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Die Angst kommt in der Dunkelheit

von Dania Dicken (Autor:in)
282 Seiten
Reihe: Libby Whitman, Band 8

Zusammenfassung

Wenige Wochen nach ihrer Entführung durch den Serienmörder Vincent Howard Bailey kämpft FBI-Profilerin Libby Whitman darum, mit ihren traumatischen Erinnerungen fertig zu werden und wieder in den aktiven Dienst zurückkehren zu dürfen. Auch für ihren Mann Owen ist die Situation nicht einfach, denn parallel ist er beruflich aufgrund seiner Ermittlungen in einem Mordfall stark gefordert. Als Owen unverhofft erst vom Dienst suspendiert und kurz darauf sogar wegen Korruptionsverdachts verhaftet wird, ist Libby fest entschlossen, die Unschuld ihres Mannes zu beweisen. Dabei läuft sie fast zu alter Form auf – und versucht verbissen das Geheimnis zu verbergen, von dem noch nicht einmal Owen etwas weiß ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

 

Dania Dicken

 

Die Angst kommt in der Dunkelheit

 

Libby Whitman 8

 

 

Thriller

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

Jerome war nervös. Dass der Boss ihn zu sich zitierte, war ganz bestimmt kein gutes Zeichen. Jeder Schritt erschien ihm unüberwindlich, als er die große Lagerhalle durchquerte, an deren Ende Santos mit mehreren seiner Leute vor einigen Paletten stand und augenscheinlich in eine Diskussion vertieft war.

„Boss“, sagte Pete hinter ihm. Santos hob den Kopf und lächelte wohlwollend.

„Das ist gut. Mit euch wollte ich sprechen.“ Er nickte den anderen zu und kam dann zu ihnen.

„Schon merkwürdig, oder? Jemand hat mir gesteckt, dass unsere Lieferung am Donnerstag nicht mehr sauber ist. Die DEA weiß Bescheid und erwartet sie im Hafen von Baltimore.“

Jerome schluckte. „Ehrlich?“

„Ja, tatsächlich. Du hast nicht zufällig eine Idee, wie das sein kann?“

„Ich? Wieso?“

„Nun, möglicherweise deshalb, weil einer meiner Männer dich gesehen hat, wie du mit einem DEA-Agenten gesprochen hast.“

Jetzt wurde Jerome heiß. Kopfschüttelnd sagte er: „Nein, das muss ein Missverständnis sein. Das war ich ganz bestimmt nicht.“

„Und wie erklärst du dir dann das hier?“ Santos griff nach seinem Handy und zeigte ihm ein unscharfes Handyfoto. Verdammt, er hatte ihn tatsächlich erwischt. Auf dem Foto waren ganz klar er und Agent Billings zu sehen.

„Jerome, bist du ein DEA-Spitzel?“, fragte Santos nun ganz direkt.

Hastig schüttelte Jerome den Kopf. „Nein, da muss ein Irrtum vorliegen. Ich würde doch nie …“

Ohne jede Vorwarnung brüllte Santos ihm ins Gesicht. „Willst du mich für dumm verkaufen? Ich weiß doch, was meine Augen hier sehen! Hast du die Lieferung am Donnerstag an die DEA verraten?“

Jerome wollte schon etwas erwidern, als er plötzlich die Mündung einer Waffe am Hinterkopf spürte. Nervös hob er die Hände und blieb ansonsten stocksteif stehen.

„Lass es mich erklären“, begann er.

„Da gibt es nichts zu erklären. Du bist ein Spitzel. Ich hasse es, wenn ich hintergangen werde.“

„Auf die Knie“, sagte Pete und Jerome tat es. Er war furchtbar angespannt und überlegte konzentriert, wie er die Situation retten konnte. Während er fieberhaft nachdachte, nickte Santos Pete zu. Jerome wollte noch etwas sagen und um sein Leben verhandeln, doch bevor er dazu kam, knallte es.

 

 

Freitag, 3. September

 

Über ihren Köpfen segelten die Möwen in der steifen Brise, die vom Pazifik her landeinwärts blies. An der Küste der Marin Headlands auf der anderen Seite des Golden Gate bildeten sich kleinere Nebelfelder, die aber von der Sonne gleich wieder aufgelöst wurden.

Libby blinzelte geblendet, als sie ihre Blicke über die Wellen draußen auf dem Pazifik gleiten ließ. Schließlich wandte sie sich wieder nach Norden und beschloss, diesen Moment für immer in ihrer Erinnerung zu konservieren, als sie zur Golden Gate Bridge schaute.

Hätte man sie gefragt, welches ihr liebster Platz auf der Welt war, hätte sie Marshall’s Beach genannt. Der Strand am nordöstlichen Zipfel von San Francisco unweit der Golden Gate Bridge war immer gut besucht, weil man dort tolle Fotos von der berühmten Brücke schießen konnte, aber man fand eigentlich immer ein ruhiges Plätzchen an dem felsigen Küstenstreifen, wo man sich einfach hinsetzen und träumen konnte.

An diesem Tag hatte sie es wahr gemacht und Sadie gebeten, sie auf dem Weg zur University of California in San Francisco einfach mitzunehmen und am Strand abzusetzen. Owen hatte keine Sekunde gezögert und sie begleitet. Er saß neben ihr auf einem großen Felsbrocken, hatte die Ellenbogen auf die Knie gestützt und sog ebenfalls die wundervolle Atmosphäre im goldenen Licht der sinkenden Sonne in sich auf.

„Ich will hier nicht wieder weg“, sagte Libby leise.

„Kann ich verstehen. Ich würde noch ein paar Urlaubstage opfern, aber vielleicht sollte einer von uns mal wieder Geld verdienen gehen.“ Owen grinste schief, als er das sagte.

„Du kannst ja wenigstens“, murmelte Libby.

„Sie werden dich bald auch wieder zurückholen.“

Das hoffte Libby sehr. Sie war im Augenblick nicht nur aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeitsfähig, sondern überdies noch vom Dienst suspendiert, solange die interne Untersuchung zu Vincent Howard Baileys Tod noch nicht abgeschlossen war. Vor der Anhörung, die ihr diesbezüglich bevorstand, hatte sie Angst. Sie konnte sich jetzt schon denken, welche Fragen man ihr stellen würde und sie betete, dass sie dem gewachsen war. Daran hing nicht bloß ihr Job – schlimmstenfalls drohten ihr strafrechtliche Konsequenzen. Letzteres war nicht sehr wahrscheinlich, aber hätte man ihr wegen seines Todes den Job genommen … Sie wagte gar nicht, sich die Konsequenzen auszumalen.

Als sie nichts sagte, legte Owen seinen Arm um sie. „Das wird schon.“

„Ja, klar …“ Sie seufzte unwillig. „Ich habe Angst davor, nächste Woche wieder allein in unserer Wohnung zu sitzen. Da, wo es passiert ist.“

„Das kann ich verstehen. Ich wünschte, es wäre nicht so, aber vielleicht finden wir ja bald ein neues Zuhause.“

Ein Lächeln huschte über Libbys Lippen. Das hätte sie sich auch gewünscht. Sie hatten bereits Besichtigungstermine mit Maklern in Arlington, Springfield und Newington vereinbart, um sich Häuser anzusehen. Owen verstand ihren Wunsch nach einem neuen Zuhause nur zu gut – er hatte zugegeben, dass es ihm kaum anders ging. Schließlich war es sein Blut, das den Teppich im Schlafzimmer durchtränkt hatte und nicht mehr rückstandslos entfernt werden konnte. Den Teppich mussten sie rausreißen – aber erst, wenn sie auszogen. In einer Baustelle wollte Libby jetzt auch nicht leben.

In zwei Tagen würden sie zurück nach Hause fliegen. Libby wäre gern noch länger in Kalifornien bei ihrer Familie geblieben, aber Owen hatte Recht. Einer von ihnen musste zusehen, dass wieder Geld ins Haus kam. Sie hatten ihre Krankheitstage längst verbraucht und noch war nicht absehbar, wann Libby wieder arbeiten konnte. Deshalb hatte Owen zugestimmt, als sein Captain vorgeschlagen hatte, ihn am kommenden Montag vom Amtsarzt der Polizei untersuchen und seine Dienstfähigkeit beurteilen zu lassen. Zudem hatte Owen das Gefühl, wieder auf dem Damm zu sein. Die Kugel in seiner Schulter war ein glatter Durchschuss gewesen und völlig komplikationslos verheilt, aber auch der Schuss ins Bein hatte keine größeren Schwierigkeiten bereitet. Das größte Problem war sein eklatanter Blutverlust gewesen, aber inzwischen ging es ihm besser.

Auch bei Libby waren die schlimmsten Wunden inzwischen einigermaßen verheilt. Sie würde sichtbare Narben zurückbehalten – einige sogar. Am Pazifik war es an diesem Tag windig und frisch, weshalb es nicht weiter auffiel, dass sie mit langen Ärmeln dasaß, aber noch ein paar Tage zuvor hatten sie in Pleasanton bei 35 Grad gebrütet und Libby hatte es nicht fertiggebracht, ein ärmelloses Trägershirt anzuziehen. Ein kurzärmeliges T-Shirt war für sie das Höchste der Gefühle gewesen, denn so waren bloß die verheilenden Schürfwunden an ihren Handgelenken und die Schnitte an ihren Armen sichtbar gewesen, aber nicht die Striemen an ihrem Rücken und das Brandzeichen an ihrer Schulter, dessen Anblick sie kaum ertrug.

Sie wusste noch nicht, wie sie damit umgehen sollte. Im Augenblick fühlte sie sich unsäglich entstellt. Sadie hatte versucht, ihr Mut zu machen, aber auch zugegeben, dass sie ihre Scham nur zu gut nachvollziehen konnte.

Im Kreis ihrer Familie kam Libby damit zurecht, aber sie wollte nicht von Fremden angestarrt werden. Sie wollte nicht für eine Ritzerin gehalten werden – aber noch weniger wollte sie den Leuten die Wahrheit darüber sagen, wie ihre Wunden entstanden waren. So weit war sie noch nicht. Sie war schon durch die Hölle gegangen, als sie in San José zu ihrer Frauenärztin von früher gegangen war, um die Fäden ziehen zu lassen, mit denen die Ärztin im Krankenhaus in State College ihre Schnittwunden genäht hatte. Wenigstens das bereitete ihr keinerlei Beschwerden mehr und war ohnehin für niemanden sichtbar.

An Owen gelehnt, saß sie da und beobachtete die Nebelfelder, die wieder ihr Glück versuchten. Dort hätte sie wirklich ewig bleiben wollen. Sie konnte sich auf der ganzen Welt keinen schöneren Ort vorstellen.

„Ich liebe dich“, sagte sie leise, während sie ihre Finger mit Owens verschränkte.

„Ich liebe dich auch. Ich werde auch nie aufhören, deine Stärke zu bewundern und stolz darauf zu sein, wie gut du das alles meisterst“, sagte er.

Libby zuckte mit den Schultern. „Was soll ich denn tun? Es muss ja weitergehen. Ich kann und will mich nicht hängen lassen. Dann hätte Vincent gewonnen – und das wäre so ungerecht dir gegenüber. Du hast mich bestimmt nicht geheiratet, um jetzt ein Häufchen Elend hochpäppeln zu müssen.“

Überrascht sah sie ihn an, als er die Schultern straffte und einen entrüsteten Gesichtsausdruck annahm.

„Das meinst du nicht ernst, oder?“, fragte er.

Nach kurzem Zögern erwiderte sie: „Doch, das tue ich. Wir sind füreinander verantwortlich und du tust so viel, damit es mir besser geht. Das klappt auch und das sollst du auch spüren. Nichts davon war je deine Schuld und ich will die Frau für dich sein, die du geheiratet hast.“

Sie verstand gar nicht, warum er sie so ungläubig ansah und den Kopf schüttelte.

„Ich bitte dich, ich habe dich nicht nur geheiratet, weil du hübsch und intelligent bist und überhaupt die Frau meiner Träume. Ich habe dich auch geheiratet, weil ich für dich da sein will – egal weshalb. Ich komme schon nicht damit zurecht, dass ich das alles nicht verhindern konnte, aber jetzt gib du dir bitte nicht die Schuld. Ich möchte, dass du wieder ganz die Alte wirst, aber du darfst durchaus auch mal Schwäche zulassen.“

„Tue ich doch …“

Nun lächelte er wieder. „Ja, schon – aber bitte versuch nie, mir etwas anderes vorzuspielen, wenn es dir mal schlecht geht. Du darfst auch mit mir über deine Alpträume sprechen oder generell über die Dinge, die passiert sind. Ich packe das, ehrlich.“

„Ich weiß. Es liegt nicht daran, dass ich nicht mit dir reden will. Ich kann es nur noch nicht. Sadie hat dir doch erklärt, warum. Ich übe das gerade mit ihr.“

„Schon klar. Alles gut.“ Owen strich ihr übers Haar und küsste sie auf die Stirn. „Ich bin doch bloß froh, dass du wieder bei mir bist. Ich will nie wieder so auf dem Zahnfleisch gehen wie in den fünf Tagen, in denen ich dich nicht finden konnte und genau wusste, dass du durch die Hölle gehst. Das war auch für mich die Hölle, nur anders.“

Libby nickte, denn das konnte sie sich allzu gut vorstellen. Allerdings war sie der Meinung, dass sie das bislang gar nicht so schlecht meisterten. Zwar hatte sie ihm immer noch kein einziges Wort über das gesagt, was Vincent ihr angetan hatte, aber sie wusste, dass das Zeit brauchte. Sadie vermittelte zwischen ihnen und Libby beschränkte sich gerade darauf, ohne Worte mit Owen zu kommunizieren – es zu genießen, wenn er sie umarmte und seinen Trost zu suchen, wenn sie aus einem furchtbaren Traum hochschrak.

Sie hatte nicht das Gefühl, dass etwas zwischen ihnen stand. Eigentlich fühlte es sich sogar für sie an, als wären sie einander näher denn je – was vor allem daran lag, dass Owen ihr frei von jeglichen Erwartungen gegenüber trat. Das machte er wirklich gut. Sie war ihm unendlich dankbar.

Sie hatten noch eine ganze Weile so dagesessen, als sie hinter sich im Sand Schritte hörten, die sich langsam näherten. Als Libby sich neugierig umdrehte, entdeckte sie Sadie.

„Hey, da bist du ja“, begrüßte sie ihre Mutter.

„Ich dachte, ich schaue mal, ob ich euch hier nicht irgendwo finde. Ist das toll hier.“

„Ich könnte bis ans Ende meiner Tage hierbleiben“, sagte Libby.

„Ich habe Hunger …“ merkte Owen vorsichtig an und lachte.

„Ich auch. Wollen wir mal sehen, wie weit Matt und Hayley mit der Pizza sind?“, schlug Sadie vor.

„Na gut“, sagte Libby und lächelte. Nachdem sie aufgestanden war, klopfte sie den Sand von ihrer Jeans und machte sich mit Owen und Sadie auf den Weg zum Parkplatz etwas oberhalb der Klippen. Sadie hatte ihren Chevrolet Cruze ganz in der Nähe geparkt und fuhr ein Stück weiter auf den Highway 101 auf, um zur Bay Bridge zu kommen. Libby blickte noch einmal zurück zur Golden Gate Bridge, bevor sie die Aussicht auf die Bucht von San Francisco hinüber nach Alcatraz genoss.

Sie wollte wirklich nicht zurück nach Virginia, aber dort war ihr Leben. Das hatte sie sich so ausgesucht und nun musste sie damit leben, dass ihr Team am anderen Ende der USA stationiert war. Das war auch eigentlich immer okay gewesen, aber sie scheute die Ungewissheit, die sie dort in einigen Tagen erwartete.

Sie brauchten über eine Stunde bis nach Pleasanton, aber Libby genoss die ganze Fahrt und sog alle Eindrücke in sich auf. Zwischendurch telefonierte Sadie mit Matt, um ihn über ihren vermutlichen Ankunftszeitpunkt in Kenntnis zu setzen, und als sie schließlich in Pleasanton das Haus betraten, duftete es dort bereits köstlich nach Pizza.

„Da seid ihr ja“, begrüßte Matt sie erfreut im Flur. „In fünf Minuten ist die Pizza fertig.“

„Fantastisch, ich muss also nicht verhungern“, sagte Owen grinsend.

„Wie war es?“

„Schön wie immer. Ich bin so gern am Pazifik“, sagte Libby. Während die anderen in Richtung Küche gingen, zog sie langsam ihre Schuhe aus und schluckte schwer, als ganz unerwartet die Erinnerung daran in ihr hochkroch, wann sie zuletzt an Marshall’s Beach gedacht hatte. Dorthin hatte sie sich in Gedanken geflüchtet, als Vincent Bailey sie ans Bett gefesselt und zum ersten Mal vergewaltigt hatte.

Unwillkürlich hielt sie sich am nahen Treppengeländer fest und schnappte nach Luft. Das hatte sie verdrängt. Sie wusste nicht, warum die Erinnerung so plötzlich über ihr hereinbrach – oder doch, denn zumindest kannte sie den Fachbegriff dafür. Das war ein Flashback. Nicht der erste – und es würde auch nicht der letzte sein, das war ihr vollkommen klar.

„Alles in Ordnung?“, fragte Sadie, die in den Flur spähte, um nach Libby zu sehen.

Libby nickte stumm und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, doch vergeblich. Sadie musste sie nur ansehen, um alle Dämme in ihr brechen zu lassen. Zwar wandte Libby sich noch ab und versuchte, die Tränen zurückzuhalten, aber sie schaffte es nicht. Wortlos kam Sadie zu ihr und schloss sie vorsichtig in die Arme. Als Libby zu schluchzen begann, wiegte Sadie sie liebevoll hin und her, wie sie es früher immer mit Hayley gemacht hatte, und strich ihr sanft übers Haar.

„Es ist okay, du bist hier sicher“, sagte sie, doch Libby fühlte sich in diesem Moment einfach nur erbärmlich und innerlich ganz kalt.

„Hast du dich an etwas erinnert?“, fragte Sadie leise. Libby nickte stumm und erwiderte ihre Umarmung. Sie hörte Schritte im Flur und spürte, wie Sadie gestikulierte, aber daran störte sie sich nicht.

Schließlich hob sie den Kopf und sagte: „Es war mein Zufluchtsort, verstehst du? Daran habe ich gedacht, als … als ich einfach versucht habe, auszublenden, was er mit mir macht. Daran habe ich mich gerade erinnert …“

Sadie nickte verstehend. „Das war dir gar nicht mehr bewusst, oder?“

„Nein, ich … ich wollte heute einfach an den Strand, weil ich es liebe. Ich habe die ganze Zeit nicht daran gedacht, dass mir in diesem einen Moment nur die Erinnerung an diesen Ort geblieben ist, um …“ Libby schluckte und atmete tief durch. „Um irgendwie zu überleben, was er da getan hat.“

„Okay, ich weiß, was du meinst. Schon gut. Geht es wieder?“

Libby nickte und machte nun den ersten Schritt in Richtung Küche. Owen und Matt versuchten, sie nicht allzu besorgt anzusehen, aber es gelang ihnen nicht. Hayley kam aus dem Esszimmer und lächelte scheu, sagte jedoch nichts. Ihr fiel es immer noch schwer, damit umzugehen, weil sie noch nicht einschätzen konnte, was Libby überhaupt zugestoßen war. Das nahm Libby ihr aber nicht übel, sie wollte es gar nicht anders. Nachdem Hayley mit fünf Tellern ins Esszimmer verschwunden war, fragte Owen: „Eine Erinnerung?“

„Ja … keine gute. Ich meine …“ Libby suchte nach Worten. Sie wollte es unbedingt versuchen. „In Gedanken war der Strand mein Zufluchtsort. Daran habe ich gedacht, wenn ich ausblenden wollte …“ Sie musste kurz innehalten. „Was er getan hat. Wenn … wenn es zu schlimm war.“

Für einen Moment war es still in der Küche. Es war ihr unangenehm, als die Blicke der anderen auf sie gerichtet waren, aber sie verstand den Grund. Sie hatte zum ersten Mal ein solches Detail vor Matt und Owen angesprochen, bislang war ihr das nur bei Sadie gelungen.

„War es denn vorhin nicht seltsam, dort zu sein?“, fragte Owen in die Stille hinein.

„Nein, überhaupt nicht. Das war erst jetzt seltsam, als es mir wieder eingefallen ist.“

Nun lächelte er. „Aber gerade hast du es ausgesprochen.“

Libby nickte zögerlich. „Ja … und das ist verdammt seltsam. Ich kann das ja gar nicht präzise formulieren – wenn ich es versuche, dann geht in meinem Kopf eine Schranke zu und es kommt nichts mehr.“

„Du machst das toll“, sagte Matt und lächelte. Erneut schossen Libby Tränen in die Augen, aber diesmal vor Rührung. Owen legte eine Hand auf ihre Schulter und nickte ihr zu. Sie lächelte kurz, bevor sie mit Sadie und Owen ins Esszimmer ging und sich zu Hayley setzte. Matt folgte kurz darauf mit dem Pizzablech und stellte es auf den Untersetzern auf dem Tisch ab.

„Ich hoffe, ihr seid zufrieden mit dem, was wir hier verbrochen haben“, sagte er, bevor er begann, die Pizza in Stücke zu schneiden und den anderen ihre Wunschstücke zu überreichen.

„Großartig“, sagte Owen kurz darauf. „Gute Salami – mehr braucht eine Pizza eigentlich gar nicht.“

Matt grinste und blickte zu Hayley. „Das Pizzabacken hat auf jeden Fall Spaß gemacht, oder?“

„Klar“, erwiderte sie mit vollem Mund und kicherte verlegen. „Ups.“

Libby genoss die Normalität beim Abendessen. Sie war den anderen dankbar dafür, dass sie klug genug waren, jetzt nicht weiter mit ihr darüber zu sprechen, was in ihr vorging. Das wäre ihr auf den Magen geschlagen.

Den restlichen Abend verbrachten sie mit Gesellschaftsspielen. Am nächsten Tag musste Hayley nicht zur Schule und durfte entsprechend länger aufbleiben. Libby konzentrierte sich ganz auf die Spiele und konnte alles andere vergessen, worüber sie sehr froh war. Inzwischen klappte das immer besser.

Als Hayley schließlich schlafen ging und Matt und Sadie kurz in der Küche verschwanden, um noch etwas aufzuräumen, stahl Libby sich davon und ging leise ins Gästezimmer. Aus dem Bad hörte sie Wasserrauschen, während sie im Koffer auf der Suche nach ihren Tabletten ging. Nach diesem Flashback würde sie sonst kein Auge zumachen, das ahnte sie jetzt schon. Das hatte sich eingebrannt, sie fühlte sich noch immer, als stünde sie unter Strom.

Sie zog das Röhrchen aus einer Seitentasche des Koffers und fischte eine Ativan heraus. Danach blieben noch fünf Tabletten. Wenn sie wieder in Virginia war, würde sie sich Nachschub besorgen müssen, ob ihr das nun gefiel oder nicht. Hier in Kalifornien hatte sie nicht ständig welche gebraucht, aber sie ahnte, dass sie zu Hause Schwierigkeiten haben würde. Noch kam sie anders nicht damit zurecht. Nicht, dass sie es nicht versucht hätte, aber es klappte einfach nicht.

„Was machst du da?“

Libby zuckte zusammen und prallte rücklings gegen den Schrank. „Hayley … hast du mich erschreckt.“

„Tut mir leid, das wollte ich nicht. Alles okay? Was hast du da?“

Mühsam rang Libby sich ein Lächeln ab. „Ach, ich hab bloß Kopfschmerzen.“

„Ach so.“ Hayley stand verlegen in der Tür und druckste ein wenig herum, bevor sie einen Schritt ins Zimmer machte. „Libby?“

„Ja?“

„Ich … ich muss immer daran denken, was passiert ist. Ich war im Internet, weil ich dachte, dass ihr mir nicht alles erzählt und … ich habe da so furchtbare Dinge über ihn gelesen.“ Betreten sah Hayley ihre große Schwester an.

„Das kann ich mir vorstellen“, sagte Libby. „Und jetzt macht dir das Angst?“

„Nein, ich meine … doch, schon irgendwie. Ich hab ja keine Ahnung, wie das ist, wenn ein Mann und eine Frau …“ Sie lief knallrot an und senkte beschämt den Blick, aber Libby hatte eine Ahnung, worauf Hayley hinaus wollte.

„Du kannst dir nicht so richtig vorstellen, was er getan hat, oder?“

Hayley schüttelte den Kopf. „Nein, aber was ich mir vorstelle, ist so schlimm … ich muss dann immer daran denken, wie weh dir das getan haben muss …“

Libby schluckte schwer und stand auf, um ihre kleine Schwester zu umarmen. Dabei war Hayley am ganzen Leib wie erstarrt und Libby brachte sie dazu, sich zu ihr aufs Bett zu setzen.

„Pass auf – wenn Männer und Frauen sich lieben, ist das etwas Großartiges. Es ist schön, wenn man einem anderen Menschen so sehr vertraut, dass man ihm Dinge über sich verrät, die sonst niemand weiß – wie man gern berührt werden möchte zum Beispiel. Klar ist das erst mal komisch, Jungs oder Männer sind ja anders als wir. Wenn man sich gern hat, findet sich das alles irgendwie. Aber es gibt eben auch Männer wie Bailey, die …“ Libby suchte kurz nach den richtigen Worten. „Die gar nicht wissen, wie es ist, wenn man möchte, dass es einem anderen Menschen gut geht. Bailey wollte das Gegenteil, da war etwas ziemlich kaputt in seinem Kopf. Und ja – es ist mit das Schlimmste überhaupt, wenn dich ein anderer Mensch zu etwas zwingt, was du nicht willst und er dir weh tut, weil ihm das Spaß macht. Er hat versucht, sich etwas zu nehmen, was ihm nicht gehört, verstehst du? Aber er hat es nicht bekommen. Ich habe ihn nicht gelassen. Das hat ihn geärgert und dann hat er versucht, mir noch mehr weh zu tun. Und das ist etwas, worüber ich noch nicht richtig sprechen kann.“

„Weil es dich traurig macht.“

Libby nickte. „Ziemlich, ja.“

„Aber was ist mit Owen? Kannst du ihn jetzt nicht mehr lieb haben?“

Es kostete Libby einiges, nicht die Beherrschung zu verlieren. „Doch, natürlich. Er tut mir ja nicht weh, verstehst du? Das würde er nie tun. Wir müssen es nur langsam angehen lassen.“

„Okay … ich … ich hatte nur Angst, dass ihr euch jetzt nicht mehr gern habt …“

Gerührt legte Libby einen Arm um Hayleys Schultern. „Natürlich haben wir uns gern. Oder sieht es für dich danach aus, als hätten wir uns nicht mehr lieb?“

Als Hayley den Kopf schüttelte, lächelte Libby. „Siehst du. Mach dir keine Sorgen. Und jetzt gehst du am besten schlafen.“

„Okay. Ich hab dich lieb.“ Hayley umarmte Libby, bevor sie sich aus dem Zimmer stahl und in ihrem verschwand. Nachdenklich blickte Libby ihr hinterher und ging ins Bad, um mit einem Schluck Wasser die Tablette zu nehmen. Anschließend kehrte sie nach unten zurück und setzte sich noch kurz mit den anderen zusammen. Sie sprachen über die anstehenden Wohnungsbesichtigungen und Sadie begrüßte es, dass Owen und Libby einen Tapetenwechsel anstrebten. In ihren Augen war das die einzig richtige Idee.

Schließlich wollten auch Owen und Libby ins Bett gehen. Libby fühlte sich inzwischen ruhiger und einigermaßen müde, worüber sie froh war.

„Warst du vorhin noch oben?“, fragte Owen, als sie nach dem Zähneputzen im Gästebett lagen.

Ertappt sah Libby ihn an. „Warum fragst du?“

„Ich habe dich und Hayley gehört.“

„Ja … ich hab mir was gegen Kopfschmerzen geholt und wollte ihr noch mal gute Nacht sagen, aber da hat sie mich etwas gefragt … Ich hatte das Gefühl, ihr macht die Vorstellung dessen Angst, was Bailey getan hat. Weil sie sich nicht vorstellen kann, was ein Vergewaltiger tut. Sie hat gelesen, dass er einer ist, und das hat ihr wohl ziemliche Angst gemacht.“

„Klar … wenn ich mal überlege, wie absurd ich in ihrem Alter die Vorstellung von Sex fand. Da versteht man erst recht nicht, wie es ist, wenn so etwas mit Gewalt einhergeht.“

„Ja, eben. Aber sie war da sehr reflektiert – ihr war klar, dass sich das auf unsere Beziehung auswirkt. Sie hatte Angst, dass wir jetzt Probleme haben und es unsere Liebe kaputt macht.“

Das zu hören, überraschte Owen. „So weit hat sie da gedacht?“

„Das hat mich auch erstaunt. Anscheinend ist ihre Vorstellung von allem klarer, als wir dachten. Vielleicht rede ich morgen noch mal mit ihr und versuche, ihr ein paar Dinge so zu erklären, dass sie sie versteht. Das Ganze macht ihr wirklich Sorgen.“

„Süß von ihr. Sie ist ein tolles Mädchen.“

Libby nickte langsam. „Ja, das ist sie. Ich hoffe nur, dass sie so etwas nie erleben muss.“

 

 

 

Sonntag, 5. September

 

Eigentlich wollte Libby nichts weniger, als nach Virginia zu fliegen. Sie wollte in Kalifornien bleiben, am liebsten für immer. Bei ihrer Familie und den Katzen in dem schönen Haus mit Garten in Pleasanton. Insgeheim war sie fast schon froh, weiterhin vom Dienst suspendiert zu sein, denn sie war noch nicht so weit, es wieder mit den Verbrechern der Welt aufzunehmen. Sie fühlte sich noch zu verletzlich. Verwundet.

Nur Matt und Sadie begleiteten sie zum Flughafen in San Francisco. Der Flug nach Washington ging um halb neun Uhr morgens und Hayley war sichtlich unglücklich bei der Vorstellung gewesen, an einem Sonntag um fünf aufstehen zu müssen, um Libby am Flughafen zu verabschieden – etwas, was Libby nur zu gut verstehen konnte. Für Hayley hatte das Schuljahr am Tag von Libbys Entführung begonnen und als Schüler kurz vor der Pubertät feilschte man um jede Minute wertvollen Schlafes.

Libby hatte sich am Vorabend von ihrer Schwester verabschiedet, nachdem sie noch eine ganze Weile mit ihr gesprochen und versucht hatte, ihr einiges über Vincent zu erklären und über das, was er getan hatte. Weil sie es für Hayley ohnehin anders ausdrücken musste, fiel es ihr gar nicht so schwer, wie sie befürchtet hatte. Es hatte Hayley auch gutgetan, mit ihrer Schwester im Vertrauen zu sprechen.

Hinter ihnen wurde es allmählich hell, während sie über die San Mateo Bridge zum Flughafen fuhren. Libby hatte sich an Owen gelehnt und schaute aus dem Fenster auf die erleuchtete Skyline von San Francisco. Sie wäre wirklich gern geblieben, aber das ging einfach nicht.

Um sechs hatten sie den Flughafen erreicht und Sadie hielt vor dem Terminalgebäude, um Owen und Libby dort aussteigen zu lassen. Matt holte ihr Gepäck aus dem Kofferraum und stellte die Taschen neben dem Auto ab.

Libby hatte einen dicken Kloß im Hals, als sie ihre Eltern ansah, und wollte sich gar nicht von ihnen verabschieden. Matt machte schließlich den Anfang, er umarmte sie nacheinander und drückte Libby so fest an sich, dass ihr kurz die Luft wegblieb. Das half ihr nicht gerade dabei, die Beherrschung nicht zu verlieren, und als Sadie sie in die Arme schloss, war es um sie geschehen.

„Ich will nicht weg“, gab sie unter Tränen zu, wischte sie aber hastig weg und atmete tief durch.

„Wir sehen uns im November – und jederzeit vorher, wenn du willst. Meld dich einfach und wir sind da, das weißt du“, sagte Matt. Libby nickte und Sadie fügte hinzu: „Bitte ruf mich an, wenn etwas ist. Egal wann und warum. Versprich mir das.“

Libby nickte und umarmte sie noch einmal. „Ich habe euch lieb.“

Die beiden erwiderten die Worte und Sadie verabschiedete sich auch von Owen, bevor sie wieder ins Auto stiegen und losfuhren. Traurig blickte Libby ihnen hinterher und konnte sich kaum von diesem Anblick lösen, doch schließlich folgte sie Owen ins Terminalgebäude, wo sie die Koffer aufgaben und zum Sicherheitscheck gingen. Als sie den hinter sich gebracht hatten, holten sie sich ein kleines Frühstück, denn inzwischen hatten sie Hunger. Draußen wurde es allmählich hell.

Das Flugzeug startete pünktlich um halb neun. In Arlington würde es schon fast Abend sein, wenn sie landeten. Durch den Flug und die Zeitumstellung ging ihnen fast der ganze Tag verloren.

An Owen gelehnt, saß Libby im Flugzeug. Sie kostete jede Minute seiner Nähe aus und schlief nach etwa zwei Stunden Flugzeit ein. Sie verschlief fast die Hälfte des Fluges, wofür sie sehr dankbar war, aber sie fühlte sich trotzdem müde, als sie am Ronald Reagan Airport landeten und auf die Jagd nach ihren Koffern gingen. Für die Heimfahrt nahmen sie sich ein Taxi und eine Viertelstunde später standen sie vor ihrem Haus.

Alles in Libby protestierte. Sie wollte nicht dort sein. Owen entging nicht, wie zögerlich sie ihm folgte, und als sie vor ihrer Wohnungstür standen, stellte er seinen Koffer ab und umarmte sie.

„Übermorgen haben wir schon den ersten Besichtigungstermin mit einem Makler“, erinnerte er sie.

„Ich weiß … trotzdem habe ich draußen vor meinem inneren Auge den Streifenwagen stehen sehen. Das vergesse ich nicht mehr. Ich vergesse nichts davon.“

„Ich weiß. Wir schaffen das.“

Libby nickte und folgte Owen in die Wohnung, nachdem er die Tür geöffnet hatte.

Ja, das war ihre Wohnung. Sie kam ihr vertraut vor, aber trotzdem fühlte sie sich irgendwie unwohl. Libby vermied es so lange wie möglich, das Schlafzimmer zu betreten, aber irgendwann ging es nicht mehr und sie musste reingehen.

Ein blasser, aber großer brauner Fleck verunzierte den Teppich am Fußende des Bettes. Da musste irgendein Teppich drauf, das stand sofort für sie fest. Dass die Tür des Kleiderschranks eingedrückt war, machte es nicht besser.

„Ist es okay?“, fragte Owen von der Tür aus, weil er sah, dass Libby wie angewurzelt dastand.

„Muss ja“, sagte sie. „Bin mal gespannt, ob ich es schaffe, hier zu schlafen.“

Owen machte ein zustimmendes Geräusch, aber Libby sagte sich, dass es nur eine Erinnerung war. Es war vorbei. Sie war nicht mehr in Gefahr – Vincent war tot. Gestorben durch ihre eigene Hand.

Das machte einen Unterschied für sie. Sadie hatte versucht, sie darauf zu trainieren, dass sie sich das immer wieder bewusst machte. Sie war ihm aus eigener Kraft und ohne fremde Hilfe entkommen – und sie hatte ihm schließlich den tödlichen Schuss beigebracht. Auge in Auge hatte sie ihm gegenüber gestanden und ihm bewiesen, dass er nicht gewonnen hatte.

Owen und Libby beschlossen schnell, nicht erst auszupacken, sondern erst einmal einkaufen zu gehen. Der Kühlschrank war leer, aber sie hatten Hunger. Sie wählten den großen Supermarkt in der Nähe des Kinos, in dem um diese Zeit einigermaßen Betrieb herrschte. Libby bewegte sich etwas unsicher durch die Gänge und versuchte, niemandem aufzufallen, doch als sie an der Kasse standen, blickte die Kassiererin immer wieder verstohlen zu ihr hoch. Während Libby noch überlegte, wie sie darauf reagieren sollte, lächelte die junge Frau unverhofft.

„Es ist gut, dass er tot ist“, sagte sie zu Libbys Überraschung.

Owen, der eigentlich damit beschäftigt war, die bereits erfassten Dinge wieder in den Einkaufswagen zu legen, hielt inne.

„Im Moment kann ich nirgends auftauchen, ohne dass man mich erkennt“, murmelte Libby.

„Ich wusste nicht, ob ich was sagen soll … aber Sie gehen ja oft hier einkaufen und ich hab das immer im Fernsehen verfolgt – das war schlimm. Das hat mich total beschäftigt und ich war so froh, als es hieß, dass Sie ihm entkommen sind und dass er jetzt tot ist.“

Libby nickte langsam. „Ja, das macht es besser.“

„Ich habe mir angesehen, was Sie schon alles fürs FBI gemacht haben. Sie sind ja eine richtige Heldin.“

Ein Lächeln stahl sich auf Libbys Lippen. „Das ist eben mein Job.“

„Ich bewundere das. Sehr mutig. Ich wünsche Ihnen alles Gute.“

„Danke“, sagte Libby. Sie war hin- und hergerissen zwischen einem Gefühl von Scham und andererseits Freude, denn sie fand, dass die Kassiererin sich freundlich geäußert hatte.

Auf dem Weg zum Auto sagte Owen: „Daran müssen wir uns jetzt wohl gewöhnen.“

„Du hast mir ja gesagt, dass ich dauernd im Fernsehen war … aber das ist verdammt seltsam.“

„Ich bin gespannt, wie es wird, wenn ich wieder arbeite. Aber die Hauptperson warst definitiv du. Da verstand das FBI keinen Spaß – sie wollten dich finden. Um jeden Preis.“

Libby lächelte. „Das ist irgendwie gut zu wissen. Ich habe immer noch Angst, dass sie mich demnächst ans Kreuz nageln.“

Owen schüttelte den Kopf. „Nick sagte doch, dass sie das nicht tun werden.“

„Ja, aber hören die Verantwortlichen auch auf Nick Dormer?“

„Als ob ernsthaft einer traurig wäre, weil es jetzt einen Serienmörder weniger auf der Welt gibt.“

Libby wartete, bis sie wieder in Owens Auto saßen und sagte: „Sie müssen nur dahinter kommen, dass ich es drauf angelegt habe.“

„Das wird dir niemand beweisen können.“

Libby hoffte es. Gemeinsam brachten sie die Einkäufe in die Küche, als sie wieder zu Hause waren und stellten gleich die Familienlasagne in den Ofen, die sie mitgebracht hatten. Danach räumten sie erst die Einkäufe aus und schließlich auch ihre Koffer. Sie waren fast fertig, als die Lasagne es auch war, und setzten sich zum Essen hin.

„Ich finde ja, es wird sowieso Zeit, dass wir uns vergrößern und Eigentum anschaffen“, sagte Owen unverhofft.

„Ja, sicher … dann hoffen wir mal, dass ich jetzt nicht meinen Job verliere.“

Er schüttelte den Kopf. „Wirst du nicht. Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen.“

Libby konnte sich das auch nicht vorstellen, aber sie hatte Angst. Auch an Nick würde das nicht spurlos vorbei gehen, denn er war verantwortlich dafür gewesen, dass sie Vincent in Trenton gegenüber getreten war.

Es war schon halb neun, als sie mit allem fertig waren und sie beschlossen, es sich nur noch vor dem Fernseher gemütlich zu machen. Owen saß auf dem Sofa und Libby hatte sich neben ihn gelegt, den Kopf mit einem kleinen Kissen auf seinen Schoß gebettet. Seine Hand ruhte auf ihrer Seite, was sich ganz wunderbar anfühlte. Zusammen schauten sie sich Bad Boys for Life an und als der Film zu Ende war, war es auch schon an der Zeit, ins Bett zu gehen.

„Ich bin sogar müde“, sagte Owen überrascht, als sie im Bad standen. „Hätte ich nicht gedacht, meine innere Uhr müsste doch wissen, dass es noch nicht so spät ist.“

„Wir mussten aber früh aufstehen und reisen ist sowieso immer anstrengend“, sagte Libby beim Zähneputzen. Im Spiegel streifte ihr Blick ihre ehemals wunden Handgelenke, was langsam verheilte. Sie konnte sich einfach nicht an diesen Anblick gewöhnen, weil es sie daran erinnerte, woher die Verletzungen stammten. Immer wieder hatten die Stricke oder die Handschellen die Wunden aufgerissen, wenn Vincent ihr auf irgendeine Art Schmerzen zugefügt und Libby in ihrer Qual an den Fesseln gezerrt hatte.

Nein, es tat ihr nicht leid, dass sie ihn erschossen hatte. Nicht, nachdem er sie tagelang gefoltert und gedemütigt hatte. Sie war auch nicht sicher, ob es ihr nicht noch schlechter gegangen wäre, hätte sie es nicht getan. So hatte sie irgendwann wieder die Handlungsfähigkeit zurückerlangt, die Vincent ihr genommen hatte.

Owen war schon ins Schlafzimmer gegangen, als Libby nachdenklich vor dem Spiegelschrank stand und schließlich doch das Röhrchen mit den fünf verbliebenen Ativan in die Hand nahm. Sie war ziemlich sicher, dass sie in dieser Nacht eine brauchen würde.

Sie nahm eine, während sie beschloss, sich am nächsten Tag darum zu kümmern, wie sie an Nachschub kam. Zwar war sie sich dessen völlig bewusst, dass das nicht ewig so weiterging, aber im Augenblick schaffte sie es einfach nicht ohne. Der Arzt in State College hatte es gut mit ihr gemeint, weil er ihr eine großzügige Anzahl mitgegeben hatte, aber das hatte er auch mit den Schmerztabletten getan. Davon hatte sie mehr übrig behalten.

Schließlich gesellte sie sich zu Owen ins Bett. In letzter Zeit trug sie auch nachts nur noch etwas, was mindestens kurze Ärmel hatte, aber trotzdem fuhr Owen plötzlich sanft mit den Fingerspitzen über die heilenden Schürfwunden an ihren Handgelenken.

„Das alles ändert übrigens gar nichts daran, dass ich dich immer noch wunderschön finde“, sagte er.

Libby lächelte zaghaft. „Danke.“

„Ich hoffe, dass du es nicht falsch verstehst und dich unter Druck gesetzt fühlst, wenn ich dir jetzt sage, dass es mir fehlt, dir ganz nah zu sein. Ich möchte nur, dass du weißt, dass sich für mich nichts geändert hat – ich liebe dich immer noch mit Haut und Haaren. Lass es mich einfach wissen, wenn du so weit bist, okay? Dann versuchen wir das, was du dir vorstellen kannst. Vorausgesetzt, es ist alles okay und ich tue dir nicht weh.“

Unsicher sah Owen sie an und Libby wusste nicht gleich, was sie erwidern sollte. Es war das erste Mal, dass er es so direkt ansprach, aber sie war froh über seine Offenheit.

„Nein, weh tun würdest du mir nicht … aber ich glaube, ich brauche noch Zeit. Nicht, dass mir das nicht auch fehlt … Du weißt, ich liebe dich. Aber ich muss hier erst mal wieder ankommen und mich an alles gewöhnen. Dieser Flashback am Freitag war ziemlich extrem und im Moment mache ich mir Sorgen, dass so etwas passieren könnte, wenn wir hier irgendwas versuchen. Das packe ich noch nicht.“

„Okay, das verstehe ich. Ehrlich gesagt wüsste ich gar nicht, wie ich das jetzt angehen sollte. Das müsstest du mir zeigen, glaube ich. Ich bin unsicher, weil ich eben nicht weiß, was alles passiert ist. Ich kann es nur vermuten und das macht es nicht gerade einfach.“

Libby nickte verstehend. „Ich muss sehen, dass ich mehr mit dir darüber spreche. Ich war froh, als ich das am Freitag in Worte fassen konnte, das war schwierig genug.“

„Kann ich mir vorstellen. Das war toll. Ich weiß, dass wir das schaffen“, sagte Owen. Libby war ihm dankbar für seine Zuversicht und die Geduld, die er hatte. Das machte es besser.

 

 

Montag, 6. September

 

Libby hatte ruhig geschlafen und erwachte erst, als Owens Wecker klingelte. Sie standen auf, frühstückten gemeinsam und um kurz nach acht machte Owen sich auf den Weg nach Washington. Den Termin für seine amtsärztliche Untersuchung hatte er um neun.

„Ich melde mich, wenn ich fertig bin“, versprach er Libby, bevor er sich mit einem Kuss von ihr verabschiedete. Liebevoll und ein bisschen sehnsüchtig blickte sie ihm nach, auch als die Tür sich schon hinter ihm geschlossen hatte.

Jetzt war sie allein. Augenblicklich fühlte sie sich unsicher und irgendwie eingesperrt, weshalb sie erst einmal zwei Fenster öffnete und zumindest durch den leichten Luftzug das Gefühl der Beklemmung verschwand.

Sie fragte sich, ob sie je vergessen würde, was passiert war. Vermutlich nicht – dahingehend hatte Sadie ihr auch keine Hoffnungen gemacht. Sie hatte ihr aber versprochen, dass es besser werden würde.

Entschlossen ging Libby ins Schlafzimmer und starrte auf den Blutfleck und die kaputte Schranktür. Den Schrank hatte Owen in einem Möbelhaus ganz in der Nähe erstanden. Kurzerhand beschloss sie, dorthin zu fahren und sich zu erkundigen, ob sich die Tür ersetzen ließ, doch bis das Geschäft öffnen würde, dauerte es noch etwas.

Plötzlich fühlte sie sich wie gelähmt. Was sollte sie jetzt allein tun? Sie hatte keine Ahnung. In Kalifornien schliefen noch alle und Julie war beschäftigt. Sie war auf sich gestellt. Allerdings hatte sie das starke Gefühl, es nicht allein in der Wohnung auszuhalten und entschied sich schließlich dafür, nach Quantico zu fahren und bei den Kollegen mal Hallo zu sagen. Das konnte ihr niemand verbieten.

Sie setzte sich ins Auto und fuhr los. Allein das fühlte sich schon besser an. Unterwegs hörte sie laut Musik und wurde ohne Dienstmarke und Ausweis am Checkpoint durchgelassen, weil der Mann sie erkannte.

Sie hatte auch im Gebäude der Academy keinerlei Probleme. Die Sicherheitsleute erkannten sie ebenfalls und erkundigten sich bei ihr, wie es ihr ging, so wie jeder andere, dem sie auf dem Weg ins Büro begegnete. Dort angekommen, fand sie niemanden vor, aber dann erinnerte sie sich an den Grund. Gerade lief die Teamsitzung, die sie jeden Montagmorgen abhielten.

Libby beschloss, sich an ihren Schreibtisch zu setzen und dort zu warten. Etwa zehn Minuten später kamen ihre Kollegen aus dem Besprechungsraum und waren sichtlich überrascht, als sie sie bemerkten.

„Du bist ja hier“, sagte Belinda erstaunt. „Komm mal her, lass dich ansehen. Du hast ja kalifornische Sonne getankt.“

Nacheinander kamen die Kollegen zu ihr und umarmten sie. Nick hielt sich im Hintergrund, während die anderen sie mit Fragen bestürmten, gab ihr aber mit einem Blick zu verstehen, dass er mit ihr sprechen wollte. Als Libby es geschafft hatte, den anderen zu entkommen, stahl sie sich in sein Büro und schloss die Tür hinter sich. Nick kam zu ihr und umarmte sie herzlich.

„Schön, dich zu sehen. Kalifornien hat dir gutgetan, würde ich sagen. Du siehst besser aus.“

„Ja, es war gut. Sadie hat angefangen, es ein wenig mit mir aufzuarbeiten. Vor allem aber tat der Tapetenwechsel gut.“

„Das kann ich mir vorstellen. Wie geht es Owen?“

„Er hat gleich einen Termin beim Arzt, der beurteilen soll, ob er wieder dienstfähig ist.“

„Schon? Es ist erst drei Wochen her.“

„Gerade verdient keiner von uns Geld.“

Nick machte ein betroffenes Gesicht. „Und du? Wie geht es dir?“

„Besser … wobei ich vorhin aus unserer Wohnung raus musste. Da habe ich es allein nicht ausgehalten.“

Dormer nickte verstehend. „Das ist nicht überraschend. Wollt ihr umziehen?“

„Ja, wir haben morgen einen ersten Besichtigungstermin.“

„Das ist wahrscheinlich eine gute Idee.“

„Ich würde auch gern wieder arbeiten … keine Ahnung, wie ich es jetzt in unserer Wohnung aushalten soll, ohne die Wände hochzugehen.“

„Und damit wären wir auch gleich schon beim Thema – am Freitag hat man mir mitgeteilt, dass nun ein Termin für unsere Anhörung festgesetzt wurde. Deshalb hätte ich dich später noch angerufen.“

„Okay … und?“

„Meine ist nächsten Montag und deine nächsten Dienstag, vormittags um zehn.“

Libby nickte. „Okay, ich werde da sein. Wie ist denn die Stimmung?“

Nick seufzte kurz. „Gemischt. Mir haben sie schon ziemlich auf den Zahn gefühlt. Mit Mary Jane hat auch schon jemand gesprochen – ich weiß, dass sie dich in allen Belangen entlastet hat. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass sie misstrauisch sind. Mir haben sie schon mehr als einmal gesagt, wie unverantwortlich es war, eine gleichermaßen befangene und traumatisierte Agentin auf ihren eigenen Entführer loszulassen, wobei mir niemand einen sinnvollen Alternativvorschlag unterbreiten konnte, was ich stattdessen hätte tun sollen. Es war ja nicht genug Zeit. Ich befürchte aber, dass sie trotzdem alles tun werden, um deine Absichten genau zu ergründen.“

„Das kann ich mir denken …“

„Ich habe das Gefühl, sie tun das, gerade weil du so eine talentierte Profilerin bist. Es macht sie stutzig, dass du ihnen aufgrund deines Handelns keinerlei Angriffspunkte lieferst, denn da gibt es nichts zu beanstanden. Ich vermute, sie wollen jetzt darauf hinaus, dass du die Ereignisse entsprechend gesteuert hast, denn sie haben mir deutlich gesagt, dass sie glauben, du wolltest seinen Tod.“

Libby schnaubte wütend. „Die haben gut reden, ehrlich. Weißt du, wie ich mich gefühlt habe? Ich hätte mir am liebsten in die Hose gemacht, denn ich wollte wirklich nichts weniger, als Vincent noch einmal gegenüberzustehen. Ich meine – du siehst, wie ich immer noch aussehe … Ich muss dir nicht sagen, was er mit mir gemacht hat. Es wäre eiskalt gelogen, würde ich behaupten, ich hätte ihn nicht gehasst. Aber ich wollte das einfach nur zu einem Ende bringen, in dem nicht das Baby stirbt und er Mary Jane und mich irgendwo in einem Wald in Stücke reißt. Ich musste ihn erschießen, das weißt du. Das war die einzige Möglichkeit, die ich hatte, um uns zu schützen.“

„Sag das nicht mir. Und du musst mir auch nicht sagen, dass dir das verdammt recht war. Das weiß ich und das ist nur menschlich. Aber ich will, dass du dich gegen sie wappnest. Das wird hässlich. Mir ist zu Ohren gekommen, dass Reed aus New York ausgesagt hat, er wäre davon überzeugt, dass du es darauf angelegt hast. Das hat er vor allem daran festgemacht, dass Owen dir seine Waffe gegeben hat.“

Libby holte tief Luft und versuchte, ihre Wut in Zaum zu halten. „Das MPDC hat deshalb nicht so einen Aufstand gemacht.“

„Nein, die sind allgemein etwas entspannter, ich weiß. Ich mache mir nur Sorgen, dass sie dich nächste Woche auseinandernehmen werden. Da nehmen sie auch wenig Rücksicht darauf, wie es dir wohl gerade geht – natürlich, du hast für dich beansprucht, einsatzfähig gewesen zu sein, als du Bailey erschossen hast. Das wirst du ihnen jetzt beweisen müssen.“

„Okay, ich denke, das kriege ich hin. Hauptsache, meine Suspendierung wird aufgehoben und ich darf wieder zu euch.“

Nick musterte sie skeptisch. „Fühlst du dich denn schon bereit dazu? Wir haben hier am laufenden Band Fälle auf dem Tisch, die dir eine hübsche Sammlung an Triggern und Anlässen zur Retraumatisierung liefern werden. Ich bin ja verantwortlich dafür, dass es dir gut geht.“

„Ich weiß, aber …“ Libby wusste nicht, was sie erwidern sollte. „Ich will meinen Job ja behalten, also muss ich einen Weg finden, um damit umzugehen.“

„Schon klar. Hast du denn ins Auge gefasst, eine Therapie zu machen?“

Libby nickte. „Das sollte ich wohl, ich habe gerade erst angefangen, meiner Familie gegenüber in Worte zu fassen, was passiert ist. Das fällt mir immer noch sehr schwer. Bei Sadie musste ich das ja nicht, aber ich will mit Owen reden können. Er fühlt sich unsicher, solange er nicht mehr weiß, was ich gut verstehen kann.“

„Okay … ich frage deshalb, weil ich das sehr wichtig finde. Ich weiß, deine Mum hat es damals irgendwie allein hinbekommen, aber ich bin nicht sicher, ob sie mit Hilfe von außen nicht noch ein besseres Ergebnis möglich gewesen hätte. Ich habe das nie angemerkt, weil sie damals von hier weggegangen ist und ich nicht mehr zuständig war, aber ich glaube, dich hat es schlimmer erwischt als sie und das schafft niemand allein.“

„Das will ich auch gar nicht.“

„In Ordnung … Es gibt eine Therapeutin bei mir in Annandale, die oft mit FBI-Agenten arbeitet und einen ausgezeichneten Ruf genießt. Sie tauscht sich auch mit unseren Ärzten aus, wenn es um die Dienstfähigkeit geht. Ich würde dir gern ihre Karte geben.“

Libby schluckte. Das traf sie unvorbereitet. „Aber der Schweigepflicht unterliegt sie? Ich meine … du hast damals bewusst aus der Akte meiner Mum alles rausgehalten, was ging, damit es ihre Laufbahn nicht beeinträchtigt. Ich hätte ein ungutes Gefühl, wenn ich zu einem Therapeuten gehen würde, bei dem ich nie sicher sein könnte, was am Ende hier beim FBI und vielleicht in meiner Akte landet.“

Nick erwiderte ihren Blick ernst. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es da ein Problem gibt, aber ich verstehe deine Vorbehalte.“

Nachdem sie allen Mut zusammengenommen hatte, fragte Libby: „Ich kann dir vertrauen, oder?“

„Natürlich, das weißt du. Ich bin immer auf deiner Seite.“

Sie lächelte dankbar und fuhr zögerlich fort. „Was ich erlebt habe, war auf seine Art schlimmer als das, was Taylor Sadie damals angetan hat. Ich glaube, jeder außer dir würde jetzt grundsätzlich anzweifeln, ob ich diesen Job noch machen kann, aber ich möchte nicht, dass du das tust und ich möchte auch vermeiden, dass das auf irgendeine andere Weise passieren könnte. Ich liebe meinen Job, daran hat Bailey absolut überhaupt nichts geändert. Wie ich das meistern werde, müssen wir sehen, aber ich will es versuchen. Ich brauche aber einen Therapeuten, dem ich alles sagen kann, ohne Angst zu haben, dass das hier in Quantico landet.“

„Das verstehe ich absolut. Davon abgesehen denke ich, dass deine Ausgangssituation eine andere ist als bei Sadie. Durch den Übergriff ihres eigenen Bruders hat sie ihre eigene Identität so weit in Frage gestellt, dass sie sich beinahe umgebracht hätte. Dich halte ich für gefestigter.“

Libby lächelte überrascht. „Danke … das hätte ich nicht gedacht.“

„Du kennst Sadie als starke Frau, die sich nicht so leicht erschüttern lässt. Kennengelernt habe ich sie anders. Damals hatte sie noch nicht überwunden, dass ihr Vater ein Serienmörder ist. Du kennst sie so nicht.“

„Nein, das glaube ich dir. Danke, dass du so große Stücke auf mich hältst.“

„Ja, das tue ich. Aber ich möchte, dass du dir die Zeit nimmst, die du brauchst, und ich lege großen Wert darauf, dass du dir Hilfe holst. Von wem ist mir egal. Du könntest auch mal Cassandra Williams fragen, sie kennt hier auch einen Therapeuten, mit dem sie zufrieden war. Vielleicht hilft dir das weiter.“

„Das ist ein guter Tipp, danke. Ich werde es versuchen.“

„Lass uns nach deiner Anhörung noch mal über deine Rückkehr in den Dienst sprechen. Selbst wenn sie dann deine Suspendierung aufheben, heißt das ja nicht, dass du automatisch wieder dienstfähig bist.“

Libby wollte widersprechen, aber sie wusste, es war klüger, es nicht zu tun. „Okay … dann werde ich mich mal wieder auf den Weg machen, glaube ich. Danke, dass du dir Zeit genommen hast. Das war sehr hilfreich.“

„Gern“, sagte Nick. „Bitte richte Owen meinen Gruß aus. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.“

Das hoffte Libby auch. Sie sprach noch kurz mit den anderen, bevor sie zu ihrem Auto zurückkehrte und sich auf den Rückweg nach Arlington machte. Zu Hause wollte sie sich mit der Suche nach einem Therapeuten befassen, denn Nick hatte Recht – das war wichtig. Allerdings war ihr ebenso wichtig, dass nichts davon ans FBI drang. Sie wusste ja nicht, wie lang sie noch Unterstützung durch die Tabletten brauchte und das war etwas, was auf keinen Fall beim FBI landen durfte, das wusste sie nur zu gut.

Sie fühlte sich nervös und aufgewühlt, während sie nach Hause fuhr und hatte gerade den Freeway verlassen, als ihr Telefon klingelte. Es war Owen.

„Hey, ich bin gerade beim Arzt raus. Er hat mich für voll einsatzfähig erklärt, was sagst du jetzt?“

Libby lächelte. „Das ist doch toll.“

„Er hat es mir freigestellt, ob er noch eine oder zwei Wochen draufpacken soll, auch das hätte er vertreten können. Als ich aber sagte, dass ich das nicht will, war er einverstanden. Er meinte zwar, ich soll es langsam angehen lassen, aber ich bin wieder an Bord. Ich bin so froh.“

„Immerhin eine gute Nachricht.“

„Warum? Bist du unterwegs? Es klingt, als wärst du im Auto.“

„Ja, ich war gerade in Quantico … ich musste zu Hause raus.“

„Kann ich verstehen. Wie war es?“

„Nächste Woche ist meine Anhörung wegen Bailey. Nick meinte, es könnte schwierig werden.“

„Ehrlich? Na klasse …“

„Ja … lass uns später darüber reden, gerade bin ich zu sehr mit Fahren beschäftigt.“

„Kann ich verstehen. Na ja, ich wollte auch nur Bescheid sagen – ich fahre jetzt ins Department und überrasche Benny. Bis später. Ich liebe dich.“

Libby erwiderte die Worte und legte auf. Owen hatte es gut, er musste jetzt nicht die ganze Zeit zu Hause rumsitzen. Dazu hatte sie auch überhaupt keine Lust.

Sie bog mit dem Vorhaben in ihre Straße ein, als Nächstes Cassandras Nummer herauszusuchen und sie anzurufen – aber dann fiel ihr ein, dass es in Kalifornien erst kurz vor acht war. Vermutlich musste sie noch etwas warten, bis sie Cassandra überhaupt erreichte.

Sofort machte sie kehrt und fuhr zum Möbelhaus, denn immerhin das öffnete bald. Dort verbrachte sie ein wenig Zeit, bestellte eine neue Tür für den Kleiderschrank und suchte sich schließlich einen kleinen Teppich aus, den sie gleich mitnahm, um ihn vors Bett über den Blutfleck zu legen. Der störte sie wirklich.

Auf dem Rückweg nach Hause holte sie sich einen Snack und als sie wieder in ihrer Wohnung stand und den kleinen Teppich im Schlafzimmer ausgebreitet hatte, ging sie auf die Suche nach ihrem Visitenkartenetui. Sie hatte eine von Cassandra Williams, das wusste sie – Cassandra war jahrelang Sadies Kollegin gewesen, erst in Quantico und später in Los Angeles. Dort leitete sie inzwischen das Profilerteam. Schließlich hatte sie die Karte gefunden und rief bei Cassandra an.

„FBI Los Angeles, Cassandra Williams“, meldete sich die Freundin ihrer Mutter. Es war eine Ewigkeit her, dass Libby sie zuletzt gesehen hatte.

„Hey … hier ist Libby Whitman“, sagte Libby zögerlich.

„Oh, warte kurz … ich schließe eben die Tür, draußen ist es so laut. Wie schön, von dir zu hören. Wie geht es dir? Ich habe gehört, was passiert ist.“

Libby wusste nicht gleich, was sie erwidern sollte. „Geht schon irgendwie … muss ja. Bis gestern war ich in Kalifornien bei Sadie und Matt.“

„Ja, das kann ich verstehen. Hat bestimmt gutgetan. Warum rufst du denn an?“

„Ach, ich … ich war gerade bei Nick Dormer in Quantico und er sagte mir, dass du hier in der Gegend einen guten Therapeuten kennst. Von damals.“ Mehr sagte Libby nicht. Sie wusste, dass Cassandra vor Jahren entführt und auch vergewaltigt worden war, bevor sie schließlich zu Sadie nach Los Angeles gewechselt hatte.

„Oh, verstehe. Natürlich. Hatte Nick denn keinen guten Tipp für dich?“

„Doch, aber das ist jemand, der öfter FBI-Agenten betreut und … ich weiß nicht, mir ist komisch bei dem Gedanken, dass vielleicht irgendwann etwas von dem, was ich dort erzähle, in Quantico landet.“

„Nachvollziehbar. Also … ich hatte damals nur einige Sitzungen bei ihm, bevor ich nach Los Angeles gegangen bin, aber ich fand ihn gut. Er heißt Michael Harington und praktiziert in Alexandria. Das müsste doch gut für dich passen.“

„Ja, das ist hier um die Ecke. Danke, ich gehe mal auf die Suche nach ihm.“

„Okay, also … ich weiß ja nicht besonders viel über das, was passiert ist, aber ich hatte damals kein Problem damit, mit einem Mann über alles zu sprechen. Er war da wirklich toll. Nur, dass du das mal gehört hast.“

Libby schluckte. „Danke, gut zu wissen. Ich … also … es hat mich gefreut. Danke für deine Hilfe.“

Cassandra zögerte kurz und sagte dann: „Falls ich dir je helfen kann, sag es mir bitte. Ich wünsche dir alles Gute.“

Libby bedankte sich und legte auf. Sie war Cassandra unendlich dankbar, dass sie sie gerade nicht weiter bedrängt hatte, aber das kannte sie ja selbst.

Sie atmete tief durch und ging im Internet auf die Suche nach Michael Harington. Als sie seine Nummer gefunden hatte, hinterließ sie eine Nachricht auf seiner Mailbox und atmete tief durch.

Konnte sie sich vorstellen, mit einem Mann darüber zu sprechen? Vielleicht war das sogar gerade gut, weil sie auf diese Weise ein Gefühl dafür bekam, wie sie mit Owen sprechen konnte. Sie wollte es versuchen.

Libby war gerade damit beschäftigt, die Wäsche zu waschen, als unverhofft ihr Handy klingelte. Sie erkannte die Nummer auf dem Display als die des Therapeuten und nahm das Gespräch gleich entgegen.

„Michael Harington hier. Sie hatten mir vorhin auf die Mailbox gesprochen“, begann er.

„Ja, das ist richtig. Danke für den schnellen Rückruf.“

„Habe ich das richtig verstanden – Sie sind die FBI-Agentin Libby Whitman?“

Sie wusste, worauf er hinaus wollte. „Genau … offensichtlich sagt Ihnen das was.“

„Ja, sicher. So lange ist es nicht her, dass Ihr Bild im Fernsehen war. Passen Sie auf – ich habe eigentlich gar keine Kapazitäten für neue Patienten, aber mir ist klar, dass Sie akut jemanden brauchen. Ich könnte Sie an eine Kollegin in Annandale vermitteln, zu deren Patienten schon einige Bundesagenten gehörten.“

„Das hat mein Chef mir heute auch schon vorgeschlagen, aber ich … Cassandra Williams hat Sie mir empfohlen. Ich weiß nicht, ob Sie sich an sie erinnern, es ist schon ein paar Jahre her.“

„Doch, ich weiß, wer das ist.“ Harington atmete tief durch. „Sie arbeiten nicht schon wieder, oder?“

„Nein, genaugenommen bin ich sogar vom Dienst suspendiert.“

„Die einzige Möglichkeit, die ich da gerade sehe, ist, dass ich mich vormittags mit Ihnen treffe – in den Zeiten, in denen die meisten meiner Patienten normalerweise arbeiten. Wenn das okay für Sie ist …“

„Das wäre doch großartig.“

„In Ordnung. Sind Sie damit einverstanden, dass ich mich vorab ein wenig über alles informiere, was passiert ist? Aus meiner Erfahrung hilft es dabei, wenn Sie mir nicht erst alles erklären müssen. Ich nehme an, das fällt Ihnen ohnehin schwer.“

„Ziemlich“, gab Libby zu.

„In Ordnung. Geben Sie mir Zeit bis übermorgen. Wie wäre es am Mittwoch um zehn?“

Libby war überrascht und gleichermaßen erfreut. „Das ist toll. Vielen Dank.“

„Ich möchte Ihnen gern helfen. Danke, dass Sie mir Ihr Vertrauen entgegenbringen. Wir sehen uns am Mittwoch.“

Libby verabschiedete sich und legte auf. Das Herz klopfte ihr noch immer bis zum Hals, aber trotzdem fand sie, dass das gut gelaufen war. Er hatte nett geklungen – sympathisch. Sie war gespannt darauf, ihn kennenzulernen.

Sie überlegte, was sie nun machen konnte, um sich bis zu Owens Heimkehr irgendwie die Zeit zu vertreiben. Schließlich schaltete sie die Stereoanlage ein, um mit Musik die Stille zu verjagen und kümmerte sich ein wenig um die Hausarbeit. Etwas Besseres wusste sie gerade nicht.

Sie war Nick dankbar, dass er sie schon einmal vorgewarnt hatte, was ihre Anhörung in einer Woche betraf. Das war verdammt wichtig, die würde sie irgendwie überstehen müssen.

Als sie schließlich alles erledigt hatte, war es erst halb fünf. Sie war immer noch allein, was sie verrückt machte. Vor allem Stille machte sie verrückt. Stille – und Dunkelheit. Das hatte sie Vincent zu verdanken und den vielen Stunden, in denen er sie, allen Sinneseindrücken beraubt, sich selbst überlassen hatte.

Sie haderte immer noch damit, dass sie irgendwann keine Kraft mehr gehabt hatte, um sich ihm noch zu widersetzen. Dass sie ihn angefleht hatte, aufzuhören und sie nicht mit seinem Messer völlig zu entstellen. Zwar hatte es wenigstens funktioniert, aber jetzt war sie deshalb wütend auf sich selbst.

Sadie hatte Recht. Es war wichtig, dass ihr aus eigener Kraft die Flucht gelungen war und dass sie Vincent auch erschossen hatte. Sie war nicht allem ausgeliefert gewesen.

Schließlich schaltete sie den Fernseher ein und vertrieb sich einfach irgendwie die Zeit, bis Owen nach Hause kam. Sie war unendlich erleichtert, als die Wohnungstür geöffnet wurde und er hereinkam. Erwartungsvoll ging sie ihm entgegen und umarmte ihn.

„Hey“, sagte er und küsste sie zur Begrüßung. „Da bin ich wieder. Wie war dein Tag?“

„Ganz gut, und deiner?“

„Auch ziemlich gut. Ich bin zwar zu nichts gekommen, weil dauernd irgendwer da war, um mich zu begrüßen und mit mir zu sprechen, aber es war trotzdem toll, wieder zurück zu sein.“

„Wie geht es Benny?“

„Bestens. Er hat sich gefreut, dass ich wieder da bin, und er hat sich nach dir erkundigt. Ich soll dir seine besten Grüße ausrichten.“

Libby lächelte. „Lieb von ihm.“

„Aber jetzt erzähl mal – was sagte Nick da heute zu deiner bevorstehenden Anhörung?“

Gemeinsam gingen sie zum Sofa und setzten sich. Libby seufzte und suchte nach Worten, bevor sie sagte: „Er fürchtet, dass sie sehr darauf abzielen, mir Vorsatz bei Vincents Tod zu unterstellen.“

„Ernsthaft? Die fallen dir in den Rücken?“

„Ich weiß nicht, ob ich das so sehen soll … sie machen ihre Arbeit. Sie sind misstrauisch. Und ja, ich habe ihn in voller Absicht erschossen. Ich habe es nur so angestellt, dass sie es mir hoffentlich nicht nachweisen können.“

„Die wissen doch auch, was er mit dir gemacht hat. Wäre es ihnen lieber, er hätte dich und Mary Jane schon wieder in seine Gewalt gebracht? Hätten sie ihn jetzt wirklich lieber im Knast?“ Verständnislos schüttelte Owen den Kopf.

„So, wie ich Nick verstanden habe, glauben sie, ich hätte die Ereignisse bewusst so gelenkt, dass ich ihn am Ende erschießen konnte.“

Owens Gesichtsausdruck verriet, wie er das fand. „Die sind ja übergeschnappt.“

„Am Ende habe ich es gelenkt. Aber bis dahin … Er hat auch mir nicht viele Möglichkeiten gelassen. Es war schwierig und es hat nur geklappt, weil ich zwei Waffen hatte.“

„Weißt du, was sie mir in Washington sinngemäß gesagt haben, als es hieß, dass meine Waffe beschlagnahmt werden muss? Glückwunsch, jetzt ist es einer weniger!“

„Ich weiß. Ich nehme das nicht persönlich … ich muss das nur irgendwie überstehen nächste Woche.“

„Kann ich dir helfen? Ich darf da nicht mit, oder?“

„Vermutlich nicht. Sie befragen sogar Nick getrennt von mir. Ich fürchte, da muss ich allein durch.“

Owen seufzte tief. „Ich hoffe, das klappt. Ich meine … ich staune ohnehin darüber, wie ruhig du die meiste Zeit bist. Ich könnte verstehen, wenn du ein hysterisches Nervenbündel wärst, aber das bist du nicht.“

„Ich staune darüber auch, wenn du es wissen willst …“ Libby zog die Schultern hoch und überlegte kurz, bevor sie sagte: „Ich habe einen Termin bei einem Therapeuten gemacht.“

„Das ist gut. Du hast also einen gefunden?“

„Ja, eine frühere Kollegin von Sadie konnte mir hier einen nennen. Wir lernen uns am Mittwoch kennen.“

„Oh, klasse. Und … es ist ein Mann?“

„Ja, warum nicht? Am Telefon klang er toll. Ich bin gespannt, wie das wird. Aber vielleicht ist es gerade gut, dass es ein Mann ist. Vielleicht kann er mir dabei helfen, mir auch deine Sichtweise näher zu bringen und mir sagen, wie ich mit dir umgehen soll. Das wäre toll.“

Owen lächelte erfreut. „Ich bin schon sehr gespannt, wie das wird. Und ich bin wirklich stolz auf dich. Du machst das großartig.“

„Danke“, erwiderte Libby und lehnte sich zufrieden an ihn.

 

 

 

Dienstag, 7. September

 

Libby hatte noch ein wenig eingekauft und Inserate von Wohnungen und Häusern durchstöbert, aber irgendwann hatte sie nichts mehr zu tun. Halb vier. Es würde noch dauern, bis Owen nach Hause kam. Heute immerhin etwas früher, weil sie den Termin mit dem Makler hatten. Ein Lichtblick.

Weil sie nichts mit sich anzufangen wusste, griff sie schließlich zum Telefon und rief Sadie an. Sie wusste nicht, was Sadie gerade machte, aber in Kalifornien war es Mittagszeit und das war nie schlecht.

„Hey“, meldete Sadie sich erfreut. „Schön, dass du anrufst. Seid ihr gut angekommen?“

„Ja, schon. Am liebsten wäre ich nicht hier, aber was soll ich machen?“

„Das kann ich verstehen. Hattet ihr nicht heute schon einen Termin mit einem Makler?“

„Ja, nachher. Ich bin gespannt. Owen ist wieder dienstfähig, jetzt sitze ich hier allein.“

„Oh, das habe ich auch immer gehasst. Bei mir hat es dazu geführt, dass ich eine traumapsychologische Fortbildung gemacht habe!“ Sadie lachte kurz, aber dann fragte sie: „Wie kommst du zurecht? Es ist schwer, wieder in der Wohnung zu sein, oder?“

„Ziemlich, ja. Gestern bin ich nach Quantico geflohen“, begann Libby und berichtete von allem, was sie erfahren hatte.

„Ich bin überrascht, dass deine Anhörung schon nächste Woche ist. Das gefällt mir nicht“, sagte Sadie schließlich.

„Ich kann es nicht ändern. Ich kann mir aber denken, wie sie es machen werden. Darauf muss ich mich entsprechend vorbereiten.“

„Ich bin sicher, dass du das schaffst.“

„Ich hoffe es … Ich habe jetzt sogar einen Therapeuten gefunden. Denselben, zu dem Cassandra damals gegangen ist.“

„Oh, tatsächlich? Das ist gut. Du klingst auf jeden Fall besser, wenn ich das so sagen darf. Das beruhigt mich.“

„Im Moment bin ich vor allem zu Tode gelangweilt. Hoffentlich darf ich bald wieder arbeiten.“

„Ich weiß, wie das ist … so ging es mir auch immer. Trotzdem solltest du es nicht überstürzen.“

„Solange ich suspendiert bin, bestimmt nicht.“

„Ach, das wird schon. Übrigens tat es Hayley sehr gut, dass du mit ihr gesprochen hast. Ich weiß nicht, was du ihr gesagt hast, aber es scheint genau richtig gewesen zu sein. Sie hat es schon schwer mit ihrer FBI-Familie …“

Libby grinste. „Im Moment bin das doch nur noch ich.“

„Aber ihre Eltern waren beide beim FBI und das hat sie auch geprägt. Ihre Schulfreunde wissen mit Glück, dass es Serienmörder gibt, und Hayley hätte beinahe welche kennengelernt …“

„Sie ist ein ganz normales Mädchen und das ist auch gut so.“

„Ja, da hast du Recht. Tut mir leid, dass ich nicht so viel Zeit habe, aber ich muss gleich zu einer Besprechung. Wir können ja später oder morgen noch mal telefonieren.“

„Okay“, sagte Libby gleichmütig. Immerhin hatte sie schon etwas Zeit totgeschlagen. Irgendwie schaffte sie es auch, die Zeit bis zu Owens Rückkehr um kurz nach fünf zu überwinden, dann machten sie sich ohnehin auf den Weg zu dem Makler, der ihnen ganz in der Nähe ein Haus zeigen wollte, das zum Verkauf stand.

Er wartete schon in der Auffahrt auf sie, als sie eintrafen. Owen ging auf ihn zu und übernahm die Vorstellung mit einem Händeschütteln.

„Owen Young, meine Frau Libby Whitman“, sagte er wie selbstverständlich, während Libby spürte, wie der Makler sie nachdenklich ansah. Er versuchte gleich, es zu überspielen, und sagte: „Sie tragen unterschiedliche Nachnamen?“

„Ja, hat sich so ergeben“, erwiderte Owen bloß.

„Aber irgendwie kommen Sie mir bekannt vor.“ Nun richtete der Mann sich an Libby. Keiner der beiden wusste auf Anhieb, was sie erwidern sollten, doch zu Libbys Erleichterung sprang Owen ein.

„Vielleicht aus dem Fernsehen. Meine Frau ist beim FBI und war letztens noch im Fernsehen.“

„Ach, tatsächlich? Und Sie sind bei der Polizei, sagten Sie?“

Owen nickte und der Makler fuhr fort: „Dann haben Sie ja zumindest ein solides Einkommen.“

„Kann man so sagen“, erwiderte Owen. Libby war stumm wie ein Fisch, das Ganze war ihr unangenehm. Zum Glück begannen sie gleich die Hausbesichtigung.

Zwei Kinderzimmer, zwei Bäder, eine offene Küche und ein toller Garten. Libby wusste bloß noch nicht, was sie davon halten sollte, dass es nicht weit weg von ihrer alten Wohnung war. Sie würden immer noch in denselben Supermarkt gehen und dieselbe Freewayauffahrt benutzen und sie wusste nicht, ob sie das wollte. Eigentlich wollte sie einen Neustart. Das sagte sie Owen auf dem Rückweg auch und er konnte es verstehen.

„Lass uns mal die nächsten Besichtigungen abwarten, das war ja erst der Anfang“, sagte er.

„Ich weiß … Ich will mich auch eigentlich nicht einschränken lassen, aber ich bin da ziemlich unsicher, um ehrlich zu sein.“

„Es muss für uns beide passen. Mach dir keine Gedanken.“

Die machte Libby sich trotzdem. Sie war schweigsam, als sie sich unterwegs beim Chinesen etwas zu essen mitnahmen, weil sie keine Lust mehr hatten, jetzt noch zu kochen. Auch beim Essen war sie anfangs schweigsam, aber Owen ließ sie in Ruhe.

Sie waren fast fertig, als es plötzlich klingelte. Die beiden tauschten einen fragenden Blick und Owen ging zur Tür. Gespannt beobachtete Libby ihn an der Gegensprechanlage, wo er schließlich auf den Knopf drückte, um die Tür zu öffnen.

„Byron“, sagte er knapp und mit einem Gesichtsausdruck, der seine Überraschung verriet.

„Ach was“, erwiderte Libby erstaunt. Augenblicke später war Byron oben und betrat neugierig die Wohnung, als sei nie etwas gewesen.

„Schön, dass ihr zu Hause seid. Ich war gerade in der Nähe und wollte mal sehen, wie es euch geht“, sagte er.

„Okay. Komm rein“, sagte Owen schlicht. „Wir sind fast mit dem Essen fertig. Hätten wir gewusst, dass du kommst …“

„Nee, passt schon. Ich hab keinen Hunger. Ich war letzte Woche schon mal hier, aber da war hier keiner.“

„Wir waren in Kalifornien“, erwiderte Owen.

„Ja, sowas habe ich mir gedacht. Ich hab das ja im Fernsehen mitbekommen, was passiert ist …“ Betreten blickte Byron zu Libby. „Ich gebe zu, ich war noch eingeschnappt, als es passiert ist und dachte, Owen reißt mir den Kopf ab, wenn ich ihn in diesem Moment anrufe. Deshalb habe ich mich nicht getraut. Aber irgendwie musste ich doch immer dran denken.“

„Schön, dass du gekommen bist“, sagte Libby und stand auf. Als Byron nun die Verletzungen an ihren Armen sah, machte er große Augen.

„Shit. Das sieht übel aus … Darf ich dich in den Arm nehmen?“

„Sicher darfst du.“ Libby ging zu ihm und umarmte ihn kameradschaftlich. Owen beäugte das Ganze kritisch von der Seite, sagte aber nichts.

„Tut mir echt leid, was passiert ist. Das hätte ich nie gedacht. Ich habe gesehen, dass Owen sogar im Fernsehen war … hast nicht gut ausgesehen, Bruder.“ Byron sagte das über seine Schulter zu Owen.

„Nein, Bailey hat mich auch fast umgebracht, als er hier aufgetaucht ist, um Libby zu holen“, erwiderte Owen.

„Da war die Rede von Schüssen auf Cops …“

„Die haben mich da eingerechnet. Er hat mir in die Schulter und ins Bein geschossen. Ich wäre fast verblutet.“

„Holy shit.“ Byron wirkte ernsthaft betroffen. „Und du …“ Jetzt blickte er wieder zu Libby.

„Du siehst es ja“, murmelte sie. „Dabei sieht man gar nicht alles.“

„Oh Mann … im Fernsehen meinten sie, du wärst ihm entkommen.“

Sie nickte. „Er war Diabetiker, das wusste ich. Er hat mich nur einen Augenblick mit seinem Insulin allein gelassen, deshalb habe ich mehr in seine Spritze aufgezogen und er hat sich eine Überdosis verpasst. Ich konnte die Handschellen knacken, als er bewusstlos war.“

Byron war sichtlich erstaunt. „Krass. Du hast es aber drauf.“

„Das war nach fünf Tagen … bis dahin hatte ich keine Chance.“

„Oh Mann.“ Erneut umarmte Byron sie. Seine Bestürzung war echt, das spürte Libby.

„Lieb, dass du gekommen bist“, sagte sie.

„Ja, das musste sein. Das hat mich echt beschäftigt, aber ich wollte auch nicht einfach anrufen. Das fand ich irgendwie seltsam.“

„Nein, schon okay. Willst du was trinken?“, fragte Libby.

Byron nickte und nahm ein Budweiser, als Owen ihm eins anbot. Gemeinsam setzten sie sich an den Tisch und Libby und Owen aßen noch zu Ende. Die ganze Zeit über musterte Byron Libby fragend.

„Was ist los? Was geht dir durch den Kopf?“, fragte sie.

„Dass ich mir irgendwie nicht richtig vorstellen kann, was passiert ist. Aber ich sehe es ja … und irgendwie lässt du es dir ja fast nicht anmerken.“

„Dachtest du, ich liege weinend im Bett?“

„So ähnlich … keine Ahnung. Du bist ja schon ziemlich cool und ich finde es echt scheiße, dass das passiert ist. Das habt ihr beide nicht verdient.“

„Danke“, sagte Owen. Als Libby bemerkte, wie er seinen Bruder ansah, spürte sie, dass er es ernst meinte.

„Und wie geht es dir? Hast du jetzt eine Wohnung?“, fragte Libby.

„Ja, tatsächlich. In Canton, gar nicht weit vom Hafen in Baltimore entfernt. Nichts Besonderes, aber es ist meins. Ich hab das zum Glück schnell gefunden. War einfacher, als ich nicht mehr hier war. Ich bin ja hier mitten in der Woche weg und am Wochenende war ich da schon drin.“

„Gut zu hören“, sagte Owen.

„Ja, ich komme schon zurecht.“

„Und die Arbeit?“, fragte Libby.

„Ach, die ist ganz gut. Abwechslungsreich. Die Kollegen sind nett. Es ist zwar anders hier als in Kalifornien, aber das ist okay.“

„Mir fehlt es“, sagte Libby.

„Ja, ich weiß auch noch nicht, ob ich hier mit allem warm werde … die Leute hier sind nicht so entspannt. Aber ich bin ja noch nicht lang hier. Und ihr? Geht ihr denn wieder arbeiten?“

„Ich seit gestern“, sagte Owen. „Libby noch nicht.“

„Leider“, sagte sie. „Hier rumzusitzen ist auf seine Art ziemlich anstrengend. Vorhin haben wir uns ein Haus angeschaut, wir überlegen jetzt umzuziehen.“

„Kann ich verstehen. Dieser Kerl ist hier eingebrochen, oder?“

„Mitten in der Nacht“, sagte Owen. „Wir haben geschlafen. Erst hat er draußen auf die Polizisten geschossen und dann auf mich. Skrupel kannte er nicht.“

„Wow. Übel. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das gewesen sein muss. Ich bin froh, dass es euch wieder gut geht“, sagte Byron.

„Es wird besser“, sagte Libby.

„Das ist gut zu hören, ehrlich. Auch, dass er tot ist. Ein Mistkerl weniger auf der Welt.“

„Ja, da sagst du was“, stimmte Libby ihm zu.

„Und immerhin stammte der tödliche Schuss aus meiner Waffe“, sagte Owen.

Byron machte ein überraschtes Gesicht. „Du hast ihn erschossen? Im Fernsehen hieß es, er sei bei einem FBI-Einsatz getötet worden.“

„Ja, von mir. Aber mit Owens Waffe“, sagte Libby.

„Was, du hast ihn erschossen? Machen die dir jetzt deshalb nicht die Hölle heiß?“

„Doch, tun sie. Deshalb bin ich ja zu Hause. Sie haben mich vom Dienst suspendiert.“

Byron verdrehte die Augen und nahm noch einen Schluck Bier. „Typisch, oder? Mein Gott, der Kerl war ein Serienmörder. Sollen sie sich doch freuen.“

„Ja, das wäre zu schön.“ Libby stand auf, brachte die Aluschalen in die Küche und ging anschließend ins Bad. Dort hörte sie die Stimmen der Brüder im Wohnzimmer, die nur gedämpft miteinander sprachen. Das weckte ihre Neugier. Schließlich öffnete sie die Tür einen Spalt breit, weil sie hören wollte, worüber die beiden sprachen.

„Sieht übel aus“, sagte Byron.

„Na ja, war nur ein glatter Durchschuss“, erwiderte Owen, so dass Libby daraus schließen konnte, worum es ging. Er hatte Byron wohl gerade die Narbe an seiner Schulter gezeigt.

„Schlimmer war, dass ich an dem Schuss ins Bein fast verblutet wäre. Hätte ich mich in dem Moment bewegt und irgendwie versucht, Libby zu helfen, wäre ich jetzt tot“, fügte Owen hinzu.

„Verdammt, das ist übel. Als ich im Fernsehen davon gehört habe, hat mir das echt keine Ruhe gelassen, aber ich dachte, du willst nichts von mir hören, weil du wegen dem Joint so sauer warst.“

„Ach, das war mir in dem Moment doch vollkommen egal, so wie alles andere. Ich wollte doch bloß meine Frau zurück.“

„Ist ja übel, was er mit ihr gemacht hat … das war bestimmt alles noch viel schlimmer, oder?“

„Kann man so sagen.“

Für einen Moment schwiegen beide, dann fragte Byron: „Ist denn zwischen euch alles okay?“

„Was meinst du?“

„Also … ich weiß ja, was Bailey für einer war. Was er mit den Frauen gemacht hat, die er sich geholt hat.“

Libby erstarrte und wagte kaum, zu atmen, doch auch Owen antwortete nicht gleich.

„Na ja, was glaubst du, was er getan hat? Erzählt hat sie es mir nicht, aber ich weiß das noch alles aus den Ermittlungen. Sie hat tagelang Schmerzmittel geschluckt wie Bonbons.“

„Das ist doch scheiße. Ihr habt doch gerade erst geheiratet.“

„Sag das nicht mir …“

„Hey, Mann, tut mir echt leid, das alles. Wenn ich euch irgendwie helfen kann, einfach raus damit, okay? Ich kann ja mal öfter nach euch sehen. Ich mag deine Frau, sie ist ja netter zu mir als du.“ Byron lachte kurz. „Ich hoffe, ihr kriegt das hin.“

„Ach, das wird schon. Überleg mal, so lang ist es ja noch nicht her. Sie bekommt auch die Hilfe, die sie braucht. Für mich zählt nur, dass sie wieder bei mir ist.“

Libby schluckte hart. Sie hatte nicht erwartet, dass Byron sich solche Gedanken machte und tatsächlich so stark Anteil nahm – und es rührte sie, was Owen über sie gesagt hatte. Dass er einfach froh war, sie wieder bei sich zu haben.

Sie kehrte nicht gleich zu den beiden zurück, sondern erst, nachdem sie noch eine Ativan genommen hatte. Das würde sie vor dem Schlafengehen sowieso tun, deshalb nahm sie sie lieber gleich. So würde sie ruhiger sein, solange Byron da war.

Nachdem sie sich gesammelt hatte, kehrte sie ins Wohnzimmer zurück und setzte sich mit den Brüdern aufs Sofa. Owen legte seinen Arm um sie, während Byron die beiden ansah und grinste.

„Ihr macht mich fertig, ganz ehrlich. Euch kann man ja nicht eine Sekunde aus den Augen lassen. Zwischendurch habe ich mich ja gefragt, ob es nicht geholfen hätte, wenn ich noch hier gewesen wäre, aber …“

Owen schüttelte den Kopf. „Bailey hätte dir einfach in den Kopf geschossen, dann wären wir jetzt auch nicht weiter.“

„Dann kann ich ja noch froh sein, dass du mich rausgeschmissen hast.“

„So gesehen schon …“ Zu Libbys Überraschung zwinkerte Owen seinem Bruder zu. „Kiffst du denn immer noch?“

„Nee, dein Einlauf hat mir gereicht. Das war ja auch bloß, weil man es mir angeboten hat. Ich mache es nicht wieder, Ehrenwort.“

„Wenn du das sagst.“

„Ist auf jeden Fall schön, euch lebendig und in ganzen Stücken zu sehen. Libby, ich habe es meinem Bruder vorhin schon gesagt – wenn ihr was braucht und ich irgendwas für euch tun kann, lasst es mich wissen. Wir sind ja eine Familie.“

Libby lächelte dankbar. „Das ist lieb von dir. Ich werde es mir merken.“

 

 

Mittwoch, 8. September

 

Michael Harington hatte seine Praxis in Alexandria im Stadtteil Rosemont in einem Ärztehaus. Für Libby war das bloß ein Katzensprung, sie brauchte nur etwa zehn Minuten bis dorthin. Mit einem unsicheren Gefühl betrat sie das Gebäude und schließlich die Praxis. Eine Sekretärin begrüßte sie freundlich und bat sie, noch einige Minuten zu warten, doch Libby hatte sich kaum gesetzt, als Michael aus dem Nachbarzimmer kam und sie direkt ansah.

„Ich grüße Sie“, sagte er und ging lächelnd auf sie zu. Als er ihr die Hand hinhielt, stand Libby auf und schüttelte sie.

„Freut mich“, erwiderte sie.

„Kommen Sie, wir können gleich anfangen.“

Libby folgte ihm ins Nachbarzimmer, das ganz anders eingerichtet war als die Klischee-Behandlungsräume von Therapeuten, die man aus dem Fernsehen kannte. Die Einrichtung war modern, aber gemütlich, um das bodentiefe Fenster scharten sich Pflanzen, ganz in der Nähe auf einem Teppich stand eine einladende Sitzgarnitur. Trotzdem fühlte Libby sich für einen Moment seltsam. Ging sie gerade wirklich zu einem Therapeuten? Aber es musste sein, das wusste sie.

„Setzen wir uns“, sagte Michael. „Ich habe schon einmal Wasser hingestellt – wenn Sie Kaffee oder etwas anderes möchten, sagen Sie es mir.“

„Wasser ist prima.“ Libby setzte sich unsicher und ließ den Raum auf sich wirken, während Michael sie ansah. Sie erwiderte seinen Blick und lächelte scheu.

Sie schätzte ihn um die vierzig. Er war ein hochgewachsener Mann mit dunkelblondem Haar und wachen Augen. Er hatte etwas Vertrauenserweckendes an sich. Das würde ihr die Sache erleichtern, das spürte sie schon jetzt.

In seinem Blick lag etwas Forschendes, aber es fühlte sich nicht unangenehm für sie an, als er sie so ansah.

Schließlich lächelte er und sagte: „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es die Gespräche enorm vereinfacht, wenn man sich beim Vornamen anspricht. Distanz ist hier nicht hilfreich. Wäre das in Ordnung?“

„Natürlich“, sagte Libby.

„Also gut … Du versteckst deine Verletzungen nicht“, stellte er fest.

„Nicht alle. Es gibt noch mehr, aber die sieht man so nicht“, sagte Libby.

„Bitte sag mir, wenn es dir unangenehm ist, aber tatsächlich verrät mir das viel und ist sehr hilfreich für mich. Bis jetzt weiß ich, dass du 26 bist und beim FBI in Quantico als Profilerin arbeitest. Ursprünglich kommst du aus Kalifornien, oder?“

Libby nickte. „Das stimmt.“

Michael blickte auf den Ring an ihrer Hand. „Du bist verheiratet?“

„Ja, mein Mann heißt Owen. Er ist Polizist in Washington und wir haben erst Mitte Juli geheiratet.“

„Also noch ganz frisch.“

„Ja … das ist auch mit einer der Gründe, weshalb ich hier bin und weshalb ich es gut finde, dass du ein Mann bist. Das sehe ich als Training an, denn mir fehlen Owen gegenüber immer noch die Worte. Er weiß genug über Bailey, um zu ahnen, was passiert ist und auch er sieht es mir ja an, aber solange ich nicht fähig bin, mit ihm über alles zu sprechen …“ Ratlos hob Libby die Hände. „Das ist ein Problem.“

„Das kann ich mir vorstellen. Ich finde es interessant, dass du Bailey beim Namen nennst.“

„Ja, das tue ich immer. Ich habe monatelang gegen ihn ermittelt, wir standen auch immer wieder in Kontakt. Er ist für mich kein namenloser Fremder. Besser macht es das aber nicht unbedingt.“

„Also schön – ich weiß, dass Bailey zusammen mit seinem Cousin jahrelang Frauen eingesperrt, gefoltert und getötet hat. Nach Randall Howards Tod hat er allein weitergemacht – und er hatte dich die ganze Zeit im Blick?“

„Ich war es, die Randall Howard erschossen hat. Er hat sich mein Gesicht gemerkt und herausgefunden, wer ich bin. Und da ich in sein Beuteschema passe …“ Hilflos zuckte Libby mit den Schultern.

„Ist es hilfreich für dich, dass du selbst vom Fach bist oder macht es das schwieriger?“

„Ich weiß nicht, ob es hilft. Ich weiß, warum ich nicht über meine traumatischen Erfahrungen sprechen kann und ich kann Flashbacks und Dissoziationen benennen, aber in den Griff kriege ich die deshalb nicht unbedingt.“

Michael nickte interessiert. „Das klingt alles sehr überlegt.“

„Ich analysiere es ja … ich kann dir auch sagen, das Randall Howard ein waschechter Sadist war, der sich nicht für Sex interessiert hat. Bei Bailey war das anders. Anfangs hat er noch auf seinen Cousin gehört, aber als er allein getötet hat, trat bei ihm der klassische Sexualsadist zutage.“

Nun war Michael sichtlich erstaunt. „Du kannst das aber wirklich gut benennen.“

„Alles, wozu ich genug Distanz habe. Das hat sich ja alles entwickelt … Diese Narbe hier“, Libby deutete auf ihren Hals, „stammt von dem Schuss, den er Ende Mai auf mich gerichtet hat. Da wollte er mich noch töten. Ich wäre fast daran gestorben. Aber dann …“ Sie zog die Schultern hoch. „Er hat Frauen entführt, in seinen Bunker in den Wäldern Pennsylvanias gebracht und dort vergewaltigt und gefoltert. Das kann ich dir sagen, wenn ich dabei an die anderen Frauen denke. Aber wie du siehst …“ Libby hielt ihm ihre Arme hin. „Ich habe mir die Handgelenke an meinen Fesseln wundgescheuert. Er hat mich mit seinem Messer geschnitten, nur um mich zu quälen. Er hat …“ Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie offen sie sprach, weshalb sie plötzlich Angst vor ihrer eigenen Courage bekam.

Doch Michael nickte ihr ermutigend zu. „Das ist gut. Du machst das großartig.“

„Aber jetzt … ich …“ Libby sank in sich zusammen und fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht.

„Ich kann dir auch Fragen stellen, die du nur beantworten musst.“

„Okay … das geht vielleicht besser.“

„Du warst fünf Tage bei ihm, ist das richtig?“

Libby nickte.

„Sein Versteck war ein Bunker?“

„Ja, ein alter, verlassener Bunker mitten in der Wildnis in Pennsylvania. Ich weiß nicht, wie er den gefunden hat. Er hat ihn zu seinem Zuhause gemacht, da waren Vorräte und ein Bett und …“ Libby schloss kurz die Augen. „Er hatte Ketten in die Wand geschlagen.“

„Um seine Opfer an der Flucht zu hindern.“

„Ja, er hat mich da auch festgekettet …“ Nun begann Libby zu zittern.

„Geht es noch?“

Sie nickte, sagte aber nichts. Michael zögerte kurz, bevor er fortfuhr.

„Willst du mir noch andere Verletzungen zeigen? Geht das überhaupt?“

Libby nickte und zog den Ärmel ihres T-Shirts hoch über die Schulter. „Dieses Brandzeichen hat er mir verpasst, um mich zu seiner Sklavin zu machen. Das haben er und Howard auch immer mit den anderen Frauen gemacht. Und am Rücken …“ Sie blinzelte kurz und ballte die Hände zu Fäusten. „Am Rücken habe ich Striemen. Er hat … nein, ich kann nicht.“

„Schon gut. Ich verstehe schon. Es hat ihm also Freude bereitet, dir Schmerzen zuzufügen.“

Mit Tränen in den Augen nickte Libby. „Immer wieder … und er …“ Sie holte tief Luft. „Er hat mich vergewaltigt.“

Michael machte ein überraschtes Gesicht. „Gut, dass du das formulieren kannst.“

„Ja, das … das habe ich früher schon geübt. Das ist schon mal am College passiert und hat mich natürlich immer begleitet, auch wenn ich damit zurechtgekommen bin. Den Täter habe ich damals angezeigt und er wurde auch verurteilt.“

Der Therapeut nickte anerkennend. „Das hat dir sicher sehr geholfen.“

„Es hat mir die Kontrolle zurückgegeben. Aber jetzt … ich hatte tagelang überhaupt keine Kontrolle. Ein einziges Mal habe ich versucht, ihn anzugreifen und wegzulaufen. Das war mehr so eine Verzweiflungstat, es hat auch überhaupt nicht funktioniert. Dafür hat er mich dann bestraft. Er wollte mich brechen. Er wollte, dass …“ Libby schnappte nach Luft. „Dass ich ihn als seinen Herrn anspreche …“

„Hast du?“

Sie nickte. „Irgendwann schon.“

„Macht dir das zu schaffen?“

„Schon, ja … Da gibt es so einiges. Ich weiß, ich hatte keine Wahl, wenn ich überleben wollte, aber er hat mir jede Selbstbestimmung genommen. Damit komme ich nicht zurecht.“

„Das ist vollkommen normal. Es würde jedem so gehen. Kannst du mir den Ablauf ungefähr schildern, damit ich es mir vorstellen kann? Ich weiß, dass man euch zwischendurch fast gefunden hätte.“

Libby nickte und berichtete Michael in groben Zügen davon, wie Bailey sie entführt und nach Pennsylvania gebracht hatte. Details über das, was er ihr zwischendurch angetan hatte, sparte sie aus. Sie beschränkte sich darauf, Michael zu erzählen, wann Vincent mit ihr nach Pine Glen geflohen war und auch, wie sie es geschafft hatte, sich selbst zu befreien. Als er das hörte, nickte er anerkennend.

„Ich wusste aus den Medien, dass dir die Flucht gelungen ist, aber ich hatte keine Ahnung, wie du das angestellt hast. Hilft es dir, wenn ich dir sage, dass doch noch eine ganze Portion Mut und Selbstwirksamkeit dazugehörte, das zu schaffen? Ich meine, du hast riskiert, sein Insulin zu manipulieren, obwohl er das hätte sehen und auch nachträglich jederzeit hätte bemerken können.“

„Damit habe ich mein Leben aufs Spiel gesetzt. Wenn das schiefgegangen wäre …“ Libby brachte den Satz nicht zu Ende. „Es war nichts weiter als pure Verzweiflung.“

„Mag sein, aber es war eine Chance. Vielleicht deine einzige. Und du hast sie genutzt. Das hätte nicht jeder getan.“

„Ich musste. In den Monaten, in denen ich gegen ihn ermittelt habe, bin ich mit dem konfrontiert worden, was er den anderen Frauen angetan hat. Vor ihrem Tod hat sie verstümmelt – das ist etwas, was er von Randall übernommen hatte. Randall hat Frauen gehasst und hat sie verstümmelt, um ihnen die Weiblichkeit zu nehmen. Vincent hat das aus purem Sadismus getan. Bei mir stand er einmal kurz davor … am letzten Tag. Ich habe ihn irgendwie abwehren können und glaube, er wollte mich noch nicht töten, aber irgendwann hätte er es gewollt. Ich musste einfach die Flucht riskieren.“

Michael nickte verstehend. „Das kann ich gut nachvollziehen. Für unseren Therapieansatz ist das wichtig, denn es macht einen Unterschied, ob du dich selbst gerettet hast oder gerettet wurdest.“

„Ja, das sagte meine Mutter mir schon …“

„Ist sie Psychologin?“

„Sie war auch Profilerin und sie kennt sich aus mit Traumapsychologie. Ich war gerade bei ihr in Kalifornien und sie hat mir auch schon geholfen, aber jetzt bin ich wieder hier … und das gefällt mir nicht. Wir sind auch wieder in unserer Wohnung.“

„Das ist schwierig. Vermutlich siehst du jetzt immer vor dir, was passiert ist?“

„Ja, aber wir sind schon dabei, uns nach etwas Neuem umzusehen.“

Michael lächelte. „Das klingt doch positiv. Ich sehe, dein beruflicher Hintergrund hilft dir durchaus dabei, die Situation zu bewerten. Dennoch ist man natürlich betriebsblind und hat nicht den Blick von außen, der vielleicht notwendig wäre, um etwas Druck rauszunehmen.“

Libby nickte. „Deshalb bin ich hier. Ich will selbst damit klarkommen. Ich habe nachts so oft Alpträume, die mir den Schlaf rauben.“

„Ja, das ist verständlich. Ist das häufig?“

„Das kommt darauf an. Nach meiner Flucht war ich ja im Krankenhaus in Pennsylvania und der Arzt dort hat mir Ativan mitgegeben. Eigentlich wollte ich nicht, aber wenn ich die nehme, kann ich wenigstens schlafen.“

Michael nickte verstehend. „In der Anfangszeit kann das durchaus helfen. Ich bin da immer vorsichtig, aber ich nehme an, die Risiken kennst du selbst.“

Libby nickte. „Sicher … trotzdem bin ich froh, dass ich sie habe. Kannst du die bei Bedarf verschreiben?“

Michael nickte. „Ja, das ist kein Problem. Wann hast du zuletzt eine genommen?“

„Gestern.“

„Und hast du noch genug?“

„Drei Stück.“

„Okay, dann bekommst du von mir noch ein paar. Was würdest du sagen, wie oft du sie brauchst?“

Libby zuckte mit den Schultern. „Als wir bis zum Wochenende bei meinen Eltern in Kalifornien waren, ging es einigermaßen, aber seit wir wieder hier sind … ich mache in diesem Zimmer fast kein Auge zu.“

„Schlaft zur Not mal bei Freunden oder geht in ein Hotel. Natürlich kannst du dich in diesem Zimmer nicht sicher fühlen.“

„Leider …“ Libby seufzte traurig. „Das hat er alles kaputt gemacht.“

„Darüber darfst du wütend sein. Wenn ich dich so ansehe, habe ich den Eindruck, du bist überraschend gefestigt und sehr reflektiert. Wo siehst du denn gerade dein größtes Problem?“

„Darin, dass ich lernen muss, es in Worte zu fassen. Mein Sprachzentrum macht da noch nicht so mit, wie ich es gern hätte, und das frustriert mich.“

Michael lächelte. „Dann bist du hier genau richtig.“

Das Gespräch mit Michael tat ihr jetzt schon unheimlich gut. Sie war froh, dass sie mit ihm sprechen konnte, und verließ die Praxis nach einer Stunde schließlich mit einem befreiten Gefühl. Michael hatte ihr auch ein Rezept für Ativan ausgestellt, was sie sehr beruhigte.

Es war ein zweischneidiges Schwert, das wusste sie. Solche Beruhigungsmittel waren nur für den kurzzeitigen Einsatz gedacht, weil sie ansonsten verdammt schnell abhängig machten. Libby wollte sie eigentlich immer noch nicht nehmen, aber sonst rissen Alpträume sie jede Nacht aus dem Schlaf. Sie versuchte schon, so wenig wie möglich davon zu nehmen, aber wenn sie eine nahm, funktionierte sie so gut, dass es schwierig war, dem zu widerstehen.

Vielleicht schaffte sie es jetzt, davon wegzukommen, wenn sie regelmäßig zu Michael ging. Er hatte ihr noch einen Termin für Freitag gegeben, was sie freute. Tatsächlich fühlte sie sich sehr wohl bei ihm und war froh über Cassandras Empfehlung. Das würde sie ihr bei Gelegenheit auch sagen.

Bevor sie nach Hause fuhr, suchte sie sich eine Apotheke heraus, die fast auf dem Heimweg lag, und fand eine Filiale von CVS ganz in der Nähe. Dort löste sie ihr Rezept ein und setzte den Heimweg etwas entspannter fort.

Michael war überhaupt der Erste, dem sie erzählt hatte, dass sie die Tabletten nahm. Owen hatte sie es verschwiegen, weil sie nicht wollte, dass er sich noch mehr Sorgen machte als ohnehin schon. Er hatte einen drogenabhängigen Bruder, da brauchte er nicht noch irgendwelche Sorgen, dass seine Frau da ebenfalls ein Problem bekam. Immerhin hatte Michael ihr da gerade einige Sorgen genommen, indem er gesagt hatte, dass er den Einsatz der Tabletten nicht grundsätzlich ablehnte. Er würde ein Auge darauf haben.

Als sie wieder zu Hause war, surfte Libby ein Weilchen im Internet, bevor sie sich um den Haushalt kümmerte und schließlich vor dem Fernseher aufs Sofa legte. Sie verstand nicht, wie es Menschen auf der Welt geben konnte, die lieber nichts taten, als zu arbeiten. Sie fühlte sich gar nicht gut dabei.

Entsprechend froh war sie, als Owen endlich nach Hause kam. Er wirkte gestresst und müde und versuchte zwar, ihr liebevoll gegenüberzutreten, aber sie merkte deutlich, dass er erschöpft war.

„Alles okay?“, fragte sie.

„Ja, ich bin bloß ziemlich geschlaucht. Mein dritter Tag zurück im Dienst und ich war heute Morgen noch gar nicht ganz im Büro, als wir schon zu einem Tatort gerufen wurden.“

„Ein Mord?“

Owen nickte und während er voraus ins Schlafzimmer ging, um sich umzuziehen, sagte er: „Wieder so ein klassischer Fall, der am Ende doch nicht aufgeklärt wird. Heute Morgen wurde in aller Frühe auf einem öffentlichen Parkplatz an der K-Street, Ecke North Capitol Street, eine Leiche entdeckt. Ein junger Mann, vielleicht etwas jünger als du, den wir noch nicht mal identifiziert haben. Er hatte nichts bei sich. Ihm wurde von hinten in den Kopf geschossen. Wir wissen nur, dass er ein Junkie war, denn das haben uns die Einstichnarben in seinen Armbeugen verraten. Bleibt bloß zu hoffen, dass ihn jemand als vermisst meldet, sonst wird das ein Spaß, ihn zu identifizieren … aber wenn wir das nicht schaffen, klären wir den Fall sowieso nie auf.“

Libby trat von hinten an ihn heran. „Das klingt aber ziemlich frustrierend.“

„Ist es auch. Das Dumme ist, dass er ja nicht mal dort getötet wurde. Es sah so aus, als hätte man ihn ihm Vorbeifahren aus einem Auto geworfen. Erschossen wurde er also woanders. Aber wieso? Ich habe keine Ahnung. Die haben wir beide nicht. Benny ist noch im Büro und geht ein paar Streetworkern auf die Nerven, aber er meinte, ich soll schon mal Feierabend machen und mich um dich kümmern.“

Nun lächelte Libby gerührt. „Lieb von ihm.“

„Ja, fand ich auch … ich hatte zwar ein schlechtes Gewissen, aber ganz ehrlich, du gehst gerade vor.“

„Ich freue mich auch, dass du hier bist.“

„Wie war es denn bei dem Therapeuten? Lief es gut?“, fragte Owen.

„Ja, sehr gut sogar. Übermorgen habe ich wieder einen Termin. Ich habe ihm schon einiges erzählt und war erstaunt, wie gut das klappt.“

„Ist doch toll. Genau das brauchst du doch.“

„Und wie. Es ist auch gut, dass er ein Mann ist.“

Owen lächelte. „Das freut mich sehr. Ich habe mich ja schon ein wenig gewundert, dass du damit kein Problem hast, aber so ist es ja wirklich am besten.“

„Na ja, du bist auch ein Mann. Ich brauche einen anderen Mann zum Üben, wenn ich mit dir reden will. Wobei ich ja immer noch nicht weiß, ob Reden überhaupt so sinnvoll ist, wenn wir uns eigentlich erst mal auf anderer Ebene wieder näher kommen wollen …“

„Hast du das mit ihm besprochen?“, fragte Owen.

„Noch nicht, aber ich denke, das gehe ich am Freitag mal an. Ich bin gespannt, wie er das sieht.“

Owen gab ihr einen Kuss. „Klasse. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich habe Hunger. Wollen wir uns was kochen?“

„Gute Idee“, fand Libby.

 

 

Freitag, 10. September

 

Libby war froh über ihren Termin bei Michael. Im Augenblick nutzte sie jede Gelegenheit, um irgendwie aus der Wohnung zu kommen. Am Vorabend hatten sie mit einer Maklerin ein Haus in Springfield besichtigt, das ihnen sehr gut gefallen hatte. Damit hatte Libby sich auch auf Anhieb wohler gefühlt, denn es lag weit genug von ihrem alten Zuhause entfernt, um keinerlei Berührungspunkte zu liefern. Für Owen verlängerte sich dadurch zwar der Arbeitsweg, aber das machte ihm nichts aus. Am Montag hatten sie noch eine Besichtigung in Newington, aber das Haus in Springfield war im Moment Libbys Favorit.

Davon erzählte sie Michael, als sie sich gerade mit ihm zusammengesetzt hatte und er begrüßte, dass sie in diesem Bereich Fortschritte machten.

„Wie ging es dir denn überhaupt nach unserem letzten Gespräch?“, fragte er.

„Besser. Es hilft, mit jemandem zu sprechen. Meine Mum hat das auch schon versucht – sie weiß, was Bailey getan hat, sie hat sich die Fallakten vom FBI besorgt, um das Reden übernehmen zu können.“

Michael nickte interessiert. „Das ist ein guter Ansatz, wir haben das ja beim letzten Mal auch schon versucht. Nur dauerhaft sollte natürlich das Ziel sein, dass du lernst, es selbst in Worte zu fassen.“

„Ja, das will ich auch. Ich will mit meinem Mann sprechen können. Es macht mich fertig, dass das nicht geht. Er ist gleichermaßen vorsichtig und unsicher und ich weiß, ich müsste ihm da was liefern.“

„Er wartet im Moment eher ab, vermute ich?“

Libby nickte. „Er hat mit meiner Mutter gesprochen, das merke ich auch. Er macht das so gut, er ist geduldig, er drängt mich zu nichts. Aber anders als damals, nachdem dieser Typ am College mich angegriffen hat, weiß ich jetzt nicht, wie ich damit umgehen soll. Ich liebe meinen Mann, mir fehlt seine Nähe, aber ich wüsste nicht, wie ich mich ihm nähern soll, ohne dass alles wieder hochkommt und ich in Panik gerate“, sagte sie niedergeschlagen.

„Ihr habt es also noch nicht versucht.“

Libby schüttelte den Kopf. „Nein … ich würde ja, aber ich weiß nicht, wie. Owen sagt, er überlässt mir den ersten Schritt, nur fühle ich mich wie gelähmt.“

„Hast du das Gefühl, deine Narben hemmen dich dabei?“

Libby atmete tief durch. „Vielleicht … ich glaube eher, dass ich nicht weiß, wie ich das anpacken soll. Damals war es einfach, meinem Freund zu sagen, was er tun darf und was nicht. Aber jetzt … Bailey hat das ja nicht bloß einmal getan. Es war immer anders. Er hat mir so gut wie nichts gelassen, was mir jetzt keine Angst bereiten würde.“

„Gar nichts? Würde es dir nicht helfen, ganz den aktiven Part zu übernehmen und erst mal langsam und ohne Druck alles wieder auszuprobieren? Ich sage meinen Patienten oft, dass heutzutage viel Druck aufgebaut wird, weil der Begriff Sex häufig zu eng gefasst wird. Das kann so viel mehr sein als der richtige Akt. Das können Berührungen sein, Küsse, Zärtlichkeiten. Fangt mal damit an. Es würde helfen, wenn du feststellen könntest, dass es ein gutes Gefühl sein kann, von einer anderen Person berührt zu werden. Stört dein Mann sich an deinen Narben?“

„Er sagt, es macht ihm nichts aus.“

„Trotzdem könnte es euch beiden helfen, sie auszublenden – im wahrsten Sinne des Wortes. Lasst das Licht aus.“

Libby schüttelte heftig den Kopf. „Nein, das … das geht nicht. Das kann ich nicht. Bailey hat … nein.“

„Schon gut“, sagte Michael schnell. „Damit befassen wir uns später. Ich will ja auch nur Denkanstöße liefern. Davon abgesehen finde ich es nicht ungewöhnlich, wenn du drei Wochen nach dieser Erfahrung sagst, dass du noch nicht so weit bist.“

„Aber ich wäre es gern.“

Michael lächelte. „Das kann ich verstehen. Dann geht es langsam an, Schritt für Schritt. Ihr müsst das wieder lernen – beide, würde ich sagen. Auch die Partner von Opfern sexueller Gewalt werden da in Mitleidenschaft gezogen.“

„Ich weiß … bei Owen ist das sogar wörtlich zu verstehen. Bailey hat ja zweimal auf ihn geschossen und er wäre fast verblutet. Er konnte nichts tun, um zu verhindern, dass Bailey mich mitnimmt. Das nagt an ihm, das weiß ich selbst gut genug.“

„Wie steht er dazu?“

„Er sagt, er kommt damit klar.“

Michael nickte nachdenklich. „Ich kann euch auch jederzeit anbieten, mal mit euch beiden zusammen oder nur mit ihm allein zu sprechen, falls euch das helfen würde. Er wird sich selbst Vorwürfe machen und auch das kann zwischen euch stehen.“

„Ich weiß … ich bin nur so wütend, verstehst du? Wir haben erst vor kurzem geheiratet und jetzt … jetzt ist alles ein einziges Drama.“

Michael lächelte. „Du hast viel positive Energie – und das, obwohl ich alles andere gut verstehen könnte. Das ist bewundernswert. Ich finde, du bist sehr eigenwillig und das meine ich vollkommen positiv. Du weißt, was du willst und lässt dich nicht leicht beirren. Da hatte Bailey sich auch irgendwie die Falsche ausgesucht.“

„Zwischendurch war ich da nicht so sicher …“

„Ja, das verstehe ich. Ich nehme an, du hast so lang wie möglich versucht, ihm die Stirn zu bieten?“

Libby nickte. „Bis es nicht mehr ging. Er hat mir ja immer gesagt, dass ich mir damit selbst das Leben schwer mache. Genossen hat er es allerdings auch. Bei allem, was er getan hat, habe ich gemerkt, dass er Erfahrung damit hat und genau weiß, was er tut.“

„Wobei zum Beispiel?“, fragte Michael.

Libby knetete nervös ihre Finger und schloss die Augen. Sie atmete tief durch und versuchte, sich zu sammeln. „Er wollte meinen Willen brechen. Er hat so eine Maske benutzt … so ein Ding für den ganzen Kopf, wie man sie im Sexshop kriegt. Ich weiß noch, wie ich damals in Howards Keller stand und sein neuestes Opfer stand da in diesem Raum, war an die Decke gefesselt und trug diese Maske auf dem Kopf. Sie konnte nichts sehen und nichts hören, sie konnte nicht schreien … gar nichts. So hat er das immer mit den Frauen gemacht, um sie zu brechen. Da gab es bloß zwei kleine Löcher, um durch die Nase zu atmen. Das war alles.“

Sie klang ruhiger, als sie war. Ihr brach der Schweiß aus und sie starrte die ganze Zeit vor Michael auf den Boden, während sie das sagte, aber er war trotzdem zufrieden.

„Das machst du ganz großartig – und ich muss sagen, dass das leider eine sehr effektive Möglichkeit ist, jemanden zu brechen.“

„Ich weiß … Sinnesentzug ist Folter. Das habe ich jetzt kennengelernt. Am Ende war ich schon gefügig, wenn er mir diese Maske bloß gezeigt hat …“ Libby schlang die Arme um den Leib und schluckte schwer.

„Aber es ist vorbei. Du hast es überstanden.“

„Ich weiß … aber das ist es, weshalb ich vorhin meinte, dass ich mit Dunkelheit ein Problem habe. Das geht einfach nicht.“

„Verständlich. Das war ein eklatanter Kontrollverlust, den du erst mal verarbeiten musst. Ich glaube aber, dass du das schaffen kannst.“

Libby war ihm dankbar für seine Zuversicht. Auch diesmal fühlte sie sich nach der Sitzung sehr befreit und ging schließlich gutgelaunt einkaufen. So hatte sie etwas zu tun und nahm Owen ein bisschen Arbeit ab. Er hatte gerade im Büro genug zu tun – er und Benny hatten den ganzen vorigen Tag mit dem Versuch verbracht, ihr Mordopfer zu identifizieren, waren da aber noch nicht nennenswert vorangekommen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752133257
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Juni)
Schlagworte
Profiler Korruption Spannung FBI Trauma Ermittlungen Krimi Ermittler Psychothriller

Autor

  • Dania Dicken (Autor:in)

Dania Dicken, Jahrgang 1985, schreibt seit der Kindheit. Die in Krefeld lebende Autorin hat Psychologie und Informatik studiert und als Online-Redakteurin gearbeitet. Mit den Grundlagen aus dem Psychologiestudium schreibt sie Psychothriller zum Thema Profiling. Bei Bastei Lübbe hat sie die Profiler-Reihe und "Profiling Murder" veröffentlicht, im Eigenverlag erscheinen "Die Seele des Bösen" und ihre Fantasyromane. Die Thriller-Reihe um die FBI-Profilerin Libby Whitman ist ihr neuestes Projekt.