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Wo Tod statt Liebe wartet

von Dania Dicken (Autor:in)
270 Seiten
Reihe: Libby Whitman, Band 6

Zusammenfassung

Nach seinem lebensgefährlichen Schuss auf FBI-Profilerin Libby Whitman läuft die Fahndung nach dem flüchtigen Vincent Howard Bailey auf Hochtouren. Vergebens, denn als die brutal zugerichtete Leiche einer vermissten Frau auftaucht, wird klar: Bailey ist auf dem besten Wege, ein Serienmörder zu werden. Zeitgleich bittet die Polizei das FBI um Hilfe, als in einer Kleinstadt in Virginia die skelettierte Leiche eines Mädchens in einer Hauswand gefunden wird. Das Skelett des Teenagers weist Spuren jahrelanger Misshandlungen auf – und es scheint keine Vermisstenanzeige zu dem Fall zu passen. Als Bailey erste Drohungen gegen Libby richtet, zögert Profiler-Chef Nick Dormer nicht länger und lässt Bailey auf die Most Wanted List des FBI setzen. Doch Bailey hat sein nächstes Opfer längst in seiner Gewalt – und schmiedet einen perfiden Plan ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dania Dicken

 

Wo Tod statt Liebe wartet

 

Libby Whitman 6

 

 

Thriller

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

Noch mal würde er nicht scheitern, so viel stand fest. Das würde nicht wieder passieren. Dabei hatte er es jetzt nicht mehr bloß mit einem Cop und einer FBI-Agentin zu tun – jetzt waren da noch zwei zusätzliche Cops.

Er hatte es in Gedanken ungefähr eine Million Mal durchgespielt. Die Überraschung war auf seiner Seite, aber er musste schnell sein. Erst die Cops – zielen, schießen, fertig. Der Schalldämpfer würde helfen.

Und dann musste er irgendwie ins Haus kommen. Möglichst leise und unbemerkt. Er wusste nicht, ob er das schaffte, aber zum Glück musste ja niemand außer ihr am Leben bleiben.

Das klappte schon. Er war damals erfolgreich aus Randalls Haus getürmt, obwohl es dort vor FBI nur so gewimmelt hatte. Dann würde er das hier auch schaffen.

Er musste. Alles in ihm verlangte danach. Allein die Vorstellung …

Vincent atmete tief durch. Ja, er würde das schaffen. Er würde sich seinen Weg frei schießen und dann würde er sie kriegen. Er würde sie mitnehmen und ihr zeigen, wie die Hölle von innen aussah. Beim bloßen Gedanken daran beschleunigte sich sein Puls und ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Er erinnerte sich noch an ihr Parfüm …

Für einen kurzen Moment schloss er die Augen und sammelte sich, bevor er nach der Waffe griff und die Fahrertür öffnete. Entschlossen stieg er aus und ging auf den Streifenwagen zu.

 

 

Freitag, 21. Mai

Ein Piepen. Stimmen. Etwas rauschte leise. Eine der Stimmen, die sie hörte, klang vertraut. Libby wollte die Augen öffnen, aber sie konnte nicht. Ihr fehlte die Kraft. Dann versank wieder alles in Stille und Dunkelheit.

Ein heftiger Schmerz flammte auf und sie stöhnte. Sie wollte etwas sagen, aber sie konnte nicht. Sofort schoss ihr das Adrenalin ins Blut und sie hob die Hand, wollte nach dem Fremdkörper in ihrem Mund tasten, der verhinderte, dass sie sprechen konnte. Nur mit Mühe gelang es ihr, die Augen zu öffnen, während jemand nach ihrer Hand griff. Sie sah Owen vor sich.

„Es ist alles gut, ich bin bei dir“, sagte er. „Du bist im Krankenhaus, sie haben dich intubiert. Warte kurz, ich gebe einer Schwester Bescheid.“

Libby wimmerte leise. Tränen vernebelten ihr die Sicht, während sie Owens Hand fest umklammert hielt. Besorgt und fragend zugleich sah er sie an und verstand. „Hast du Schmerzen?“

Libby nickte. Mit beiden Händen drückte Owen ihre und lächelte. „Ich hole eben jemanden. Sieh mal, wer da ist.“

Er stand auf und gab den Blick frei auf eine Gestalt, die Libby zuvor noch gar nicht bemerkt hatte. Es war Sadie. Während Owen aus ihrem Blickfeld verschwand, kam Sadie näher. Ihre Miene war versteinert, ihr Blick voller Sorge. In ihren Augen standen Tränen, sie wirkte furchtbar müde.

„Hey.“ Sie setzte sich neben Libby und nahm ihre Hand. „Wir sind auch da. Sieh mal, da sind Matt und Hayley.“

Libbys Blick wanderte an Sadie vorbei und streifte erst Hayley, dann wanderte er weiter nach oben und blieb an Matt hängen. Hayley sah traurig aus und Matt wirkte ziemlich übernächtigt, aber er lächelte.

„Du machst ja Sachen“, sagte er. Libby tastete mit der linken Hand nach dem Tubus in ihrem Mund. Es fühlte sich an, als hätte man sie geknebelt. Sie wollte ihn am liebsten sofort herausreißen, aber da erschien Owen mit einer Schwester, die zuerst nach einem Tropf neben dem Bett schaute und etwas nachregelte, bevor sie sich über Libby beugte und sie mit einem Lächeln begrüßte.

„Schön, dass Sie wieder bei uns sind. Der Arzt ist unterwegs, um den Tubus zu entfernen. Aufgrund Ihrer Verletzungen ist das nicht ganz einfach.“

Libby verstand gar nichts. Verletzungen? Sie war im Krankenhaus? Welcher Tag war es überhaupt?

Augenblicke später erschien ein junger Arzt und begrüßte sie ebenfalls sehr höflich. Er bat die anderen, zur Seite zu treten, und nahm Libby genau in Augenschein.

„Ich werde jetzt den Tubus entfernen, was sich sehr unangenehm anfühlen wird. Ich muss Sie trotzdem bitten, absolut still zu halten, damit wir Ihre Halsverletzungen nicht in Mitleidenschaft ziehen. Ist das in Ordnung für Sie? Ich bin so vorsichtig, wie ich kann.“

Libby nickte und schloss die Augen, während der Arzt sich an den Pflastern in ihrem Gesicht zu schaffen machte. Dann zog er an dem Schlauch, der bis in ihren Hals reichte und Libby spürte ein widerliches, reibendes Gefühl, das sich fast wie ein Kitzeln anfühlte. Sie begann zu würgen, während der Arzt ganz vorsichtig den Schlauch Stück für Stück herauszog. Sie versuchte, sich dabei nicht zu bewegen, was ihr höllisch schwerfiel, und ihr kamen die Tränen, aber dann war es geschafft und sie schnappte befreit nach Luft. Der Arzt lächelte ihr ermutigend zu.

„Ich bin Dr. Robinson und Sie befinden sich im Krankenhaus in Alexandria. Wissen Sie, warum Sie hier sind?“

Libby überlegte, aber sie hatte keine Ahnung, deshalb schüttelte sie den Kopf.

„Gestern wurde vor Ihrem Haus auf Sie geschossen. Das Projektil hat Ihren Hals getroffen und ist ungefähr hier eingetreten.“ Er zeigte es bei sich selbst und deutete auf einen Bereich unterhalb des Kehlkopfes. „Es hat Ihre Schilddrüse verletzt und die Luftröhre perforiert, bevor es die Jugularisvene getroffen hat und dann in der Halsmuskulatur stecken geblieben ist.“ Dr. Robinson versuchte, ihr mit seinen Händen an sich selbst zu demonstrieren, was passiert war.

„So weit man das sagen kann, hatten Sie verdammt viel Glück, Agent Whitman. Wir mussten zwar einen großen Teil Ihrer Schilddrüse entfernen, was vermutlich bedeuten wird, dass sie lebenslang auf Medikamente angewiesen sein werden. Das ist allerdings das kleinere Übel verglichen mit dem, was das Projektil weiter oben hätte anrichten können. Ihre Stimmbänder wurden zum Glück nicht in Mitleidenschaft gezogen, aber wir hatten hier schon Schussverletzungen, nach denen die Betroffenen nicht mehr sprechen konnten.“

Ungläubig starrte Libby ihn an, doch während er sprach, kehrte die Erinnerung zurück. Ihr fiel ein, wie das Projektil sie getroffen hatte. Sie wusste auch wieder, wer auf sie geschossen hatte – Vincent Howard Bailey.

Dr. Robinson sah sie immer noch freundlich an. „Wir haben Ihre Luftröhre geflickt, was das kleinere Problem war. Das größte Problem war der Blutverlust aufgrund der durchstoßenen Vene. Sie ist nun wieder intakt und das dürfte relativ komplikationslos heilen, aber sie hatten wirklich Glück, dass das Projektil genau an der Stelle stecken geblieben ist. Es hat die zerfetzte Vene sozusagen mit zugedrückt, so dass sich der Blutverlust in Grenzen gehalten hat – und zum Glück war es die Vene und nicht die Arterie, denn möglicherweise hätten Sie es sonst nicht mehr ins Krankenhaus geschafft.“

Libby wusste nicht, was sie denken und ob sie ihm für seine Offenheit dankbar sein sollte. Eigentlich war sie immer für Ehrlichkeit, aber das traf sie gerade.

„Ihr Verlobter war zur Stelle und hat gleich richtig gehandelt, indem er Druck auf die Wunde ausgeübt hat, um den Blutverlust zu begrenzen. Der Krankenwagen war nach drei Minuten da und sie waren nach zwölf Minuten im Krankenhaus. Der Blutverlust hielt sich mit zwei Litern gerade noch im Rahmen. Das alles wird komplikationslos verheilen, denke ich, und Sie werden nichts zurückbehalten außer einer Schilddrüsenunterfunktion.“

Libby schluckte und tastete instinktiv mit der Hand nach ihrem Hals, fühlte aber nichts außer Pflastern und Verbänden.

„Danke“, sagte sie. Ihre Stimme klang trotzdem verdammt heiser.

„Wenn Sie mal in Ihrem Gesicht fühlen – da ist noch ein kleiner Schlauch, den wir durch Ihre Nase geführt haben. Er reicht bis in den Magen. Aufgrund Ihrer Verletzungen werden Sie ein paar Tage lang nicht auf normalem Wege essen oder trinken können, das machen wir alles per Magensonde. Wenn die Wunden erst mal ausreichend abgeheilt sind, kommt das natürlich wieder weg.“

Das war ein weiterer Schock. Libby hatte den Schlauch noch gar nicht bemerkt, doch als sie jetzt danach tastete, fand sie ihn sofort.

„Aber das bleibt nicht lang?“, fragte sie zaghaft.

„Nein, wir dürfen gerade nur keine Infektion Ihrer Verletzungen riskieren. Seien Sie unbesorgt, bis zu Ihrer Hochzeit sind Sie wieder auf den Beinen.“

Hochzeit? Libby fühlte sich, als wäre sie aus einem hundertjährigen Schlaf erwacht. Richtig, sie wollte heiraten. Sie war von der Anprobe ihres Hochzeitskleides gekommen, als Bailey ihr aufgelauert und auf sie geschossen hatte. Und irgendwie waren Sadie, Matt und Hayley schon hier.

„Welcher Tag ist heute?“, fragte sie.

„Freitag. Der Schuss auf Sie ist jetzt vierzehn Stunden her.“

Vierzehn Stunden. Libby fühlte sich eher, als wären es vierzehn Tage.

„Haben Sie noch Fragen?“, erkundigte Dr. Robinson sich.

Sie schüttelte den Kopf. „Im Moment nicht … Danke, Doktor.“

„Geben Sie uns Bescheid, wenn Sie was brauchen. Sind Sie schmerzfrei?“

„Es wird besser.“

„In Ordnung. Ich sehe später noch mal nach Ihnen.“

Libby nickte und sah ihm hinterher, während er mit der Schwester hinaus ging. Allmählich kam sie wieder zu sich, fühlte sich nicht mehr so benebelt. Um ihr Bett herum standen Owen und ihre Familie und musterten sie besorgt.

„Dass ihr schon hier seid“, sagte Libby zu Sadie.

„Owen hat uns angerufen, während du operiert wurdest. Wir haben alles stehen und liegen gelassen und mit viel Glück noch Plätze in einer Abendmaschine von San Francisco zum Ronald Reagan Airport bekommen. Wir sind erst vor anderthalb Stunden gelandet.“

„Und du bist auch hier“, richtete Libby sich an Hayley.

„Ich geh doch nicht in die Schule, wenn es dir schlecht geht!“, tat Hayley entschlossen kund. „Außerdem ist heute Freitag und am Montag ist Memorial Day.“

Libby lächelte. „Du bist ein Schatz, Hayley.“

Plötzlich wurde das Mädchen erns, in ihren Augen bemerkte Libby Tränen. „Ich hatte solche Angst um dich.“

„Du hast den Arzt gehört. Ich komme wieder auf die Beine.“

„Ja, aber … wenn Owen nicht da gewesen wäre …“

„Ich war aber da“, sagte Owen, auch wenn seinem Gesichtsausdruck zu entnehmen war, dass auch bei ihm der Schock verdammt tief saß.

„Wo ist Bailey?“, fragte Libby. „Habt ihr ihn erwischt?“

Mit gesenktem Blick knurrte Owen: „Leider nicht. In dem Moment, als du zu Boden gegangen bist, musste ich mich entscheiden, was ich tue. Da war schon alles voller Blut. Bailey hat mein Zögern bemerkt und ist sofort abgehauen, weil ich wusste, ich muss zu dir, wenn ich nicht will, dass du verblutest. Für mich hat er sich überhaupt nicht interessiert, er ist einfach bloß gerannt. Ich habe zwar sofort Verstärkung von der örtlichen Polizei angefordert, aber bis die dort waren, war er schon über alle Berge. Ich habe keine Ahnung, wo er hin ist. Ich musste ihn laufen lassen, sonst wärst du jetzt tot.“

Libby lächelte versöhnlich. „Ich weiß. Du hast alles richtig gemacht.“

„Ich frage mich bloß immer, ob er überhaupt auf dich geschossen hätte, wenn ich in dem Moment nicht aufgetaucht wäre.“

„Er hätte“, sagte Libby überzeugt. „Oder er hätte etwas anderes getan. Es war gut, dass du gekommen bist.“

„Ich darf gar nicht darüber nachdenken, was passiert wäre, wenn …“

„Dann lass es“, unterbrach Libby ihn und drückte seine Hand. „Ich hätte sterben können, aber ich bin noch hier und das verdanke ich dir. Jetzt ist alles, was ich zurückbehalte, eine kaputte Schilddrüse. Damit komme ich klar.“

„Ich wünschte, ich hätte ihn erschossen. Ich hätte es tun können, aber …“ Owen schüttelte den Kopf. „Ich hatte keine Zeit. Ich musste dich retten.“

„Sie kriegen ihn schon.“

„Das wird auch Zeit.“ Sichtlich unglücklich blickte Owen zu Matt. „Ich hatte es deinem Dad versprochen.“

Matt legte eine Hand auf Owens Schulter und lächelte, ohne etwas zu sagen, aber Owen verstand ihn auch so.

„Bin ich nicht mehr auf der Intensivstation?“, fragte Libby.

„Nein, sie haben dich vor zwei Stunden auf die Intermediate Care verlegt. Da bin ich ihnen ein bisschen auf die Nerven gegangen, weil ich ja wusste, dass deine Familie kommt und in die Intensivstation hätten wir nicht alle hineingedurft“, erklärte Owen.

„Warst du die ganze Nacht hier?“

Er sah sie an, als hätte er fragen wollen: Meinst du das ernst? Aber seine Augenringe sprachen ohnehin Bände.

„Ich habe übrigens Nick gestern Abend noch angerufen. Er weiß schon, was passiert ist und dass Bailey dahintersteckt. Er bat mich, ihn auf dem Laufenden zu halten, deshalb werde ich gleich wieder mit ihm sprechen.“

Libby nickte. „Danke … Ich liebe dich, Owen. Danke, dass du für mich da warst.“

„Na ja …“ Er stand auf und deutete auf seine Hose und sein Hemd. Beides war noch voller Blut.

„Liebe Güte, fahr nach Hause und zieh dich um“, sagte Libby.

„Ich musste doch hierbleiben.“

„Ja, aber jetzt ist meine Familie doch da.“

„Wenn du meinst … Ich brauche erst mal ein Taxi, ich bin gestern im Krankenwagen mitgefahren.“

„Mach das ruhig. Ich bin ja nicht allein.“ Libby lächelte und so konnte Owen sich schließlich dazu durchringen, das Krankenhaus vorübergehend zu verlassen, um die blutige Kleidung loszuwerden. Libby atmete tief durch, als er weg war, und ihre Familie scharte sich dichter ums Bett.

„Es ist so toll von euch, dass ihr hergekommen seid“, sagte Libby.

„Jetzt hör aber auf. Als Owen angerufen hat, war gar nicht klar, wie es um dich steht. Wir sind wirklich sofort los“, sagte Sadie.

„Tut mir leid, dass ich euch solche Sorgen bereite …“

„Das gehört nun mal dazu. Wichtig ist, dass du jetzt wieder gesund wirst und ich glaube auch, dass du großes Glück hattest.“

„Ich mag deinen Job nicht“, tat Hayley kund.

„Nicht doch. Das wird wieder“, sagte Libby.

Hayley machte trotzdem ein unglückliches Gesicht und tat mürrisch kund, dass sie Hunger hatte. Matt bot an, mit ihr in die Cafeteria zu gehen, womit sie sofort einverstanden war. Lächelnd blickte Sadie den beiden hinterher, bevor sie sich wieder Libby zuwandte. Ihr Gesicht war voller Sorge.

„Warum hat Bailey das gemacht?“, fragte sie. „Wollte er dich wirklich umbringen?“

Libby nickte. „Wahrscheinlich, weil ich seinen Cousin getötet habe. Er hat es nicht gesagt. Wir haben noch über Mary Jane gesprochen, als Owen plötzlich dazu stieß. Das hat ihn auf die Idee gebracht, mich vor Owens Augen zu erschießen.“

„Aber er hatte es persönlich auf dich abgesehen.“

„Ja … ich weiß nicht“, sagte Libby und überlegte angestrengt. „Er wollte wissen, wo Mary Jane ist. Er wollte sie wirklich zurück, glaube ich. Aber er hat ja schon eine Frau entführt … und ich glaube, sie ist tot. Ich habe ihn auf sie angesprochen und er hat gelacht. Er meinte, sie wäre nicht mehr in seinem Versteck.“

„Er hätte jeden deiner Kollegen bedrohen können. Warum dich? Hat er das gesagt?“

Libby stutzte. „Hast du einen Verdacht?“

„Ich mache mir nur Sorgen. Nicht, dass er noch mal wiederkommt …“

Libby überlegte krampfhaft. Worüber hatten sie gesprochen? Über Randall und über Mary Jane. Und darüber, dass er da weitermachte, wo er mit Randall aufgehört hatte. Sie hatte Vanessas Namen genannt und er hatte gelacht. Er hatte sie ganz bestimmt getötet.

„Keine Ahnung“, sagte Libby kopfschüttelnd. „Denkst du, er hat mich jetzt im Auge?“

„Ich weiß es nicht, aber ich habe das schon erlebt, das weißt du. Bitte sei vorsichtig, solange er noch auf freiem Fuß ist, ja? Dass er dir zu Hause aufgelauert hat, macht mir Angst.“

Libby erwiderte nichts. Sadies Sorge beunruhigte sie, denn sie hatte es noch nie erlebt, dass Sadie bei so etwas mit ihrem Instinkt falschgelegen hatte.

 

Zwischendurch sah die Schwester immer wieder nach Libby und erkundigte sich, ob sie etwas brauchte. Aber Libby hatte keine Schmerzen mehr, sie hatte nicht einmal Hunger. Sie wusste nicht, wie es ihr ging.

Alles fühlte sich surreal an. Nur langsam kehrte die Erinnerung an den vorigen Tag zurück – die Arbeit, die Vermisstenfälle, die Anprobe ihres Brautkleides. Sie erinnerte sich auch an die Begegnung mit Vincent Howard Bailey und daran, wie er auf sie geschossen hatte. Wie überall nur noch Blut war und sie fast keine Luft mehr bekommen hatte. Alles war so schnell gegangen, sie hatte nicht einmal Angst gehabt, bevor sie das Bewusstsein verloren hatte.

Und jetzt lag sie im Krankenhaus, musste künstlich ernährt werden und konnte froh sein, dass sie noch lebte. Dass ihre Familie dort war, ließ alles noch viel surrealer wirken, denn sie kamen von so weit her.

Sie war so dankbar dafür, dass ihre Eltern und ihre Schwester jetzt dort waren. Hayleys sonniges Gemüt sorgte für Wärme im Krankenzimmer und Libby fühlte sich geerdet, wenn sie Sadie nur ansah. Sie wusste gar nicht, wie sie es beschreiben sollte, aber Sadie ruhte immer in sich selbst und das färbte auch auf sie ab.

Sie wäre fast gestorben. Die Erkenntnis sickerte nur langsam durch. Ja, sie machte einen gefährlichen Job – aber sie hätte nie mit dem gerechnet, was am Vortag passiert war. Wenn sie zu Owen blickte, sah sie deutlich, dass ihm das tief in den Knochen saß.

Er war nach Hause gefahren, hatte sich geduscht und umgezogen und die Wohnung so hergerichtet, dass auch Libbys Familie dort Platz hatte. Es rührte Libby, dass die Menschen, die sie liebte, gekommen waren, um ihr beizustehen. Zu Hause hatte Owen mit Nick telefoniert, der angekündigt hatte, sehr bald vorbeizuschauen. Das alles hatte er in unter zwei Stunden vollbracht.

Als Libby aufstehen und zur Toilette gehen wollte, rief sie die Schwester herbei, die ihr anbot, eine andere Lösung zu finden, aber Libby bestand darauf. Die Schwester und Owen halfen ihr dabei, sich langsam zu setzen. Auf der Bettkante hockend wartete Libby darauf, dass sich ihr Blutdruck normalisierte, und stand schließlich auf. Der Infusionsständer war eine großartige Stütze und auf der anderen Seite hielt Owen sie. Gemeinsam mit der Schwester brachte er sie ins Bad, dann bat Libby darum, den Rest allein zu machen.

Es war ein Kraftakt, aber sie hatte mit nichts anderem gerechnet. Der Blutverlust war heftig gewesen und sie fühlte sich noch benebelt von den vielen Medikamenten.

Bis zur Hochzeit war sie wieder auf den Beinen … Gerade stand ihr nach nichts weniger der Sinn als nach Heiraten, aber zum Glück hatte sie ja noch ein paar Wochen Zeit.

Im Bad kam sie allein zurecht, war aber sehr dankbar für den Infusionsständer. Als sie schließlich am Waschbecken stand, um sich die Hände zu waschen, erschrak sie beim Anblick ihres eigenen Spiegelbildes.

Sie sah den Schlauch, der in ihre Nase führte, ihr Hals war dick bandagiert. Im Flügelhemd sah sie noch kränker aus, sie war erschreckend blass, ihre Augen schwarz umrändert.

Sie wandte sich ab, öffnete die Tür und bat Owen darum, ihr die Kleidungsstücke zu bringen, die er von zu Hause geholt hatte. Er wühlte ein wenig im Schrank herum und kam schließlich mit einem T-Shirt und einer Jogginghose.

„Hilfst du mir?“, bat Libby. „Mal sehen, wie ich das T-Shirt anziehen soll, wenn ich am Tropf hänge …“

„Willst du das nicht später machen? Ich kann auch die Schwester rufen.“

Libby schüttelte den Kopf. „Nein, wir kriegen das hin. Ich muss aus diesem Krankenhemd raus. Das hilft nicht gerade beim Gesundwerden.“

Owen nickte verstehend und half Libby nach Kräften. Sie hatte mehrmals fast das Gefühl, ohnmächtig zu werden, aber schließlich hatte sie es geschafft und fiel Owen dankbar um den Hals. Er erwiderte ihre Umarmung erst zaghaft, dann entschlossener. Als sie glaubte, ein Zittern bei ihm zu spüren, sah sie ihn fragend an. Er hatte das Gesicht an ihrem Nacken vergraben und als er ihren Blick allmählich erwiderte, entdeckte sie Tränen in seinen Augen.

„Ich dachte, ich verliere dich. Was hat Dr. Robinson gesagt, 12 Minuten? Das waren die längsten 12 Minuten meines Lebens. Ich habe nichts anderes getan, als die Wunde mit meinem Finger zuzudrücken, bis die Sanitäter da waren. Ich wollte Bailey wirklich nicht entkommen lassen, aber ich konnte doch nicht dein Leben riskieren.“ Owen atmete tief durch.

„Du hast mich gerettet. Das war richtig. Ich bin dir so dankbar.“

„Ich liebe dich! Ich werde verrückt bei dem Gedanken, was hätte passieren können.“

„Hoffentlich klicken bei Bailey bald die Handschellen“, grollte Libby. Owen nickte bloß und half ihr dabei, ins Bett zurückzukehren. Als kurz darauf die Schwester erschien, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen angesichts der Anstrengung, die Libby hinter sich gebracht hatte.

Sadie, Matt und Owen überlegten gerade, ob sie etwas essen gehen sollten, als es an der Tür klopfte und Nick Dormer und Jesse Brooks hereinkamen. Während Jesse zögerlich stehenblieb, ging Nick auf die anderen zu und machte erst vor Libby Halt. Sie setzte sich aufrecht und er umarmte sie.

„Wie geht es dir?“, fragte er.

„Ich lebe noch“, erwiderte sie sarkastisch. Er grinste schief, dann umarmte er erst Owen und begrüßte schließlich Sadie, Matt und Hayley. Jesse hatte sich schon mit ihnen bekannt gemacht.

„Wir wären früher gekommen, aber Bailey beschäftigt uns an allen Fronten“, sagte Nick entschuldigend. „Ausgerechnet gestern wurde in Pennsylvania eine Frauenleiche entdeckt – Vanessa Nolan. Wir haben ja einen Vermerk in ihrer Vermisstenmeldung hinterlassen, deshalb hat die Polizei von Franklin County uns heute Morgen gleich angerufen.“

„Wollt ihr nicht schon mal zum Essen gehen?“, richtete Sadie sich an Matt und ihre Tochter.

„Ja, das ist eine hervorragende Idee. Bis gleich.“ Matt verstand sofort und dirigierte seine Tochter aus dem Zimmer.

„Okay, das ist besser“, sagte Nick und wandte sich wieder Libby zu. „Ich war gestern hellauf entsetzt, als Owen mich angerufen und mir gesagt hat, was passiert ist. Das habe ich nicht kommen sehen.“

„Ich genauso wenig“, sagte Libby.

„Was ist da passiert? Glaubst du, er wollte dich töten?“

Libby nickte. „Ja, ich denke, das war seine Absicht. Ich glaube, das war ein missglückter Kopfschuss.“

Ihr entging nicht, wie Owen neben ihr zusammenzuckte. Es tat ihr leid, aber es war wichtig, dass Nick das wusste.

„Ich bin verdammt froh, dass du das überstanden hast. So wie Owen sich gestern am Telefon ausgedrückt hat, war die Situation sehr ernst.“

Libby nickte. „Der Arzt gab sich heute Morgen zuversichtlich.“

„Na immerhin. Dennoch möchte ich, dass du dir alle Zeit nimmst, die du brauchst.“

„Ich würde euch zu gern dabei helfen, diesen Bastard zu schnappen.“

„Ja, das denke ich mir, aber wir sind schon dran. Willst du wissen, was er angestellt hat?“

Libby nickte und Nick fuhr fort. „Wir hatten Vanessa Nolan ja als ein mögliches Opfer auf der Liste. So, wie sie zugerichtet wurde, liegt jede Vermutung nahe, dass Bailey tatsächlich dafür verantwortlich ist.“

Libby holte tief Luft. „Was hat er gemacht?“

Nick blickte kurz zu Sadie und Owen, bevor er weitersprach. „Sie wurde vorgestern getötet – erwürgt. Das hat er sich bei Randall Howard abgeschaut, wenn er nicht sogar damals schon an den Tötungen beteiligt war. Ihr Zustand erinnerte uns sofort an Howards Opfer.“

„Wie lang hatte er sie in seiner Gewalt?“, fragte Libby.

„Neun Tage. Sagen wir, es war kein schöner Anblick.“

„Hat er sie gefoltert?“

Dormer nickte. „Und vergewaltigt. Das war neu. Er war auf seine Art brutaler als Howard, aber er wollte sie auch nicht so lang am Leben lassen.“

„Und wo, sagtest du, wurde sie gefunden?“

„In Franklin County. Wenn man von Pennsylvania aus hierher fährt, kommt man da automatisch durch.“

„Also hat er sie getötet, ist hierher gefahren und unterwegs hat er die Leiche abgeladen.“

„Ja, das haben wir auch vermutet. Würdet ihr beiden mir denn erzählen, was gestern passiert ist? Oder am besten nur du, Owen, so weit möglich.“

„Ich habe nicht alles mitbekommen“, sagte Owen, weshalb Libby Nick zuerst einen Abriss dessen gab, was vor Owens Ankunft passiert war, und den Rest berichtete Owen. Sadie und Jesse hörten gespannt zu und Libby war froh, dass sie nicht mehr sprechen musste. Das war sehr anstrengend, auch wenn sie unter Schmerzmitteln stand.

„Warum muss es denn ausgerechnet meine Verlobte sein, Nick?“, fragte Owen schließlich. „Wie konnte er sie überhaupt finden?“

„So, wie ich Bailey einschätze, hat er unsere Ermittlungen verfolgt. Bei der ersten Pressekonferenz war Libby im Hintergrund zu sehen. Wenn er nun beim SWAT-Einsatz in Howards Haus ihren Namen aufgeschnappt hat, war er ja schon auf dem richtigen Weg.“

„Du hast dasselbe Problem wie ich. Diese Täter projizieren etwas auf uns, das ist bei mir nie anders gewesen. Wir jagen einen Mörder, der Jagd auf junge Frauen macht? Das war ich auch und das bist du jetzt genauso“, sagte Sadie. Libby überhörte nicht, wie Sadie von wir sprach.

„Was soll ich jetzt machen? Ich war da und ich konnte nicht verhindern, dass er auf sie schießt“, sagte Owen frustriert.

„Bestenfalls hat er keine Ahnung, dass der Schuss nicht tödlich war. Im Moment ist Libby hier sicher“, sagte Nick.

„Und ihr? Ihr sucht jetzt nach Bailey?“

Dormer nickte. „Wir versuchen uns gerade am geografischen Profiling und überlegen, wo er hergekommen sein könnte. In Pennsylvania ist das die Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen.“

„Wollen wir auch etwas essen gehen?“, schlug Sadie Owen vor, der sich ihr etwas widerstrebend anschloss. Libby wartete, bis die beiden draußen waren, dann richtete sie sich an Nick und Jesse.

„Kann ich euch irgendwie dabei helfen, Bailey zu finden?“

Die beiden Männer tauschten einen Blick, bevor Nick sagte: „Du wärst gestern fast gestorben. Du bist nicht in der Verfassung …“

Libby zog fragend eine Augenbraue hoch. „Ich stand ihm gegenüber.“

„Und das hilft?“

„Keine Ahnung. Trotzdem, ich fühle mich nur schlecht, wenn du mich schonen willst. Ja, auf mich wurde geschossen, aber mein Kopf funktioniert noch. Außerdem ist gerade niemand hier, den es nichts angeht.“

„Wenn du drauf bestehst.“ Nick zog sich einen Stuhl heran und setzte sich ans Kopfende des Bettes neben Libby. Er zückte sein Handy, an dem er einige Fotos aufrief.

„Vanessas Leiche lag in einem Waldgebiet unweit eines Parkplatzes an der Interstate 81. Das ist einigen Truckern aufgefallen, die gesehen haben, wie Aasvögel in der Luft kreisten.“

Libby schüttelte sich. „Na, danke.“

Ein unwilliges Grinsen zuckte über Nicks Lippen. „Es ist wirklich grauenvoll. Das Blut klebte noch an ihren Beinen, er hat sie nicht nur vergewaltigt, sondern auch verstümmelt. Sie hatte zahllose Schnittwunden beigebracht … und hier.“ Nick hielt Libby das Handy hin und sie verstand. Es war eine Nahaufnahme von Vanessa Nolans Gesicht – ihre blauen Augen wirkten milchig, die Äderchen darin waren geplatzt. Doch das hatte Nick ihr gar nicht zeigen wollen – er wollte darauf hinaus, dass Bailey Vanessa die Lippen vernäht hatte. Entsetzt verzog Libby das Gesicht.

„Er ist so ein perverses Schwein.“

„Er hat es beibehalten. Schwer zu sagen, was seine Handschrift ist und was Howards war. Klar ist nur, dass Vincent – anders als sein Cousin – definitiv ein Sexualsadist ist.“

Libby nickte langsam. „Das sieht man deutlich.“

Nick zeigte ihr weitere Fotos. Vincent hatte Vanessa unzählige kleine Schnittverletzungen beigebracht. Das mussten höllische Qualen gewesen sein. Ihre Hand- und Fußgelenke waren von ihren Fesseln blutig wund gescheuert, auch wenn bei der Leiche keine Fesseln gefunden wurden.

„Die Obduktion läuft noch, so weit ich weiß. Keine Ahnung, was wir noch erfahren werden. In ihren Haaren wurden Blätter und Baumnadeln gefunden, die jetzt untersucht werden. Vielleicht verrät uns das etwas über den Ort, an dem Bailey sie festgehalten hat“, sagte Nick.

„Ich verstehe auf jeden Fall, warum ihr glaubt, dass er sie getötet hat.“

„Das ist zu ähnlich und es ist definitiv Täterwissen.“

„Und es gibt keine Spur von ihm?“

Nick schüttelte den Kopf. „Ich war auf dem Heimweg, als er auf dich geschossen hat. Owen hat mich später zu Hause erreicht. Ich habe mit allen zuständigen Behörden telefoniert, aber er war schon wieder untergetaucht. Darin ist er gut.“

„Das gibt’s doch einfach nicht. Wie lang suchen wir ihn schon?“

„Viel zu lang. Wir müssen ihn unbedingt stoppen, bevor das so weitergeht.“

Libby stimmte ihm zu. Als die anderen vom Mittagessen zurückkehrten, brachen Nick und Jesse wieder auf und machten sich auf den Rückweg nach Quantico. Libby bat sie darum, den Kollegen Grüße zu bestellen, und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück.

„Wir können die Hochzeit auch verschieben, wenn du willst“, sagte Owen unverhofft. Libby blinzelte irritiert.

„Wie kommst du jetzt darauf?“

„Na ja … der Doc meinte zwar, dass du wieder auf die Beine kommst, aber ich könnte verstehen, wenn es dir jetzt nicht recht ist.“

„Ich bitte dich. Sofern ich auch nur annähernd dazu in der Lage bin, machen wir das. Ich sage doch wegen Bailey nicht meine Hochzeit ab.“

„Meine Tochter“, sagte Matt mit einem stolzen Grinsen.

„Ich kenne da auch jemanden, den es gar nicht gestört hat, eine Frau mit Gipsarm zu ehelichen.“ Sadie machte ein wissendes Gesicht und vermied es, ihren Mann anzusehen.

Libby grinste. „Natürlich wird geheiratet. Das Kleid sah so toll aus gestern …“

„Gut, wenn du auch darüber nachdenken kannst“, sagte Sadie.

„Ich würde am liebsten meinen Kollegen dabei helfen, ihn zu jagen, aber das geht schlecht.“ Es gefiel Libby nicht, aber sie konnte es nicht ändern. Vor ihr lag jetzt erst mal ein anstrengender Weg.

 

 

Donnerstag, 27. Mai

Schon am nächsten Tag hatte man Libby auf die normale Station verlegt, wo sie Besuch von ihren anderen Kollegen bekommen hatte. Sie hatte auch mit Julie telefoniert, die unbedingt kommen wollte, aber Libby hatte sie darum gebeten, das erst zu tun, wenn sie nicht mehr im Krankenhaus war. Sie hätte sich ohnehin kaum Zeit für ihre beste Freundin nehmen können und wollte nicht, dass Julie die Anreise aus New York auf sich nahm, nur um dann neben den anderen Besuchern am Krankenbett zu sitzen.

Montags hatte der Arzt die Magensonde entfernt, wofür Libby mehr als dankbar war. Am späten Nachmittag waren Matt und Hayley zum Flughafen gefahren, denn am nächsten Tag musste Hayley wieder zur Schule und Matt wurde für einen Fotoauftrag in San Francisco erwartet. Sadie hingegen hatte den Wunsch geäußert, noch ein wenig zu bleiben, denn sie hatte gerade vorlesungsfreie Zeit und wollte ihrer Tochter noch ein wenig Beistand leisten, zumal Owen dienstags wieder zur Arbeit musste. Eigentlich wollte er nicht, aber Libby bestand darauf, dass er seinen wertvollen Urlaub nicht opferte, um bei ihr Händchen zu halten.

Das Essen funktionierte nach dem Entfernen der Magensonde überraschend gut, solange sie sich auf weiche Nahrung beschränkte. Libby betrachtete das mit gemischten Gefühlen, allerdings heilten die Verletzungen sehr gut ab, so dass sie dem Arzt pausenlos in den Ohren lag, wann sie entlassen werden konnte. Mittwochs bei der Visite strich er die Segel und gab grünes Licht für eine Entlassung am Donnerstag unter der Auflage strenger Ruhe und auch nur, weil Sadie sich die ganze Zeit über um sie kümmern konnte.

Am Donnerstag zur Mittagszeit hatte Libby alles gepackt, ihre Unterschriften geleistet und wurde von Sadie pflichtschuldig mit einem Rollstuhl bis zum Ausgang gebracht. Man hatte sie mit Eisentabletten, Schmerzmitteln und Schilddrüsenhormonen ausgestattet. Die hatte sie schon im Krankenhaus bekommen und war dazu angehalten worden, bald bei ihrem Arzt vorstellig zu werden, damit der die richtige Einstellung überwachte.

Als sie endlich am Ausgang angekommen waren, stand Libby aus dem Rollstuhl auf und folgte Sadie zu ihrem Mietwagen. Sadie trug die Tasche, wofür Libby nicht undankbar war, denn ihr Kreislauf hatte noch genug damit zu tun, dass sie überhaupt den Weg schaffte. Für diesen Tag waren annähernd 30 Grad vorhergesagt, aber trotzdem war ihr kalt.

Als Libby im Auto auf dem Beifahrersitz saß, schloss sie erst einmal die Augen und versuchte, das Pochen in ihrem Kopf zu ignorieren, das ihr hochschießender Blutdruck verursacht hatte. Wenn sie zu Hause war, musste sie einen Termin mit dem Amtsarzt des FBI vereinbaren. Der würde sie sehen wollen und eine Marschroute darüber vorlegen, welche Rehamaßnahmen erforderlich waren und wann sie wieder einsatzfähig sein würde.

Sie hasste es. Aber so anstrengend das alles auch war – sie war noch am Leben. Das allein grenzte an ein Wunder.

„Ich habe Krankenhäuser auch immer gehasst“, sagte Sadie. „All diese Routineabläufe, die wenig Rücksicht auf deine Privatsphäre nehmen … das fand ich immer verdammt schwierig.“

Libby nickte. „Das kann ich verstehen. Geht mir ähnlich.“

„Wir sind uns ja auch verdammt ähnlich.“ Sadie blickte zu ihr hinüber, während sie an einer roten Ampel warteten.

„Ich bin froh, dass du hier bist.“

„Ja, ich auch. Einerseits, weil ich es möchte, und andererseits entlastet es Owen.“

„Ich verstehe, dass er bei mir sein will, aber viel tun kann er nicht.“

„Das ist aber nicht alles, worum es geht. Ich weiß, wie es ihm letzte Woche gegangen sein muss, als er dachte, du verblutest unter seinen Händen. Das habe ich auch schon erlebt. Vielleicht sollte ich ihm anbieten, darüber zu sprechen.“

„Das ist lieb von dir“, sagte Libby. Sie wusste Sadies Angebot wirklich zu schätzen.

„Für dich gilt das natürlich auch“, schob Sadie hinterher.

„Ich komme schon zurecht.“

„Du weißt, du musst niemandem etwas beweisen.“

„Ja, schon klar … aber ich mache mich nicht fertig, weil Bailey mich fast erschossen hätte. Ich blicke jetzt nach vorn, versuche, wieder auf die Füße zu kommen und hoffe, dass meine Kollegen ihn bald erwischen.“

Sadie lächelte. „Du bist wirklich unbeirrbar.“

„Ja, ich habe mir das ausgesucht. Ich beschwere mich jetzt nicht darüber, dass ich bekommen habe, was ich wollte.“

Als Sadie nur seufzte und ansonsten schwieg, fragte Libby: „Dir macht es was aus, oder?“

Sadie nickte. „Ja, das tut es. Du bist meine Tochter. Ich weiß genau, welchen Höllenjob du da machst und das macht mich fertig, aber ich weiß auch, warum du das tust. Ich habe es selbst lang genug gemacht … Ich würde es heute noch tun, wenn ich diesem Druck gewachsen wäre. Du bist da stärker.“

Darüber dachte Libby schweigend nach. War sie stärker als Sadie? Sie erlebte ihre Mum als wahnsinnig stark. Sadie hatte während ihrer FBI-Laufbahn Dinge getan, von denen Libby nur träumte.

„Ich bin froh, dass ich noch ein wenig Zeit mit euch verbringen kann. Wegen Owen mache ich mir wirklich Gedanken“, gab Sadie zu.

„Warum?“

„Es war furchtbar, als er uns letzte Woche angerufen hat. Ich habe ihn noch nie so erlebt, er stand völlig neben sich. Er hat direkt an uns gedacht und uns Bescheid gegeben, obwohl er noch gar nicht wusste, ob du es schaffst. Und so klang er auch.“

Libby schluckte. „Gerade versucht er immer, sich von seiner starken Seite zu zeigen.“

„Ja, natürlich, aber man darf ihn damit nicht allein lassen. Euch beide nicht. Ich bin wirklich froh, dass ich gerade noch hier sein kann.“

Libby lächelte dankbar. Sie hasste es, dass so eine riesige Distanz zwischen ihr und ihrer Familie lag, aber dafür hatte sie keine Lösung.

Schließlich waren sie an Libbys und Owens Wohnung angekommen. Libby war nicht sehr glücklich darüber, dass Owen jetzt nicht dort war, aber er hatte versprochen, etwas früher Feierabend zu machen.

Sadie trug wieder die Tasche, während Libby langsam vorausging und gewohnheitsmäßig auf dem Weg in die Wohnung in den Briefkasten spähte. Sie hatte ihn kaum geöffnet, als ihr auch schon zahlreiche Briefe und Werbeprospekte entgegenquollen. Grinsend holte sie alles heraus – Owen hatte wohl schlicht und ergreifend in den letzten Tagen nicht daran gedacht, was sie ihm nicht verübeln konnte. Er war auch kaum zu Hause gewesen.

Oben angekommen, schloss sie die Wohnungstür auf und atmete tief durch. Endlich wieder zu Hause.

Sie legte die Briefe auf die Küchenablage, zog ihre Schuhe aus und schaute sich um. Sadie brachte ihre Tasche ins Schlafzimmer, wohin Libby ihr folgte, um auszupacken. Es war anstrengend, aber es ging. Inzwischen hatte sie nur noch ein Pflaster über der OP-Narbe, das die Fäden verdeckte. Als sie ins Bad ging, um ihre Kosmetikartikel zurückzustellen, blieb sie nach dem Aufräumen vor dem Spiegel stehen und löste das Pflaster.

Eine fast zehn Zentimeter langer, schiefer Schnitt lief von unterhalb ihres Kehlkopfes zur rechten Seite nach oben über ihren Hals. Um Schönheit hatten die Ärzte sich keine Gedanken gemacht und dafür hatten sie auch keine Zeit gehabt. Sie hatten einfach alles geöffnet und sich darauf konzentriert, ihr Leben zu retten. Dafür war Libby ihnen dankbar. Bald wurden die Fäden gezogen, dann sah das zumindest nicht mehr so scheußlich aus.

Sadie war gerade damit beschäftigt, auf dem Gästesofa im Arbeitszimmer in ihrer Tasche herumzuwühlen, als Libby gedankenverloren ins Wohnzimmer zurück schlenderte und beschloss, die Post durchzugehen. Zuerst sortierte sie die Werbung aus und sichtete dann die Briefe. Von ihrer Krankenversicherung war einer dabei, einer war von der Bank und einer war handschriftlich an sie adressiert. Er trug keinen Absender. Stirnrunzelnd begutachtete Libby den Poststempel. Er stammte aus Williamsport, Pennsylvania.

Sie war sofort gewarnt. In Williamsport war Bailey gesichtet worden. Der Poststempel war zwei Tage alt. Libby legte den Brief hin, ging zum Putzmittelschrank und nahm ein Paar Handschuhe, das sie erst überstreifte, bevor sie den Brief öffnete. Sie zog einen Briefbogen heraus.

Hi, Special Agent Libby Whitman!

Ich musste ja in ein paar Krankenhäusern in deiner Gegend anrufen, um rauszufinden, ob du noch lebst. Es war ja nicht geplant, dass dein Lover plötzlich auftaucht und mir die ganze Tour vermasselt. Der hat mich echt gestresst, sonst hätte der Schuss besser gesessen. Aber jetzt lebst du eben noch und damit muss ich klarkommen. Ist vielleicht gar nicht schlecht, denn jetzt weiß ich, mit wem ich es zu tun habe.

Die süße Vanessa habt ihr sicher inzwischen gefunden – ich muss schon sagen, es hat verdammt viel Spaß gemacht, sie als meine Sklavin zu halten. Meine allein.

Allerdings muss ich zugeben, dass mir Mary Jane lieber gewesen wäre. Ich wollte, dass du weißt, dass ich mir bald die nächste Sklavin holen werde, wenn ihr Mary Jane nicht rauslasst. Eure Entscheidung. Ihr solltet nicht davon ausgehen, dass ihr das verhindern könnt. Ich bin überall und nirgends. Das solltest auch du dir immer bewusst machen.

Als kleines Souvenir schicke ich dir noch ein Foto von mir und der süßen Vanessa.

Vince

Libby schluckte und ließ den Brief sinken, bevor sie noch einmal in den Umschlag schaute. Tatsächlich lag darin ein Foto, das aus einer Sofortbildkamera stammte. Clever, dachte sie unwirsch. Vorsichtig zog sie das Foto heraus. Beim bloßen Anblick schnürte sich ihr die Kehle zu.

Vince hatte Vanessa an die Decke gefesselt, sie stand mit erhobenen Armen da und war mit Klebeband geknebelt. Ihre Augen waren gerötet, ihre Wangen glänzten feucht. Sie schien nackt zu sein – und gleich neben ihrem Gesicht war Vincent zu sehen, der bestens gelaunt in die Kamera grinste.

„Was ist los?“, riss Sadies Stimme Libby aus ihrer aufkeimenden Wut.

Sie holte tief Luft. „Er schreibt mir jetzt Briefe.“

„Wer? Bailey?“

Libby nickte und hielt Sadie das Foto hin. Ihre Mutter kam sofort zu ihr, um sich alles anzusehen, fasste aber wohlweislich nichts an.

Sadie ließ sich nicht anmerken, was sie dachte. Sie wirkte ruhig, als sie sagte: „Das müssen wir Nick bringen.“

„Ja, du hast Recht. Warte.“ Libby legte das Foto hin und holte aus einer Küchenschublade einen Gefrierbeutel, in den sie alles steckte. Das war besser als nichts. Als sie damit fertig war, spürte sie Sadies Hand auf ihrer Schulter und sah sie an. Nun wirkte Sadie nicht mehr so ruhig, sondern eher zutiefst besorgt.

Sie umarmte Libby und sagte: „Das habe ich immer befürchtet.“

„Dass einer es persönlich meint?“

Sadie nickte. „Und dann einer wie Bailey …“

Libby versuchte, die Angst nicht zuzulassen, weil sie befürchtete, dadurch handlungsunfähig zu werden. „Lass uns nach Quantico fahren.“

„Ja, du hast Recht. Hast du deinen Ausweis?“

Libby holte ihn, zog mühsam ihre Schuhe wieder an und folgte Sadie zum Auto. Sadie starrte verbissen auf die Straße, während sie auf die Interstate fuhr.

Weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte, schwieg Libby. Sie wusste genau, was Sadies Befürchtungen waren – aber sie hatte keine Ahnung, wie sie die hätte entkräften können. An Owens Reaktion wollte sie dabei noch gar nicht denken.

Am Checkpoint vor Quantico zeigte Libby ihren Ausweis, aber dass Sadie keinen hatte, war kein Problem. Der wachhabende Soldat erkannte sie und ließ sie passieren. Bei der Sicherheitskontrolle im Gebäude erhielt Sadie einen Besucherausweis, mit dem sie sich ungehindert bewegen konnte. Libby hatte den Beutel in der Hand, während sie mit dem Aufzug zum Büro der Profiler fuhren.

Sie wurden sofort von den Kollegen bemerkt und gleich von allen begrüßt. Darauf wurde auch Nick aufmerksam, der aus seinem Büro kam und zielstrebig auf sie zusteuerte.

„Was machst du denn hier? Wurdest du nicht heute erst aus dem Krankenhaus entlassen?“, fragte er Libby. Sie nickte und hielt ihm den Beutel mit Baileys Brief hin.

„Als ich vorhin nach Hause kam, habe ich das im Briefkasten gefunden.“

„Was ist das?“

„Post von Vincent Howard Bailey. Wir dachten, das wollt ihr vielleicht sehen.“

„Natürlich“, sagte Nick und nahm ihr den Beutel ab. Libby hatte alles so hineingelegt, dass man auf der einen Seite den Brief lesen und auf der anderen das Foto ansehen konnte. Nick war noch nicht ganz fertig mit Lesen, als er ein ungläubiges Geräusch machte.

„Er will was? Mary Jane?“

„Dreh den Beutel mal um, da ist das Foto.“

Nick tat es und zog die Augenbrauen hoch. „Der traut sich was. Wir rechnen zwar jederzeit mit dem Testergebnis der DNA-Spuren, die bei Vanessa gefunden wurden, aber es hat ohnehin nie jemand bezweifelt, dass er sie hatte. Das hier beweist es.“

„Woher kam der Brief?“, fragte Ian.

„Aus Williamsport. Dass er dort schon mal war, wissen wir“, sagte Libby.

„Er lässt uns keine Chance, ihn zu lokalisieren“, sagte Nick.

„Ihr müsst ihn finden. Hast du den vorletzten Satz gelesen?“, fragte Sadie besorgt.

Dormer nickte, ohne ihrem Blick auszuweichen. „Du fasst ihn als Drohung auf?“

„Darüber müssen wir nicht diskutieren, oder? Bailey hat schon auf meine Tochter geschossen.“

„Ja, aber du kennst das Spiel. Er will ihr Angst machen. Allerdings hat er jetzt einen Gegenspieler, das braucht er.“

„Erzähl mir nicht, ich soll mir keine Sorgen machen.“

„Tue ich nicht, aber lass dich darauf hinweisen, dass er von einem klaren Ziel spricht, und das heißt Mary Jane Cox und nicht Libby Whitman.“

Sadie erwiderte nichts, aber der Blick, mit dem sie Nick anstarrte, verriet Zweifel und Widerspruch.

„Ich verstehe dich, Sadie. Ich weiß, warum du das so siehst und so gesehen hast du jeden Grund dazu. Aber lass uns unsere Arbeit machen – wir werden ihn finden. Du weißt, dass wir das können.“

„Seit wann ist er auf freiem Fuß? Seit fast einem Monat?“, entgegnete sie.

„Wir sind dran. Er ist untergetaucht und das macht er gut, aber wir werden ihn kriegen. Wir wissen ja jetzt, wann er in Williamsport gewesen sein muss und so finden wir vielleicht heraus, welches Auto er fährt.“

Sadie erwiderte nichts. Libby konnte ihr ansehen, dass sie verdammt unzufrieden war. Sie konnte nicht anders, das wusste Libby.

„Danke, dass ihr uns den Brief gebracht habt. Sadie, du weißt, er wird irgendwann einen Fehler machen. Den machen sie alle. Und dann haben wir ihn.“

Aber Sadie schien nicht überzeugt. Weil sie so unzufrieden aussah, bot Nick schließlich an, die beiden auf den aktuellsten Stand der Ermittlungen zu bringen, und führte sie in sein Büro.

„Jeder Cop in Pennsylvania kennt sein Foto und ich würde behaupten, auch jeder in der Metropolregion Washington“, begann Nick, woraufhin Libby sofort einhakte.

„Das hat Owen mir so bestätigt. Es hat hier ziemliche Wellen geschlagen, dass Bailey auf eine FBI-Agentin geschossen hat.“

„Sicher, in diesen Momenten sind wir ja eine große Familie. Im Augenblick bleibt er noch unter dem Radar – es gibt Berichte über Sichtungen überall in Pennsylvania, aber darin finden wir noch keine Regelmäßigkeit und nichts davon konnte bislang bestätigt werden. Wenn es mal Videoaufnahmen gibt, auf denen er zu sehen ist, trägt er Baseballkappe und Sonnenbrille. Wir konnten ihn noch nicht zweifelsfrei identifizieren.“

„Ist er mit einem gestohlenen Auto unterwegs?“, fragte Sadie.

„Das vermuten wir. Leider konnten wir es noch nicht zuordnen, er hat zwischendurch gewechselt. Ich habe keine Ahnung, wo und wie er sich Dinge des täglichen Bedarfs besorgt – wenn er clever ist, bestellt er sie im Internet und lässt sie irgendwo an einen AmazonLocker liefern. Das kriegen wir natürlich nicht raus. Wir überwachen auch die Ausgabe von Insulin, aber wir nehmen an, dass er sich das gar nicht auf regulärem Weg holt.“

„Warum sollte er auch“, stimmte Libby zu.

„Wir können jetzt noch mal versuchen, herauszufinden, ob er in Williamsport gesichtet wurde. Ich vermute, er hat irgendein Versteck in der Wildnis mitten in Pennsylvania und ist bereit, weite Strecken zu fahren, um zu verschleiern, wo es liegt.“

„Ihr müsst ihn finden“, sagte Sadie.

„Ich weiß, wir sind dran.“

„Inzwischen habt ihr doch sicher Vanessas Autopsieergebnisse, oder? Gab es da noch neue Erkenntnisse?“, fragte Libby.

„Er hat sie über die ganze Zeit hinweg gefoltert, das bewies das Alter ihrer Verletzungen. Ihr Magen war leer, er wird ihr nicht viel zu essen gegeben haben und vor ihrem Tod gar nichts mehr. Die Nähte an ihren Lippen hat er zwei oder drei Tage vor ihrem Tod gesetzt und ihr auch fast nichts mehr zu trinken gegeben, denn sie war dehydriert. Er hat sie erwürgt … Tatsächlich gab es kaum Erkenntnisse, die uns überrascht oder weitergeholfen hätten.“

Sadie stieß einen resignierten Seufzer aus. „Fast ein bisschen wie bei Brian Leigh damals. Der hat uns auch monatelang genarrt.“

„Wir kriegen ihn noch. Habt Geduld.“

„Vielleicht nimmt er ja auch mit Mary Jane Kontakt auf“, überlegte Libby. „Das könnten wir uns zunutze machen.“

„Möglicherweise. Wie auch immer – die Zeit spielt für uns und nicht für ihn. Das ist immer so.“

Libby bemühte sich, es ähnlich optimistisch zu sehen wie Nick. Vermutlich hatte er Recht.

Wenig später machte sie sich mit Sadie wieder auf den Rückweg. Mit geschlossenen Augen lehnte sie am Beifahrersitz und war wenig erfreut darüber, wie anstrengend alles noch für sie war.

„Ich kann nicht anders“, sagte Sadie. „In solchen Momenten habe ich Angst.“

„Das verstehe ich. Du hast das schon erlebt.“

„Genau das hätte nie passieren dürfen.“

Libby legte ihre Hand auf Sadies. „Das wird schon.“

Sadie erwiderte nichts. Libby wusste, warum ihre Mutter sich fortan so schweigsam gab. Sie hätte nichts Positives zu sagen gehabt, sie machte sich einfach nur große Sorgen.

Die gedrückte Stimmung entging auch Owen nicht, als er eine Stunde später ebenfalls nach Hause kam. Er betrat die Wohnung und lächelte, als er Libby sah. Gelöst schloss er sie in die Arme, gab ihr einen Kuss und blickte dann zu Sadie, die auf dem Sofa saß und trübsinnig schwieg.

„Alles in Ordnung?“, fragte er.

„Bailey hat mir geschrieben“, sagte Libby. „Ich habe vorhin die Post reingeholt und da war ein Brief von ihm.“

„Er hat dir geschrieben? Hierher?“

Sie nickte. „Wir waren vorhin in Quantico und haben meinen Kollegen den Brief gegeben.“

„Und was schreibt er?“

„Dass er unbedingt wissen wollte, ob ich noch lebe. Er verlangt Mary Janes Freilassung und will ansonsten eine andere Frau entführen.“

„Und er hat dir gedroht“, sagte Sadie.

„Indirekt, ja.“

„Was soll das denn heißen?“, fragte Owen stirnrunzelnd.

„Er schrieb, dass er überall ist und ich das nicht vergessen soll.“

Nun war es auch mit Owens Ruhe zu Ende. „Der kommt nicht wieder, oder?“

„Nick sagte, dass er das für unwahrscheinlich hält.“

„Im Moment“, warf Sadie ein.

„Okay … dann können wir entweder nur umziehen oder wir installieren uns eine Alarmanlage. Wir bringen Sicherungen an den Fenstern an. Und wir sind nie ohne Dienstwaffe unterwegs“, sagte Owen. Libby hätte ihm gar nicht sagen können, wie dankbar sie ihm in diesem Moment für seine besonnene Reaktion war.

„Ich stimme Nick darin zu, dass Bailey mich als seinen Gegenspieler sucht. Ich habe Randall Howard erschossen. Das beschäftigt ihn.“

„Hoffentlich nicht zu sehr“, grollte Owen. „Aber gut, dass ich das weiß, auch wenn es ehrlich gesagt nicht viel ändert. Ich hätte dich so oder so nicht aus den Augen gelassen. Bis Montag haben wir hier irgendwelche Sicherungsvorkehrungen getroffen, damit du allein zu Hause sein kannst, ohne dass ich Schweißausbrüche kriege.“

Libby lächelte dankbar. Als Owen ins Schlafzimmer ging, um sich umzuziehen, folgte sie ihm nach einem kurzen Moment und schloss die Tür hinter sich.

„Ich verstehe, dass Sadie da dünnhäutig ist, aber ich versuche, mich davon nicht verrückt machen zu lassen“, sagte sie.

„Das solltest du auch nicht. Wachsam sein sollten wir trotzdem. Ich nehme diesen Scheißkerl verdammt erst und die bloße Möglichkeit, dass er zurückkehren könnte, behagt mir gar nicht. Aber wir können ja vorsorgen.“

„Das ist eine gute Idee“, sagte Libby.

 

Freitag, 4. Juni

Gespannt wartete Libby an der Tür auf Julie, die einen großen Trekkingrucksack auf einer Schulter trug und mit einem Lächeln die Treppe hochkam.

„Da bin ich. Alles Gute zum Geburtstag nachträglich!“ Julie wollte ihre Freundin schon umarmen, doch dann hielt sie inne und starrte auf die Wunde an Libbys Hals.

„Du meine Güte ...“

„Hey.“ Libby versuchte, es zu überspielen und umarmte Julie nun ihrerseits. „Komm doch rein.“

„Okay, ich ... wow. Ich hätte einfach nicht damit gerechnet, dass es so aussieht.“

„Schön ist es nicht, aber die Ärzte hatten keine Zeit, auf Schönheit zu achten“, erwiderte Libby. „Die mussten sich beeilen und dafür sorgen, dass ich nicht verblute.“

„Ich kann es immer noch nicht fassen.“ Julie hatte Tränen in den Augen, während sie Libby ungläubig ansah, und kämpfte darum, nicht zu weinen.

„Hey, ich lebe ja noch“, versuchte Libby, sie aufzumuntern, doch das kommentierte Julie nur mit einem ungläubigen Schnaufen. Gemeinsam setzten sie sich aufs Sofa und Julie nestelte an ihrem Rucksack herum, während sie sprach.

„Ja, aber auch nur, weil du unfassbares Glück hattest. Und Owen.“

Libby blickte lächelnd zu ihrem Verlobten. „Ja, das ist wahr. Eigentlich ist er mein unfassbares Glück.“

„Und dass Bailey nicht besonders gut schießen kann“, sagte Owen.

„Ja, das stimmt wohl.“ Libby setzte sich wieder. Inzwischen war ihr Kreislauf schon deutlich belastbarer als noch vor ein paar Tagen – und sie war endlich die Fäden los. Sie trug kein Pflaster mehr über der Operationsnarbe, die sich wie ein leuchtend roter Strich über ihren Hals schlängelte. Julie betrachtete die Narbe mit einer Mischung aus Bestürzung und Erstaunen.

„Mir wird schlecht, wenn ich mir vorstelle, dass du tot sein könntest. Mir ist auch schlecht geworden, als du angerufen und erzählt hast, was passiert ist. Ich kann immer noch nicht fassen, dass es keine Spur von diesem Mistkerl gibt“, sagte sie.

„Er ist verdammt anpassungsfähig. Er weiß genau, wenn wir ihn kriegen, sieht er nie wieder Tageslicht. Ich habe keine Ahnung, wo er abgetaucht ist, aber das mit Pennsylvania ist ja kein Zufall. Der ganze Bundesstaat besteht sozusagen nur aus Wald, wo niemand lebt. Er könnte überall sein“, sagte Libby.

„Und jetzt? Habt ihr keine Angst, dass er wiederkommt?“

„Nein“, sagte Owen bedeutend gelassener, als er eigentlich war; das wusste Libby. „Aus diesem Grunde haben wir uns vor ein paar Tagen eine Alarmanlage installieren lassen und wir haben auch die Fenster zusätzlich gesichert.“

Überrascht und gleichzeitig anerkennend nickte Julie. „Du machst ja keine halben Sachen.“

„Ich bin Cop, wie du weißt. Ich weiß, was da nötig und sicher ist.“

„Bislang ist es zum Glück ruhig. Zugegeben, ich gehe nicht mehr ohne Waffe vor die Tür … nicht mal zu meinem Hausarzt. Der hat vielleicht dumm geguckt – aber ich bin Bundesagentin, ich darf das wenigstens.“

„Ist denn alles so weit okay?“, erkundigte Julie sich.

„Der Schilddrüse geht es wohl gut – die ist ja auch nicht ganz weg, anscheinend macht der verbliebene Rest seine Arbeit und was sie nicht schafft, übernehmen die Tabletten. Schon seltsam, dass ich jetzt bis an mein Lebensende jeden Tag eine nehmen muss … Man kommt sich so krank vor.“

„Solange es nur das ist“, fand Owen.

„Der Rest verheilt auch gut. Übernächsten Montag bin ich beim Amtsarzt des FBI, der beurteilen soll, ob ich dann wieder diensttauglich bin.“

„Du gehst ja ran. Aber ich kenne dich nicht anders“, sagte Julie. „So, und weil du meine beste Freundin bist, habe ich dir natürlich auch ein Geburtstagsgeschenk mitgebracht.“

Aus ihrem Rucksack zauberte Julie ein kleines Päckchen, das Libby sofort auspackte, nachdem Julie es ihr überreicht hatte. Es enthielt ein Buch, einen Film auf Blu-ray und Schokolade.

„Danke“, sagte Libby und umarmte Julie. „Das ist echt lieb von dir.“

„Ist doch klar.“

„Und du? Freust du dich auf morgen?“

„Oh, und wie. Das wird bestimmt super. Ich finde es immer noch schade, dass Kyle nicht mitkommen konnte, aber sein aktueller Fall ist wirklich wichtig.“

„Ist manchmal so“, sagte Owen. „Ich arbeite auch immer wieder am Wochenende. Gehört dazu.“

„Für Laura kann es nur von Vorteil sein, dass ich bald einen etwas anderen Blickwinkel auf unsere Therapiegespräche mitbringe. Es war ja immer okay für sie, dass ich keine Therapeutin bin, und unsere Gespräche helfen ihr, aber was ich da mache, soll Hand und Fuß haben. Das ist mir wichtig.“

Das konnte Libby gut verstehen. Fortan würde Julie jedes Wochenende bei Owen und Libby sein, weil sie einen traumapsychologischen Wochenend-Intensivkurs in Washington besuchte. Sie behandelte Laura McDermond, eins der Opfer von Vincent Howard Bailey und seinem Cousin Randall Howard. Allerdings hatte Julie in ihrer Ausbildung immer täterzentriert gearbeitet, was ihr gerade nicht behagte. Laura wusste das zwar und hatte kein Problem damit, aber Julie wollte ihr die größtmögliche Hilfe sein und deshalb wollte sie sich fortbilden.

„Wie geht es Laura denn?“, fragte Libby. „Und den anderen – hast du etwas gehört?“

„Ja … sie orientieren sich noch. Alle leben aktuell bei ihren Eltern, Carolyn Hamley pausiert ihr Studium für ein Semester. Laura überlegt, was sie jetzt machen will, aber sie ist noch nicht gefestigt genug.“

„Überleg auch mal, wie lang sie gefangen war.“

„Als längste von allen – mit Ausnahme von Mary Jane.“

„Hast du von ihr etwas gehört?“, fragte Libby.

Julie schüttelte den Kopf. „Gar nichts. Du?“

„Nein, ich auch nicht. Ich kann immer noch nicht begreifen, dass Vincent tatsächlich von ihr gesprochen hat, bevor er auf mich geschossen hat. Er wollte wissen, wo sie ist. Er will sie bei sich haben.“

Julie machte große Augen. „Nicht dein Ernst.“

„Als Sklavin, sicher, aber er war unter anderem bei mir, weil er wissen wollte, wo sie ist.“

„Das ist bestimmt sein Besitzdenken, weil sie sein Kind bekommt.“

„Vermute ich auch. Ich bin froh, dass sie das nicht weiß.“

„Sie würde durchdrehen. Ich kann ja sowieso nicht verstehen, wie man als Frau so einen gestörten Mistkerl attraktiv finden kann. Das hab ich damals schon nicht begriffen, als meine Mum diesen Fall mit Amy Harrow und Jonathan Harold hatte.“

„Das ist ja auch verrückt. Frauen, die sich in Vergewaltiger verlieben.“ Libby schüttelte fassungslos den Kopf und hielt inne, als sie Owens amüsierten Blick auf sich spürte.

„Was? Wie kannst du denn bitte grinsen, wenn wir uns über solche Dinge unterhalten?“, fragte sie irritiert.

Owen lachte. „Ich grinse, weil ihr euch über solche Dinge unterhaltet. Hier sitzen meine zukünftige Frau und ihre beste Freundin, es ist Freitag Abend, hier könnte Rotwein stehen und ein bisschen Fingerfood und ihr könntet euch über Männer und Klamotten unterhalten – aber nein, ihr fachsimpelt über sadistische Serienmörder, als wäre es das Normalste der Welt.“

„Für uns ist es das“, sagte Julie. „Außerdem, was regst du dich über uns auf? Du bist auch Cop!“

„Ja, aber ich muss nicht in meiner Freizeit über Serienmörder schwadronieren.“

„Lass uns! Weil es Leute wie uns gibt, wirst du nicht nachts im Schlaf gemeuchelt“, verkündete Julie selbstbewusst.

„Ich weiß. Ich wollte euch nur ärgern.“

Libby knuffte ihn in die Seite. „Ja, das haben wir gemerkt, Detective Young. Sieh dich bloß vor. Wir heiraten bald.“

„Das ist auch gut so.“ Owen küsste Libby impulsiv und lachte. In diesem Moment fühlte Libby sich sorglos und entspannt.

Als Julie sich nach den Hochzeitsvorbereitungen erkundigte, konnte Libby nicht viel berichten. Sie hatten alles an einen Hochzeitsplaner abgegeben, wofür sie gerade sehr dankbar war. Sie wollte auch ein Gast auf ihrer eigenen Feier sein – und sie wollte sich erholen und wieder zu Kräften kommen.

Um kurz nach elf stahl Owen sich davon. Er war müde, hatte schon eine halbe Stunde zuvor immer wieder gegähnt und gab schließlich auf. Libby konnte es verstehen, er hatte in dieser Woche viel gearbeitet – zu seinem Missfallen, aber er konnte sich die Mordfälle nicht aussuchen. Dafür hatte er den Täter aber auch am Vortag zusammen mit Benny verhaftet.

Nach dem Zähneputzen kam er noch einmal zu Julie und Libby und küsste seine Verlobte. „Macht euch meinetwegen keinen Stress, aber ich bin raus für heute. Gute Nacht, ihr beiden.“

„Ich liebe dich“, sagte Libby. Er erwiderte die Worte und verschwand im Schlafzimmer. Mit einem Lächeln blickte sie ihm hinterher.

„Warst du nicht eigentlich diese Woche in Bridgeport?“, fragte Libby.

Julie nickte. „Ja, bei Kevin Hall. Gruseliger Typ. Auf seine Art ist er ja noch schlimmer als der Allentown Ripper.“

„Kaum vorstellbar“, murmelte Libby.

„Na ja, Bridgeport Rapist greift bei ihm als Name auch zu kurz. Er hat ja später seine Opfer auch getötet.“

Libby nickte. Sie erkundigte sich immer wieder bei Julie danach, wie die Forschung für ihre Doktorarbeit vorankam. Nick Dormer hatte Julie ermöglicht, Sexualstraftäter im Gefängnis zu befragen, ganz wie die Urväter des Profilings. Der Bridgeport Rapist Kevin Hall war nun schon der vierte Täter, den Julie besucht hatte. Er verbüßte in seiner Heimatstadt eine lebenslange Haftstrafe, weil er innerhalb von drei Jahren zahlreiche Frauen vergewaltigt und später auch zwei getötet hatte.

„Hall hat mich tatsächlich ein bisschen an Jonathan Harold erinnert, mit dem meine Mum damals zu tun hatte“, berichtete Julie. „Er ist ja in unserem Alter und er hat keinen Hehl daraus gemacht, dass mein Besuch ein gefundenes Fressen für ihn ist.“

Angewidert verzog Libby das Gesicht. „Was hat er gesagt?“

„Ich kann es dir vorspielen.“

Das ließ Libby sich nicht zweimal sagen. Julie hatte eine Tonaufnahme auf ihrem Handy, auf der sie erst eine bestimmte Stelle suchte, bevor sie die Aufnahme einfach laufen ließ.

„Sie hätten sich jederzeit eine Partnerin suchen können, die sich Ihnen freiwillig unterwirft“, sagte Julie auf der Aufnahme.

„Nicht wirklich.“ Hall antwortete mit einem überheblichen Unterton. „Aber darauf müssten Sie doch von selbst kommen, oder? Das, was ich mit Frauen machen will, lässt keine Frau freiwillig mit sich machen. Dafür ist das zu krass.“

„Es gibt Frauen, die Fesselspiele mögen und die Schmerzen erregend finden.“

„Ja, aber genau da liegt das Problem. Das will ich nicht. Ich will nicht, dass es der Frau gefällt. Wenn ich mir eine Frau geholt habe, wollte ich das echte, unverfälschte Programm. Ich will echte Tränen, echte Schmerzen – ich will sehen, dass sie leidet. Es soll ihr ja gar nicht gefallen.“

„Haben Sie denn früher jemals versucht, sich Befriedigung zu verschaffen, ohne jemanden zu verletzen und das Gesetz zu brechen?“

„Ja, klar. Ich hatte Freundinnen, mit denen ich Fesselspiele probiert habe. Ich war auch bei Nutten. Das bringt es nur alles nicht. Das, was ich will, ist leider strafbar vor dem Gesetz.“

„Und was ist das?“, fragte Julie.

„Ich will Frauen verletzen. Ich will, dass sie mir gehören. Dass ich mit ihnen tun und lassen kann, was ich will.“

„Ihnen ist also egal, dass das Menschen sind, die die gleichen Rechte genießen wie Sie?“

„Das zählt für mich in dem Moment nicht.“

„Tut es das jemals?“

Hall antwortete nicht sofort. „Nein, nicht wirklich. Ich bin da irgendwie so reingerutscht. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, dass mir je etwas anderes gefallen würde als eine Frau, die mich um ihr Leben anbettelt.“

„Also käme es gar nicht für Sie in Frage, sich behandeln zu lassen?“

„Die Option ist doch sowieso vom Tisch. Mich lässt doch keiner mehr raus.“

„Sicher, aber … angenommen, es hätte ein Therapieangebot gegeben, bevor Sie straffällig geworden sind. Hätten Sie das angenommen?“

„Ein Therapieangebot? Was für eins?“

„Ein anonymes Angebot, bei dem Sie lernen, auch andere sexuelle Praktiken anregend zu finden. Etwas ohne Gewalt. Etwas, was Ihre Partnerin nicht verletzt.“

„Was sollte das bringen?“

„Sie müssten jetzt nicht im Knast sitzen. Sie hätten das alles vielleicht nie getan. Sie hätten nie Verbrechen begangen und anderen Menschen keinen Schaden zugefügt. Sie hätten lernen können, was das, was Sie getan haben, für Ihre Opfer bedeutet.“

„Das ist mir scheißegal.“

„Ich weiß, aber das hätte es nicht sein müssen.“

„Schätzchen …“ Jetzt wurde Hall herablassend. „Sie passen voll in mein Schema. Das ist Ihnen so klar wie mir, das weiß ich. Worauf wollen Sie hinaus? Ist das ein Test?“

„Ich habe Ihnen gesagt, woran ich forsche. Ich will ein Programm erarbeiten, das Taten wie denen, die Sie begangen haben, vorbeugt.“

„Aber davon hätte ich nichts.“

„Doch, wie gesagt … Sie hätten sich gesetzeskonform verhalten können und müssten jetzt nicht im Gefängnis sitzen.“

„Ach, mit einer wie dir ist das doch gar nicht so übel …“ Jetzt lachte er.

„Werden Sie jetzt nicht respektlos.“

Er pfiff anerkennend durch die Zähne. „Sie sind ja richtig heißblütig.“

„Wir reden hier nicht über mich, Mr. Hall.“

„Oh, das sollten wir aber.“

Julie stoppte die Aufnahme und ihr Blick traf Libbys. „Zu dem Zeitpunkt fing es dann an, unkonstruktiv zu werden. Das Problem habe ich leider immer wieder mit diesen Typen. Ich überlege wirklich, ob es so eine gute Idee war, dass ich als Frau mich ihnen gegenübersetze. Als Frau, die in ihr Beuteschema passt.“

„Und es gab noch keinen, mit dem du da weitergekommen wärst?“

Julie seufzte tief. „Mal mehr, mal weniger … ich gelange allmählich zu der Erkenntnis, dass Sadisten das Leid ihrer Opfer derart billigend in Kauf nehmen, dass sie auch die Konsequenzen in Kauf nehmen, die ihnen dafür drohen. Die sind gar nicht daran interessiert, sich vor Eintritt der Straffälligkeit therapieren zu lassen – anders als die Pädophilen, die dieses Therapieangebot in Deutschland nutzen. Ich fürchte, echte Psychopathen erreiche ich mit meiner Idee nicht. Bis jetzt hatte ich keinen dazwischen, der Interesse gezeigt hätte.“

„Das hatte ich befürchtet“, gab Libby zu.

„Ich hatte gehofft, dass es nicht so ist. Dass ich mal einen Täter dazwischen habe, der vielleicht doch mal Skrupel hatte und den das erreicht hätte. Selbst Jeffrey Dahmer hatte mal Skrupel. Aber bis jetzt hatte ich da Pech.“

„Vielleicht solltest du mit anderen Tätern sprechen. Vielleicht nicht mit Serienmördern, sondern nur mit Vergewaltigern.“

„Ja, das habe ich auch überlegt. Davon kommen noch einige. Die scheinen ja immerhin dahingehend Skrupel zu haben, ihre Opfer zu töten. Aber ich glaube, wer sich entschließt, eine Frau zu vergewaltigen und zu töten, den hält man nicht irgendwie davon ab.“

Libby nickte ernst. Zu dieser Schlussfolgerung war sie auch schon gekommen. „Also zielt deine Arbeit jetzt eher in Richtung Vergewaltigungsprävention?“

„Möglicherweise … Ich muss die Fragestellung noch dahingehend anpassen, ob manche erst durch die Vergewaltigungen wirklich Blut lecken und zum Mörder werden oder ob der Werdegang von Anfang an vorherbestimmt ist. Aber ich glaube, Typen wie Rick Foster oder Vincent Howard Bailey hält man nicht einfach auf.“

„Ernüchternd“, fand Libby.

„Ja, das habe ich mir auch schon gedacht. Oh, und wo ich gerade von Bailey spreche – ich könnte noch mal mit Mary Jane reden, falls das irgendwas bringt. Vielleicht sagt sie mir etwas, was dabei helfen könnte, Vincent zu finden.“

„Niemals. Nein, ich fürchte, da wird uns nur die Zeit helfen.“

„Ich finde es wirklich toll von euch, dass ihr mich jetzt trotzdem hier schlafen lasst.“

Stirnrunzelnd sah Libby sie an. „Natürlich. Du bist meine beste Freundin! Ich bin froh, dich hier zu haben.“

„Dabei tauche ich morgen erst mal ab.“

„Das macht ja nichts. Ich bin gespannt, was du darüber berichtest. Ich habe ja überlegt, das Seminar auch zu besuchen, aber vor unserer Hochzeit war mir das echt zu viel.“

„Das kann ich verstehen. Ich finde es übrigens gut, dass du die Hochzeit nicht verschieben willst. Diese Bedeutung würde ich Vincent auch überhaupt nicht beimessen.“

Libby grinste. „Das könnte ihm so passen.“

Julie sah ihre Freundin prüfend an. „Hast du Angst vor ihm?“

„Du meinst, weil er wiederkommen könnte?“, fragte Libby.

„Ja … zum Beispiel. Ich meine, er wollte dich töten und er weiß, dass er es nicht geschafft hat. Er könnte es nochmal versuchen. Oder er könnte es anderweitig auf dich abgesehen haben.“

„Deshalb haben wir jetzt die Alarmanlage.“

„Ich weiß … aber im Ernst.“

Libby zuckte mit den Schultern. „Ich denke nicht darüber nach. Ich bin fast gestorben. Wenn ich mir das bewusst mache, reißt mich das runter. Das will ich nicht. Ich bin jetzt vorsichtig, ja, aber ich heirate bald und das will ich mir von ihm nicht versauen lassen. Was weiß ich denn, was er vorhat? Ich glaube aber nicht, dass er es auf mich abgesehen hat. Dafür spielt er jetzt viel zu gern dieses Spiel mit dem Briefeschreiben. Ich wette, das geht noch so weiter.“

„Kann sein, wer weiß. Wie geht Owen denn damit um?“

Instinktiv spähte Libby in Richtung der geschlossenen Schlafzimmertür. „Es macht ihn fertig, dass er den Schuss nicht verhindern konnte. Anfangs, als ich gerade wieder hier war und manchmal nachts noch wegen Schmerzen oder irgendwas wach geworden bin, war er auch gelegentlich wach. Er hat Alpträume davon, dass ich hätte sterben können. Mehr als ich.“

„Das kann man ja verstehen …“

„Ja, sicher, aber ich kann mich doch davon jetzt nicht verrückt machen lassen, oder? Das könnte Vincent so passen.“

„Nein, da hast du Recht.“

„Owen war mir so eine große Hilfe. Zusammen kriegen wir das alles hin.“

„Ich finde es toll, dass du ihn gefunden hast. Ich habe mich ja damals schon gefreut, als du Kieran hattest, aber Owen ist der Richtige.“

Libby lächelte. „Ja, da hast du vollkommen Recht. Bei ihm bin ich mir auch sicher.“

„Hast du denn noch mal irgendwas von Kieran gehört?“

„Ja, sogar erst vor ein paar Tagen. Ich hab ja überlegt, meinen Facebook-Account inaktiv zu schalten – ich hab keine Ahnung, ob Vincent mich darüber gefunden haben könnte, aber ich will sicher sein.“

„Ja, ich habe gesehen, dass du dazu etwas geschrieben hast.“

„Owen hat es auch schon gemacht. Daraufhin hat Kieran mich angeschrieben und mich gefragt, was der Grund ist und wie es mir überhaupt geht. Ich wusste zwar, was dann kommt, aber ich habe ihm gesagt, dass auf mich geschossen wurde – und er hat auch genau so reagiert, wie ich erwartet habe. Das hat ihn aufgeregt, obwohl wir gar nicht mehr zusammen sind.“

Julie grinste. „Ja, das kann ich mir vorstellen.“

„Ich meine, du kennst ihn. Vielleicht nicht besonders gut, aber …“

„Ich habe ihn ein paar Mal gesehen. Aus deinen Erzählungen weiß ich mehr über ihn als von ihm selbst.“

Libby lächelte ebenfalls. „Jedenfalls haben wir uns ein bisschen hin- und hergeschrieben – er hatte Mittagspause und ich Langeweile. Es hat ihn, wie gesagt, ziemlich entsetzt, was passiert ist und er war ehrlich froh, das nicht mehr so an sich ranlassen zu müssen. Kann ich auch verstehen. Er hat auch gefragt, wie Owen damit umgeht …“

„Stimmt, du hattest ihm ja gesagt, dass ihr jetzt zusammen seid, oder?“

Libby nickte. Sie hatte Kieran im vorigen Frühjahr extra angeschrieben und sich erkundigt, wie es ihm ging, bevor sie ihm gesagt hatte, dass Owen jetzt ihr Freund war. Wenig überraschend hatte Kieran bloß geantwortet und sie wusste bis heute nicht, ob er eingeschnappt war, aber es war ihr auch egal.

„Er weiß das schon lange und ich glaube, er hat das alles ziemlich für sich abgehakt. Jedenfalls hat er mir jetzt geschrieben, dass er auch in einer neuen Beziehung ist. Sie heißt Julia.“

„Also fast wie ich.“

„Ja, könnte man sagen. Sie ist Lehrerin und kommt aus Seattle.“

„Und er ist zufrieden da oben? Auch beruflich?“

„So hat er gesagt, ja. Er liebt seinen Job und er freut sich jeden Morgen, zur Arbeit zu gehen. Er hat keine Sekunde bereut, nach Seattle gezogen zu sein.“

„Hast du ihm gesagt, dass du heiraten wirst?“

Libby nickte. „Ja, und er hat mir alles Gute gewünscht. Ich meine, ich habe überlegt, ob ich ihn einladen soll, aber ich glaube, er will gar nicht. Wir sind uns ziemlich fremd geworden.“

„Ist bestimmt komisch, oder?“

„Ein bisschen – aber mit Owen habe ich alles, was ich brauche.“

Julie lächelte verträumt. „Das ist toll. So geht es mir mit Kyle auch. Ich finde es ja toll, dass du jetzt doch heiratest.“

„Warum auch nicht? Anders als in der FLDS bedeutet das ja keine Sklaverei für mich …“

Julie machte ein ersticktes Geräusch und holte tief Luft, bevor sie sagte: „Aber ich glaube, du bist nur deshalb die, die du bist. Stark, unbeirrbar, eigensinnig, gerecht. Und verdammt mutig.“

„Danke“, sagte Libby gerührt. „Und ich habe die klügste beste Freundin, die man sich wünschen kann.“

„Streberin wohl eher.“

„Na und? Du kannst so stolz auf dich sein, Julie Thornton.“

Die beiden grinsten einander an.

 

Mittwoch, 9. Juni

Ein Hoodie wäre zu auffällig gewesen – zumindest bei knapp 30 Grad. Deshalb hatte Vince sich wieder einmal für Baseballkappe und Sonnenbrille entschieden. Das fiel nicht weiter auf.

Mittlerweile kannte er sich einigermaßen in Williamsport aus. Sein Besuch im Baumarkt lag schon eine Weile zurück, inzwischen traute er sich wieder, sich dort zu zeigen. Dennoch schaute er sich misstrauisch um, bevor er den Brief in den Kasten warf.

Es waren jedes Mal knapp zwei Stunden Fahrt über einsame, öde Straßen dorthin, aber er wusste, er durfte nichts riskieren. Nach seinem Schuss auf die FBI-Agentin waren sicherlich sämtliche Feds hinter ihm her, da musste er unbedingt unter dem Radar bleiben. Deshalb weite Fahrten, so selten wie möglich und immer mit Umwegen. Bis jetzt hatte es geklappt, vermutlich wussten sie nicht mal, welches Auto er gerade fuhr.

Der neue Brief würde sie bestimmt beschäftigen, wenn auch anders als der letzte. Grinsend stellte Vincent sich vor, wie der inzwischen längst beim FBI lag und alle schön auf Trab hielt – alle bis auf Libby Whitman.

Es war ja nicht geplant gewesen, dass ihr Polizistenfreund plötzlich aufkreuzte, das hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Allerdings hatte das erst mal nichts an seinem Vorhaben geändert, sie zu töten. Sie war es, die Randall erschossen hatte. Zwar war er irgendwo selbst schuld daran, aber Vince nahm es ihr trotzdem übel. Wieso konnte sie so gut schießen?

Er hatte sich ihr Gesicht genau gemerkt. Es hatte sich ihm eingebrannt, auch wenn er sie nur ganz kurz gesehen hatte. Sie war noch jung, deutlich jünger als er. Weil er wissen wollte, wer sie war, hatte er geduldig und ausdauernd gesucht. Bei der ersten Pressekonferenz hatte er sie gesehen, sie schien Profilerin zu sein.

Und auf diesem Weg hatte er sie gefunden, ihr Name war ja schon oft genug in den Medien aufgetaucht. In seinem Bunker hatte er ja ausreichend Zeit, solche Dinge herauszufinden.

Ein Anruf am nächsten Tag im Krankenhaus hatte ihm verraten, dass sie noch lebte. Erst hatte ihn das genervt, aber inzwischen sah er eine Chance darin. Er musste das FBI jetzt nur glauben lassen, dass er noch hinter ihr her war, dann würden sie sich darauf konzentrieren und er konnte hier in Ruhe auf die Jagd gehen.

Eigentlich war er ja schon längst dabei.

Williamsport war eine hübsche Stadt. Umgeben von grünen Hügeln schmiegte sie sich an den Susquehanna River. Bunte, im viktorianischen Stil erbaute Häuser säumten die Straßenzüge – und in der Stadt fanden sich mehrere Hochschulen, unter anderem das Pennsylvania College of Technology. Das war das beste Jagdrevier, das er sich wünschen konnte.

Allerdings hatte er sich dafür entschieden, sich am Lycoming College auf die Lauer zu legen – der Campus war deutlich kleiner und verwinkelter und außerdem gab es dort mehr Studentinnen. Das war am wichtigsten.

Das Semester war zu Ende, aber trotzdem waren Studenten am Campus unterwegs. In der Bibliothek herrschte auch an einem Freitagabend in den Semesterferien Betrieb. Vince hatte sich völlig unverfroren unweit des Haupteingangs auf eine Bank gesetzt und schaute sich um. Irgendwann würde schon das Mädchen kommen, auf das er gewartet hatte.

Er nahm die Studentinnen alle genau in Augenschein. Einen bevorzugten Typ hatte er nicht – Hauptsache, sie war hübsch. Sexy. Er mochte es, wenn eine Frau nicht zu groß war. Und er mochte es nicht, wenn sie zu viel Speck auf den Rippen hatte. Das war nicht sein Fall. Vor allem aber brauchte er eine, die allein war.

Vincent nahm sich Zeit. Oft waren die Studenten zu zweit oder in kleinen Gruppen unterwegs, aber gelegentlich war auch eine Studentin dazwischen, die allein war. Bei einer wurde er schon aufmerksam, sah jedoch rechtzeitig, dass sie zu jemandem ging – einem jungen Mann. Sie fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Wie gut, dass Vincent noch nicht aktiv geworden war.

Während die Dämmerung einsetzte, wartete er weiter. In der Bibliothek gingen die Lichter an, immer mehr Studenten verließen das Gebäude.

Dann war es schließlich so weit. Eine junge Frau mit schulterlangem braunem Haar verließ die Bibliothek und folgte dem Weg in seine Richtung. Sie hatte ein feinzügiges, ebenmäßiges Gesicht, sinnliche Lippen und sogar ein Grübchen. Ihr knallenges T-Shirt verriet ihm genug über ihre Figur, um interessiert zu sein.

Vincent stand auf und folgte ihr. Er hatte alles dabei, was er brauchte – einen Elektroschocker, ein Messer, Handschellen, Klebeband. Das hatte er alles in seinen Jackentaschen verborgen. Sein Auto stand direkt auf dem nächsten Parkplatz.

Dass es bereits dämmerte und die Wege auf dem Campus sich leerten, kam ihm entgegen. Trotzdem war es riskant. Mit hastigen Schritten folgte er der Studentin und schaute sich vorsichtig um. Vor der Bibliothek stand eine Gruppe von Studenten und redete, auf der anderen Seite der Wiese konnte er ebenfalls jemanden sehen – aber ganz ohne Risiko ging es eben nicht. Er musste es schnell und unauffällig machen.

Zum Glück bog sie ab, sogar in Richtung Parkplatz. Vince folgte ihr und als er sich umdrehte, waren keine unliebsamen Zeugen mehr zu sehen. Er holte sie ein, trat hinter sie und gerade, als sie sich fragend zu ihm umdrehte, griff er sie mit dem Elektroschocker an und drückte ihn in ihre Halsbeuge.

Sie sackte in sich zusammen, ohne einen Laut von sich zu geben. Perfekt. Vince fing sie auf, bevor sie zu Boden ging und beschloss, es erst mal gut sein zu lassen. Hier auf dem Campus war ihm zu viel Betrieb.

Er packte sie und warf sie über seine Schulter. Hastig machte er sich auf den Weg zum Parkplatz und stellte fest, dass dort gerade niemand zu sehen war. Perfekt.

Vince beeilte sich, zu seinem Auto zu kommen, das er bewusst etwas abseits von anderen Autos nahe einer Hecke geparkt hatte. Die junge Frau auf seiner Schulter stöhnte unwillig. Als plötzlich ihre Tasche auf den Boden fiel, ließ Vincent sie einfach liegen. Die würde sie nicht mehr brauchen.

Endlich hatte er das Auto erreicht und öffnete die Heckklappe. Nervös schaute er sich um, bevor er sie hineinlegte und auf die Seite drehte. Er zog ihre Arme auf den Rücken und legte ihr Handschellen an. Sie stöhnte und wimmerte und als er sie wieder auf den Rücken drehte, bemerkte er die Tränen in ihren Augen.

„Keine Angst, ich werde mich gut um dich kümmern“, sagte er und grinste breit, bevor er nach der Rolle mit Klebeband griff und ein Stück abriss, das er ihr über den Mund klebte.

Ja, sie war perfekt. Sehr hübsch. Sehr ängstlich.

Er umwickelte auch ihre Fußgelenke mit Klebeband, musterte sie zufrieden und schloss die Heckklappe. Bevor er einstieg, schaute er sich noch einmal um, aber es war niemand zu sehen.

Vince stieg ein, warf die Fahrertür zu und startete den Motor. Er parkte rückwärts aus und machte sich auf den Weg zum Freeway.

Er konnte das auch allein. Dazu brauchte er Randall nicht. Es war schon fast lächerlich, wie gut das gelaufen war.

Er drehte die Musik auf und pfiff vergnügt mit, während er nach Westen fuhr, zurück in die Wildnis. Im Kofferraum war es still. Braves Mädchen – so hatte er das gern. Die lange Fahrt barg zwar immer auch Risiken, aber er fand es günstig, denn wenn sie am Ziel waren, war die wehrlose Schönheit in seinem Kofferraum sicher schon am Ende mit den Nerven. Das machte alles, was folgen würde, deutlich einfacher.

In Snow Shoe verließ er die Interstate in Richtung Moshannon. Jetzt war er mitten im Wald. Alles wurde immer einsamer. Er liebte diesen Ort. Als er Karthaus erst einmal hinter sich gelassen hatte, war es vorbei mit der Zivilisation. Ringsum nur Bäume und noch mehr Bäume.

Schließlich verließ er auch die letzte Landstraße und bog auf einen Wirtschaftsweg ab. Er folgte ihm bis fast ans Ende und verließ ihn, um hinter einem dichten Gestrüpp zu parken. Nur seine Reifenspuren verrieten, dass er sich dort bewegte.

Er schaltete den Motor ab, stieg aus und schnappte sich erst einmal seine Einkäufe vom Rücksitz. Das Mädchen würde schon nicht weglaufen – wie auch?

Mit seinen Tüten ging er in der Finsternis, die inzwischen hereingebrochen war, zum Bunker, der vielleicht hundert Meter entfernt lag. In den Wochen, in denen er schon dort hauste, war es vielleicht zwei Mal vorgekommen, dass andere Menschen in die Nähe kamen – einmal hatte Vanessa es mitbekommen und Vincent hatte sie scharf bedroht, damit sie keinen Laut von sich gab. Nur zur Sicherheit.

Er öffnete das Vorhängeschloss und betrat den Bunker. Darin war es angenehm kühl. Vincent schaltete das Licht an und schaute sich um. Ja, es war alles vorbereitet.

Er stellte die Tüten ab und kehrte dann zum Auto zurück. Seine Vorfreude kannte keine Grenzen.

Gespannt öffnete er den Kofferraum und blickte in die schreckgeweiteten Augen der Studentin. Sie waren gerötet vom Weinen, ihre Wangen nass. Ein scharfer Geruch ließ ihn die Augen verdrehen – sie hatte sich vor lauter Angst in die Hose gemacht.

„Na wunderbar, jetzt stinkt es in meinem Auto wie auf einem Pissoir“, grollte er, bevor er sie packte und aus dem Kofferraum zog. Schluchzend und mit weichen Knien blieb sie neben ihm stehen. Sie unternahm gar nicht erst einen Fluchtversuch, aber Vincent hielt sie trotzdem fest, während er ihnen mit seiner Taschenlampe den Weg leuchtete. Den Kofferraum hatte er wieder geschlossen, um das Geruchsproblem würde er sich morgen kümmern.

Sie schluchzte leise, während sie neben ihm durchs Unterholz zum Bunker stolperte. Beim Näherkommen realisierte sie, wohin er sie brachte. Ihre Schritte wurden schwerer und langsamer, nun versuchte sie doch, sich loszureißen. Vincent blieb stehen und hielt ihr die Klinge seines Klappmessers vors Gesicht.

„Du kannst nirgends hin, wir sind mitten im Moshannon State Forest. Wenn du mir Ärger machst, wirst du es bereuen. Verstanden?“

Wimmernd schloss sie die Augen und nickte. Vincent gab ihr einen Stoß in Richtung Bunker und führte sie hinein. Als sie die Vorrichtungen sah, die er dort angebracht hatte, blieb sie wie angewurzelt stehen und ging zitternd und schluchzend in die Knie. Vincent verdrehte die Augen und schloss erst einmal die Tür, jedoch nicht, ohne sie aus den Augen zu lassen. Anschließend ging er wieder zu ihr und holte ein Seil. Während sie noch immer am Boden hockte, machte er sich an ihren Handschellen zu schaffen.

„Denk dran, du sollst mir keinen Ärger machen. Wenn du dich jetzt wehrst, wird mein Messer dich gleich an Stellen schneiden, wo es ganz besonders weh tut.“

Tatsächlich zeigte seine Drohung ihre gewünschte Wirkung. Er konnte ihr die Handschellen abnehmen, fesselte ihr die Hände vor dem Körper und hakte sie an der Kette ein, die von der Decke hing. Sie hielt den Kopf gesenkt, während er dafür sorgte, dass sie aufrecht vor ihm stand.

„Du stinkst“, sagte Vincent und zog ihr erst die Schuhe aus, bevor er ihr die Hose vom Leib riss und sie irgendwo in Richtung Eingang warf. Weinend ließ sie es geschehen. Die machte es ihm ja einfach. Aber er wusste, auch sie würde irgendwann ihren Heldenmoment haben und sich wehren. Er musste also vorsichtig sein.

Vincent überlegte kurz und beschloss, noch ein bisschen damit weiterzumachen, sie in Angst und Schrecken zu versetzen. Das war nie verkehrt. Mit dem Messer begann er, an ihrem T-Shirt herumzuschneiden, bis sie nur noch in Unterwäsche vor ihm stand. Er musterte sie zufrieden, bevor er auch ihren BH und ihren Slip zerschnitt. Dabei weinte sie heftig.

„Ja, ich würde sagen, du bist perfekt.“ Er nickte zufrieden und legte seinen Finger unter ihr Kinn, um sie dazu zu bringen, ihn anzusehen. Sie tat es nur widerstrebend.

„Wenn ich jetzt das Klebeband wegnehme, wirst du nicht schreien, ist das klar? Nicht, dass dich jemand hören würde, aber ich habe keine Lust auf diese Spielchen.“

Sie nickte sofort und sehr heftig, deshalb zog er ihr das Panzerband vom Mund und beobachtete sie weiter. Sie gab keinen Laut von sich und wich seinem Blick aus.

„Wie heißt du?“, fragte er.

Erst antwortete sie nicht, aber dann wisperte sie kaum hörbar: „Leanne.“

„Leanne … das ist aber ein hübscher Name. Passt zu dir.“

Sie erwiderte nichts, sondern schniefte bloß.

„Weißt du, wer ich bin, Leanne?“

Sie machte ein verzweifeltes Geräusch. „Ja …“

„Und?“

„Ich glaube, du bist Vincent Bailey …“

Er grinste und brachte sie erneut dazu, ihn anzusehen. „Hast du mich im Fernsehen gesehen?“

Leanne nickte. „Ja …“

„Und in welchem Zusammenhang?“

„Du … du hast mit deinem Cousin zusammen Frauen entführt und getötet.“

Nun grinste Vincent breit. „Stimmt genau. Dass du dich daran erinnerst.“

„Nach dir wird ja überall gesucht …“

„Auch wieder wahr.“

„Bitte … bitte tu mir nicht weh. Bitte lass mich einfach laufen. Ich will nicht sterben …“

„Aber, aber – wer redet denn hier von Sterben? Ich habe dich doch gerade erst hergebracht.“

„Bitte tu mir nichts …“ Sie klang wie ein kleines Kind, als sie jetzt weinte. Ihr lief die Nase, aber gefesselt konnte sie nichts dagegen tun. Vincent holte ein Taschentuch, um das in Ordnung zu bringen. Sie sollte sexy sein und kein verrotztes Häufchen Elend.

„Bitte lass mich gehen. Ich sage auch niemandem etwas …“

„Wie, glaubst du wirklich, ich mache mir die Mühe und fahre extra zwei Stunden mit dir, um dich jetzt wieder gehen zu lassen? Nein, Leanne. Nein, so wird das nicht laufen. Ich sage dir, wie es laufen wird. Du gehörst jetzt mir. Du bist jetzt meine Sklavin. Ich werde mit dir tun, was ich will. Wenn ich will, dass du weinst, dann weinst du. Wenn ich will, dass du schreist, dann schreist du. Und wenn ich will, dass du leidest, dann wirst du leiden. Hast du mich verstanden?“

Ihre Antwort war nichts weiter als ein panisches Wimmern.

 

 

Montag, 14. Juni

Die unterschwellige Aufregung ließ nicht nach. Libby hoffte so sehr, dass der Arzt grünes Licht gab, damit sie wieder zur Arbeit konnte. Der Schuss lag nun über drei Wochen zurück. Sie konnte es kaum erwarten. Zu Hause fiel ihr die Decke auf den Kopf.

Der Arzt untersuchte Libby äußerlich und mit einem Endoskop, bevor er ihr Blut abnahm, um ihre Eisen- und Schilddrüsenwerte zu überprüfen.

„Und wie geht es Ihnen im Allgemeinen?“, fragte er währenddessen.

„Gut eigentlich. Mir ist nicht mehr kalt, der Schwindel hat auch aufgehört. Ich kann inzwischen wieder ganz normal essen – nur um Fisch mit Gräten mache ich einen großen Bogen.“

Der Arzt grinste. „Ja, und das bitte noch eine Weile. Ich muss schon sagen, die Kollegen in Alexandria haben ganze Arbeit geleistet. Ich hatte mir ja Ihre Unterlagen vorab besorgt und dem Bericht war zu entnehmen, wie viel Glück Sie eigentlich hatten.“

Libby nickte. „Ich weiß. Das hätte ganz anders ausgehen können.“

„Zum Glück sind Sie noch jung, Sie stecken das ganz anders weg. Ich schreibe Ihnen noch einige Einheiten Physiotherapie auf, dafür ist jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen. Sie können nun auch, wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen, moderat mit Sport beginnen.“

„Okay, das mache ich. Kann ich denn wieder arbeiten?“

Der Arzt lachte. „Sie haut so schnell auch nichts um, oder? Sie wären fast gestorben.“

„Sagten Sie nicht gerade selbst, dass ich Glück hatte?“ Herausfordernd sah Libby ihn an.

Er grinste ergeben. „Ja, das sagte ich wohl. Nun ja … wenn Sie unbedingt wollen – Schreibtischarbeit halte ich für denkbar, aber keine Außeneinsätze. Nichts, wohin man seine Dienstwaffe mitnehmen würde. Damit müssen Sie noch warten.“

„Kein Problem. Ich würde nur so wahnsinnig gern meine Kollegen bei der Suche nach Vincent Howard Bailey unterstützen.“

Er warf kurz einen Blick auf ihre Akte. „Ach ja, Profiler. Sicher.“

„Er war es, der auf mich geschossen hat.“

„Verstehe. Nun, meinetwegen, aber lassen Sie es langsam angehen. Außerdem möchte ich, dass wir uns in zwei Wochen noch mal sehen.“

„Kein Problem.“ Libby grinste zufrieden und nachdem er alles am Computer eingegeben hatte, wünschte er ihr einen schönen Tag und entließ sie in die Freiheit.

Libby konnte es kaum fassen. Es hatte geklappt. Dreieinhalb Wochen, nachdem sie fast verblutet wäre, durfte sie endlich wieder antreten und auf die Jagd nach Vincent gehen.

Sie wechselte den Gebäudetrakt und fuhr mit dem Aufzug hoch zum Büro der Profiler. Als sie es betrat, wurde sie mit einem großen Hallo von den Kollegen willkommen geheißen. Nick gesellte sich sofort dazu.

„Und, womit hast du Smyth gedroht, damit er dich für dienstfähig erklärt?“, fragte er grinsend.

„Ich habe ihm gesagt dass ich euch bei der Suche nach demjenigen helfen will, der auf mich geschossen hat.“

„Und das fand er gut?“

Libby deutete an sich herunter. „Hier stehe ich. Allerdings – wie sagte er? Ich soll noch nichts machen, wohin man eine Dienstwaffe mitnehmen müsste. Nur an den Schreibtisch.“

„Ja, das macht nichts. Da wir immer noch keine Ahnung haben, wo Bailey steckt, ist kein Ausflug vorgesehen. Unser Meeting hast du leider verpasst, aber komm mit in mein Büro, dann bringe ich dich auf den neuesten Stand.“

„Danke“, sagte Libby. Sie stellte ihre Tasche auf ihrem Schreibtischstuhl ab und folgte Nick anschließend. Er bat sie, vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen, und drehte seinen Bildschirm so, dass sie auch etwas darauf erkennen konnte.

„Wir haben zwar keine Ahnung, wo Bailey jetzt ist, aber wir wissen immerhin, dass er am Freitag in Williamsport war. Mal wieder. Williamsport ist ja eine Studentenstadt – und das hat er sich zunutze gemacht.“ Nick öffnete das Foto einer jungen Frau. „Das ist Leanne Watkins. Sie war am Freitag in der Bibliothek des Lycoming College, um zu lernen. Auf dem Heimweg ist sie verschwunden, man hat bloß ihre Tasche auf dem Parkplatz gefunden. Ihr Auto stand noch dort. Mit Sicherheit können wir es nicht sagen, aber wir vermuten, dass sie Baileys nächstes Opfer ist. Die Polizei hat uns gleich benachrichtigt, denn das passt in unser Suchschema.“

Libby holte tief Luft. „So etwas hatte ich befürchtet.“

„Es war nur eine Frage der Zeit, wann er sich sein nächstes Opfer holt. Das Gute ist, dass wir noch immer eine realistische Chance haben, sie zu finden. Bei Vanessa hat er sich fast zehn Tage Zeit gelassen, Leanne ist aber erst seit drei Tagen verschwunden.“

„Trotzdem mag ich mir nicht vorstellen, was er ihr antut.“

„Die Polizei in Williamsport tut alles, was in ihrer Macht steht – sie haben Verkehrsüberwachungskameras geprüft, Zeugen befragt – es gab auch Zeugen, die glauben, ihn gesehen zu haben. Dennoch gibt es bis jetzt keine heiße Spur.“

„Er hatte den besten Lehrer.“

„Uns fehlt ja nicht viel. Wir bräuchten nur einen Hinweis auf sein Auto, das würde die Sache erheblich vereinfachen.“

„Wenn er schlau ist, lässt er sich jetzt tagelang nicht blicken. Mit genügend Vorräten kein Problem.“

„So wird er es bei Vanessa vielleicht gemacht haben. Leider sind uns mal wieder die Hände gebunden.“

Libby nickte. Es sah ganz danach aus. „Und sonst haben wir aktuell keinen Fall?“

„Keinen richtigen. Wir haben letzte Woche die Ermittlungen in einem Doppelmord in Charlottesville begleitet, aber sonst haben wir nichts auf dem Tisch. Du hast alle Zeit der Welt, um dich hier einzufinden.“

„Danke. Ich bin froh, wieder bei euch zu sein.“

„Lass es langsam angehen. Ich finde es übrigens gut, dass du nicht auf die Idee kommst, die Narbe zu verstecken.“

Libby lächelte überrascht und senkte verlegen den Blick. „Ich weiß, besonders schön ist sie nicht, aber sie ist nun mal da. Wenn ich sie jetzt hinter einem Halstuch verstecken würde, würde ich mich klein machen.“

„Da hast du vollkommen Recht. Ich bin froh, dass es dir wieder gut geht und er dich auch nicht wieder kontaktiert hat.“

„Nein, hat er nicht … Trotzdem haben wir jetzt eine Alarmanlage.“

„Kann ich verstehen. Es …“ Nick wurde vom Klingeln seines Telefons unterbrochen. Er bedachte Libby mit einem entschuldigenden Blick und nahm den Hörer in die Hand.

„SSA Nick Dormer“, meldete er sich und lächelte. „Agent Reed, guten Morgen.“

Für einen Moment hörte er nur zu, bevor Libby seinem Gesichtsausdruck entnehmen konnte, dass Reed ihm eine unangenehme Offenbarung machte. Sie erinnerte sich gut an den leitenden Ermittler im Fall Howard von der New Yorker Dienststelle.

„Können Sie uns den Brief bitte weiterleiten? Den würde ich mir gern mit meinem Team ansehen.“ Wieder hörte er kurz zu. „Nein, Agent Whitman hat bis jetzt nichts mehr bekommen. Sie ist aber wieder hier. Wir schauen uns den Brief an und melden uns.“

Nachdem er sich verabschiedet hatte, legte er auf. „Bailey hat am Freitag wieder Post aus Williamsport verschickt – diesmal an Mary Jane Cox.“

„Weiß er, wo sie ist?“, fragte Libby überrascht.

„Anscheinend hat er es herausgefunden – das dürfte auch nicht allzu schwierig sein, denn in New Jersey gibt es bloß eine psychiatrische Klinik, in der sie sein kann. Jedenfalls schickt Reed mir einen Scan dieses Briefes.“

„Ist ja unfassbar.“

„Vielleicht liefert uns das einen Hinweis.“

„Ich will es hoffen …“

Sie warteten gespannt, aber keine zwei Minuten später erhielt Nick eine Mail von Agent Reed. Libby rutschte etwas näher heran, um den Brief besser lesen zu können, nachdem Nick die Scans geöffnet hatte.

Liebe Mary Jane,

ich kann nicht fassen, was sie mit dir gemacht haben. Geht es dir gut? Geht es unserem Kind gut?

Ich möchte dir sagen, dass es okay für mich ist, wenn du mit dem FBI umfassend kooperierst. Hauptsache, sie lassen dich endlich raus. Sie werden mich sowieso nicht finden – aber ich kann dich finden, wenn du willst.

Ich weiß, dass sie dir Lügen über mich erzählen werden. Schlimme Lügen. Du darfst ihnen nicht glauben. Zugegeben, auf die FBI-Agentin habe ich geschossen, aber das habe ich bloß getan, weil sie mir nicht dabei helfen wollte, dich zu finden. Aber all die anderen Sachen werden sie dir nur sagen, um dich zum Reden zu bringen. Das ist okay, sprich ruhig mit ihnen.

Ich würde dir zu gern sagen, wo ich bin, aber das ist leider zu gefährlich. Wenn du mir etwas mitteilen möchtest, sag es Agent Libby Whitman. Ich werde sie kontaktieren, damit sie es mir ausrichtet.

Dein Vincent

„Was zum Teufel ist das?“, entfuhr es Libby.

„Das ist ein Manipulationsversuch“, sagte Nick.

„Das ist absoluter Bullshit.“

Grinsend pflichtete Nick ihr bei. „Kann man so sagen, ja. Es gefällt mir allerdings nicht, dass er schon wieder von dir anfängt.“

„Was liest du daraus?“

Nach kurzem Überlegen sagte Nick: „Du hast einen Namen und ein Gesicht für ihn. Er will Mary Jane manipulieren und auf seine Seite bringen. Er weiß, wenn wir sie nicht laufen lassen, kommt er nicht an sie ran. Er hätte sie aber gern bei sich. Das versucht er jetzt möglich zu machen. Tatsächlich lese ich nicht daraus, dass er dir noch mal etwas tun wird. Er braucht dich anderweitig.“

„Kennt Mary Jane den Brief schon?“, fragte Libby.

„Reed meinte, man hätte ihn ihr noch nicht gezeigt, sondern gleich an ihn weitergeleitet. Jetzt will er unsere Meinung dazu.“

„Vincent ist verrückt. Wir müssten Mary Jane doch bloß das Polaroid von ihm und Vanessa zeigen.“

„Sag das nicht mir. Das hätte er vielleicht bedenken sollen.“

Libby kräuselte nachdenklich die Lippen und holte tief Luft. „Ich könnte mit Mary Jane sprechen.“

Nick war sichtlich verwirrt. „Und dann? Was erhoffst du dir davon?“

„Ich will ihr die Wahrheit sagen. Wenn ich vor ihr sitze und sie meine Narbe sieht, kann sie das nicht wegdiskutieren. Dann nehme ich noch das Polaroid mit … am besten das Original, falls möglich. Und den Brief.“

„Wie, mitnehmen? Sie ist im Krankenhaus in Trenton.“

„Ich weiß, zwischen Philadelphia und New York, oder?“

Nick zog fragend die Brauen hoch. „Willst du da hin?“

„Warum denn nicht? Oder denkst du, ich bin dem noch nicht gewachsen?“

„Was hat der Doc über Schreibtischarbeit gesagt?“

„Das sind bloß eine Autofahrt und ein Gespräch. Vielleicht bringe ich sie endlich zum Reden. Wenn irgendjemand das schaffen kann, dann vermutlich ich. Vincent spricht selbst von mir und sie kennt mich.“

„Ihr wart nicht gerade beste Freundinnen, als ihr euch zum letzten Mal gesehen habt.“

„Hast du eine bessere Idee? Ich habe keine Ahnung, ob sie etwas über den Ort weiß, an dem Vincent sich versteckt – aber er hat schon die zweite Frau entführt und ich habe etwas dagegen, dass er sie foltern und töten wird. Ganz gewaltig sogar. Wenn auch nur die leiseste Chance besteht, dass Mary Jane uns etwas sagt, das zu seiner Festnahme führt, müssen wir das doch versuchen!“

Nick atmete tief durch. „Du bist wann für dienstfähig erklärt worden? Vor einer halben Stunde?“

„Ich glaube, das ist Leanne egal.“

„Mary Jane wird dir nichts sagen. Das glaube ich nicht.“

„Lass es mich versuchen! Nick, ich weiß, durch welche Hölle Leanne geht. Wir müssen das beenden und ich glaube, das ist unsere beste Chance.“

„Hm“, brummte er wenig überzeugt, sagte dann aber: „Meinetwegen. Ich kann Reed darüber in Kenntnis setzen.“

„Sie soll den Brief nicht kriegen, bevor ich da bin. Ich will ihn ihr geben. Ich will lenken, wie sie das aufnimmt.“

„Das versteht sich von selbst.“ Nick griff wieder zum Hörer und rief Reed in New York an.

„Agent Dormer, das ging schnell“, begrüßte Reed ihn. Nick hatte ihn auf Lautsprecher gestellt.

„Agent Whitman ist bei mir“, sagte Nick.

„Guten Tag, Agent Whitman. Schön, dass Sie wieder im Dienst sind. Wie geht es Ihnen?“

„Überraschend gut, wenn man bedenkt, was passiert ist. Danke“, erwiderte sie.

„Wir haben uns Baileys Brief gerade zusammen angeschaut und Agent Whitman hat vorgeschlagen, zu Mary Jane zu fahren und mit ihr darüber zu sprechen, weil wir beide glauben, dass sie da am ehesten Erfolg haben kann“, sagte Nick.

„Sie soll ihn bekommen?“ Reed war hörbar irritiert.

„Vielleicht weiß sie irgendwas, das uns zu Bailey führen kann, oder sie sagt mir etwas, das ich ihm ausrichten soll. Er hat wieder eine Frau in seiner Gewalt – wir müssen es versuchen“, verkündete Libby entschlossen.

„Ich weiß, aber … ob das funktioniert?“

„Ich befürworte, dass Agent Whitman es versucht“, sagte Nick.

„Wenn Sie das sagen. Ich habe nichts dagegen. Wie wollen wir das organisieren?“

Sie besprachen die organisatorischen Details – Libby wollte am nächsten Morgen in aller Frühe nach Trenton fahren und Reed bot an, sie dort zu treffen. Über dieses Angebot freute sie sich. Sie verabschiedeten sich voneinander und Nick zog vielsagend die Brauen hoch.

„Ich bin nicht sicher, ob das etwas bringt, aber es ist ja nicht so, als hätten wir gerade eine Wahl. Ich beantrage eine Überwachung sowohl deiner Handy- als auch eurer Festnetznummer. Wenn Bailey dich wirklich kontaktiert, könnten wir ihn so schnappen.“

„Unbedingt. Er will mich als Mittelsmann? Kann er haben.“ Entschlossen verschränkte Libby die Arme vor der Brust.

 

 

Dienstag, 15. Juni

Owen brummte unwillig, als Libbys Wecker klingelte und sie ihn zum Schweigen brachte. Sie fühlte sich noch müde und energielos, aber sie musste aufstehen. Bis nach Trenton brauchte sie drei Stunden und sie wollte durch Washington sein, bevor der Berufsverkehr seinen Höhepunkt erreichte.

Sie schlug die Decke zurück und streckte sich, bevor sie ihre Schilddrüsentablette nahm. Daran musste sie sich immer noch gewöhnen. Sie würde Vincent den Hals umdrehen, wenn sie die Chance dazu bekam.

Sie stand auf und schlich ums Bett herum, bevor sie sich über Owen beugte und ihm einen Kuss auf die Wange gab. Dabei pikten sie ein paar Bartstoppeln, was ihr ein Grinsen entlockte.

„Ich liebe dich. Bis heute Abend.“

„Lieb dich auch“, erwiderte er müde und klang dabei, als wäre er betrunken. Libby lächelte.

Schlaftrunken ging sie ins Bad, zog sich um und machte sich fertig. Am Vortag hatte sie sich fertige Sandwiches für die Fahrt besorgt, die sie nun mitsamt einer Wasserflasche in ihre Tasche packte.

Draußen war es schon hell, als sie um kurz vor sechs ins Auto stieg und losfuhr. Sie hatte die Adresse des Trenton Psychiatric Hospital in ihr Navigationsgerät eingegeben und ließ sich nun auf der Interstate nach Norden treiben. Je später es wurde, desto voller wurde es und in Baltimore stand sie schließlich kurz im Stau, doch hinter Philadelphia hatte sie keine Probleme mehr, voran zu kommen und war wie geplant um halb zehn in Trenton. Sie hatte sich mit Agent Reed auf dem Parkplatz verabredet und war wenig überrascht, dass er bereits vor ihr dort eingetroffen war.

„Guten Morgen“, begrüßte er sie freundlich. „Ich hoffe, Sie hatten eine gute Fahrt?“

„Ja, überraschend gut. Wollen Sie mit zu Mary Jane?“

„Nein, ich warte draußen. Reicht mir völlig, wenn ich das von weitem mitbekomme.“

„Sie glauben nicht, dass sie reden wird?“

Er schüttelte den Kopf. „Sie ist stur. Sie sitzt jetzt seit sechs Wochen hier und scheint erstaunlich wenig Probleme damit zu haben.“

„Hier ist sie freier als in den vergangenen sechs Jahren“, sagte Libby.

„Ja, da sagen Sie was. Da wir uns jetzt persönlich sehen: Ich bin froh, dass Sie mir gerade gesund gegenüber stehen.“

Libby lächelte dankbar. „Ich dachte, Sie sagen mir jetzt, wie furchtbar das aussieht.“

„Tut es nicht. Es ist zwar nicht gerade unauffällig, das muss ich zugeben, aber wie ich sehe, stehen Sie dazu.“

„Natürlich. Ich bin aber auch deshalb hier. Ich will es Mary Jane zeigen.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752111989
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Februar)
Schlagworte
USA Profiler Serienmörder Spannung FBI Kindermord Ermittlungen Psychothriller Krimi Ermittler

Autor

  • Dania Dicken (Autor:in)

Dania Dicken, Jahrgang 1985, schreibt seit der Kindheit. Die in Krefeld lebende Autorin hat Psychologie und Informatik studiert und als Online-Redakteurin gearbeitet. Mit den Grundlagen aus dem Psychologiestudium schreibt sie Psychothriller zum Thema Profiling. Bei Bastei Lübbe hat sie die Profiler-Reihe und "Profiling Murder" veröffentlicht, im Eigenverlag erscheinen "Die Seele des Bösen" und ihre Fantasyromane. Die Thriller-Reihe um die FBI-Profilerin Libby Whitman ist ihr neuestes Projekt.