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Schrei um dein Leben

Libby Whitman 7

von Dania Dicken (Autor:in)
282 Seiten
Reihe: Libby Whitman, Band 7

Zusammenfassung

Seit Monaten verfolgt und bedroht der flüchtige Serienmörder Vincent Howard Bailey die FBI-Profilerin Libby Whitman – und lässt plötzlich ihren schlimmsten Alptraum wahr werden. Als er sie entführen will, tötet er beinahe ihren Mann Owen und verschleppt sie in sein Versteck in den endlosen Wäldern Pennsylvanias. Beim verzweifelten Versuch zu überleben wirft Libby all ihre Fähigkeiten als Profilerin in die Waagschale, während Owen nichts unversucht lässt, um seine Frau und ihren Entführer zu finden. Dabei erhält er Unterstützung von Libbys Eltern, den ehemaligen FBI-Agenten Sadie und Matt Whitman, und natürlich Libbys Profiler-Kollegen aus Quantico.Doch den Ermittlern fehlt jeder Anhaltspunkt auf Baileys Versteck und während Vincent versucht, Libby in die Knie zu zwingen, weiß sie, dass sie auf sich gestellt ist ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dania Dicken

 

Schrei um dein Leben

 

Libby Whitman 7

 

 

Thriller

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die wichtigsten Erfahrungen des Menschen sind die,

die ihn an seine Grenzen bringen.

 

Donatien Alphonse François de Sade

 

Prolog

Ihre Tränen waren so süß. Alles an ihr war unwiderstehlich, wenn sie sich gefesselt unter ihm wand, frustriert und verzweifelt, weil sie nicht gegen ihn ankam. Sie hatte keine Chance. Die ließ er ihr nicht.

Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt und schluchzte leise. Er sah, dass sie es nicht wollte, aber sie konnte nicht anders. Das gefiel ihm. Er schloss die Augen und lauschte auf ihr hilfloses Weinen.

„So ist es gut“, sagte er. „Lauter. Das gefällt mir.“

Wimmernd schloss sie Augen, um ihn nicht ansehen zu müssen. Damit hatte er gerechnet.

„Sieh mich an“, zischte er. Sie drehte den Kopf zur Seite und hielt die Luft an. Das war ihr Fehler. Vincent legte die Hände um ihren Hals und drückte zu. Es funktionierte sofort. Ihr Kopf flog herum und sie sah ihm direkt ins Gesicht – panisch und flehend zugleich.

Aber er würde nicht loslassen. Noch nicht jetzt.

Mit einer harten Bewegung entlockte er ihr einen weiteren erstickten Schmerzenslaut und ließ erst Augenblicke später wieder los. Sie schnappte heftig nach Luft, zerrte an ihren Fesseln und machte ihrer Abscheu mit einem wütenden Schrei Luft.

„Du hast ja immer noch richtig Feuer“, sagte er. „Das gefällt mir.“

Sie konnte ein leises Wimmern nicht unterdrücken und blinzelte ihre Tränen weg. „Du kriegst mich nicht. Niemals.“

Vincent hielt inne und ließ seine Blicke über sie gleiten. „Meinst du? Und was ist das dann hier?“

Sie schüttelte heftig den Kopf. „Vergiss es.“

„Mal sehen, wie lange du das durchhältst, Libby.“

 

 

Montag, 16. August

Schmerz fraß sich in sein Bewusstsein. Er stöhnte leise und versuchte, sich zu bewegen, aber er schaffte es nicht. Ein schnelles Piepen drang an sein Ohr, er hörte Stimmen. Eine davon kam ihm vertraut vor.

Schritte näherten sich. Er stöhnte noch immer, konnte es nicht kontrollieren. Dann spürte er eine Hand an der Schulter.

„Können Sie mich hören, Detective?“

Owen kämpfte darum, die Augen zu öffnen. Das Gesicht einer fremden Frau befand sich über ihm, sie wirkte besorgt. Sie trug einen Kittel und ein Namensschild. Eine Krankenschwester. Er stöhnte gequält und nickte.

„Haben Sie Schmerzen?“

Wieder nickte er und sie machte sich konzentriert an einem Tropf zu schaffen, das konnte Owen gerade noch im Augenwinkel sehen.

„Gleich wird es besser. Sie sind im Inova Alexandria Hospital, weil heute Nacht auf Sie geschossen wurde. Sie wurden notoperiert.“

Notoperiert? Im ersten Moment begriff Owen kein Wort, aber dann kehrte die Erinnerung mit einem Schlag zurück. Der Schock fuhr ihm durch die Glieder und er war auf der Stelle hellwach.

„Was ist mit meiner Frau und den Polizisten? Sind sie am Leben? Wo ist meine Frau?“

„Hier ist jemand für Sie.“ Die Krankenschwester trat zur Seite und gab den Blick auf Nick Dormer frei, der an der gegenüberliegenden Wand auf einem Stuhl saß und bislang nur angespannt zugesehen hatte.

„Oh mein Gott …“ Zitternd hob Owen die rechte Hand und fuhr sich damit übers Gesicht. In seinen Augen standen Tränen.

„Brauchen Sie noch etwas, Detective?“, fragte die Schwester, aber er schüttelte den Kopf und ließ sie gehen. Er erkannte das Zimmer wieder. So hatte auch Libbys Zimmer auf der Intensivstation in diesem Krankenhaus ausgesehen.

Nick stand langsam auf und stellte sich neben Owens Bett. „Ich bin seit etwa einer halben Stunde hier. Vorhin hat mich das Arlington PD angerufen und darüber informiert, was passiert ist.“ Mehr sagte er nicht. Owen versuchte immer noch, zu sich zu kommen, und schaute an sich herab. Unter seinem Flügelhemd spürte er unterhalb seiner linken Schulter Pflaster und Verbände. Angestrengt versuchte er, die Bettdecke zurückzuschlagen, und blickte auf sein rechtes Bein. Sein Oberschenkel war dick verbunden und immer noch orange vom Desinfektionsmittel. Als er das sah, war sofort die ganze Erinnerung wieder da und er versuchte, sich aufrecht hinzusetzen, doch ihm wurde sofort schwindlig.

„Hey, ganz ruhig. Bleib liegen. Es grenzt an ein Wunder, dass du noch lebst – bei dem Blutverlust“, sagte Nick.

Owen starrte ihn an. „Bitte sag mir, dass ihr eine Spur habt.“

Nick seufzte tief. „Deshalb bin ich hier. Kannst du uns irgendwie helfen? Hast du sein Auto gesehen?“

„Nein, verdammt, ich hab geschlafen! Ich bin wach geworden, weil sie meinen Namen gerufen hat. Da war sie schon dabei, mit ihm zu kämpfen. Er wollte … ich konnte nicht …“

Er kam nicht gegen die Tränen an und der dicke Kloß in seinem Hals machte es ihm unmöglich, zu sprechen.

„Ganz ruhig.“ Nick zog den Stuhl heran und setzte sich vor Owen, der sich in diesem Moment nicht dafür schämte, dass er weinte. Sobald ihm klar wurde, was passiert war, hatte er ein Gefühl, als würde ihm jemand das noch schlagende Herz aus der Brust reißen.

„Ich konnte nichts tun“, stieß er verzweifelt hervor. „Ich hab’s versucht, aber da hat er einfach auf mich geschossen …“

„Ganz ruhig, Owen. Ganz ruhig. Wenn du dich aufregst, setzen die mich hier vor die Tür und dann sind wir keinen Schritt weiter.“

Unter Tränen sah Owen ihn an und nickte. Wütend wischte er sich die Tränen ab und versuchte, sich zu beruhigen.

„Ich weiß nicht, wie er reingekommen ist. Er war plötzlich da. Die Cops hat er wohl zuerst erschossen …“

„Einer der beiden hat überlebt. Er hat es geschafft, einen Notruf abzusetzen. Er wurde noch operiert, als ich hier ankam, deshalb konnte ich nicht mit ihm sprechen. Keine Ahnung, was er gesehen hat. Das Arlington PD sagte mir vorhin, dass sie Einbruchsspuren am Schloss eurer Wohnungstür gefunden haben, da gab es wohl eindeutige Kratzer. Vielleicht hat Bailey einen Dietrich benutzt.“

Owen stöhnte resigniert. Das durfte doch nicht wahr sein. Bailey hatte wirklich an alles gedacht.

„Kannst du mir erzählen, was passiert ist?“, bat Nick.

„Bailey hat Libby entführt, das ist passiert …“ Verzweifelt ballte Owen die Hände zu Fäusten und versuchte, sich zu beruhigen, als das Piepen seines Patientenmonitors ihn alarmierte. Sein Puls war viel zu hoch.

„Lass dir Zeit, aber erzähl es mir. Bitte.“

Owen nickte und atmete tief durch. „Er hatte einen Schalldämpfer … und er wollte mich töten. Vor ihren Augen. Deshalb hat er einiges riskiert. Sie hat so gekämpft …“

„Ist sie auch verletzt?“, fragte Nick.

„Nein, also … nicht schlimm, sie hatte eine Platzwunde. Das ist alles.“

„Wie lief das ab?“

Owen versuchte, sich zu konzentrieren und es Nick zu erzählen. Er wusste, vielleicht war das wichtig für den Profiler. Nick hörte aufmerksam zu, während Owen sprach.

„Ich habe nicht mehr mitbekommen, wie er sie rausgebracht hat. Ich wusste genau, ich hätte die Wunde abbinden müssen, aber wenn ich mich bewegt hätte, hätte Bailey mir gleich in den Kopf geschossen. Ich muss vor lauter Blutverlust ohnmächtig geworden sein“, schloss er und Dormer nickte aufmerksam.

„Der Notruf des Polizisten ging um 3.42 Uhr beim Arlington PD ein. Man konnte ihn kaum verstehen, er hat Blut gespuckt. Er hat nur gesagt, dass Bailey auf sie geschossen hat und in euer Haus eingedrungen ist, dann hat er noch um Verstärkung und Krankenwagen gebeten, bevor er das Bewusstsein verloren hat. Die Kollegen waren nach sechs Minuten da – scheinbar hat das zu lang gedauert.“

„Ja, es ging schnell … wahnsinnig schnell.“ Owen nickte ernst. Seine Augen brannten und er fühlte sich so ausgelaugt wie zuletzt nach der Tortur, die er bei Marcus Greene durchgemacht hatte. Dennoch war er gleichzeitig extrem aufgekratzt.

„Die Polizisten haben dich gefunden, die Sanitäter haben dich gleich versorgt und zusammen mit dem Kollegen ins Krankenhaus gebracht. Da fehlte schon jede Spur von Bailey. Ich war noch nicht in eurer Wohnung, aber wenn man den Kollegen glauben darf, sieht es in einem Schlafzimmer aus, als wäre dort eine Bombe eingeschlagen.“

Owen nickte. „Das kommt der Sache sehr nah … Libby hat gekämpft wie eine Löwin. Sie war so mutig. Und jetzt …“ Er versuchte, den Gedanken daran, was jetzt passieren würde, nicht zuzulassen. Sein Puls beruhigte sich wieder.

„Ich setze jeden FBI-Agenten darauf an, den ich kriegen kann“, versprach Nick.

„Komm schon, du weißt genau, was jetzt passiert. Ihr hattet bis jetzt keine Spur von ihm und das wird sich auch nicht plötzlich geändert haben. Er ist einfach in unsere Wohnung marschiert und …“ Owen holte tief Luft. „Er hat es noch gesagt. Er hat noch gesagt, was er tun will …“

„Hör auf. Mach das nicht.“

„Du kennst das doch, Nick! Du hast das schon erlebt. Sag mir jetzt nicht, Matt hätte damals anders reagiert.“

Noch während er das sagte, sickerte die Erkenntnis bei Owen durch. Matt. Sadie. Ihm wurde kalt.

„Wissen ihre Eltern es schon?“, fragte er.

Nick schüttelte den Kopf. „Nein, ich wollte erst mit dir sprechen.“

Owen nickte. Das konnte er verstehen. „Wie spät ist es?“

„Kurz nach halb neun.“

„Okay … tust du mir einen Gefallen und leihst mir dein Handy? Sadies Nummer hast du doch sicher, oder?“

Dormer nickte und reichte Owen wortlos sein Telefon. Er konnte verstehen, dass Owen das jetzt tun musste.

Doch kaum, dass Owen das Handy in der Hand hielt, musste er tief durchatmen und rang um Fassung. Er konnte das nicht. Nicht diesmal. Ihm schossen Tränen in die Augen und am liebsten hätte er das Telefon aus dem Fenster geworfen, aber dann versuchte er, sich zusammenzureißen, und suchte Sadies Nummer heraus. In Kalifornien war es jetzt kurz vor sechs. Verdammt früh, aber er wollte es hinter sich bringen.

Er hörte das Freizeichen mehrmals, bevor die Leitung offen war. Etwas raschelte leise. „Nick? Was ist los?“

Das war Sadies Stimme. Verzweifelt schloss Owen die Augen und versuchte, die Tränen nicht schon wieder hochkommen zu lassen.

„Ich bin es, Owen“, sagte er und holte tief Luft.

Sadie antwortete nicht gleich. „Was ist passiert?“ Sie klang hellwach. Im Hintergrund hörte Owen Matts Stimme.

Er konnte nichts sagen. Es ging nicht.

„Was ist los?“, fragte Matt.

„Es ist Owen. An Nicks Handy“, erklärte Sadie.

Matt bat Sadie, den Lautsprecher anzustellen, und fragte: „Geht es dir gut?“

Flehend biss Owen sich auf die Lippen und atmete erneut tief durch. „Matt, ich … ich hab’s versaut. Ich habe … ich konnte nicht. Ich habe versagt.“

„Hey, ganz ruhig. Sag mir, was passiert ist. Geht es um Libby?“

Owen schluckte. „Ja … er … er ist bei uns eingebrochen …“

„Hat er sie entführt?“ In diesem Moment schien Matt der Einzige zu sein, der sich fokussieren konnte. Sadie sagte gar nichts.

Mit erstickter Stimme antwortete Owen: „Ich habe es nicht verhindert …“

Sadie stieß einen verzweifelten Laut aus. Owen war nach Schreien zumute, doch dann sagte Matt: „Du bist an Nicks Telefon? Ist er bei dir?“

Owen bejahte es. Mehr konnte er nicht sagen. Als Matt ihn bat, ihm Nick zu geben, tat er es. Dormer lächelte verständnisvoll und stellte das Handy auf Lautsprecher.

„Sadie?“, fragte Nick.

„Ich bin auch hier“, ertönte Matts Stimme. „Was kannst du uns sagen?“

„Wir sind in dem Krankenhaus, in dem auch Libby vor kurzem war. Bailey hat zweimal auf Owen geschossen, ein Schuss hat seine Femoralarterie verletzt.“ Er wusste, mehr musste er nicht sagen.

„Verdammt“, sagte Matt. „Ist er okay?“

„Er ist weiß wie die Wand, aber er lebt. Er hatte großes Glück.“

„Und Libby?“

„Owen sagte mir vorhin, sie hätte eine Platzwunde. Ansonsten ist sie unverletzt.“

„Bailey hat sie?“

Nick atmete tief durch. „Er hat auf ihre Personenschützer geschossen, einen getötet und ist bei ihnen eingebrochen. Ich war noch nicht dort, ich bin sofort zu Owen gefahren.“

„Wir kommen mit dem nächsten Flieger“, sagte Matt.

„Ihr könnt nichts …“

„Sag uns jetzt nicht, was wir tun können!“, rief Sadie aufgebracht. „Es geht hier um unsere Tochter, Nick. Bitte lass uns helfen.“

Sie klang so verzweifelt, dass Nick kurz seufzte und ergeben nickte. „Ja, schon gut. Mir fällt was ein.“

„Danke, Nick. Wir geben Bescheid, wenn wir einen Flug haben“, sagte Matt. „Kann ich noch mal mit Owen sprechen?“

„Augenblick.“ Nick reichte Owen das Handy zurück.

„Ich bin hier“, sagte Owen gepresst.

„Bitte gib dir nicht die Schuld.“

„Matt, ich …“

„Schon gut. Mach dich nicht fertig.“

„Du hattest mich nur um eins gebeten …“

„Ja, und ich bin sicher, dass du alles versucht hast.“

Owen nickte, auch wenn Matt das nicht sehen konnte, und hatte Tränen in den Augen. „Ich konnte ihr nicht helfen …“

„Wir kriegen das hin, okay? Erst mal kommen wir zu euch. Wir werden sie finden.“

„Okay“, sagte Owen, aber er hatte da seine Zweifel.

„Ich bin froh, dass du noch lebst“, sagte Sadie unvermittelt. Owen biss sich auf die Lippen und versuchte, sich zu sammeln. „Danke.“

„Wir rufen wieder an“, versprach Matt. Als er aufgelegt hatte, raufte Owen sich verzweifelt die Haare.

„Du hast es gehört“, sagte Nick. „Wenn du jemandem nichts erklären musst, dann den beiden.“

„Aber Matt – er hat sich auf mich verlassen!“

„Ja, und du weißt, er war schon ähnlich verletzt wie du. Er weiß, dass du nichts tun konntest.“

„Wir müssen sie finden, Nick. Bevor Bailey sie in Stücke reißt – bitte.“ Owen sah ihn mit einer solchen Verzweiflung an, dass Nick gar nicht wusste, was er erwidern sollte.

Es war lang her, dass er sich in einer solchen Situation befunden hatte, aber er hatte das nie wieder erleben wollen. Als das Arlington PD ihn angerufen und informiert hatte, hatte Nick sich in einem schlechten Traum gewähnt. Warum hatte er je geglaubt, dass Polizeischutz Bailey aufhalten würde? Er hatte doch gewusst, dass Vincent eine Waffe hatte. Er hatte noch nie gezögert, sie zu benutzen.

Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte Owen, sich hochzuziehen. Den linken Arm konnte er nicht benutzen, aber er schaffte es auch so. Alles drehte sich vor seinen Augen, aber er saß.

Es war echt. Es war tatsächlich passiert. Bailey hatte seine Frau entführt. Vielleicht hielt sie ihn sogar für tot.

„Bailey wollte mich vor ihren Augen töten“, sagte Owen. „Sie wusste es … Sie hat alles versucht.“

„Sie ist gut in ihrem Job. Sie wird ihn lesen und manipulieren können“, sagte Nick.

„Wenn er sie lässt.“

„Es wird immer zu einer Interaktion kommen, das ist unausweichlich.“

Owen versuchte, ruhig zu bleiben. „Er wird sie töten, oder? Und zuvor …“

„Hör auf damit. Das bringt uns auch nicht weiter.“

„Du magst das vielleicht damals bei Sadie schon miterlebt haben, aber du weißt nicht, wie es ist, wenn das deiner Frau passiert“, schnappte Owen. Als er Nicks betroffenes Gesicht sah, schob er hinterher: „Entschuldige. Ich werde nur bald verrückt.“

„Ich weiß. Schon gut.“

„Danke, dass du hier bist …“

„Ich muss gleich mal die anderen anrufen und auf den aktuellen Stand bringen.“

Owen nickte. Während Nick sich ans Fenster stellte, um zu telefonieren, hing er seinen Sorgen nach.

Monatelang hatte er das befürchtet – und jetzt war es doch passiert. Unweigerlich gingen seine Gedanken immer wieder in die Richtung, aber er konnte und wollte sie nicht zu Ende denken. Wenn er sich vorstellte, was Vincent Libby vielleicht antat, zerbrach etwas in ihm.

Nick telefonierte noch, als die Schwester hereinkam und sie erwartungsvoll nacheinander ansah.

„Der Polizist ist vorhin aufgewacht. Das wollten Sie doch wissen, Agent Dormer.“

„Oh, ja, danke. Natürlich.“

„Er liegt zwei Zimmer weiter.“

Nick lächelte dankbar und beendete das Telefongespräch. Owen versuchte, seine Beine aus dem Bett zu strecken.

„Was machst du da?“, fragte Nick verständnislos.

„Ich komme mit.“

„Du kommst nicht mit, ich meine …“

„Entweder du stützt mich oder ich brauche einen Rollstuhl“, sagte Owen unbeeindruckt. Nick wusste, dass jede Diskussion zwecklos war, und ging draußen auf die Suche nach einem Rollstuhl. Owen versuchte derweil, herauszufinden, welche Elektroden er entfernen musste und zupfte sie kurzerhand alle ab. Gemeinsam mit Nick stürmte die Schwester herein und wollte eine Predigt loslassen, aber auch jetzt blockte er jede Diskussion ab. Seinen Tropf nahm er einfach mit.

„In deiner Sturheit stehst du Libby in nichts nach“, sagte Nick, bevor er den Rollstuhl in das andere Patientenzimmer schob, doch Owen erwiderte nichts.

Er erkannte den Polizisten wieder, es war Officer Riley. Er hatte ihm noch eine gute Nacht gewünscht, nachdem der Mann abends bei ihnen in der Wohnung gewesen war, um die Toilette zu benutzen.

„Detective“, wisperte Riley tonlos und streckte schwach einen Arm nach Owen aus. „Sie leben noch …“

Owen nickte. „Sie zum Glück auch.“

„Mein Partner ist tot … ich habe ihn sterben sehen.“ Riley musste eine Pause machen. „Und ich habe gesehen, wie Bailey Ihre Frau entführt hat.“

„Das haben Sie gesehen?“, entfuhr es Nick. Als Riley ihn fragend ansah, stellte Nick sich vor.

„Ich bin Libby Whitmans Vorgesetzter beim FBI“, schob er erklärend hinterher.

„Dann muss ich Sie nicht erst rufen.“ Riley grinste schwach.

„Was können Sie uns noch sagen?“

Zunächst bat Riley um etwas zu trinken. Nick reichte ihm einen Becher und half ihm, dann überlegte der Polizist kurz und begann mit seinem Bericht.

„Wir saßen da und haben gegen die Müdigkeit gekämpft … es war ja nichts los. Bis um kurz nach halb vier ein Ford Explorer die Straße entlang fuhr.“

„Sie haben das Auto erkannt?“ Nick konnte es nicht fassen.

Riley nickte langsam. „Schwarz oder dunkelblau. Ist auch egal, ich weiß das Kennzeichen noch.“

„Das ist doch fantastisch.“

„Er parkte erst irgendwo weiter hinten. Wir haben ihn beobachtet – er ist ausgestiegen und kam in unsere Richtung. Anfangs haben wir uns nichts dabei gedacht, es sah so aus, als würde er vorbeigehen. Aber dann hat er einfach ins Auto geschossen. Die Scheibe ist zersplittert und er hat meinem Partner in den Kopf geschossen. Ich hab nach meiner Waffe gegriffen, aber da hat er auch auf mich geschossen. Der erste Schuss hat mich über der Weste in der Nähe des Halses getroffen und der zweite ins Bein. Er wollte auch meinen Kopf treffen, aber den hat er verfehlt. Ich war geistesgegenwärtig genug, mich nicht mehr zu bewegen, und er hat tatsächlich geglaubt, dass er mich auch getötet hat. Ich konnte es nicht fassen.“

„Dann hatten Sie unglaubliches Glück“, sagte Nick.

„Er ist noch mal zu seinem Auto zurück und hat es hinter unserem Streifenwagen geparkt, weshalb ich das Kennzeichen im Rückspiegel lesen konnte. Ich habe gewartet, bis er im Haus war, und erst dann Verstärkung gerufen, weil ich nicht wollte, dass er es merkt. Aber der Schuss … der hat irgendwas in meinem Hals verletzt. Ich konnte kaum sprechen und habe Blut gespuckt. Ich wollte den Kollegen sagen, welches Auto er fährt und wie das Kennzeichen lautet, aber ich konnte nicht. Ich habe fast das Bewusstsein verloren, als ich noch gesehen habe, wie Bailey mit Agent Whitman rausgekommen ist. Er hatte sie gefesselt und hat sie an einem Arm festgehalten. Was dann passiert ist, weiß ich nicht, da bin ich ohnmächtig geworden.“

„Aber Sie haben sein Auto und das Kennzeichen“, sagte Nick.

Riley nickte. „Es lautet GJA-7635 und stammt aus Pennsylvania.“

„Und es war ein Ford Explorer?“

„Ja … 4. Generation, glaube ich“

„Sie haben ja keine Ahnung, wie enorm uns das weiterhilft“, sagte Nick dankbar, aber Riley ging gar nicht darauf ein. Er blickte nur zu Owen.

„Es tut mir leid. Ich konnte nichts tun. Ich dachte noch, er hätte Sie erschossen …“

„Ich konnte auch nichts tun“, sagte Owen. „Auf mich hat er auch zweimal geschossen.“

„Ich hoffe, das FBI findet Ihre Frau schnell.“

Owen nickte langsam. Das hoffte er auch – so wie nichts sonst in der Welt.

 

 

Dienstag, 17. August

Ein kurzes Lächeln huschte über Nicks Gesicht, als sein Blick Sadie streifte, die neben ihm im Aufzug stand und jetzt schon konzentriert wirkte. An ihrem T-Shirt klemmte ein Besucherausweis, der Nick als Einziges daran erinnerte, dass Sadie kein Teil dieses Teams mehr war. Eigentlich fühlte es sich richtig an, dass sie da war.

Sie verließen den Aufzug und betraten das Büro der Profiler. Nick entging nicht, wie Sadie sich auf Anhieb wohl und heimisch fühlte. Die übrigen Teammitglieder waren fast ausnahmslos schon da und hießen sie herzlich willkommen. Belinda und Alexandra umarmten sie, Ian klopfte ihr auf die Schulter.

„Wo hast du deinen Mann gelassen?“, fragte er.

„Matt ist in Alexandria bei Owen. Wir wollten ihn nicht allein lassen“, erklärte sie.

„Wie geht es ihm?“

„Er ist am Boden zerstört. Seine Frau wurde vor seinen Augen entführt und er weiß genau, wer Vincent Howard Bailey ist und wozu er fähig ist. Ganz davon abgesehen grenzt es an ein Wunder, dass er noch lebt. Dafür hält er sich ziemlich gut.“

„Wir wissen auch, wer Bailey ist. Ich würde sagen, wir sollten zusehen, dass wir ihn fassen“, verkündete Ian entschlossen.

Keine fünf Minuten später saßen sie alle zusammen in einem Besprechungsraum, wo Jesse und Dennis am Vortag auf Bitten von Nick schon einmal eine Karte von Pennsylvania vorbereitet und mit Markierungen versehen hatten, die Baileys letzte bekannte Aufenthaltsorte zeigten. Es waren die Entführungsorte seiner letzten Opfer markiert, eine knallrote Reißzwecke kennzeichnete Williamsport als einen Ort, in dem Bailey schon öfter gesehen worden war.

„Während wir auf Rückmeldung bezüglich Mary Jane Cox aus New York warten, würde ich mich gern an einem geografischen Profil versuchen, um gezielt Suchtrupps in Pennsylvania losschicken zu können“, sagte Nick. „Deshalb haben wir jetzt diese Karte mit Markierungen der Orte, in denen Bailey schon gesehen wurde oder in denen er nachweislich gewesen sein muss. Wenn man mit einbezieht, wie er gestern gefahren ist, würde ich vermuten, dass unsere ursprüngliche Annahme, er könnte sich irgendwo in den ausgedehnten Wäldern befinden, richtig ist.“

Nick schnappte sich einen Folienstift und kreiste das Gebiet nördlich der Interstate 80 ein. Große, weitläufige Waldgebiete dominierten das zentrale Pennsylvania – ein perfektes Versteck für jemanden wie Bailey.

„Ich sehe hier, dass er absichtlich weite Strecken zurücklegt, wenn er Briefe schreiben oder einkaufen will, damit niemand Rückschlüsse darauf ziehen kann, wo er sich in den Wäldern versteckt hat“, sagte Dennis.

„Die Frage ist jetzt, welche Verstecke gibt es in der Gegend? Vermutlich ist Bailey schon seit Monaten dort“, sagte Belinda.

„Er könnte es gemacht haben wie Sean Taylor damals. Der hat einfach den Besitzer eines abgelegenen Hauses getötet und den Leichnam verschwinden lassen. Das ist ein halbes Jahr lang niemandem aufgefallen“, sagte Sadie.

„Wäre denkbar und ein verdammt schlechtes Szenario, denn so finden wir ihn niemals“, sagte Nick.

„Kann man denn auf dem Material, das ihr von ihm bekommen habt, nichts erkennen, was Rückschlüsse auf sein Versteck zulässt?“, fragte Sadie.

Nick schüttelte den Kopf. „Das haben wir alles schon geprüft. Er hat die Fotos und Videos im Dämmerlicht gemacht, so dass man fast nichts von der Umgebung erkennt. Definitiv befindet er sich da in irgendeinem Gebäude, aber ich könnte nicht sagen, ob das ein Haus, eine Hütte oder etwas anderes ist.“

„Habt ihr Informationen über die Bevölkerungsdichte Pennsylvanias?“, fragte Sadie. Dennis machte sich sofort an einem Laptop daran, Daten darüber zu suchen, und zeigte ihnen schließlich eine entsprechende Karte.

„Das deckt sich ja mit unseren Annahmen – in den Wäldern, die von der Mitte bis zum Norden des Bundesstaates reichen, ist die Bevölkerungsdichte am geringsten. Dort kann er sich gut verstecken“, sagte Nick.

„Dort haben wir auch keine Markierungen, die liegen alle außerhalb dieses Gebietes. Warum? Weil er uns nicht verraten will, wo er sich versteckt“, sagte Ian.

„Aber wo kann man sich in den Wäldern verstecken? Wenn er dort schon so lange untergetaucht ist, kann es schlecht eine Jagdhütte sein – die gehört jemandem, das wäre aufgefallen“, sagte Sadie.

„Leerstehende Häuser? Oder er hat es wirklich gemacht wie Taylor damals“, überlegte Jesse.

„Er muss auch ein Versteck für sein Auto haben“, sagte Belinda.

„Oder hat er sich was gebaut? Er war doch im Mai in diesem Baumarkt in Williamsport“, warf Jesse ein.

„Vielleicht hat er auch ein verlassenes Industriegebäude, eine Halle oder etwas Ähnliches gefunden. Was gibt es noch in den Wäldern Pennsylvanias? Irgendwas vom Militär? Bunker vielleicht?“ Ian blickte nachdenklich in die Runde und schließlich machten sie sich auf die Suche. Sie versuchten, alles über die einsamen bewaldeten Countys in Pennsylvania herauszufinden, was nützlich sein konnte, und tatsächlich fanden sie bald Gebiete mit verlassenen Industriegeländen, sehr einsame Waldgebiete und Hinweise auf stillgelegte, alte Bunker an unterschiedlichen Orten.

Während sie alles zusammentrugen, griff Sadie irgendwann zu ihrem Handy und schaute konzentriert auf den Bildschirm.

„Alles okay?“, fragte Nick.

„Ja … bloß eine Nachricht von Phil, der die Nachrichten gesehen hat. Anscheinend ist es jetzt bis nach Kalifornien vorgedrungen“, sagte Sadie.

„Verstehe. Wenn nun noch ein nützlicher Hinweis auf Bailey einginge …“

Sadie nickte zustimmend und schrieb Phil eine Nachricht. Kurz darauf erhielt sie Antwort und sagte: „Er fragt, ob er helfen kann.“

„Ich wüsste nicht, wie.“

„Falls wir Suchtrupps losschicken – er könnte sie unterstützen.“

„Wenn er das möchte.“

„Du weißt, er ist beim SWAT. Er hat das schon gemacht.“

„Seine Entscheidung.“

„Ich rufe ihn mal an“, sagte Sadie. Dormer nickte zustimmend und warf nun einen Blick auf sein eigenes Handy. Noch keine Nachricht aus New York. Er wusste nicht, wann sich die Verantwortlichen zusammensetzen wollten – hoffentlich bald. Sie mussten einfach etwas tun.

Er war froh, dass Matt sich an diesem Tag bereiterklärt hatte, bei Owen zu bleiben. Im Moment sollte Owen nicht allein sein – und Matt war jemand, der Owen jetzt wirklich helfen konnte. Er hatte das selbst schon erlebt. Wenn jemand wusste, wie Owen sich gerade fühlte, dann war das Matt.

Schließlich kam Sadie wieder herein. „Phil möchte herkommen und die Suchtrupps unterstützen. Wir sollen ihn für morgen einplanen, hat er gesagt.“

Nick lächelte anerkennend. „Tolle Geste von ihm.“

„Er ist mein bester Freund und er kennt Libby gut.“

„Ich weiß. So einen Freund wünschen wir uns alle.“

Sadie lächelte und setzte sich mit den anderen wieder an die Arbeit. Als sich bis zur Mittagszeit niemand aus New York gemeldet hatte, rief Nick kurzerhand bei Agent Reed an.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752122985
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Vergewaltigung Profiler Serienmörder Entführung Hochspannung Sadismus FBI Folter Krimi Ermittler Psychothriller

Autor

  • Dania Dicken (Autor:in)

Dania Dicken, Jahrgang 1985, schreibt seit der Kindheit. Die in Krefeld lebende Autorin hat Psychologie und Informatik studiert und als Online-Redakteurin gearbeitet. Mit den Grundlagen aus dem Psychologiestudium schreibt sie Psychothriller zum Thema Profiling. Bei Bastei Lübbe hat sie die Profiler-Reihe und "Profiling Murder" veröffentlicht, im Eigenverlag erscheinen "Die Seele des Bösen" und ihre Fantasyromane. Die Thriller-Reihe um die FBI-Profilerin Libby Whitman ist ihr neuestes Projekt.