat, was ihm so alles durch den Kopf geht. Und wie er immer betont hat, dass er das alles noch ausprobieren will …“ Libby erschauderte unwillkürlich. „Das wird sehr hart, Julie. Die werden auch auf dich reagieren. Sie werden dich attackieren. Du wirst dich dagegen richtig panzern müssen und es wird dich trotzdem verfolgen. Wenn du das einmal gehört hast, vergisst du das nicht wieder.“

Julie brummte zustimmend. „Da mache ich mir keine Illusionen, das kannst du mir glauben. Ich finde es nur krass, mit welchen Reaktionen ich manchmal konfrontiert werde, wenn ich erzähle, woran ich arbeite – selbst an der Uni. Dann kommt immer, dass für Täter doch schon so viel getan wird und dass es doch viel wichtiger ist, sich für Opfer zu engagieren. Ja, das stimmt einerseits, aber mit meiner Arbeit will ich doch verhindern, dass es überhaupt Opfer gibt! Ich will Präventionsangebote schaffen und Verbrechen verhindern – einerseits, indem man Täter rechtzeitig erkennt und andererseits, indem man sie gleich vorbeugend behandelt. Das muss doch gehen, oder? Ich meine, Sexualstraftäter werden mit Aversionstherapie und kognitiver Umstrukturierung behandelt, damit sie wirklich verstehen, was sie beim Opfer anrichten und damit es ihnen möglich wird, Lust auch auf andere Weise zu empfinden. Das finde ich alles gut, aber das setzt viel zu spät an – im Knast, nach erfolgter Verurteilung. Das muss doch anders gehen.“

„Ich hoffe, du hast Recht.“

„Glaubst du das nicht?“

Libby seufzte nachdenklich. „Ich weiß nicht … wenn ich jetzt mal von Brian ausgehe … bei ihm hat es, wie bei den meisten Tätern, ziemlich früh angefangen. Die Präferenz von sexuellem Sadismus entsteht ja bei der Hälfte der Täter, bevor sie volljährig werden. Bei ihm war das definitiv der Fall – als er mich entführt hat, war er achtzehn und da hatte er das längst im Kopf.“

„Hat er dir je gesagt, wo das herkam?“

„Bei ihm? Er wurde in der Schule gemobbt. Er war ein Außenseiter und seine Mutter hat ihn da kein bisschen unterstützt. Mir hat er das nicht erzählt, aber Sadie. Er hatte bloß seine Mum, aber die hatte ständig wechselnde Beziehungen und er keine männliche Bezugsperson. In Sachen Mobbing hat sie ihm keine Hilfe zukommen lassen, deshalb war sie nie eine Respektsperson für ihn. Er hat Sadie erzählt, dass er sich damals nach der Schule immer Gewaltpornos angeguckt hat.“

„Also der klassische Rollentausch – das Opfer wird zum Täter.“

„Sozusagen, ja. Er hat angefangen, Mädchen anzugreifen, und er hat irgendwann eine Doku über Ted Bundy gesehen, die ihn total getriggert hat. Und weil er ohnehin ein ziemliches Psychopathenhirn hatte, kam eins zum anderen und er war mit achtzehn ein Vergewaltiger und Serienmörder.“

„Aber ganz ehrlich, das hätte jemand merken und ihn stoppen können. Ein Lehrer. Ein Schulsozialarbeiter. Schon bei seiner ersten Vergewaltigung hätte man ihn kriegen und therapieren müssen. Therapie sollte bei Sexualstraftätern die erste Option sein, aber viel zu viele werden bloß weggesperrt.“

„Eine Therapie kann keinen Erfolg haben, wenn der Patient nicht mitmacht.“

„Ich weiß, deshalb will ich ja eine Methode finden, die vielleicht trotzdem funktioniert. Und ganz ehrlich, du hast immer erzählt, Brian wäre in dich verliebt gewesen und hätte deshalb immer so zögerlich gehandelt. Das beweist ja, dass selbst sein Psychopathenhirn zu so etwas wie Skrupeln fähig war.“

„Klar, weil er sich als Charles Starkweather gesehen hat und es ihm gut gepasst hätte, ich hätte ihn beim Morden begleitet, so dass wir die neuen Natural Born Killers sind.“

„Oh Mann.“ Julie schüttelte den Kopf. „Kranke Welt. Womit beschäftigen wir uns hier die ganze Zeit?“

„Frag mich das morgen noch mal, wenn ich hier beim FBI angefangen habe, das Profil dieses Dreckschweins zu erstellen, das hier seit über zehn Jahren Frauen foltert. Nick meinte am Freitag, wir sollen uns die Fallakten schon mal angucken, aber ehrlich, ich konnte nicht. Das war mir zu krass.“

„Das ist dir nicht vorzuwerfen, Libby. Du bist ein Mensch. Ich würde mir Sorgen machen, hätte dich das kalt gelassen. Die Arbeit an meiner Thesis lässt mich auch nicht kalt.“

Libby nickte. „Sadie hat immer gesagt, sie hasst Sadisten. Geht mir auch so. Seit ich eine Dienstwaffe trage, habe ich dauernd mit welchen zu tun.“

„Na ja, das schult auch. Du wirst sie schon das Fürchten lehren.“ Julie lächelte ermutigend.

 

 

 

Montag, 19. April

 

Julie, Kyle und Libby gingen morgens gemeinsam zum Bahnhof in Hoboken, mussten aber mit unterschiedlichen Zügen nach Manhattan fahren. Es herrschte Betrieb wie in einem Bienenstock, die Leute liefen geschäftig aneinander vorbei und suchten sich routiniert ihren Weg. In New York fuhr jeder mit der U-Bahn, vom Teenager mit Rastalocken bis zum Geschäftsmann mit Aktentasche.

In dem Zug, den Libby und Kyle nahmen, saßen viele Geschäftsleute, denn die Green Line fuhr zum World Trade Center. Innerhalb von zwölf Minuten hatten sie den Hudson River unterquert und waren am Ziel. Allerdings folgte noch ein Fußweg von etwas über einer halben Meile vorbei am City Hall Park bis zum Jacob K. Javits Federal Building, in dem das FBI seine New Yorker Dienststelle hatte.

Kyle begrüßte die Sicherheitsmitarbeiter am Eingang, die nicht schlecht staunten, sobald Libby ihren Dienstausweis zeigte, der sie als Agentin aus Quantico auswies.

„Hoher Besuch“, sagte einer der Männer scherzhaft.

„Da kommen gleich noch mehr“, sagte Libby. Und sie behielt Recht – sie standen gerade erst vor den Aufzügen, als Nick und die Kollegen auftauchten. Sie warteten auf die anderen und nach einer herzlichen Begrüßung folgte die BAU Kyle zu der Etage, auf der Agent Reed und seine Kollegen arbeiteten. Dort ging Kyle voraus und steuerte zielstrebig auf einen hochgewachsenen dunkelhaarigen Mann zu, den Libby auf Anfang vierzig schätzte. Mit erfreutem Gesichtsausdruck kam er gleich zu ihnen.

„Guten Morgen zusammen“, sagte er und reichte Nick entschlossen die Hand, während er sich als SSA Alexander Reed vorstellte. „Es ist mir eine Ehre, Sie und Ihr Team begrüßen zu dürfen, SSA Dormer. Ich bin froh, dass Sie hier sind. Danke, Kyle, dass du das in die Wege geleitet hast.“

„Sehr gern“, erwiderte Kyle. „Agent Libby Whitman ist eine gute Freundin von mir. Sie war kürzlich unsere Trauzeugin. Sie hat ihr Team an Bord geholt.“ Er sagte das mit Blick auf Libby, die Reed beherzt die Hand reichte. Anschließend stellte Nick das gesamte Team vor.

„Wir kennen uns noch nicht, damals war das nicht mein Fall. Agent Walker, der die Ermittlungen seinerzeit geleitet hat, wurde vor zwei Jahren pensioniert.“

Dormer nickte wissend. „Ich erinnere mich an ihn. Ein kompetenter, erfahrener Mann.“

„Ich überlasse euch dann mal eurem Schicksal“, sagte Kyle und Libby verabschiedete Kyle mit einem Lächeln, bevor die BAU Reed in einen Meetingraum folgte, den er für seine Task Force gekapert hatte. Korkwände und Whiteboards standen an einer Wand, an der die Fotos der vier Opfer hingen – sowohl Passbilder als auch Aufnahmen der Leichen. Die Kollegen hatten sämtliche Daten gesammelt und in der Mitte befand sich eine Karte, die alle Entführungsorte und die Fundorte der Leichen zeigte.

„Die Kollegen dürften auch gleich kommen. Die ersten beiden Fälle sind Ihnen ja sicher noch vertraut, aber nun haben wir zwei weitere hinzubekommen und die naheliegende Vermutung, dass der Täter noch weitere Opfer in seiner Gewalt haben könnte, setzt uns natürlich unter einen gewissen Druck“, sagte Reed.

„So bitter es ist, wenn neue Opfer auftauchen – für uns Profiler ist es meist eine Arbeitserleichterung“, entgegnete Nick. „Wir werden schon irgendwas über ihn herausfinden, was uns weiterbringt.“

„Ja, ich verstehe, was Sie meinen. Ich bin zuversichtlich“, sagte Reed.

Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis noch drei weitere Kollegen auftauchten, darunter eine Frau. Er stellte die Frau als Agent Hayes und die Männer als die Agents Griffin und Lewis vor.

„Dann wollen wir mal“, sagte Alexander Reed. „Die Agents Hayes und Griffin haben auch damals schon an dem Fall gearbeitet. Ich weiß jetzt nicht, wer von Ihnen damals schon dabei war …?“

„Das waren Agent Merringer, Agent Wainsworth und ich“, antwortete Nick. „Für die anderen ist der Fall neu, was ich günstig finde, weil sie eine frische Perspektive mitbringen. Ich würde auch sagen, wir arbeiten erst einmal an dem Fall, ohne das damalige Profil zu berücksichtigen.“

Das überraschte Reed im ersten Moment, aber er war einverstanden. „Dann wollen wir uns mal die Opfer ansehen“, sagte er und begann mit Beverly Collins. Die junge Frau war 2008 im Alter von 22 Jahren auf dem Heimweg von ihrem Studentenjob spurlos verschwunden. Sie hatte noch bei ihren Eltern gelebt, die sie als vermisst gemeldet hatten. Libby betrachtete ihr Foto – eine hübsche, blonde Frau mit sanften Gesichtszügen. Das Bild ihrer Leiche bot da schon einen ganz anderen Anblick – verhärmte Züge, eine aufgeplatzte Unterlippe, ein glasiger Blick. Die Würgemale an ihrem Hals verrieten, wie sie zu Tode gekommen war.

Der Täter hatte die Frauen alle erwürgt, auch Louise Harper, die ein Jahr später auf dem Heimweg von einer Freundin in Newburgh, New York verschwunden war. Beverlys Leiche hatte man 2011 gefunden und die von Louise 2014. Das FBI war mit dem Fund von Louises Leiche und den identischen Brandmalen eingeschaltet worden und die New Yorker Kollegen hatten die BAU zu Rate gezogen.

2017 war die Leiche von Dawn Bryant aufgetaucht, die 2010 mit 23 aus Danbury, Connecticut verschwunden war. Sie hatte eine Party besucht und ihr Freund hatte sie als vermisst gemeldet, weil sie nie nach Hause gekommen war.

Victoria Lee aus Ellenville, New York, war 2013 im Alter von 25 Jahren entführt worden. Auch sie hatte sich abends auf dem Heimweg von einem Studentenjob befunden.

„Gab es nie Zeugen für mögliche Entführungen?“, fragte Ian.

Reed schüttelte den Kopf. „Sie sind immer spurlos verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Das macht es natürlich ungleich schwieriger für uns. Auf Victorias Leiche haben wir nun immerhin mal ein Haar gefunden, das wir für ein Haar des Täters halten. Es ist kurz, aber die Haarwurzel war noch vorhanden und der DNA-Test hat am Freitag noch bestätigt, dass es sich um einen Mann handelt. Ein Weißer kaukasischer Abstammung mit braunen Haaren. Wir haben ihn nicht im System.“

„Dass er ein Weißer ist, hatten wir 2014 schon angenommen“, sagte Nick. „All seine Opfer sind es ebenfalls. Interessant finde ich, dass sowohl Beverly als auch Louise blond waren, aber Dawn war brünett und Victoria hatte sich das Haar mit Henna getönt. Damals hätte ich gesagt, dass blonde Frauen sein Typ sind, aber darum geht es ihm scheinbar gar nicht.“

„Nein, das haben wir uns auch gedacht. Die Frauen waren alle unterschiedlich groß und hatten einen unterschiedlichen Körperbau. Es gibt vergleichsweise wenige Ähnlichkeiten zwischen ihnen. Unsere große Schwierigkeit ist, dass das Verschwinden der Opfer so lang zurück liegt. Bei Victoria Lee erinnert sich doch jetzt kein Mensch mehr an ihr Verschwinden 2013. So haben wir nichts über ihn. Klar ist bloß, er hat bestimmt noch weitere Frauen in seiner Gewalt und das vielleicht seit Jahren“, murmelte Reed unglücklich.

„Ich denke, eine unserer Hauptaufgaben wird jetzt sein, mögliche weitere Opfer ausfindig zu machen“, sagte Nick. „Junge Frauen Anfang zwanzig, die unbemerkt auf dem Heimweg verschwunden sind – das war zumindest immer gleich. Wir suchen nach Fällen aus den Jahren 2014 bis jetzt – alles aus den Bundesstaaten New York, Connecticut und möglicherweise New Jersey.“ Nick deutete auf die Karte mit den Markierungen. „Das spielt sich immer alles nördlich von New York City ab. Wir sollten mit Fällen aus dieser Gegend beginnen.“

„Die jungen Frauen hatten doch sicher irgendwas bei sich, oder? Eine Handtasche mit Schlüssel, Handy … wurde das je gefunden?“, fragte Libby.

Reed schüttelte den Kopf. „Nein, nichts davon. Leider. Das scheint er behalten zu haben. Darüber ließen sich die Aufenthaltsorte der Opfer auch nie herausfinden.“

Nick stellte sich vor die Karte und studierte die Gegend. Schließlich tippte er auf ein ausgedehntes bewaldetes Gebiet inmitten der Catskill Mountains.

„Big Indian Wilderness“, sagte er. „Die Gegend heißt ja nicht umsonst so. Ich gehe jede Wette ein, dass er aus der Nähe stammt und dass er da irgendwo ein Versteck hat, wo er sie jahrelang gefangen halten kann. Das muss man ja auch erst mal schaffen. Er hat – so weit wir wissen – 2008 damit begonnen und nie hat jemand das Versteck gefunden. Es ist ein gutes Versteck, ein nahezu perfektes.“

„Gut möglich“, stimmte Reed zu.

„Wie ist denn der letzte Stand in Sachen sexueller Motivation des Täters? Damals konnte der Rechtsmediziner doch keine eindeutige Aussage darüber treffen, ob die Opfer vergewaltigt wurden. Ist das jetzt anders?“, fragte Belinda.

„Es gab keine Hinweise darauf.“

„Also reicht ihm tatsächlich die Folter“, sagte Nick.

„Hatten Sie so etwas schon mal?“, fragte Reed.

Dormer nickte mit Blick auf Libby. „Zusammen mit deiner Mutter. Richard Carson, der Twin Lakes Killer aus Kalifornien. So, wie sich das hier entwickelt, erinnert mich immer mehr an ihn.“

„Was war da?“

„Carson hat in fast dreißig Jahren neunzehn Menschen entführt und brutal zu Tode gefoltert. Er hat auch verschiedene Vorgehensweisen ausprobiert. In seinem Keller hatte er einen regelrechten Schlachtraum, schallisoliert, wo er seine Opfer bei lebendigem Leib … ach, nein, lassen wir das. Ist auch egal. Ich musste an ihn denken, weil er das auch aus teils sexualsadistischer Motivation heraus getan hat, ohne seine Opfer jedoch zu vergewaltigen. Er war da ziemlich wahllos, er hat genommen, was er gekriegt hat – Frauen, Männer, Kinder. Ihre Folter war für ihn besser als Sex, hat er gesagt. Mit seiner Frau hatte er jedenfalls keinen mehr.“

Die New Yorker Agents wirkten hellauf entsetzt. „Das ist ja grauenvoll“, sagte Hayes.

Nick stimmte ihr zu. „Das war es – und das hier ist auch so etwas. Mit dem Unterschied, dass es Carson darum ging, seine Opfer durch seine Folter zu töten. Hier ist das anders, unser Täter will sie ja eben gerade nicht töten, sondern jahrelang foltern – und zwar mehrere gleichzeitig, da können wir ja inzwischen ziemlich sicher sein. Er behält sie auch immer länger.“

„Die Frage wäre jetzt auch, wann und warum er beschließt, sie zu töten“, überlegte Jesse.

„Weil sie für ihn nicht mehr funktionieren“, sagte Libby. „Vielleicht arbeitet er auf ein bestimmtes Ziel hin und sie erreichen es nicht, also muss er sie loswerden.“

„Ich würde sagen, wir teilen uns auf“, schlug Nick vor. „Ich werde mir mit ein paar Kollegen mal die Akten der Opfer zu Gemüte führen. Bei einer ersten Durchsicht meine ich, dass mir aufgefallen wäre, wie er sich über die Jahre hinweg steigert – nicht nur in der Dauer der Entführungen, sondern auch in der Intensität seiner Folter. Mal sehen, was uns das über ihn verrät. Die anderen Kollegen sollten sich darum kümmern, mögliche weitere Opfer zu finden.“

„Denken Sie, es könnte sinnvoll sein, auch nach dem Täter zu suchen? Wir könnten Vorbestrafte überprüfen“, schlug Lewis vor. „Damit hatten wir bereits begonnen.“

Nick überlegte kurz, bevor er sagte: „Ich glaube nicht, dass wir ihn da finden werden, aber mit Sicherheit sagen kann man das nie.“

Sie hatten sich schnell aufgeteilt. Nick war gleich einverstanden, als Libby darum bat, auf die Suche nach weiteren Opfern gehen zu können. Dabei wurde sie unterstützt von Jesse, Ian, Dennis und Hayes. Griffin und Lewis machten sich auf die Suche nach in Frage kommenden Tätern.

Libby knöpfte sich die Vermisstenanzeigen des Bundesstaates New York vor. Dort galten fünfhundert Personen dauerhaft als vermisst. Gemeinsam mit Jesse filterte sie die Fälle nach Geschlecht, Hautfarbe, Alter der Person und dem Zeitpunkt des Verschwindens.

Es verschwanden weitaus mehr Kinder als Erwachsene und bei den unter 21jährigen waren es mehr Vermisste weiblichen Geschlechts, aber bei den Erwachsenen kehrte sich das Verhältnis um. Schließlich hatten sie knapp fünfzig Fälle herausgefiltert, die in Frage kamen. In Connecticut waren es weniger als halb so viele. Trotzdem waren sie damit sicherlich eine Weile beschäftigt, denn New Jersey kam noch obendrauf.

Sie prüften jeden einzelnen Namen und begannen mit den Fällen, die sich in dem vorab festgelegten Radius ereignet hatten. Prostituierte und Drogensüchtige ließ Libby dabei zunächst außen vor, denn sie hatten keinen Hinweis darauf, dass die Opfer aus den entsprechenden Personengruppen stammten. Er hatte immer Frauen aus geordneten Verhältnissen gewählt. Das hielt Libby für keinen Zufall. Prostituierte zu entführen wäre einfacher gewesen, aber er hatte sich dagegen entschieden.

„Sehen Sie“, sagte Agent Hayes plötzlich zu ihr. Libby beugte sich zu ihr hinüber und schaute auf ihren Bildschirm. Hayes hatte die Akte von Jacqueline Thompson aus Connecticut offen. Die 24jährige war im September 2019 auf dem Heimweg von ihren Eltern zu ihrem Freund verschwunden. In der Akte war vermerkt, dass es Zeugen für eine Entführung gegeben hatte. Anwohner hatten einen Schrei gehört und gesehen, wie eine junge Frau in einen dunklen Van gezerrt worden war. Hinweise auf das Kennzeichen gab es leider keine.

„Was halten Sie davon?“, fragte Hayes.

Libby nickte sofort. „Eine Menge. Das ist noch gar nicht so lang her, vielleicht bekommen wir da doch noch irgendwelche Informationen.“

„Ja, das hatte ich auch gerade gehofft. Ich fand, dass der Fall passt.“

Der Meinung war Libby ebenfalls. Wenig später fand sie selbst einen, der ihr passend erschien, und kurz darauf zeigte Hayes ihr einen weiteren von 2016. Auch diesmal stimmte Libby ihr zu.

Sie unterbrachen ihre Suche für einen Mittagssnack, den sie sich aus der Kantine holten. Gerade waren sie mittendrin und hatten nicht vor, bald aufzuhören. Die Möglichkeit, dass der Täter aktuell noch junge Frauen in seiner Gewalt hatte, denen sie jetzt helfen konnten, beflügelte sie.

„Ich bin froh, dass Kyle uns endgültig dazu ermutigt hat, die BAU einzuschalten“, sagte Reed zu Libby, während er hinter ihr in der Kassenschlange stand. „Kennen Sie sich gut?“

„Wir kennen uns eigentlich erst seit einem Jahr, aber seine Frau ist meine beste Freundin.“

„Die Engländerin?“

Libby nickte. „Hat er Ihnen von ihr erzählt?“

„Nur, dass sie auch zum FBI will und hofft, die US-Staatsbürgerschaft zu bekommen. Woher kennen Sie sich?“

„Durch unsere Mütter. Julie Thornton ist die Tochter der britischen Profilerin Andrea Thornton. Sie leitet das Profiler-Team am Birkbeck College in London und meine Mum war Supervisory Special Agent in Los Angeles.“

„Ah, das meinte Dormer doch vorhin – er hat auch mit Ihrer Mutter zusammen gearbeitet?“

„Ja, sie war mal bei der BAU und später als Profilerin in Kalifornien.“

„Und dann werden Sie auch Agentin? Nicht schlecht.“

„Sogar mein Dad war Special Agent.“

Reed lachte. „Ist ja zu schön. Eine ganze FBI-Familie. Sie sind aber noch nicht lang dabei, oder? Dafür sehen Sie zu jung aus.“

„Danke“, sagte Libby, die es als Kompliment verstand. „Ich bin seit einem Jahr Special Agent.“

„Und dann in der BAU … aber bei den Eltern ist das kein Wunder. Sie sind ja wirklich umgeben von FBI.“

„Mein Verlobter ist Detective in Washington.“

„Und wenn Sie mal Nachwuchs bekommen, kriegt der auch gleich eine Dienstmarke, was?“ Als er breit grinste, musste Libby lachen.

„Klingt schon fast ein bisschen streberhaft, ich weiß. Aber ich habe Kyle letztes Jahr an der Academy kennengelernt – wenn man zum FBI will, betritt man ja schon einen eigenen Mikrokosmos.“

„Ja, das ist wahr. Ich bin jedenfalls sehr froh, dass Sie und Ihr Team jetzt hier sind. Bei diesem Fall dreht sich mir der Magen um. Wie können Sie so etwas denn dauernd bearbeiten?“

Libby zuckte mit den Schultern. „Ich bin gut darin und jemand muss es tun. Ich glaube, das ist so einfach.“

„Meine Hochachtung. Wenn jemand diesen Irren finden kann, dann Ihr Team.“

„Das hoffe ich doch“, murmelte Libby.

 

 

 

In den Häuserschluchten Manhattans hallten in unregelmäßigen Abständen die Sirenen von Polizei und Krankenwagen wider. Als Libby zwischendurch eine Pause brauchte, stellte sie sich ans Fenster in der fünfzehnten Etage und schaute hinab auf den Broadway, wo sich die Autos sich nach Süden wälzten. Ihr Blick streifte den City Hall Park und traf schließlich aufs World Trade Center.

Sie hatte zum ersten Mal nach ihrer Flucht von 9/11 und der Bedeutung des Anschlags für die USA gehört. Wenn sie damals Bilder von New York gesehen hatte, hatte sie sich immer gewünscht, eines Tages mal dorthin zu reisen und die ungezählten Wolkenkratzer Manhattans zu sehen. Das hatte in Kalifornien keine Stadt zu bieten – nicht in dem Maße.

Sie verstand, dass Kyle gern dort arbeitete. Das wäre auch etwas für sie gewesen, aber mit der BAU war sie ja festgelegt und Owen war in Washington auch zufrieden. Umso mehr genoss sie es, jetzt in New York zu sein.

„Sind alle so weit?“, riss Nicks Stimme sie aus ihren Gedanken. Die Kollegen bejahten und so setzten sie sich zusammen. Nick schlug vor, zuerst die Erkenntnisse zusammenzutragen, die er mit den Kollegen gewonnen hatte.

„Wir sind die Obduktionsberichte und Fotos der vier Opfer durchgegangen und haben versucht, uns über seinen Modus Operandi klar zu werden. Er entführt die Frauen und hält sie jahrelang gefangen – vermutlich in einem sicheren unterirdischen Versteck. Besonders bei Dawn Bryant und Victoria Lee konnte der Rechtsmediziner beginnende Verformungen des Skeletts feststellen, die auf einen ausgeprägten Vitamin D-Mangel schließen lassen. Je länger er die Frauen gefangen hält, desto schlimmer wird das natürlich. Insgesamt sind sie ziemlich mangelernährt und in einem schlechten Gesundheitszustand, sie dürften dem Täter zunehmend weniger Schwierigkeiten gemacht haben, wenn er sie so lang fern jeden Sonnenlichts eingesperrt hat. Ihre Muskeln waren teils recht stark zurückgebildet.“

Libby versuchte, das nicht an sich herankommen zu lassen, und wappnete sich innerlich. Ab jetzt wurde es nur noch schlimmer, das wusste sie.

„Bei Beverly Collins waren es fast drei Jahre. Ihre Mangelerscheinungen sind nicht so ausgeprägt wie die der anderen und ebensowenig ihre Folterspuren. Sie alle haben das Brandzeichen der liegenden Acht gemeinsam, das bei allen schon mehr oder minder stark vernarbt ist. Wir vermuten, dass er es ihnen gleich zu Beginn ihrer Gefangenschaft beibringt und es als eine Art Besitzmarkierung ansieht. Für uns ist es naheliegend, zu vermuten, dass er die Frauen als seine Sklavinnen betrachtet.“

Den Kopf gesenkt haltend, ballte Libby unter dem Tisch die Hände zu Fäusten. Ihr Kopfkino lief sich gerade warm.

„Bei Beverly Collins hat er noch geübt, aber Louise Harper scheint ihm arge Probleme bereitet zu haben. Ihre Unterschenkel waren gebrochen und zum Zeitpunkt ihres Todes waren die Brüche schon einige Jahre verheilt – der Täter wird sie ihr zu Anfang beigebracht haben, um ihr die Flucht unmöglich zu machen. Sie hatte auch die Finger gebrochen und einige Rippen. Das haben wir bei den anderen Opfern in dem Maße nicht feststellen können. Wir vermuten, dass er ihr auch deshalb irgendwann die Augen ausgestochen hat – als eine Art Strafe und zur Unterwerfung.“

Eigentlich hörte Libby Nick gern zu, sie mochte seine ruhige und sanfte Stimme, die beinahe etwas Väterliches hatte. Gerade klang er jedoch eher bedrohlich.

„Allen Opfern gemeinsam ist, dass er sie mit einem Messer verletzt hat. Er hat ihnen immer wieder kleine Schnitte beigebracht – nicht tief, nur um ihnen Schmerzen zu verursachen. Beginnend mit Louise hat er sie auch ausgepeitscht. Das wird er nicht bloß getan haben, um Schmerzen zuzufügen, sondern auch, um seine Opfer zu disziplinieren.

Sowohl bei Louise Harper als auch bei Dawn Bryant fehlte eine Brustwarze, die er dem Rechtsmediziner zufolge wohl abgebissen hat. Bei seiner Folter hat er sich durchaus auf die weiblichen Geschlechtsmerkmale konzentriert, das zeigen uns die Narben an den Brüsten der Frauen und die Genitalverstümmelungen, die er ihnen beginnend mit Louise beigebracht hat. Er hat experimentiert – Louise hat er die inneren Schamlippen und die Klitoris entfernt, während er sie bei Victoria vernäht hat. Entsprechende Narben hat der Rechtsmediziner auch an ihrem Mund gefunden, weshalb er angenommen hat, dass der Täter ihr tatsächlich mal den Mund zugenäht hat.“

Das Engegefühl in Libbys Brust wuchs. Sie versuchte, nicht zuzuhören, während Nick sich darüber ausließ, was der Täter den Frauen wohl angetan haben musste, dass es ihren Beckenboden fast bis zur Inkontinenz beeinträchtigt hatte.

„Wir haben immer noch keinen endgültigen Beweis dafür, aber ich gehe davon aus, dass der Täter die Frauen nicht vergewaltigt hat. Er hat sich seine Befriedigung über ihre Folter geholt“, sagte Nick, während Libby kurz die Augen schloss und sich aufs Atmen konzentrierte. Jetzt rumorte das Mittagessen in ihrem Magen.

„Ich muss ehrlich zugeben, dass dieser Fall seinesgleichen sucht“, sagte Nick. Als Libby nun den Kopf hob, trafen sich ihre Blicke.

„Ich kenne Fälle, in denen die Täter mit ähnlicher Intensität gefoltert haben – spontan fallen mir die Toolbox Killers Roy Norris und Lawrence Bittaker ein, die in Kalifornien 1979 mindestens fünf Frauen zu Tode folterten. Sie gelangten zu ihrem unrühmlichen Namen, weil sie die Frauen mit verschiedenen Werkzeugen gequält haben. Mehrere ihrer Opfer starben, weil Lawrence Bittaker ihnen einen Eispickel ins Ohr gerammt hat. Allerdings dauerten diese Taten maximal zwei Tage und keine acht Jahre wie im Fall von Victoria Lee.“

„Ich muss an die Chicago Rippers denken“, sagte Ian. Libby nickte sofort, denn sie erinnerte sich an das Fallbeispiel der vier jungen Männer, die nur zwei Jahre später in Chicago mindestens achtzehn Frauen entführten, folterten und töteten. Zum ersten Mal war sie mit diesem Fall in Berührung gekommen, als Sadie damals in Los Angeles gegen den nekrophilen Kannibalen Charles Fletcher ermittelt hatte.

„Die Rippers haben sich ihn ähnlicher Weise gegen die weiblichen Geschlechtsmerkmale gerichtet. Sie haben bei mehreren ihrer Opfer die Brüste verstümmelt oder amputiert“, führte Ian seinen Gedankengang weiter aus.

Dormer nickte zustimmend. „Das ist richtig, der Fall fiel mir vorhin auch ein. Klar ist jedenfalls, dass unser Täter ein enormes Gewaltpotenzial besitzt und es ihm große Befriedigung verschafft, die Frauen jahrelang – offensichtlich mehrere gleichzeitig – gefangenzuhalten und zu foltern. Was seine Foltermethoden angeht, können wir auch nur über das sprechen, was Spuren an den Opfern hinterlassen hat – psychologische Folter ist ja nicht sichtbar. Dieser Mann ist eine Bestie, die ihresgleichen sucht. Dummerweise haben wir trotzdem so gut wie keine Hinweise auf ihn, auch wenn er die Opfer so lang gefangen hält. Wir haben gerade schon vermutet, dass er die Leichen noch einmal badet, bevor er sie irgendwo ablädt. Er will bewusst die Spuren zerstören.“

„Cleverer Bastard“, murmelte Dennis.

„Dieser Mann ist hochintelligent, das macht ihn so gefährlich. Mittlerweile ist er sicherlich Mitte dreißig bis Mitte vierzig und hat viel Erfahrung. Bislang sind wir ihm nicht auf die Schliche gekommen, weil er offensichtlich auch nicht nachlässig wird. Das Erschreckende ist wirklich, dass er es schafft, uns Leichen hinzulegen, die uns nicht sonderlich viel über den Ort verraten, an dem sie sich befunden haben – und auch nicht über den, der sie gefangen gehalten hat. Habt ihr denn weitere mögliche Opfer gefunden, die uns vielleicht weiterhelfen?“, fragte Nick in Richtung seiner Kollegen.

„Das haben wir tatsächlich“, sagte Jesse. „Im September 2019 ist Jacqueline Thompson aus Waterbury, Connecticut verschwunden. Damals war sie 24 und sie wurde auf dem Heimweg in einen dunklen Van gezerrt, dafür gab es Zeugen. Seitdem fehlt von ihr jede Spur.“

„Wo ist Waterbury?“, fragte Nick. Jesse stand auf, nahm eine weiße Reißzwecke und markierte nach einigem Suchen Waterbury auf der Karte.

„Würde passen. Ansonsten haben wir noch Nicole Miller, 23, aus Middletown, New York. Sie verschwand 2017 spurlos. Gleiches gilt für Laura McDermond, 21, aus Ridgefield, Connecticut. Sie verschwand im Februar 2016 auf dem Heimweg. 2015 haben wir Theresa Hamilton, 21, aus Scranton, Pennsylvania, auf deren Verbleib es bis heute keinen Hinweis gibt. Zuguterletzt haben wir noch Mary Jane Cox, 20. Sie ist 2014 aus Jefferson, New Jersey verschwunden.“

„Kannst du uns die anderen Orte auch noch markieren?“, bat Nick. Jesse nickte und platzierte überall kleine Reißzwecken. Die Karte füllte sich allmählich.

„Wir hatten auch noch einige andere verschwundene Frauen im passenden Alter, aber die lebten einige Autostunden entfernt, teilweise oben an der kanadischen Grenze. Das war uns zu weit.“

„Kann ich verstehen. Wenn ich das so sehe, würde ich sagen, selbst Scranton fällt schon fast aus unserem Raster, aber man kann nie wissen“, sagte Nick.

„Finde ich nicht, so weit ist das nicht weg“, widersprach Dennis.

„Lassen wir sie drin. Haben wir denn in irgendeinem der Fälle Hinweise, denen wir nachgehen könnten? Im ersten gab es einen dunklen Van. Wissen wir noch mehr?“

„In der Akte von Laura McDermond war ebenfalls die Rede von einem dunklen Van. Da hat zwar keiner die Entführung direkt beobachtet, aber es gab Zeugen, die angegeben haben, dass zu dem Zeitpunkt von Lauras Verschwinden ein dunkler Van mit einem Kennzeichen aus Pennsylvania erst auffällig langsam die Straße hinuntergefahren ist und dann auch irgendwo geparkt hat, als würde der Fahrer auf jemanden warten. Später soll dann derselbe dunkle Van mit überhöhter Geschwindigkeit in Richtung I-84 gefahren sein. Die Polizei hat das damals ausgewertet und hatte sogar ein Bild einer Verkehrsüberwachungskamera von dem Van, aber das Kennzeichen stellte sich als gestohlen heraus. Das Einzige, was wir wissen, ist, dass es sich um einen Chrysler Voyager der zweiten Generation handelt – die Farbe konnte nicht bestimmt werden, da es eine Schwarzweißkamera war und außerdem stockfinster draußen, aber mit Sicherheit ist es ein dunkler Wagen. So ähnlich haben ihn auch die Zeugen beschrieben, als dunkelblau oder schwarz“, sagte Dennis.

„Mit der Aussicht, dass der Fahrer hier aus mehreren Bundesstaaten kommen könnte, ist es ja nahezu aussichtslos, ihn zu finden“, murmelte Reed.

„Wir müssen das jetzt eingrenzen. Wir müssen alle Fahrer eines Chrysler Voyager dieser Generation finden und herausfinden, ob es Männer im betreffenden Alter sind. Wir hatten ja damals schon angenommen, dass der Täter allein lebt – es wird also sein Fahrzeug sein. In Frage kommen Fahrzeughalter aus Connecticut, New York, Pennsylvania und New Jersey. Vielleicht finden wir da jemanden, der irgendwie auffällig ist. Wir müssen die alle ganz genau unter die Lupe nehmen“, sagte Nick.

„Wir sollten auch nach Waterbury und nach Ridgefield fahren, um dort mit den Ermittlern und den Zeugen zu sprechen. Vielleicht haben die noch irgendwas für uns“, schlug Reed vor.

„Er scheint unvorsichtiger zu werden. Früher wurde er nie gesehen, aber die Fälle sind von 2016 und 2019. Vielleicht kommen wir ihm so auf die Spur“, sagte Libby.

„Oder es ist noch ein ganz anderer Irrer.“ Ian grinste schief. „Ich will es nicht hoffen, aber man weiß ja nie.“

„Wir werden sehen. Ich denke, heute haben wir einiges geschafft und morgen schauen wir uns die Fälle in Connecticut mal genauer an“, schlug Nick vor. Sie teilten sich gleich in Teams auf und entschieden im Anschluss, gemeinsam essen zu gehen.

„Was hältst du davon, dass wir Julie und Kyle dazu holen?“, fragte Nick in Libbys Richtung.

„Oh, sie würden sich bestimmt freuen.“ Libby erkundigte sich bei Reed, wo sie Kyles Arbeitsplatz fand und machte sich auf den Weg in die betreffende Etage. Dort herrschte ebenfalls bereits Aufbruchsstimmung, aber Kyle war noch an seinem Platz.

„Was denkst du, wollen Julie und du mit meinem Team essen gehen? War Nicks Idee“, sagte sie und grinste.

„Was, wir mit der BAU? Du kannst ja Fragen stellen! Ich gebe Jules gleich Bescheid, sie ist bestimmt auch gleich schon auf dem Heimweg.“

Er beschloss, Libby zu folgen, und schrieb Julie im Aufzug eine Nachricht. Kurz darauf erhielt er Antwort und lachte, bevor er sie Libby zeigte.

Abendessen mit der BAU? Ob ich Lust habe?! Wann soll ich da sein?

„Wir schreiben ihr gleich die Adresse des Restaurants“, sagte Libby. Bei den Kollegen angekommen, fragten sie sofort danach und leiteten es an Julie weiter, bevor sie aufbrachen. Sie hatten ein Restaurant auf der Mulberry Street in Little Italy gewählt, was eine halbe Meile vom FBI entfernt lag. Sie schlenderten zu Fuß dorthin und waren überrascht, dass Julie bei ihrem Eintreffen schon dort war. Libby stellte sie den Kollegen gleich vor und Julie konnte kaum mit ihrer Aufregung hinterm Berg halten, dass sie es plötzlich mit der gesamten BAU zu tun bekam.

„Ich dachte, ich hole Mrs. Thornton dazu, weil sie zur Zeit im Rahmen ihrer Doktorarbeit an der NYU zum Thema Sexualsadismus forscht“, erklärte Nick, nachdem alle sich gesetzt hatten. „Sie hat die FBI Academy bereits absolviert.“

Sofort wurde sie von allen herzlich willkommen geheißen und die Kollegen fragten ihr über ihre Doktorarbeit Löcher in den Bauch. Das war eine gewinnbringende Runde für alle Beteiligten, denn Julie war überglücklich, mit den Profilern reden zu können, die sich umgekehrt sehr für Julies Arbeit interessierten.

Es wurde ein kurzweiliger Abend und als er sich schließlich dem Ende neigte, begann Nick plötzlich, mit gesenkter Stimme mit Julie zu reden. Schließlich richtete er sich an die große Runde.

„Wenn niemand etwas dagegen hat, wird Julie uns bei den Ermittlungen unterstützen. Ich denke, Sie könnte da durchaus eine Bereicherung darstellen.“

„Oh, unbedingt“, sagte Agent Reed. „Das ist eine hervorragende Idee!“

Julie fühlte sich sichtlich geschmeichelt und als sie kurz darauf auf dem Heimweg waren, war sie immer noch völlig enthusiastisch.

„Die sind alle zu cool, um wahr zu sein. Ich würde mein rechtes Bein dafür geben, in dieses Team zu dürfen!“, sagte sie, während die Metro unter dem Hudson River herfuhr.

„Du hast ja gesehen, wie interessant sie deine Arbeit finden – sie holen dich jetzt sogar schon dazu. Wenn du erst mal den amerikanischen Pass hast, nehmen die dich doch mit Kusshand“, sagte Kyle.

„Das dauert aber sicher noch zwei Jahre …“ Julie seufzte dramatisch.

„Mach du erst mal deine Doktorarbeit fertig. Ansonsten hast du ja den ersten Schritt in die richtige Richtung in Sachen Staatsbürgerschaft schon getan und gehörst jetzt mit Haut und Haaren mir!“ Kyle schenkte seiner Frau einen tiefen Kuss und Libby versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nur schlecht. Natürlich hatte Kyle es nicht so gemeint, aber seine Wortwahl hatte bei ihr ungewollt den Gedanken an ihren aktuellen Fall getriggert. Dieser perverse Irre sorgte seit über einem Jahrzehnt ungestört dafür, dass Frauen tatsächlich ihm gehörten. Dass er mit ihnen machen konnte, was er wollte, dass er ihnen grausame Schmerzen zufügen und sie demütigen konnte, bis vermutlich nicht mehr viel von ihnen übrig war.

„Libby?“, riss Julie Stimme sie aus ihren düsteren Gedanken. „Was machst du denn für ein Gesicht?“

„Ich musste gerade an den Fall denken“, sagte Libby ehrlich. „Daran, dass ich, glaube ich, nie wieder ruhig schlafen kann, wenn wir diesen Dreckskerl nicht finden – und bisher haben wir keinen Ansatz.“

„Ich schaue mir das auch mal an. Vielleicht fällt mir irgendwas ein. Fahrt ihr morgen erst mal rüber nach Connecticut und wenn ihr wieder hier seid, stoße ich zu euch.“

Die Idee fand Libby gut. Als sie endlich zu Hause angekommen waren, entschuldigte sie sich und verschwand im Arbeitszimmer, wo sie die Tür hinter sich schloss und sich aufs Schlafsofa setzte. Sie holte ihr Handy heraus und rief Owen an.

„Lebst du noch?“, war das Erste, was er sagte, aber er lachte gleich.

„Da bin ich irgendwie nicht sicher.“ Libby seufzte tief.

„Oh, du klingst irgendwie erschöpft.“

„Ja, das bin ich auch. Der Fall, auf den Kyle uns gebracht hat, ist der blanke Horror, und das meine ich so.“

„Warum das?“, fragte Owen anteilnehmend.

„Weil dieser Täter einfach keine Grenzen kennt. Du weißt, ich kenne Sadisten und ich kenne Gewalt, aber was der macht …“ Sie schüttelte den Kopf und spürte, wie ihr plötzlich die Tränen kamen. „Ich weiß nicht, warum mich das so mitnimmt. Aber dieser Kerl foltert Frauen zum Vergnügen. Jahrelang. Er will, dass sie leiden, und irgendwann, wenn er genug von ihnen hat, dann erwürgt er sie und wirft sie einfach weg. Wir haben Bilder von den Leichen gesehen … die wurden misshandelt und verstümmelt. Das ist so grausam. Sein letztes Opfer war acht Jahre bei ihm. Niemand hat es verdient, so zu sterben …“

Als sie nun leise zu weinen begann, hörte sie Owen am anderen Ende tief durchatmen. „Bitte hör auf, sonst setze ich mich sofort ins Auto und komme wieder hoch zu euch.“

„Nein, schon gut … Julie und Kyle sind ja hier. Ich bin nur überrascht, dass mich das so fassungslos macht. Ich habe heute Bilder von den Leichen gesehen, die werde ich nie wieder los. Einer von ihnen hat er den Mund zugenäht, kannst du dir das vorstellen?“

„Meine Güte … nein, kann ich ehrlich gesagt nicht. Aber ich verstehe dich, das kannst du mir glauben und ich habe einen immer größer werdenden Respekt vor dir, weil du diesen Job machst. Du bist eine Heldin, Libby.“

„Danke … es tut gerade gut, das zu hören.“

„Das meine ich auch so. Es ist verdammt mutig, sich das jeden Tag anzutun.“

„Wir müssen diesen Kerl finden, verstehst du? Der hat vor dreizehn Jahren angefangen. Das ist doch nicht zu fassen, oder? Wieso verrottet der nicht längst in irgendeiner Zelle oder, besser noch, in einem Grab? Für den wäre jede Todesstrafe, die hier in den Staaten angewendet wird, viel zu human.“

„Ich verstehe dich. Wirklich. Aber lass dich davon nicht unterkriegen. Ihr werdet ihn schon finden, ihr seid das FBI.“

„Das waren wir vor sechs Jahren auch, aber trotzdem rennt er immer noch frei rum und macht fröhlich weiter.“

„Kommt ihr denn voran?“

„Schon ein bisschen. Jetzt haben wir ja zwei weitere Opfer. Wir haben auch schon andere mögliche Opfer ausfindig gemacht. Das muss einfach aufhören!“

„Libby, du hast so viel Energie, dafür bewundere ich dich jeden Tag und das ist es, was ich so an dir liebe. Wenn du dir einmal was in den Kopf gesetzt hast, dann ziehst du es durch – und wenn du diesen Kerl finden willst, dann schaffst du das auch. Das weiß ich.“

„Danke, Owen. Du weißt genau, was ich gerade hören muss.“

„Natürlich weiß ich das. Ich liebe dich eben. Dessen kannst du dir immer gewiss sein.“

Libby wischte sich die Tränen ab und lächelte. Owen gab ihr nie Anlass, daran zu zweifeln.

 

 

 

Dienstag, 20. April

 

Das Stadtgebiet von New York schien erst nie enden zu wollen und dann war es plötzlich doch vorbei. Kleinere Städte säumten die Küste entlang des Long Island Sunds. Zusammen mit Jesse, Dennis, Reed und Hayes fuhr Libby nach Waterbury, das etwa anderthalb Autostunden von New York entfernt war. Die Kollegen, die nach Ridgefield unterwegs waren, hatten es da etwas besser, denn es lag näher an New York.

Libby hatte in der Nacht noch eine Weile wach gelegen und überlegt, was es war, das sie an diesem Fall so mitnahm. Sie hätte es verstanden, hätte sie so enorme Schwierigkeiten damit gehabt, gegen Vergewaltiger zu ermitteln, aber das war mittlerweile fast schon Routine für sie. Doch dieser Fall hier ging ihr unter die Haut und es gelang ihr nicht, sich in ausreichendem Maße von den Taten dieses Mannes zu distanzieren.

Vermutlich war es die schiere Grausamkeit dieser Verbrechen, die sie so überforderte. Sie konnte sich viel zu gut vorstellen, was die Frauen erlitten haben mussten. Diese sinnlose Brutalität machte sie fassungslos. Was lief falsch im Kopf eines Menschen, damit es ihm Befriedigung verschaffte, unschuldige Frauen jahrelanger Folter zu unterziehen?

Libby war fest entschlossen, New York nicht zu verlassen, bevor sie diesen psychopathischen Sadisten nicht gefunden und unschädlich gemacht hatten. Bislang sah es danach aus, als hätte er seine Verbrechen in New York, Connecticut und New Jersey begangen – alles Staaten, in denen die Todesstrafe nicht angewendet wurde. Libby fand die Todesstrafe schwierig, aber in diesem Fall sah sie nicht, wie der Täter ansonsten angemessen hätte bestraft werden können.

Gegen halb elf waren sie am Ziel. Das Stadtgebiet von Waterbury war ausgedehnt, hatte aber das Flair einer Kleinstadt. Viele freistehende Häuser, Grünflächen und ein sauberes Straßenbild wirkten einladend auf sie. Die Gebäude waren im für Neuengland typischen viktorianischen Stil errichtet, den Libby mochte. Julie hatte ihr verraten, dass es sie an ihre Heimat erinnerte, was Libby für ihre Freundin freute.

Sie betraten das Police Department unangekündigt und lösten deshalb erst einmal ungewollt Aufregung aus, bis der Detective gefunden war, der die Entführung von Jacqueline Thompson bearbeitet hatte. Er stellte sich ihnen als Christopher Montero vor und bat sie in sein Büro.

„Hätte niemals damit gerechnet, dass sich mal das FBI für Jacquelines Verschwinden interessieren würde“, sagte er, nachdem er ihnen etwas zu trinken angeboten hatte. „Wie kann ich Ihnen da helfen?“

„Wir ermitteln gerade zusammen mit unseren Profilern aus Quantico in einer Serie von Mordfällen an jungen Frauen. Die Opfer sind alle Anfang zwanzig und sie verschwinden so gut wie spurlos auf dem Heimweg. Jacqueline Thompson passte in unser Suchraster. Sie ist seit September 2019 verschwunden?“, begann Reed.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739492957
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Dezember)
Schlagworte
Lügen Profiler Entführung Spannung Sadismus Brutalität FBI Trauma Missbrauch Psychothriller Krimi Ermittler

Autor

  • Dania Dicken (Autor:in)

Dania Dicken, Jahrgang 1985, schreibt seit der Kindheit. Die in Krefeld lebende Autorin hat Psychologie und Informatik studiert und als Online-Redakteurin gearbeitet. Mit den Grundlagen aus dem Psychologiestudium schreibt sie Psychothriller zum Thema Profiling. Bei Bastei Lübbe hat sie die Profiler-Reihe und "Profiling Murder" veröffentlicht, im Eigenverlag erscheinen "Die Seele des Bösen" und ihre Fantasyromane. Die Thriller-Reihe um die FBI-Profilerin Libby Whitman ist ihr neuestes Projekt.