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Dein Schmerz wird meine Rache sein

von Dania Dicken (Autor:in)
275 Seiten
Reihe: Libby Whitman, Band 4

Zusammenfassung

Die Polizei im kalifornischen San José sucht nach einem Serienmörder, den die Presse bereits zu einem Ritualmörder hochstilisiert: Nach ihrem Tod hat er seine Opfer nach einem bestimmten Muster verstümmelt. FBI-Profilerin Libby Whitman reist mit ihren Kollegen in ihre alte Heimat, um ein Profil des Täters zu erstellen und dabei erhalten sie Unterstützung von Libbys Mutter, der ehemaligen Profilerin Sadie Whitman. <br> Auf den ersten Blick scheint es keinen Zusammenhang zwischen den Opfern zu geben, doch die Profiler vermuten hinter all dem Hass einen tragischen Verlust, den der Täter möglicherweise erlitten hat. Während sie noch nach dem auslösenden Ereignis für die Mordserie suchen, verfolgt der Täter jedoch ein ganz spezielles Ziel. Welches das ist, wird den Profilern erst klar, als es bereits zu spät ist …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Dienstag, 29. September

 

Das geschah ihm recht. Er hatte genau das verdient und nichts anderes. In stiller Panik blickte er zu Marcus auf, doch das ließ Marcus völlig kalt.

Jetzt war er am Zug. Sollte der Scheißkerl doch sehen, wie es war, wenn man Höllenqualen litt und keinerlei Hilfe bekam. Wenn man nichts mehr wollte, als dass es endlich aufhörte, aber das tat es nicht.

Sein Bauch war voller Blut. Marcus hatte ihm das Hemd ausgezogen und ihm in einer Seelenruhe die beiden nächsten Buchstaben in die Haut geschnitten. Das war ja irgendwie ein widerwärtiges Gefühl, wenn man in Fleisch stach und der Widerstand erst wuchs, bevor er ruckartig nachgab und das dunkle Blut nur so herausquoll.

Erstickte Schreie erfüllten die leere Halle. Marcus beobachtete kurz, wie stark James blutete und war froh, ihn geknebelt zu haben. Allerdings wusste er auch, dass James heftig schreien würde, wenn er ihm den Knebel erst mal abnahm.

Aber so weit war er noch nicht. Jetzt waren erst seine Augen an der Reihe.

James hatte sie weit aufgerissen und starrte Marcus angsterfüllt an, als er sich über sein Gesicht beugte. Mit einer Hand versuchte Marcus, James’ Augenlider offen zu halten, während er mit dem Messer näher kam. Anfangs hatte er mal versucht, die Augen einfach rauszudrücken, aber das war schwierig. Es war leichter, wenn man ein Messer zu Hilfe nahm.

Vorsorglich hatte er auch den Kopf des Mannes fixiert, was sich jetzt bezahlt machte. James stieß heftige, wenn auch gedämpfte Schreie aus, während Marcus sich in aller Ruhe erst an seinem rechten und dann an seinem linken Auge zu schaffen machte.

So war es gut.

„Die wirst du nicht mehr brauchen“, sagte er, während er sich kurz die blutverschmierten Hände abwischte. „Feiger Scheißkerl. Aber ich bin noch nicht fertig mit dir.“

James wimmerte erstickt und stöhnte vor Schmerz. Seine Augenhöhlen waren jetzt eingefallen und leer. Das sah eigenartig aus, gespenstisch. Aber mit unschönen Anblicken kannte Marcus sich aus, schließlich bot er selbst einen. Dessen war er sich nur allzu bewusst, seit mittlerweile sieben Jahren, und er würde sie alle dafür bestrafen, dass sie es so weit hatten kommen lassen. Jeden einzelnen von ihnen.

Er hatte das genau geplant – und sein Plan hatte funktioniert. Er hatte bloß darauf gewartet, dass die Polizei vor Überforderung kalte Füße bekam und das FBI um Hilfe bat.

Er hatte gewollt, dass die Profiler aus Quantico kamen. Er wollte sie unbedingt einbeziehen und ein Spiel daraus machen. Jetzt endlich war er am Zug. Er würde sie rätseln lassen, aber eine Chance würde er ihnen nicht geben. Er würde ihnen zuvorkommen und dann würde er seinen Rachefeldzug beenden, ohne dass sie es würden verhindern können. Er wusste schon ganz genau, wie er das tun wollte.

Aber noch war es nicht so weit. Er hatte erst noch etwas anderes zu tun. Entschlossen fasste eine von James’ Ohrmuscheln mit zwei Fingern und begann dann, sie abzuschneiden. Das war bei dem knorpeligen Gewebe nicht ganz leicht, aber machbar. Und es würde bluten. Stark bluten. So wie die Schnitte auf seinem Bauch und wie das, was folgen würde.

Qualvolle, erstickte Schreie zerrissen die Luft. Das alles prallte an ihm ab, er spürte es nicht. Wollte es nicht. Oder konnte er gar nicht mehr?

Egal. Unbeirrt schnitt er James die Ohren ab und sah zu, wie das Blut floss. Gut so. Aber jetzt kam der schwierige Part – die Zunge. Sie zu fassen zu kriegen, um sie abzuschneiden und gleichzeitig zu verhindern, dass der Mann um sein Leben schrie, würde schwierig werden, das wusste er bereits. Aber es war wichtig, denn das war die ultimative Strafe für seine Feigheit und seinen Egoismus. Er hatte es verdient. Und der folgende Blutverlust würde ihm den Rest geben. Hören würde ihn hier auch niemand, nachts war das halb fertig gebaute Industriegebäude verlassen.

Marcus holte tief Luft, nahm ihm den Knebel ab und rechnete damit, dass James versuchen würde zu schreien. Das machte er sich zunutze, er wartete nur darauf und stach sofort mit dem Messer in seine Zunge. Der folgende gellende Schmerzensschrei war etwas, womit er leben musste, aber so bekam er die Zunge zu fassen und schaffte es mit brutaler Gewalt schließlich, sie ihm abzuschneiden.

Das Blut spritzte ihm entgegen, aber damit hatte er gerechnet. Die Schreie gingen in ein Gurgeln über, alles war voller Blut. Doch Marcus war zufrieden, denn er hatte sein Ziel erreicht.

„Jetzt werde ich dir dabei zusehen, wie du Höllenqualen leidest“, sagte er kalt und beobachtete ungerührt das Zappeln des sterbenden Mannes.

 

 

Sonntag, 27. September

 

Wie jeden Morgen fiel ihr erster Blick nach dem Aufwachen auf Owen. Er schlief noch und Libby beobachtete ihn glücklich dabei.

Sie kannten sich noch kein ganzes Jahr und doch fühlte es sich so vertraut an, als hätte er sie schon ihr ganzes Leben lang begleitet. Sie liebte ihn dafür, dass er sie so annahm, wie sie war und auch keinerlei Schwierigkeiten damit hatte, ihr seine Gefühle zu zeigen. In ihrem ganzen Leben hatte sie sich noch nie bei jemandem so wohl gefühlt.

Als sie sich an ihn schmiegte, blinzelte er schläfrig und lächelte. „Guten Morgen.“

„Ich wollte dich nicht wecken, aber ich musste mich einfach ankuscheln.“

„Nur zu.“ Gähnend wandte Owen sich ihr zu und legte einen Arm um sie. Libby schloss die Augen und genoss es, einfach nur bei ihm zu liegen und seine Nähe zu spüren.

Irgendwann fassten beide sich ein Herz und standen auf. Owen ließ Libby den Vortritt unter der Dusche und musterte sie ungeniert, als sie nach dem Duschen bloß mit einem Handtuch um den Kopf im Bad stand und sich die Zähne putzte. Anschließend frühstückten sie gemeinsam, auch wenn es schon fast Mittag war. Sie hatten gemütlich ausgeschlafen und widmeten sich nur gezwungenermaßen den lästigen Verpflichtungen im Haushalt, die unter der Woche liegen geblieben waren. Abends wollten sie ins Kino gehen.

Schließlich war die Wäsche aufgehängt, das Bad geputzt und die Küche aufgeräumt. Owen hatte es sich bereits vor seinem Laptop gemütlich gemacht und war im Internet auf der Suche nach neuen Kopfhörern, als Libby sagte: „Ich rufe mal in New York an, vielleicht ist Julie zu Hause.“

„Klar, nur zu“, sagte Owen. Libby nahm sich das Telefon und machte es sich im Wohnzimmer auf dem Sofa gemütlich, bevor sie die Nummer ihrer besten Freundin wählte.

„Hey“, begrüßte Julie sie hocherfreut. „Schön, dass du anrufst. Wie geht es dir?“

„Prima, und dir?“

„Total urlaubsreif, dabei hat das Semester doch vor vier Wochen erst begonnen. Wo soll das noch hinführen?“

Libby lachte. „Aber solange es Spaß macht.“

„Ja, das auf jeden Fall. Es ist richtig cool, Professor Davis beim Vorbereiten der Vorlesung zu helfen. Sie hat mir auch schon so viel Material für meine Doktorarbeit gegeben, das ist echt unfassbar. Und letzte Woche ging es los mit unserem Forschungsprojekt.“

„Klingt wirklich nicht langweilig.“

„Nein, gar nicht. Vielleicht werde ich dabei deine Hilfe brauchen.“

„Meine Hilfe?“, fragte Libby überrascht.

„Ja … wenn wir frühkindliche Faktoren zur Entstehung kriminellen Verhaltens erforschen wollen, könnte es helfen, bereits verurteilte Straftäter zu befragen. Und da du immerhin beim FBI bist …“

Libby lachte. „Ja, verstehe schon. Ganz ehrlich, wenn ich da helfen kann, tue ich es.“

„Ähnliches gilt übrigens für meine Doktorarbeit. Meine Mum würde sich im Grabe herumdrehen, aber ich glaube, ich würde tatsächlich gern Interviews mit verurteilten Sexualsadisten führen.“

Libby grinste kopfschüttelnd. Das hatte sie davon, wenn sie mit ihrer besten Freundin sprach, die sich für dieselben Dinge interessierte wie sie. Die Verbrecher verfolgten sie nicht bloß unter der Woche, wenn sie beim FBI Täterprofile erstellte, sondern auch am Wochenende.

„Kann ich verstehen, aber du musst bedenken, dass du für viele wahrscheinlich prima ins Beuteschema passt. Das verzerrt sicherlich ihre Antworten“, gab sie zu bedenken.

„Das ist klar, aber das könnte ich mir ja auch zunutze machen.“

„Sicher … ach, ich mache mir bloß Sorgen. Hör nicht auf mich.“

„Warum denn nicht? Du hast doch Recht. Und ich muss auch einfach zugeben, dass ich nicht wirklich weiß, wovon ich rede. Ich hatte noch nie mit einem zu tun, ich bin ja bloß darauf gekommen, weil ich durch meine Mum so viel darüber weiß und es eben so ein häufiger Tätertyp ist. Aber du, mit deiner Erfahrung … würdest du mir denn davon abraten?“

Libby wusste nicht gleich, was sie darauf erwidern sollte. Im Gegensatz zu Julie war sie in ihrem Leben schon mit sexuellen Sadisten konfrontiert worden und das war definitiv nichts, was zu ihren angenehmeren Erinnerungen zählte.

„Um ehrlich zu sein … einerseits hätte ich gern darauf verzichtet, dass Brian Leigh mich bedroht und mir eine Heidenangst einjagt. Andererseits hat das mein Gespür für solche Täter enorm geschärft. Ich habe einiges von ihm gelernt, was ich jetzt nutzen kann. Aber auch, wenn du davon profitierst, kostet es dich was.“

„Klingt logisch.“

„Die Begegnung mit solchen Tätern hinterlässt immer einen Kratzer auf der Seele. Mindestens. Das ist dieses Gefühl, dass jenseits deiner Wohnungstür eben nicht alles gut ist. Draußen lauern Gewalt, Schmerz, Vergewaltigung und Tod. Es ist hart, sich damit jeden Tag auseinanderzusetzen. Das geht bloß, wenn man gefestigt ist und Rückhalt hat. Ich kann das alles besser, seit ich weiß, dass ich diesen Rückhalt habe.“

„Das hätte meine Mum auch so sagen können, glaube ich. Und ich denke, da musst du dir keine Sorgen machen. Ich habe meinen Rückhalt.“

„Ehrlich? Das ist toll. Und so wichtig.“

„Ja, es läuft gut mit Kyle. Bei uns läuft das alles etwas schneller, als es vielleicht gewesen wäre, wäre ich auch Amerikanerin. Wir bewerten unsere gemeinsame Zeit ganz anders, ich betrachte es einfach dauernd durch eine bestimmte Brille und frage mich: Ist er der Richtige? Ist das was für die Ewigkeit?“

„Wow, klingt nach einem ganz schönen Druck.“

„Es ist ziemlich intensiv. Heutzutage hat man ja selten Grund, gleich an Heirat zu denken, aber tatsächlich ist er es ja, der da noch mehr drüber nachdenkt. Er will mir einfach helfen, damit ich dauerhaft bleiben und hier arbeiten kann. Er sagt, für ihn ist eigentlich alles klar …“

„Das ist doch großartig. Und bei dir?“

Julie seufzte hörbar. „Es spielt schon auch ein bisschen Heimweh mit rein. Ich liebe meine Eltern und auch, wenn ich wahnsinnig gern hier in den Staaten bin, ist England meine Heimat. Ich bin ja Anfang des Jahres nicht mit dem Hintergedanken gekommen, vielleicht hier zu bleiben und sogar einen Amerikaner zu heiraten. Aber dann hat es mir auf der Academy so wahnsinnig gut gefallen und Kyle … er ist einfach toll. Er ist auch anders als die Männer drüben in England. Das gefällt mir.“

„Aber das klingt doch so, als hättest du dich längst entschieden. Wir sind erwachsen, Julie. Ich lebe auch dreitausend Meilen von meiner Familie entfernt, obwohl ich sie sehr liebe. Wir haben unser eigenes Leben.“

„Ja, du hast Recht. Die Alternative wäre wohl, zurückzugehen und da könnte Kyle nicht mit. Eigentlich ist das keine Alternative.“

Libby lächelte. „Hör auf dein Bauchgefühl. Aber ich glaube, die Sache ist eigentlich klar, oder?“

„Ja, kann sein … und wie läuft es mit Owen und dir?“

Libby spähte zum Arbeitszimmer. „Super. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich den Richtigen gefunden habe. Es ist einfach toll. Im Moment habe ich eigentlich alles, was ich brauche. Wir haben unsere Jobs, die uns Spaß machen, wir haben eine schöne Wohnung und wir haben uns.“

„Ist doch großartig. Sprecht ihr übers Heiraten? Ihr habt ja nicht denselben Druck wie wir …“

„Ja, deshalb ist das hier eigentlich noch kein Thema. Kommt bestimmt noch.“

„Ach, na klar. Und im Job?“

„Gerade ist es recht ruhig, aber das macht auch nichts.“

„Das glaube ich dir. Bist bestimmt nicht traurig, dass du nie gegen Melville aussagen musst, oder?“

Das war Libby wirklich nicht. Es hatte sie einiges an Arbeit gekostet, sich nicht davon runterreißen zu lassen, dass Frank Melville sie in Richmond fast umgebracht hätte. Das war ihr nachgeschlichen und hatte ihr einige Alpträume beschert. Ohne die kompetente Hilfe ihrer Mum und dem grenzenlosen Verständnis von Owen hätte sie sich nicht so gut gefangen, zumindest glaubte sie das.

„Dadurch, dass er sich umgebracht hat, ist das Thema vom Tisch. Das Wochenende in New York mit euch tat da sein Übriges.“

„Oh, das ist gut zu wissen, dann müssen wir das ja bald mal wiederholen!“

„Unbedingt. Wie wäre es denn mit dem Columbus Day?“

„Wann ist der?“

„12. Oktober. Dann hätten wir ein verlängertes Wochenende.“

„Das ist eine tolle Idee, ich frage Kyle und gebe dir dann Bescheid.“

„Ich würde mich freuen“, sagte Libby.

Julie ging es ähnlich. Libby hatte auch große Lust, noch mal ein verlängertes Wochenende in New York zu verbringen – hoffend, dass Julie nicht nach Washington kommen wollte, aber das würde sich zeigen.

Die beiden plauderten noch ein wenig, was Libby sehr gut tat. Zwar lebte Julie ihr immer noch zu weit entfernt, aber dass sie sich nun zumindest mal in derselben Zeitzone befanden, war ein Fortschritt.

Schließlich beendeten sie das Gespräch und Libby gesellte sich zu Owen, der ein wenig im Internet surfte.

„Und, hast du was gefunden?“, fragte sie.

„Ja, ich habe mir vorhin was bestellt. Wie geht es Julie?“

„Sehr gut. Das mit Kyle und ihr ist wohl definitiv was Ernstes.“

„Gut für sie. Bin trotzdem froh, dass du Amerikanerin bist und wir uns darüber keine Gedanken machen müssen.“

Libby lächelte. „Ja, ich auch. Ist ja wirklich nicht so leicht, die ganze Bürokratie auf die Reihe zu bekommen.“

„Da liegt es auch nahe für die beiden, zu heiraten. Dann hätte sie zumindest eine Green Card und erst mal Ruhe.“

Vielleicht würden sie das auch bald tun, Libby war sehr gespannt.

Owen schaute auf die Uhr. „Was meinst du, wollen wir los?“

„Gern“, sagte Libby und ging ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Sie wollte bestimmt nicht in ihrer Sweathose in der Sushibar auftauchen, in der sie vor ihrem Kinobesuch zu Abend essen wollten. Beides lag nur eine halbe Meile entfernt, deshalb beschlossen sie, zu Fuß dorthin zu gehen. Es war ein angenehm sonniger Tag und die frische Luft tat gut, wie Libby gleich feststellte. Sie verbrachte ohnehin zu viel Zeit in Gebäuden und Büros.

Es war erst später Nachmittag, aber weil sie nur gefrühstückt hatten und Sushi nichts war, wo man Stress gut gebrauchen konnte, tauchten sie zeitig dort auf und trafen ihre Auswahl. Während sie auf ihre Bestellung warteten, blickten sie aus dem Fenster und Libby spürte plötzlich Owens Hand auf ihrer.

„Ich liebe dich wahnsinnig, weißt du das?“, sagte er unvermittelt.

Sie lächelte gerührt und sagte: „Klar weiß ich das. Daraus hast du nie einen Hehl gemacht. Ich liebe dich auch, Owen.“

„Hast du dir schon mal Gedanken über die Zukunft gemacht?“

Jetzt grinste sie. „Fühlt du dich jetzt von Julie und Kyle inspiriert?“

„Nein, ich … na ja, ein bisschen vielleicht. An Verbindlichkeit ist ja nichts Schlechtes.“

„Nein, das stimmt. Und ja, klar habe ich schon mal darüber nachgedacht … und ich weiß, dass ich glücklich mit dir bin und mir ein Leben mit dir vorstellen kann.“

Owen lächelte sanft. „Ja, das geht mir auch so. Aber wie stehst du zum Heiraten? Ich meine, ich könnte verstehen, wenn das ein rotes Tuch für dich ist.“

„Wegen dem, wo ich herkomme? Nein. Bei normalen Menschen ist Heiraten etwas Tolles. Vorstellen könnte ich mir das.“

„Und eine Familie?“

Nachdenklich lehnte Libby sich zurück und seufzte. „Ich mag Kinder und vorstellen könnte ich mir das schon … Aber wie soll das praktisch funktionieren? Wir sind weit weg von unseren Familien und wir haben beide fordernde Jobs.“

„Ja, ich weiß. Ich wollte nur mal deine grundsätzliche Meinung hören. Eine Lösung dafür weiß ich auch noch nicht.“

„Der Job bei der BAU ist ein wahr gewordener Traum für mich. Ich weiß nicht, ob das funktionieren würde, wenn ich Mutter wäre …“

„Haben denn deine Kollegen keine Kinder?“

„Die wenigsten. Und wenn du mal überlegst – als Hayley damals geboren wurde, war Sadie gar nicht mehr bei der BAU und trotzdem hatte sie einen fordernden Job. Matt ist für Hayley zu Hause geblieben.“

„Na und? Ist doch toll.“

Libby lächelte erfreut. „Das könntest du dir vorstellen?“

„Na, mein Job ist weniger speziell als deiner. Ich kann immer und überall als Polizist arbeiten. Es ist nur schade, dass wir nicht mehr in Kalifornien sind, da ist die Gesetzeslage viel familienfreundlicher.“

„Ja, das stimmt. Ich weiß nicht … das ist für mich alles noch in so weiter Ferne. Ich bin gerade erst hier und ich bin erst 25. Ich kann mir einfach noch gar nicht vorstellen, jetzt eine Familie zu gründen.“

„Kann ich verstehen. Konnte ich mit 25 auch nicht.“

Die Blicke der beiden trafen sich und Libby verstand auch das, was Owen nicht sagte. Er war inzwischen 32 und hatte eine andere Sicht auf die Dinge.

„Hättest du jetzt gern eine Familie?“, fragte sie deshalb geradeheraus.

Er schüttelte den Kopf. „Nein, noch nicht. Aber ganz so abwegig ist die Vorstellung inzwischen nicht mehr.“

„Das glaube ich dir. Mal sehen, was die Zeit bringt. Im Moment ist das für mich noch weit weg.“

„Das ist auch vollkommen okay so. Machen wir uns nichts vor, die Gründung einer Familie ist für eine Frau mit mehr Einschnitten verbunden als für einen Mann. Schwangerschaft, Geburt, Babyzeit … wir stehen bloß daneben und können helfen, aber wir können weder schwanger sein noch stillen. Die letzte Entscheidung in dieser Sache liegt immer bei dir, du gibst das Tempo vor.“

Es imponierte Libby sehr, dass er das so sah. Ohnehin war er sehr reflektiert und hatte zu vielen Dingen einen klaren Standpunkt, der sich meist mit ihrem traf.

„Danke, Owen. Es ist toll, dass du das so siehst“, sagte sie.

„Es ist ja so und wenn ich ehrlich sein soll: Meine eigene Familie war immer ziemlich vermurkst. Meine Eltern haben sich ja nicht grundlos getrennt. Mein Dad hat meiner Mum immer das Meiste an Erziehungsarbeit überlassen, sie hat sich nicht zu Unrecht allein gelassen gefühlt und war überfordert. Darunter haben Byron und ich gelitten und das will ich für meine eigenen Kinder auf keinen Fall.“

„Das kann ich verstehen. Und in meiner Familie war meine Mum nur eine von mehreren Frauen, die sowieso alle nichts zu sagen hatten. Wie eine richtige Familie funktioniert, weiß ich erst, seit ich bei den Whitmans gelebt habe.“

„Dann bringt wenigstens einer von uns da gute Erfahrungen mit.“

„Solange du deshalb keine Angst hast, deine eigene Familie zu gründen …“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, gar nicht. Ich hätte gern Kinder und ich will es besser machen als mein Dad. Aber ich verstehe, dass du dich hier erst mal auf deinen Beruf konzentrieren willst. Will ich auch.“

Libby lächelte und war mehr als froh, dass sie sich da einig waren. Kurz darauf bekamen sie ihr Essen und widmeten sich anderen Themen. Allerdings freute Libby sich auch darüber, dass er das angesprochen hatte. Es war gut zu wissen, dass sie da auf einer Wellenlänge lagen.

Sie ließen sich Zeit mit dem Essen und begaben sich anschließend ohne Stress ins Kino. Libby freute sich darüber, mit Owen entspannt etwas unternehmen zu können. Kieran damals aus der Wohnung zu bekommen, hatte sich weitaus schwieriger gestaltet. Sie war verdammt glücklich mit Owen, das machte sie sich wieder bewusst, als sie sich im Kino an ihn lehnte und den Film genoss. Das war in diesem Moment alles, was sie brauchte.

Es war schon dunkel, als sie schließlich nach Hause gingen. Sie taten es Hand in Hand und unterhielten sich über den Film. Zu Hause angekommen, hatten sie kaum die Wohnungstür geschlossen, als Libby Owen einen verstohlenen Blick zuwarf und ihre Arme um ihn legte. Er grinste wissend und tat ganz unschuldig, als Libby ihn überraschend leidenschaftlich küsste.

„Ist das ein Angebot?“, fragte er.

Libby nickte heftig. „Ich hoffe, du nimmst es an.“

„Worauf du dich verlassen kannst.“ Owen zog sie fest an sich und ließ eine Hand auf ihren Po wandern, während sie einander heftig küssten. Libby spürte, wie er seine Hand unter ihren Pullover wandern ließ, um sie zärtlich zu streicheln. Schließlich zog er ihr den Pullover aus und gleich darauf die Unterwäsche. Sofort machte Libby sich ebenfalls an seinen Sachen zu schaffen.

„Ich mag es, wenn du so rangehst“, gab er grinsend zu.

„Ich bin völlig verrückt nach dir“, sagte sie und sorgte schließlich dafür, dass er unter ihr auf dem Sofa saß. Sie hockte sich ihm zugewandt auf den Schoß, obwohl sie noch ihre Jeans trug. Owen hatte die Arme um sie gelegt und übersäte ihre Haut mit Küssen. Libby schloss die Augen und genoss es einfach.

„Ich will, dass du immer glücklich bist“, sagte er unverhofft. Sie blinzelte und sagte: „Bin ich doch.“

„Mich machst du jedenfalls glücklich und das zeige ich dir jetzt.“

Er zog ihr die letzten Kleidungsstücke aus, sorgte dafür, dass sie unter ihm auf dem Sofa lag und machte sich daran, sie am ganzen Körper zu liebkosen. Mit geschlossenen Augen ließ Libby ihn machen und verlor sich ganz in dem Gefühl. Owen hatte keinerlei Mühe damit, sie richtig ekstatisch zu machen, so dass sie sich irgendwann wieder aufrichtete, ihn grinsend gegen die Rückenlehne des Sofas drückte und sich ganz langsam auf seinen Schoß sinken ließ. Owen hielt die Luft an und krallte sich in ihre Hüften, doch Libby rührte sich nicht und ließ ihn zappeln.

Nur langsam begann sie wieder, sich zu bewegen und sich einen Rhythmus zu suchen. Er hielt sie die ganze Zeit an sich gedrückt, küsste sie und berührte sie so, wie sie es am liebsten hatte. Libby versuchte, sich nicht gleich völlig mitreißen zu lassen und zögerte es so lange hinaus, wie sie konnte, aber irgendwann ging es nicht mehr. Ein Schauer überlief sie und sie konnte nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken, während sie sich keuchend an Owen festklammerte und spürte, dass auch er sich nicht mehr beherrschen konnte. Sie küsste ihn zärtlich und legte beide Arme um seinen Hals, während sie seine Atemzüge auf ihrer Haut spürte.

„Ich liebe dich, du süßes, tolles Mädchen“, sagte er atemlos. Libbys Antwort bestand aus einem weiteren tiefen Kuss.

 

 

Montag, 28. September

 

„Bin gespannt, was diese Woche auf uns wartet“, sagte Libby, als sie zusammen beim Frühstück saßen.

„Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, kranke Serienmörder“, erwiderte Owen todernst und verzog keine Miene.

Libby lachte belustigt. „Davon ist auszugehen. Und du bist heute im Gericht?“

Owen nickte. „Beim Prozessauftakt wäre ich gern dabei. Wann war deine Aussage noch mal?“

„In drei Wochen. Ich bin wirklich gespannt, wie das weitergeht.“

Aidan Tomlinson stand nun vor Gericht wegen Mordes an Peter Cummings und dem versuchten Amoklauf an seiner Schule. In wenigen Wochen wurde der Junge dreizehn. Der außergewöhnliche Fall hatte ein großes Medienecho gefunden – nicht nur, weil ein Kind ein anderes Kind erschlagen hatte, sondern auch, weil die Ermittler den folgenden Amoklauf in letzter Sekunde verhindert hatten. Es waren schon jetzt zahlreiche Konsequenzen aus der Tat gezogen worden: Der District of Columbia hatte zusätzliche Mittel für Antiaggressionstrainings, Schulpsychologen und Familienhelfer bereitgestellt, um solchen Taten in Zukunft vorzubeugen. Libby, Nick, Owen und Benny würden vor Gericht aussagen und Libby war schon jetzt gespannt darauf, wie das Urteil über Aidan lauten würde.

„Ich wünsche dir einen schönen Tag“, sagte Owen und verabschiedete sich mit einem Kuss von seiner Freundin, als sie mit dem Frühstück fertig und bereit zur Abfahrt waren. Libby umarmte ihn noch einmal und stieg in ihr Auto, nachdem Owen bereits losgefahren war.

Ihr Weg führte sie in die entgegengesetzte Richtung. Während er nach Washington fuhr, folgte Libby dem Freeway nach Süden in Richtung Quantico. Sie brauchte etwa eine Dreiviertelstunde bis dorthin und erschien um halb neun im Büro. Bis zur Teambesprechung um neun checkte sie ihre Mails und unterhielt sich mit den Kollegen. Inzwischen fühlte sie sich schon richtig im Team angekommen und war froh, dazuzugehören.

Pünktlich um neun begann die Besprechung. Nick Dormer begrüßte seine Kollegen wie immer freundlich und kameradschaftlich zugleich.

„Ich hoffe, ihr hattet alle ein schönes Wochenende und habt das herrliche Wetter genutzt … und ich hoffe, ihr habt eure gepackten Sachen dabei, denn wir fliegen nach Kalifornien.“

„Alle?“, fragte Ian neugierig.

„Nein, Alex, David und Belinda bleiben hier, um im Notfall auf andere Anfragen reagieren zu können. Aber besonders dich sollte unser Einsatzort freuen, Libby, denn es geht in die Bay Area.“

Sie lächelte erfreut. „Das ist klasse.“

„Die Anfrage kam vom San José Police Department. Du solltest also unbedingt mitkommen, denn du kennst die Verantwortlichen.“

„Bin dabei.“

„Worum geht es denn?“, fragte Jesse.

„Um eine Reihe brutaler Morde, die beim SJPD als Ritualmorde kategorisiert wurden. Ob das stimmt, werde wir sehen. In der Bay Area sind innerhalb der letzten sechs Wochen drei Menschen vom gleichen Täter getötet worden. Die Fälle lagen nicht alle ursprünglich beim SJPD, aber als klar wurde, dass man es mit einem Serientäter zu tun hat, haben sie uns angefragt. Sie haben nämlich noch keinen einzigen Ansatzpunkt, aber es ist anzunehmen, dass der Täter sehr bald wieder zuschlägt. Die Zeit drängt also und wir sollten den Täter dringend finden, denn ich würde das, was da passiert, als Foltermorde beschreiben.“

Mit diesen Worten rief Nick ein Foto auf, das auf die gegenüberliegende Leinwand projiziert wurde. Das Bild stammte aus der Gerichtsmedizin und zeigte den Kopf eines Mannes in Nahaufnahme. Libby verzog das Gesicht, als sie sah, dass dem Mann die Augen fehlten. Leere Augenhöhlen starrten sie an, was so gespenstisch auf sie wirkte, dass sie sich unwillkürlich schüttelte.

Doch damit nicht genug – an den Seiten des Kopfes klafften blutige Wunden. Der Täter hatte dem Mann auch die Ohren abgeschnitten. Auch die Kollegen waren sichtlich erschrocken, dann wechselte Nick das Foto. Auf der nächsten Aufnahme hatte der Gerichtsmediziner dem Mann den Mund geöffnet, um zu verdeutlichen, was geschehen war. Libby erkannte es trotzdem nicht gleich.

„Wurde dem Opfer die Zunge entfernt?“, fragte Dennis.

„So ist es“, bestätigte Nick.

„Haben die Opfer da noch gelebt?“, fragte Ian.

„Das wurde bestätigt. Sie sind alle verblutet, der Täter hat dieses Vorgehen also benutzt, um sie zu töten.“

„Barbarisch“, fand Jesse.

„Ich bin ja noch nicht fertig“, sagte Nick und öffnete ein weiteres Foto. Der Täter hatte dem Mann mit einem Messer zwei Buchstaben in die Bauchdecke geritzt. Die tiefroten Schnitte bildeten einen jähen Kontrast zur umgebenden hellen Haut. Der Täter hatte dem Mann RY in den Bauch geschnitten.

„Was zum Teufel ist das?“, fragte Libby, den Kopf in die Hände gestützt. Konzentriert betrachtete sie die Bilder, die Nick im Folgenden zeigte. Bei den Opfern handelte es sich um zwei Männer und eine Frau. Ihnen allen waren Augen, Ohren und Zunge entfernt worden und der Täter hatte ihnen unterschiedliche Buchstaben in den Bauch geritzt: NG und CE war auf den anderen Opfern zu lesen.

Ian stöhnte laut. „Auf so einen kryptischen Unsinn habe ich ja jetzt richtig Lust.“

Nick grinste, wurde aber schnell wieder ernst. „Der zweite und dritte Mord sind in San José passiert und der erste in Fremont. Als dem SJPD nach dem zweiten Mord in der Stadt aufgefallen ist, dass sie da ein Muster haben, haben sie nach weiteren Fällen gesucht und schließlich die Ermittlungen komplett übernommen. Daraufhin haben sie auch uns angefragt, das ist ihnen wohl zu hoch.“

„Ist doch genau unsere Kragenweite“, fand Dennis. Er wirkte ziemlich unerschrocken, was Libby nicht wunderte. Allerdings fand sie es gut.

„Alles Weitere verrate ich euch unterwegs. Ich möchte, dass ihr jetzt eure Sachen holt, wir fliegen um zehn.“

„Also los“, verkündete Ian voller Tatendrang. Während sie alle schon aufbrachen, um zum Parkplatz zu gehen, winkte Nick Libby zu sich und sagte: „Man hat dich in San José jedenfalls nicht vergessen. Bei der Anfrage ist auch explizit nach dir gefragt worden und die Kollegen schienen ganz zufrieden damit zu sein, dass du mit von der Partie bist.“

„Okay“, sagte Libby nur, obwohl sie sich wunderte. Auf einmal hatte sie Fans in San José? Das war ja was ganz Neues.

„Es wäre übrigens völlig okay für mich, wenn du bei deiner Familie in Pleasanton wohnen willst. Die Chance würde ich mir an deiner Stelle jedenfalls nicht entgehen lassen.“

„Meinst du? Ich muss erst mal anrufen und Bescheid geben, dass ich komme.“

„In Ordnung, am besten holst du jetzt deine Sachen und wir treffen uns wieder hier.“

Libby war einverstanden und beeilte sich, zum Parkplatz zu kommen, um ihre für solche Fälle gepackte Tasche aus dem Auto zu holen. Als sie wieder oben im Büro war, suchte sie sich eine stille Ecke und rief Owen an. Hoffentlich erreichte sie ihn noch.

Doch sie hatte Glück. Er war schnell am Apparat und sagte: „Hey, was ist los? Bin gerade bei Gericht rein.“

„Ich fliege gleich nach Kalifornien. Das SJPD ermittelt in einem Serienmordfall.“

Owen lachte kurz. „Ehrlich? Kaum verlässt du San José, haben die dort einen Serienmörder? Ist ja nicht zu fassen.“

„Dachte ich mir vorhin auch. Man hat sogar nach mir gefragt.“

Jetzt prustete er erstickt. „Ach, plötzlich schleimen sie sich bei dir ein.“

„Kann mir ja egal sein. Der Fall scheint auf jeden Fall heftig zu werden.“

„Ich hoffe, ihr findet den Täter schnell. Am liebsten würde ich ja mitkommen, aber leider geht das nicht.“

„Nein, bleib du mal schön hier, auch wenn mir das gefallen würde. Aber ich werde Sadie und Matt fragen, ob ich bei ihnen bleiben kann.“

„Das ist doch toll. Würde ich auch machen.“

„Ja, aber ist noch etwas früh drüben in Kalifornien. Mal sehen, wann ich sie erreiche.“

„Das schaffst du. Alles, meine ich. Ich wünsche dir eine tolle Zeit in der alten Heimat. Jetzt bin ich neidisch!“

„Du wirst mir fehlen. Ich hoffe, ich bin bald zurück.“

„Aber sicher. Ich halte hier die Stellung. Ich liebe dich, Libby.“

„Ich dich auch“, sagte sie und legte wieder auf. Owen würde ihr definitiv fehlen, aber das brachte ihr Job eben mit sich. Das hatte sie vorher gewusst.

Bevor sie ihr Handy wegsteckte, schrieb sie Sadie noch eine Nachricht. Bin gleich mit der BAU unterwegs in die Bay Area. Ist euer Gästezimmer frei?

In der Zwischenzeit waren all ihre Kollegen eingetroffen und sie machten sich mit einem Minibus auf den Weg zum Flugfeld der Marines. Dort stand in einem Hangar der kleine Jet, mit dem sie als Team zu solchen Einsätzen reisen konnten. Davon hatte Sadie ihr schon erzählt und Libby fand es aufregend, nun auch einmal Teil dessen zu sein.

Bevor sie das Flugfeld erreicht hatten, vibrierte ihr Handy und sie stellte fest, dass Sadie geantwortet hatte. Natürlich ist das Gästezimmer frei. Melde dich, wenn du Genaueres weißt. Wir können dich auch irgendwo abholen. Ich freue mich schon auf dich.

Libby lächelte. Danke, wir fliegen gleich los. Ich halte dich auf dem Laufenden. Ich freue mich auch.

Anschließend schaltete sie ihr Handy ab und betrat wenig später mit den anderen den Privatjet. Das war jetzt schon aufregend. Irgendwie fühlte sich die Sache nach etwas Großem an und Libby war gespannt, was sich in San José ergeben würde. Sie hätte ja nie damit gerechnet, als Ermittlerin dorthin zurückzukehren – und dann auch noch so bald. Vor allem aber freute sie sich wahnsinnig auf ihre Familie, was immerhin ein Trostpflaster dafür war, dass sie auf Owen verzichten musste.

Um kurz nach zehn erhielt der Pilot die Starterlaubnis und sie hoben ab. Als sie ihre Reiseflughöhe erreicht hatten, kamen Nick und Ian zu den anderen und sie setzten sich alle zusammen.

„Wie ihr wisst, war Libby vor ihrer Zeit bei uns Polizistin in San José, was wir uns jetzt zunutze machen können. Sie kennt die Verantwortlichen und die Gegend, also wendet euch ruhig an sie, wenn ihr dahingehend irgendwelche Belange habt.“

„Ist es seltsam für dich, jetzt zurückzukehren?“, fragte Jesse.

Libby zuckte mit den Schultern. „Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Es ist mir jedenfalls nicht unangenehm.“

„Immerhin. Bin gespannt, was hinter diesem Fall steckt.“

Nick öffnete seinen Laptop und zeigte ihnen daran nacheinander die verschiedenen Fallakten.

„Das erste Opfer wurde vor knapp sechs Wochen gefunden. Patty Cornell, 42, ist vom Einkaufen nicht nach Hause gekommen. Ihr Mann hat sie als vermisst gemeldet, ihre Leiche wurde am nächsten Tag dort am Straßenrand gefunden, wo die Interstate 680 den Mission Boulevard kreuzt.“

Libby nickte. „Die Gegend kenne ich.“

Nick zeigte Fotos von der Auffindesituation der Leiche. Sie hatte gleich neben einer der Auffahrten zum Freeway in der Böschung gelegen. Sie war noch weitgehend bekleidet, der Täter hatte ihr bloß die Bluse ausgezogen, um die Buchstaben in ihren Oberkörper ritzen zu können. Ihr Bauch war blutverschmiert und Nahaufnahmen zeigten auch bei ihr, dass der Täter ihr die Zunge, die Augen und die Ohren entfernt hatte. Weitere Fotos zeigten Abschürfungen an ihren Handgelenken.

„Sie war gefesselt“, sagte Libby.

„Ja, der Gerichtsmediziner sagte, der Todeszeitpunkt läge gegen etwa zwei Uhr nachts. Entführt wurde sie abends gegen halb sieben. Bis dahin hat der Täter sie also bei sich behalten.“

„Kann man sagen, in welcher Reihenfolge er die Verstümmlungen vorgenommen hat?“, fragte Ian.

„Ja, der Gerichtsmediziner war sich sicher, dass ihr zuerst die Buchstaben in den Bauch geritzt wurden, bevor der Täter sie weiter verstümmelt hat. Die Augen zu entfernen läuft relativ folgenlos ab, den größten Blutverlust hat man wohl beim Entfernen der Zunge. Der Gerichtsmediziner hat die Vermutung geäußert, dass zuerst die Augen entfernt wurden, dann die Ohren und zuguterletzt die Zunge.“

„Mit Sadismus hat der Täter jedenfalls kein Problem“, stellte Libby fest. „Du hast Recht, ich würde das auch als Foltermord betrachten.“

„Die Polizei in Fremont hatte keinerlei brauchbare Anhaltspunkte, denn es gab keine Zeugen für die Entführung. Man hat bloß ihren verlassenen Wagen auf einem Supermarktparkplatz gefunden, das war alles. Der Ehemann konnte uns überhaupt nicht weiterhelfen und die Buchstaben NG auf ihrem Bauch ließen die Ermittler erst in Richtung des chinesischen Namens denken, aber davon sind sie mittlerweile auch abgekommen.“

„Wann kam Opfer Nummer zwei?“, fragte Dennis.

„Das war drei Wochen später in San José – Harry Bergerson ist der Mann, dessen Fotos ich euch vorhin gezeigt habe. Er ist ebenfalls auf seinem Heimweg verschwunden, das hat allerdings niemand gemerkt, weil er vor kurzem geschieden wurde und allein lebt. Er war 48, hat als Finanzberater gearbeitet und war Vater von zwei halbwüchsigen Kindern. Bei ihm hat der Täter RY in den Bauch geritzt. Bei Bergerson hat der Täter, genau wie bei den anderen Opfern, einen Elektroschocker benutzt, um ihn zu überwältigen – und zwar ohne Rücksicht auf Verluste. Bei allen Opfern konnten mehrere Brandverletzungen festgestellt werden, die zu den Kontaktpunkten eines Elektroschockers passen würden. Bei Bergerson konnte der Gerichtsmediziner sogar eine metabolische Azidose nachweisen – der Täter muss Bergerson so oft und so intensiv geschockt haben, dass es zu einer Übersäuerung des Blutes geführt hat. Er hat sich also schon vor dem Verbluten in einem kritischen Zustand befunden.“

Libby war überrascht. Das sprach für das Aggressionspotenzial des Täters.

„Die Leiche wurde an der Interstate 880 in Sichtweite des Flughafens von San José gefunden. Auch sie lag im Morgengrauen einfach da. Keiner weiß, wie sie dorthin gekommen ist“, sagte Nick und zeigte noch einige Fotos. Auch Harry Bergerson fehlte bloß das Hemd, ansonsten war er noch bekleidet. Als Libby im Hintergrund den Tower des Flughafens sah, musste sie schlucken.

„Die Leiche lag auch an der Auffahrt zum Freeway?“, fragte sie.

„Ja, unweit von einem kleinen Komplex mit vermieteten Lagerräumen.“

Libby schluckte kurz und nickte langsam. „Da kann man gut ungesehen eine Leiche loswerden.“

„Du kennst die Gegend?“

Sie nickte nur. Gerade hatte sie nicht vor, vor den Kollegen auszubreiten, dass man sie und Owen genau dort fast getötet hatte. Aber sie wunderte sich nicht darüber, dass der Täter dort eine Leiche abgelegt hatte, denn da konnte man das wirklich unbemerkt tun.

„Und das nächste Opfer?“, fragte sie schließlich und räusperte sich.

„Die Leiche wurde am Donnerstag entdeckt. Walter Nelson, 54, wurde an der Route 87 in South San José gefunden. Er trug die Buchstaben CE. In San José hat man dann gemerkt, dass es da ein Problem gibt und so landete der Fall jetzt bei uns.“

„Die Gemeinsamkeiten aller Fälle sind die Verstümmelungen an Augen, Ohren und Zunge, das Einritzen von Buchstaben und die Auffindeorte am Rand stark befahrener Straßen“, zählte Ian auf und Dormer nickte.

„Bis jetzt sind die Opfer alle weiß, sie stammen aus der Mittelschicht, sie hatten alle gute Jobs, zwei von ihnen hatten Familie und einer nicht. In der Viktimologie konnten die Ermittler bislang keine Gemeinsamkeit finden und speziell wegen der Verstümmlungen und der Buchstaben wollten sie unsere Hilfe in Anspruch nehmen.“

„Der Täter muss aber irgendeine Beziehung zu den Opfern haben“, sagte Libby. „Niemand entführt jemanden und foltert ihn über Stunden ohne einen guten Grund. Irgendwie wirkt das hier zu geplant, um zufällig zu sein.“

„Ja, das dachte ich mir auch schon. Unsere Aufgabe ist es jetzt, die Verbindung zwischen den Opfern zu finden und ein Profil des Täters zu erstellen. Was will er mit seinen Taten sagen? Warum diese Opfer, warum die Buchstaben und warum die Verstümmelungen?“

Das fragte Libby sich auch. Sie war nicht überrascht, dass ihre früheren Kollegen in San José damit nichts anzufangen wussten, denn wie hatte Owen einmal so schön gesagt: Mancher Kollege dort war nicht gerade für seine Kreativität bekannt. Allerdings sorgte dieser Fall bei ihr jetzt schon für ein ungutes Gefühl, das sie sich nicht erklären konnte. Sie schob es darauf, dass es mit San José zu tun hatte. Bestimmt legte es sich bald wieder.

 

 

Der kleine Flieger landete um kurz vor zwölf Ortszeit am Reid-Hillview Airport in East San José. Als das Flugzeug seine Parkposition erreicht hatte und sie ausgestiegen waren, entdeckte Libby sofort ihre früheren Kollegen, die vor einem Mannschaftsbus des SJPD auf sie warteten. Sie erkannte ausgerechnet Sergeant Jenkins, aber auch den Chief – und ihren Partner Miguel Alvarez. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, als sie ihn bemerkte. Die beiden anderen Männer daneben hatte sie zwar schon mal gesehen, kannte aber ihre Namen nicht.

Nick steuerte als erster auf die Männer zu, die sich ihm der Reihe nach vorstellten. Libby hielt sich im Hintergrund und ließ den Kollegen den Vortritt, woraufhin Miguel ungeachtet seiner Vorgesetzten zu ihr ging und sie umarmte.

„Ist das schön, dich wiederzusehen“, sagte er und lächelte. „Henry Allen wird vermutlich für den Rest seines Lebens seine vorlaute Klappe halten, wenn er sieht, dass du jetzt wirklich beim FBI bist.“

Libby lachte herzlich. „Ach, wie wenig habe ich Henry vermisst! Dich schon, Miguel. Ich freue mich auch, dich wiederzusehen.“

„Whitman“, richtete sich in diesem Moment Jenkins an sie. „Fast hätte ich Sie als Officer angesprochen, aber Sie sind ja jetzt Special Agent. Meinen Glückwunsch.“

Er sagte das in aller Höflichkeit und versuchte, es ehrlich klingen zu lassen, aber Libby merkte, dass es ihn wurmte. Sie hatte nicht vergessen, wie er sie seinerzeit für einen Alleingang zusammengepfiffen hatte. Er vermutlich auch nicht.

„Danke“, sagte Libby trotzdem und rang sich ein Lächeln ab. Schließlich begrüßte sie noch der Chief und verlor ein paar lobende Worte darüber, dass sie als junge ambitionierte Polizistin ihren Weg so zielstrebig gegangen war und ihre Behörde nun mit ihrer besonderen Kompetenz unterstützen konnte. Obwohl es ziemlich aufgeblasen klang, wusste Libby bei ihm, dass er es freundlich und ehrlich meinte und entsprechend bedankte sie sich dafür. Schließlich stellten sich ihr auch die beiden anderen Männer vor.

„Ich bin Detective Victor Martin, das ist mein Partner Carlos Alonso. Wir sind die leitenden Ermittler in dem Fall, für den die Presse sich schon richtig ins Zeug gelegt und den Täter liebevoll den Freeway-Killer genannt hat.“

„Ernsthaft?“, erwiderte Libby schockiert und schüttelte den Kopf. „Special Agent Libby Whitman. Schön, Sie kennenzulernen.“

„Sie haben doch letztes Jahr mit Young zusammen ermittelt, oder?“, fragte Martin.

Sie nickte. „Ja, als sein Partner im Krankenhaus war.“

„Stimmt. Der Ärmste ist immer noch nicht in seinen Beruf zurückgekehrt. Und Young hat es ja nach Washington gezogen. Ganz in Ihre Nähe. Haben Sie noch Kontakt zu ihm?“

Libby schluckte und überlegte, wie sie reagieren sollte, aber dann versuchte sie es mit der Wahrheit.

„Jeden Morgen am Frühstückstisch … unter anderem“, erwiderte sie und es dauerte einen kurzen Augenblick, aber dann grinste Martin und nickte verstehend.

„Und wir haben uns schon alle gefragt, was er plötzlich an der Ostküste will, aber jetzt ergibt das Sinn. Freut mich für Sie. Wie geht es ihm?“

„Sehr gut. Ihm gefällt es beim MPDC.“

„Ja, ist bestimmt ein toller Job. Nun, wir freuen uns, dass Sie mit Ihrem Team jetzt hier sind. Als uns die Tragweite dieses Falles klar wurde, hat der Chief direkt vorgeschlagen, die Profiler des FBI um Hilfe zu bitten. Ich bin gespannt, ob Sie uns da voranbringen können.“

„Wir werden unser Bestes geben“, erwiderte Libby.

Nachdem sie den Smalltalk beendet hatten, gingen sie mit ihrem Gepäck zum Auto und nahmen alle darin Platz. Miguel fuhr und unversehens fand Libby sich zwischen Nick und dem Chief wieder.

„Wie gefällt es Ihnen beim FBI, Whitman?“, erkundigte der Chief sich bei Libby.

„Sehr gut. Sie wissen ja, dass ich ohnehin immer dorthin wollte.“

„Ja, das hat mir immer sehr gefallen, auch wenn Ihr Fortgang natürlich einen Verlust für das SJPD bedeutet. Bei meiner Kontaktaufnahme zu Ihrem Team habe ich betont, dass ich mich sehr darüber freuen würde, Sie bei den Ermittlungen im Boot zu haben.“

„Danke“, erwiderte Libby knapp, weil ihr nichts Besseres einfiel. Das war ihr allmählich richtig unangenehm.

„Wie Sie sich vorstellen können, sitzen uns jetzt auch die Medien im Nacken. Ich bin ja froh, dass sie ihn nur den Freeway-Killer nennen und nicht Ritualmörder.“

„Ich weiß nicht, ob diese Bezeichnung überhaupt korrekt ist“, sagte Nick.

„Nicht? Warum nicht?“

„Weil Ritualmorde häufig von religiösen Motiven gekennzeichnet sind. Denken Sie mal in Richtung Menschenopfer. Das ist etwas anderes als das, was hier vorliegt. Hier hat der Täter die Opfer bei lebendigem Leib verstümmelt. Das ist zwar seine Signatur, aber er hat andere Motive und sein Handeln ist von Sadismus gekennzeichnet.“

Der Chief wirkte anfänglich ein wenig überfahren, nickte dann aber heftig und sagte: „Ich bin sicher, dass Sie die Sache im Griff haben.“

„Wir werden den Täter schon finden“, sagte Nick, um ein wenig Zuversicht zu verbreiten.

Libby war froh, als sie endlich im Department angekommen waren. Es wirkte äußerst vertraut und doch ein wenig fremd. Sie war nicht überrascht, dass man ihnen bereits einen der Meetingräume zur Verfügung gestellt und mit allem bestückt hatte, was für die Ermittlungen wichtig war.

„Hast du auch an dem Fall mitgearbeitet?“, richtete sie sich schließlich an Miguel, der immer noch dabei war.

„Indirekt, ja. Ich war mit meinem neuen Partner der erste am Bergerson-Fundort. Als ich hörte, dass du mit deinen FBI-Kollegen kommst, habe ich die Detectives gebeten, die Sache ein wenig begleiten zu dürfen. Damit hatten die kein Problem. Und was hab ich da eben gehört – du und Young …?“

Libby lachte und senkte verlegen den Blick. „Ja, er ist mir schließlich an die Ostküste gefolgt und hat sich da einen Job bei der Polizei in Washington gesucht. Seit ich mit der Academy fertig bin, wohnen wir zusammen.“

Das entlockte Miguel ein breites Grinsen. „Nicht schlecht. Für einen Romantiker hätte ich ihn gar nicht gehalten.“

„Nein, ich auch nicht, um ehrlich zu sein.“

„Ich weiß noch, dass du dich hier von deinem Freund getrennt hattest, aber dass da zwischen dir und Young was lief, ist mir nicht aufgefallen.“

„Da lief auch nichts, als ich noch hier war. Das kam erst später.“

„Ach so? Wie auch immer, freut mich für dich, er ist ein guter Kerl.“

„Ja, das ist er“, sagte Libby und lächelte. Weil alle anderen gerade anderweitig beschäftigt waren, sagte Miguel plötzlich mit gesenkter Stimme: „Ich bin froh, dass ich dir eine Sache jetzt doch persönlich sagen kann.“

Fragend sah Libby ihn an. „Was kommt denn jetzt?“

„Es tut mir leid, dass ich dich damals wegen Cassidy Maxwell nicht besser unterstützt habe. Hätte ich wirklich tun sollen. Sie könnte vielleicht noch leben, wenn wir da an einem Strang gezogen hätten.“

Libby holte tief Luft. „Das weißt du nicht.“

„Sicher weiß ich das nicht, aber du hast geahnt, dass etwas Schlimmes passiert ist und ich habe dir bloß signalisiert, dass du übertreibst. Dass dem nicht so war, habe ich gesehen, als die Kollegen sie tot aus dem Wasser gefischt hatten. Das verzeihe ich mir ehrlich nicht.“

Für einen kurzen Moment überlegte Libby, was sie erwidern sollte, aber stattdessen umarmte sie ihn einfach und nickte ihm zu. Er nickte ebenfalls.

Das hatte er ihr nie gesagt. Sie hatte zwar gemerkt, dass es ihm nah ging, aber sie merkte, dass ihr Ansehen beim SJPD insgesamt jetzt ein ganz anderes war. Chief und Sergeant waren gerade dabei, sich wieder zu verabschieden und die Detectives übernahmen nun die Leitung. Miguel blieb dabei, während sie den Profilern jeden Fall noch einmal im Detail vorstellten.

Patty Cornell aus Fremont war Mutter einer neunjährigen Tochter und hatte Teilzeit als Sekretärin gearbeitet. Für Libby klang das alles ziemlich unauffällig. Sie hatte keine Feinde gehabt, keinen Liebhaber, keinen Stalker, nichts dergleichen. Sie hatten keine Ahnung, warum der Täter sie ausgewählt hatte. Warum hatte sie so brutal sterben müssen? Warum hatte der Täter ihre Leiche am Straßenrand entsorgt?

Die Detectives aus San José hatten sich in diesen Fall auch erst einarbeiten müssen, aber die Kollegen aus Fremont hatten ihnen sämtliche Informationen zur Verfügung gestellt. Sie hatten den gesamten Alltag von Patty Cornell abgeklopft, sie hatten ihre Yogagruppe überprüft, ihre Arbeitskollegen, einfach alles. Auch die Durchsuchung ihres Handys und des Familiencomputers war ergebnislos geblieben.

Auch Harry Bergerson und Walter Nelson schienen keine Feinde zu haben. Der eine war ein geschiedener Vater von zwei Kindern, der andere kinderlos. Beide waren vollkommen unauffällig.

„Wir können absolut keine Überschneidungen zwischen den Opfern finden“, sagte Alonso frustriert. „Bergerson war Trainer eines Jugend-Baseballteams, Nelson hat Golf gespielt. Sie haben nicht in denselben Supermärkten eingekauft, gingen nicht zu denselben Ärzten – wir wissen nicht, warum der Täter gerade sie ausgewählt hat. Wir haben in keinem einzigen Fall auch nur eine Idee, wer der Täter sein könnte. Es gibt auch keinerlei forensisch verwertbare Spuren, die uns zu ihm führen würden – keine Fingerabdrücke, keine Haare, nichts dergleichen. Wir wissen nicht, wer den Opfern das angetan haben könnte. Definitiv hat der Täter günstige Momente abgewartet, weshalb es bei der zweiten Entführung nicht einmal Zeugen gab.“

„Bei den anderen schon?“, fragte Nick.

„Ja, aber nichts, was uns helfen würde. Der Zeuge im Fall Walter Nelson beschrieb einen jungen Mann mit Hoodie und im Fall Patty Cornell soll es wohl ein alter Mann mit Glatze gewesen sein.“

Nick zog fragend die Brauen hoch. „Wie hilfreich.“

„Ja, das ist das Problem. Wir sind absolut ratlos, aber wir gehen davon aus, dass er uns etwas sagen will. Warum sonst würde er den Opfern Buchstaben in die Haut ritzen? Und was soll das mit den Verstümmelungen?“ Fragend blickte Detective Martin in die Runde.

„Ich musste schon an die drei Affen denken“, sagte Ian. „Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.“

„Ja, die Idee ist uns auch schon gekommen, aber wir sind da noch überhaupt nicht schlauer.“

„Da kommt es auch darauf an, ob der Täter die ursprüngliche oder die heute gängige Interpretation meint“, sagte Jesse und lachte verlegen, als unverhofft alle Blicke auf ihm ruhten.

„Die ursprüngliche Interpretation?“, fragte Martin.

„Als Student habe ich ein Auslandsjahr in Japan gemacht, in Osaka. Mit den drei Affen habe ich mich tatsächlich auch im Rahmen meines Studiums dort beschäftigt.“

Martin war sichtlich überrascht. „Was haben Sie denn studiert?“

„Japanologie, unter anderem.“

„Ah.“

Jesse grinste. „Exotisch, ich weiß. Hat mich aber immer fasziniert und ist nicht ganz unpraktisch im Alltag mit meiner Freundin.“

Libby lächelte. Jesse hatte irgendwann mal erzählt, dass er mit einer Japanerin zusammenlebte, was Libby faszinierend fand.

„Die drei Affen haben jedenfalls ihren Ursprung in einem japanischen Sprichwort. Der ursprünglichen Bedeutung nach geht es darum, über Schlechtes hinwegzusehen. Was nicht dem Gesetz der Schönheit entspricht, darauf schaue nicht – analog: darauf höre nicht oder davon rede nicht. Dabei geht es um angemessenes Verhalten und gemeint ist, großzügig über Fehlverhalten hinwegzusehen.“

„Das kenne ich aber anders“, sagte Alonso.

„Ja, eben. In der westlichen Welt hat sich die Bedeutung gewandelt, wir kennen die drei Affen eher als ein Symbol dafür, vor etwas die Augen zu verschließen, wegzuhören oder uns selbst zum Schweigen zu verdammen. Im übertragenen Sinn hat das ja was mit mangelnder Zivilcourage zu tun.“

„Immer gut, einen Japanologen im Team zu haben“, sagte Nick und lachte. „Das hätte ich nicht gewusst. Ich hätte nicht mal gewusst, woher die drei Affen überhaupt stammen. Vermuten würde ich allerdings, dass unser Täter das ebenfalls nicht weiß und sich der gängigen Interpretation bedient, die wir auch kennen.“

„Das würde ich auch vermuten, weil es mehr Sinn ergibt, aber wir sollten nicht außer Acht lassen, dass es da eine andere Deutungsweise gibt.“

„Unsere bisherige Idee war, dass die Opfer etwas mit einem Unrecht zu tun haben, das dem Täter widerfahren ist. Wir haben schon bei allen Opfern nach einer Verbindung gesucht, aber die finden wir einfach nicht“, sagte Martin.

„Das ist nicht weiter verwunderlich, denn vielleicht wussten die Opfer gar nicht, dass da jemand Unrecht erlitten hat“, sagte Nick.

„Aber wie sollen wir dann weiterkommen?“

„Welche Buchstaben haben wir denn bisher von Täter geliefert bekommen?“ Nick stellte sich vor eine der Pinnwände mit Fotos und betrachtete die Fotos der Opfer, die in der richtigen Reihenfolge aufgehängt worden waren. Patty Cornell hatte die Buchstaben NG auf dem Bauch stehen, Harry Bergerson RY und Walter Nelson CE.

„Wir haben schon alles versucht“, sagte Martin genervt. „Wir haben die Buchstabenpaare in den unterschiedlichsten Varianten angeordnet und schließlich auch alle Buchstaben einzeln gemischt. Es kommt immer nur Kauderwelsch dabei heraus, egal was wir versuchen. Es gibt keine Zusammenstellung, die aus allen Buchstaben etwas Sinnvolles machen würde.“

„Glaube ich Ihnen“, sagte Nick. „Ich vermute, uns fehlen einfach noch Buchstaben …“

„Ja, das hatten wir auch schon befürchtet“, sagte Alonso. „Deshalb sind Sie auch hier. Wir hatten die Hoffnung, dass wir den Kerl finden, bevor wir erfahren, was die übrigen Buchstaben gewesen wären. Sie haben aber kein Superhirn wie Spencer Reid aus Criminal Minds in Ihrem Team?“

Nick lachte. „Nein, das wäre schön! Wobei ich die Einlage von Agent Brooks vorhin schon recht eindrucksvoll fand.“

Jesse grinste breit, während Libby einen Schritt nach vorn machte und die Fotos aller verstümmelten Leichen betrachtete.

„Die Verstümmelungen betreffen Augen, Ohren, Zunge und den Bauch. Die Buchstaben auf dem Bauch sind als Botschaft wenig subtil, deshalb würde ich die Symbolik der anderen Verstümmelungen auch nicht unbedingt überschätzen. Er wird sich bestimmt des Bildes der drei Affen bedient haben, weil die Opfer irgendwas getan haben, was ihn getroffen hat – weggesehen, nichts gesagt, irgendwas in der Art. Aber er ist sehr mitteilungsbedürftig, denn sie auf diese sadistische Weise zu verstümmeln und letztlich auch zu töten, reicht ihm nicht. Er will sich uns deutlicher mitteilen und schneidet den Opfern deshalb diese Buchstaben in den Bauch“, sagte Libby.

Dormer nickte zustimmend. „Würde ich auch so sehen.“

„Dieses Mitteilungsbedürfnis sollten wir nutzen. Dieser Täter befindet sich auf einer Mission, das Kauderwelsch der Buchstaben verrät uns, dass er noch nicht fertig ist. Er will aber gesehen, gehört und wahrgenommen werden. Wenn wir ihm diese Möglichkeit einräumen, könnte das sein Bedürfnis schon befriedigen.“

Während Alonso und Martin überraschte Gesichter machten, wirkte Nick zufrieden.

„Das ist keine schlechte Idee. Woran dachtest du dabei?“

„An eine Pressekonferenz, in der wir uns an ihn richten und Verständnis zeigen – vordergründig natürlich. Wir bitten ihn, Kontakt mit uns aufzunehmen und uns begreiflich zu machen, was sein Anliegen ist, damit wir ihm helfen können. Wenn er sich dann bei uns meldet, haben wir gleich mehrere Dinge davon: Wir erfahren mehr über sein Motiv, aber vielleicht auch über seine Person, wenn wir seine Nachricht zurückverfolgen können.“

„Das sollten wir unbedingt machen“, sagte Martin sofort.

„Ja, ich stimme auch dafür, allerdings sollten wir zuerst ein vollständiges Täterprofil haben. Wir müssen alle Aspekte berücksichtigen, bevor wir uns an ihn wenden.“

„Und was, wenn er einfach nur ein psychotischer Spinner ist?“, überlegte Ian.

„Unwahrscheinlich“, entgegnete Nick. „Dann wüssten wir mehr über ihn. Nein, er macht das alles gezielt und durchdacht.“

„Also, was haben wir?“, fragte Martin.

„Er ist vermutlich männlich. Zwar hat er einen Elektroschocker eingesetzt, um seine Opfer unter Kontrolle zu halten, aber den Zeugenaussagen zufolge muss es ein Mann gewesen sein, auch wenn die Aussagen sich nicht decken. Auch die Logistik spricht eigentlich dafür, denn um jemanden so schnell zu kidnappen, braucht man auch Kraft“, sagte Nick.

„Das spricht auch dafür, dass er jung ist“, sagte Dennis.

„Brutalität macht ihm nichts aus, vielleicht eher im Gegenteil – er könnte sadistische Neigungen haben“, sagte Libby.

„Oder er ist einfach auf Rache aus“, sagte Jesse.

„Das Entfernen der Augen ist ja in der Hauptsache symbolisch“, fand Libby. „Jedenfalls bringt es ihn nicht dem Ziel näher, die Opfer zu töten. Ich würde mir gern noch mal ein paar andere Fallbeispiele ansehen, in denen die Täter auch die Augen der Opfer entfernt haben. Vielleicht liefert das noch ein paar neue Impulse.“

„Nur zu.“ Nick suchte Martins Blick. „Hätten Sie ein Problem damit, wenn wir noch jemanden einbeziehen, der offiziell kein Ermittler mehr ist? Agent Whitmans Mutter unterrichtet Kriminologie und Psychologie an der University of California in San Francisco. Sie war früher bei uns in der BAU und hat schon einige prominente Kriminalfälle aufgeklärt.“

Der Detective wirkte überrascht, nickte aber gleich. „Von mir aus gern. Macht sie so etwas denn immer noch?“

„Sie ist Gerichtsgutachterin“, sagte Libby.

„Wir nehmen jede Hilfe, die wir kriegen können.“

„Okay, dann stelle ich ihr den Fall später auch mal vor.“ Libby hatte ohnehin schon darüber nachgedacht, aber grünes Licht von offizieller Seite zu haben war immer gut.

„Ist sie heute an der Uni? Sonst ruf sie doch jetzt an“, schlug Nick vor.

Libby war einverstanden. „Das mache ich mal.“

Mit ihrem Handy in der Hand ging sie auf den Flur vor dem Besprechungsraum und rief ihre Mutter an. Tatsächlich hatte sie Glück.

„Ihr seid schon gelandet?“, fragte Sadie ohne Umschweife.

„Wir sind schon beim SJPD. Nick hat gerade vorgeschlagen, dass ich dich frage, ob du uns nicht als Beraterin unterstützen willst.“

Sadie lachte. „Das ist wieder typisch Nick. Worum geht es denn?“

„Ein Serienmörder, der seine Opfer verstümmelt und ihnen Buchstaben in den Bauch ritzt. Der hat was zu sagen.“

„Klingt ganz so. Nick dachte jetzt wahrscheinlich an Brian Leigh, oder?“

„Hat er nicht gesagt, aber kann sein, ja.“

„Also, meine Veranstaltungen für heute sind seit zehn Minuten vorbei, ich bin gerade im Büro angekommen. In einer Stunde hätte ich eigentlich ein Gespräch mit einer Doktorandin, aber das kann ich bestimmt verschieben. Möchte das SJPD mich denn dabei haben?“

„Ja, der Detective fand die Idee gut.“

„In Ordnung. Wenn es für ihn passt, dass ich eigentlich unterrichte und euch nicht ununterbrochen zur Verfügung stehen kann, bin ich dabei. Das Semester hat ja vor kurzem wieder begonnen und hier ist genug zu tun … und das SJPD hatte ja nicht immer gern externe Unterstützung.“

„Doch, er schon. Er ist in Ordnung.“

„Gut, dann sehe ich zu, dass ich mich hier für heute aus der Affäre ziehe und mache mich auf den Weg zu euch in San José.“

„Super, bis gleich.“

Libby legte auf und freute sich. Sie hatte noch nie mit ihrer Mutter zusammen ermittelt. Das würde bestimmt eine tolle Erfahrung werden.

 

 

„Darauf hätte ich eigentlich kommen können. Sie heißen ja auch Whitman“, sagte Martin und lachte.

Libby lachte ebenfalls und sagte: „Ja, ich bin die Tochter der Frau, die hier vor ein paar Jahren bei der Geiselnahme an der Universität die Verhandlungen geführt hat.“

Martin füllte gerade ein Formular aus, um Sadies Mithilfe bei dem Fall offiziell zu machen. „Jetzt weiß ich auch, warum mir der Name bekannt vorkam. Sie war aber damals auch schon keine Profilerin mehr, oder?“

„Nein. Sie wollte das ja auch überhaupt nicht machen, aber die Geiselnehmer hatten da ihre eigenen Vorstellungen.“

„Ja, das weiß ich noch. In diesen Tagen hat alles auf die Uni geblickt. Und welche Fälle hat sie beim FBI bearbeitet?“

„Wo soll ich anfangen?“, fragte Libby grinsend.

„Etwas, was man kennt?“

„Mit Sicherheit. Denken Sie an Rick Foster, Richard Carson, die Sarin-Anschläge in Los Angeles, an den Son of the Nightstalker …“

„Ach, ehrlich? Den auch?“

„Deshalb hätte ich sie gern hier“, sagte Nick. „Der war auch ziemlich mitteilungsbedürftig, damit kennt sie sich aus.“

Damit sah Libby sich in ihrer Vermutung bestätigt. Als Alonso wenig später vorschlug, in der Kantine etwas essen zu gehen, waren alle einverstanden. Die Profiler waren schon länger auf den Beinen und hatten inzwischen wirklich Hunger.

Auf dem Rückweg ins Büro passten nicht alle gleichzeitig in einen Aufzug, deshalb erklärten Libby und Nick sich bereit, den nächsten zu nehmen. Während sie gemeinsam warteten, sagte Nick: „Möchtest du mir sagen, was es mit dem Fundort der Leiche von Bergerson auf sich hatte?“

In diesem Moment kam der Aufzug und die beiden gingen hinein. Als die Türen sich geschlossen hatten, sagte Libby: „In genau diesen Lagerräumen am Freeway hatten die Entführer von Cassidy Maxwell Owen und mich eingesperrt, bevor sie sich in den Kopf gesetzt hatten, ihn zu erschießen und mit mir noch sonst was anzustellen. Das hat mich eben kalt erwischt.“

„Kann ich mir vorstellen, das wird ja keine deiner angenehmeren Erinnerungen sein.“

„Für Owen war es schlimmer.“

„Das tut mir leid.“

„Ist schon okay. Jedenfalls ist das kein schlechter Ort, um ungesehen eine Leiche loszuwerden.“

Er nickte zustimmend. „Ist es okay für dich, hier zu ermitteln?“

„Absolut. Es ist toll, dass Sadie jetzt auch kommt. Mit ihr zu arbeiten wird toll.“

„Ja, vor allem schätze ich ihren Instinkt. Den hast du auch, dir fehlt nur die Erfahrung, die sie hat. Schaden wird ihre Hilfe keinesfalls.“

Libby lächelte. „Natürlich nicht.“

Gemeinsam kehrten sie ins Büro zu den anderen zurück und wenig später stand ein Mitarbeiter des SJPD mit Sadie in der Tür. Libby stand sofort auf und ging zu ihr, um sie zu umarmen. Nick tat es ihr gleich und stellte sie dann Martin und Alonso vor.

„Ich freue mich sehr, dass Sie bereit sind, uns zu unterstützen. Ich hoffe, Sie haben das SJPD nicht als zu widerspenstig in Erinnerung“, sagte Martin gleich.

Sadie grinste. „Nein, überhaupt nicht. Mit Ihren Kollegen bin ich zurechtgekommen, tatsächlich war das FBI deutlich anstrengender.“

„Du weißt, wie das ist“, sagte Nick entschuldigend. Sadie nickte und begrüßte auch die anderen BAU-Kollegen noch sehr freundlich.

„Ich freue mich, euch unterstützen zu dürfen. Wie weit seid ihr denn bisher?“

Nick und Detective Martin setzten sie über alle Fälle in Kenntnis, doch zur Überraschung der Detectives bat Nick darum, Sadie nichts über ihre Schlussfolgerungen zu sagen.

„In Ordnung“, sagte Sadie schließlich. „Ich fühle mich tatsächlich ein wenig an Brian Leigh und seine Briefe erinnert, auch wenn das hier andere Botschaften sind. Es sind aber definitiv welche.“

„Allein seine Verstümmelungen sind eine Botschaft“, sagte Nick.

„Die Symbolik ist kaum zu übersehen“, sagte Sadie. „Hätte er sie bloß verstümmeln wollen, hätte er alle möglichen Körperteile nehmen können, aber das hat er nicht. Es mussten Augen, Ohren und Zunge sein.“

„Mit dem Entfernen von Augen ist er ja nicht allein“, sagte Jesse. „Das haben auch schon andere vor ihm gemacht.“

„Gibt es das öfter?“, fragte Martin schockiert.

„Auf Anhieb fällt mir der Eyeball Killer Charles Albright ein“, sagte Libby. „Der hat ja, wie der Name schon sagt, seinen Opfern die Augen entfernt.“

„Ja, er hat sie erschossen und ihre Augen nach dem Tod entfernt“, sagte Sadie und fragte mit Blick auf Nick: „Fällt dir jemand ein, der die Augen seiner Opfer entfernt hat, als sie noch lebten?“

Er überlegte kurz und schüttelte den Kopf. „Nein, tatsächlich nicht ein einziger. Ich erinnere mich an den Nightstalker Richard Ramirez, er hat in einem Fall nach dem Tod die Augen entfernt … Ich glaube, das war im Fall Zazzarra im März 1985.“

Sadie nickte. „Stimmt, er hat die Frau auch verstümmelt und dann die Augen entfernt und mitgenommen.“

„Bei Albright spielten sexuelle Motive eine Rolle“, sagte Libby. „Die haben wir in unserem Fall überhaupt nicht.“

„Das stimmt. Sexuelle Motive gab es auch bei Richard Trenton Chase, der sich ja zumindest mal als Enukleator versucht hat“, sagte Nick. Libby kannte den Fachbegriff für Serienmörder, die bei ihren Opfern die Augen entfernten.

„In vielen Fällen hat es auch was mit Kannibalismus zu tun“, sagte Sadie. „Bei Albert Fish war das der Fall. Bei den Kindern, die er entführt hat, hat er nach der Folter, die er ihnen vor ihrem Tod zugefügt hat, anschließend die Leichen verstümmelt, in ihre Einzelteile zerlegt und sie fast komplett verzehrt.“

Libby schüttelte sich unwillkürlich. „Ich will es mir gar nicht vorstellen. Schon gar nicht, dass du selbst auch schon mit einem Kannibalen zu tun hattest, Sadie.“

„Ja, aber den kannst du nicht mit Fish vergleichen. Fish war ein fürchterlicher Sadist, der einen Fäkalfetisch entwickelt und seine männlichen Opfer vor ihrem Tod vergewaltigt hat. Charles Fletcher hatte es eher mit Nekrophilie und ein Sadist ist er auch nicht.“

„Wie tröstlich“, sagte Libby spöttisch und lachte.

Während Sadie grinste, sagte Nick: „Mir fällt noch Andrei Tschikatilo ein. Der hat einigen seiner Opfer die Augen aus dem Schädel gedrückt, weil er anfangs glaubte, dass in den Augen das letzte Bild, das die Opfer vor ihrem Tod sehen, erhalten bleibt.“

„Aber selbst er hat das erst nach ihrem Tod getan“, sagte Sadie.

„Ja, das stimmt. Was wir hier haben, unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von den Fallbeispielen, die wir kennen. Wir haben es hier auch mit einem Sadisten zu tun, weil er seine Opfer brutal foltert, aber sexuelle Motive bleiben bei ihm außen vor.“

„Deshalb war uns ja auch gleich klar, dass er uns etwas mitteilen will“, sagte Libby. „Er macht das alles so gezielt und kontrolliert. Trotzdem müssen wir uns ja die Frage stellen, was er eigentlich mit den verstümmelten Körperteilen tut, wenn er sie den Opfern entfernt hat. Haben wir ausgeschlossen, dass er sie als Trophäen behält?“

„Nein, das kann durchaus sein. Fraglich bloß, inwiefern das wichtig für das Profil ist.“

„Es ist ja schon ganz außergewöhnlich, dass wir hier einen Mörder haben, der Verstümmelungen ohne sexuelle Motivation vornimmt“, sagte Sadie.

„Wir haben hier einen missionsorientierten Serienmörder, der irgendein Ziel vor Augen hat. Wenn wir dieses Ziel kennen, haben wir ihn“, sagte Nick.

Libby rief an einem der Rechner noch einmal die Fallakten der Killer auf, über die sie gerade gesprochen hatten. Der Eyeball Killer Charles Albright, der die Taten immer geleugnet hatte, war dafür verurteilt worden, Anfang der 1990er Jahre drei Prostituierte erschossen und ihnen geschickt nach dem Tod die Augen entfernt zu haben. Dieses Phänomen war tatsächlich eher selten und trat fast nie so isoliert auf, sondern meist im Zuge anderer Verstümmelungen – eine Gemeinsamkeit mit ihrem eigenen Fall, wie Libby gleich dachte.

So hatte etwa der Vampir von Sacramento, Richard Trenton Chase, auf seine acht Opfer geschossen und sie nach ihrem Tod verstümmelt, etwas von ihrem Fleisch verzehrt und nekrophile Handlungen vorgenommen. Bei den Verstümmelungen hatte er auch versucht, ihnen die Augen zu entfernen. Chase war jedoch psychotisch gewesen – etwas, das hier nicht der Fall sein musste.

Die Täter waren alle unterschiedlich. Der 2013 verstorbene Night Stalker Richard Ramirez war nicht psychotisch gewesen, aber ein vollkommen unorganisierter Täter ohne festgelegten Opfertyp und mit wechselnden Vorgehensweisen. Er war in Häuser eingebrochen und hatte dort getötet. Mal hatte er seine weiblichen Opfer vergewaltigt und mal nicht, mal hatte er Pentagramme hinterlassen, manche hatte er erschossen, andere erstochen und verstümmelt.

Nein, daraus konnten sie hier nichts ableiten. Auch der in den 1920er Jahren aktive Albert Fish, der mindestens zwölf Kinder im Alter zwischen vier und zehn Jahren auf extrem grausame Art getötet hatte oder der Ripper von Rostow Andrei Tschikatilo, der in der Ukraine über fünfzig Menschen auf die unterschiedlichsten Arten brutal ermordet hatte, waren völlig andere Tätertypen als derjenige, mit dem sie es hier zu tun hatten. Zwar hatte ihr Täter seine Opfer auch verstümmelt, aber das war nicht die Tat eines Geisteskranken.

Nein, die Fallbeispiele halfen ihnen überhaupt nicht weiter und jetzt verstand Libby auch, warum Nick sich anfangs gar nicht darum gekümmert hatte. Dafür war die Symbolik in ihrem Fall zu offensichtlich. Oder interpretierten sie es zu stark?

Doch daran glaubte sie nicht. Nein, dieser Täter war nicht psychotisch, er war auch nicht unorganisiert. Er handelte sehr zielgerichtet und verfolgte spezielle Absichten.

„Eine Kernfrage ist, ob die Opfer Zufallsopfer sind oder nicht“, sagte Nick. „Um das herauszufinden, müssen wir noch tiefer in die Viktimologie gehen.“

„Ich glaube nicht, dass es sich um Zufallsopfer handelt“, sagte Sadie.

„Aber sie sind doch so unterschiedlich, sie haben nicht mal dasselbe Geschlecht, teilweise haben sie auch völlig verschiedene soziale Hintergründe. Sie haben verschiedene Jobs, wohnen in verschiedenen Städten, manche haben Familie und andere nicht“, widersprach Dennis.

„Die Tatumstände sind aber zu persönlich“, sagte Nick. „Irgendetwas verbindet den Täter mit allen Opfern, wir haben es nur noch nicht gefunden. Wenn wir herausfinden, was es ist, haben wir ihn.“

„Wir waren uns nicht sicher“, räumte Martin ein. „Mir hat auch mein Bauchgefühl gesagt, dass er die Opfer gezielt ausgewählt hat, aber beweisen kann ich das bis jetzt nicht.“

„Ein junger Mann mit genügend körperlicher Kraft und voller aufgestauter Kraft und Sadismus“, sagte Nick nachdenklich. „Was ist ihm passiert, dass er jetzt seinem Hass freien Lauf lässt?“

Libby stützte nachdenklich den Kopf in die Hände. „Was er mit seinen Opfern tut, ist barbarisch. Augen entfernen, Ohren abschneiden, Zunge rausschneiden. Das ist mit großen Schmerzen verbunden und er will, dass seine Opfer leiden, indem er sie daran einfach verbluten lässt. Wenn er sie jedes Mal über ein paar Stunden gefangen hält, muss er einen Ort haben, an dem er das tun kann – irgendwo, wo niemand die Opfer hört.“

„Ein weiterer Punkt, der dafür spricht, dass es keine Zufallsopfer sind“, sagte Nick. „Warum sonst würde er sie so lang festhalten, bevor er sie tötet?“

„Gute Frage“, murmelte Jesse.

Sadie holte tief Luft und überlegte kurz. „Dieser Täter macht alles planvoll. Er schafft es, die Opfer unbemerkt zu kidnappen und vor ihrem Tod zu foltern. Er wurde auch nie dabei gesehen, wie er die Leichen weggebracht hat. Er verfolgt auch einen Plan mit seinen Botschaften, also mit den Verstümmelungen und den Buchstaben. Ich erkenne hier nicht ein einziges zufälliges Element, warum sollte also gerade die Wahl der Opfer zufällig sein?“

Dormer nickte zustimmend, während Martin lächelte und sagte: „Klingt plausibel.“

„Es gibt irgendeine Gemeinsamkeit zwischen den Opfern, die wir jetzt finden müssen. Jedes einzelne von ihnen steht in einer Beziehung zum Täter. Ich erkenne in seinen Taten weniger Sadismus als vielmehr Rache. Was nicht heißt, dass Sadismus da keine Rolle spielt, aber vor allem hat der Täter seine Opfer persönlich gehasst. Er hätte Augen, Ohren und Zunge nämlich auch prima nach ihrem Tod entfernen können, so wie ich das aus anderen Fällen kenne, aber das wollte er nicht. Sie sollten es miterleben und dass sie daran sterben würden, kam ihm sicher gelegen. Auch die Buchstaben hat er ihnen bei vollem Bewusstsein ins Fleisch geschnitten. Er wird ihnen vor ihrem Tod gesagt haben, warum er das tut. Er will sich mitteilen und wenn wir ihn jetzt dazu einladen, wird er dem auch sicherlich nachkommen.“

„Wie schätzt du ihn ein?“, fragte Nick an Sadie gerichtet. „Wenn du ein Profil erstellen müsstest, wie sähe das aus?“

„Männlich, lebt vermutlich allein, ist einsam. Er fühlt sich abgehängt und hat irgendwas erlebt, das diesen Hass in ihm ausgelöst hat. Das hat auch irgendwas mit den Opfern zu tun – sie tragen für ihn eine Schuld. Alles an diesen Taten ist so persönlich.“

„Was denkst du, wie alt er ist?“

„Das ist eine gute Frage. Ich würde annehmen, dass er sich in der Altersspanne seiner Opfer bewegt. Muss aber nicht so sein, vielleicht ist er auch jünger. Das würde sich zumindest mit der Zeugenaussage hinsichtlich des jungen Mannes mit Hoodie decken.“

„Was würdest du sonst über ihn annehmen?“

„Dass er unglücklich mit seinem Leben ist und dafür die Schuld bei anderen sucht. Definitiv ist er zu allem entschlossen, weil er nichts zu verlieren hat. Er wird weitermachen, es wird vielleicht eine höhere Eskalationsstufe erreichen. Er ist jemand, der sich lieber selbst richtet oder von Polizisten erschießen lässt, anstatt sich festnehmen zu lassen. Er hat nichts zu verlieren. Dabei will er einfach nur anerkannt werden.“

„Was denkst du über Bildungsstand und beruflichen Status?“

„Dumm ist er nicht, sonst wüssten wir mehr über ihn. Was wir hier haben, ist ein typisches Beispiel für jemanden, der irgendwann unverhofft aus der Bahn geworfen wurde. Danach ist sein Leben entgleist. Er wird keinen guten Job haben, ist hinter seinen Möglichkeiten zurückgeblieben. Er hat aber zumindest die Möglichkeit, sich ein Dach über dem Kopf und ein Auto zu leisten, also muss er einer Tätigkeit nachgehen.“

„Ist er vorbestraft?“

„Könnte sein. Wenn, dann wird es irgendwas in Richtung Körperverletzung, Vandalismus oder Drogenkonsum sein.“

„Aber was ist die Verbindung zu seinen Opfern?“, fragte Nick.

„Ich denke, das schreibt er uns auf den Körpern der Opfer. Die Verstümmelungen sind eine Botschaft an die Opfer, die Buchstaben eine an uns. Vielleicht müssen wir im Leben der Opfer einfach sehr weit zurückgehen und wirklich alles in Betracht ziehen: alte Jobs, frühere Beziehungen, frühere Nachbarn, selbst die Schulen. Die Gemeinsamkeit kann überall herkommen.“

„Dann müssen wir die Angehörigen der Opfer in dieser Richtung befragen und hoffen, dass sich jemand erinnert.“

Die anderen hörten gespannt zu, während Nick und Sadie alles gemeinsam durchgingen. In den Gesichtern von Martin und Alonso entdeckte Libby sprachloses Staunen, während die Profilerkollegen neugierig zuhörten.

„Er wird auf jeden Fall weitermachen, bis er seinen Racheplan vollständig umgesetzt hat. Wir müssen ihm also unbedingt schneller auf die Schliche kommen. Haben an den Buchstaben schon die FBI-Dechiffrierer gesessen?“

„Das nicht, aber wir haben schon polizeiintern versucht, aus dem Kauderwelsch etwas zu machen“, sagte Alonso.

„Ich fürchte, wir kommen da nicht weiter, solange uns Buchstaben fehlen“, sagte Martin.

„Nicht unbedingt – wenn wir dieser Annahme folgen, kann die Dechiffrierungsabteilung des FBI doch sicher versuchen, das Ganze exemplarisch zu vervollständigen“, sagte Sadie.

Dormer nickte zustimmend. „Wir sollten es ihnen vorlegen. Die können sicher mit ihren Programmen weitere Zwei-Buchstaben-Kombinationen durchlaufen lassen, bis was passt.“

Während sie sich die Köpfe heiß redeten, wurde ihnen klar, dass sie an diesem Tag kein Ergebnis mehr zustande bringen würden, das sie auf einer Pressekonferenz präsentieren konnten. Es war ohnehin schon zu spät, um die überhaupt noch auf die Beine zu stellen, deshalb beschlossen sie, die Presse am Nachmittag des nächsten Tages einzuladen. Nick war zuversichtlich, dass sie bis dahin ein Ergebnis vorweisen konnten und kontaktierte auch schon die Dechiffrierungsabteilung in Quantico.

Die Detectives schlugen noch eine gemeinsame Unternehmung für den Abend vor, aber die Profiler waren aufgrund der Reise und der Zeitverschiebung müde und wollten bloß noch ins Hotel. Sadie und Libby verabschiedeten sich von den anderen und fuhren zusammen nach Pleasanton. Schon vor einer Weile hatte Sadie sich ein neues Auto gegönnt, einen ziemlich schicken Chevrolet Cruze, um den Libby sie sehr beneidete. Sie selbst fuhr nur einen alten Gebrauchten, weil sie sich noch nichts anderes leisten konnte, aber Sadies alter Toyota hatte auch beinahe den Geist aufgegeben.

Unterwegs schaute Libby auf die Uhr. Viertel nach sechs. Sie griff nach ihrem Handy und rief Owen an, der drei Zeitzonen weiter und sicher längst zu Hause war.

„Hey“, begrüßte er sie erfreut. „Wie geht es dir? Hattet ihr eine gute Reise?“

„Ja, wir sind mit dem kleinen FBI-Flugzeug geflogen, das Vergnügen hatte ich ja noch nie.“

„Klingt ziemlich cool. Und, sitzt bereits jemand hinter Gittern?“

Libby lachte. „Schön wär’s. Nein, wir stehen noch ziemlich am Anfang. Morgen gibt es eine Pressekonferenz und dann sehen wir weiter.“

„Worum geht es denn in dem Fall?“

„Um jemanden, der seine Opfer verstümmelt. Ziemlich hässlich. Er schneidet ihnen bei lebendigem Leib die Zunge und die Ohren ab, entfernt ihnen die Augen und ritzt ihnen Buchstaben in den Bauch. Bis jetzt haben wir drei Opfer, aber wir haben noch keine Ahnung, was der Täter will. Wir hoffen, ihn durch eine Pressekonferenz ansprechen zu können.“

„Gute Idee. Ich drücke euch die Daumen, dass das funktioniert. Klingt nach einem heftigen Fall.“

„Kann man so sagen. Gerade bin ich mit Sadie unterwegs nach Pleasanton. Sie unterstützt uns bei den Ermittlungen.“

„Das ist doch klasse. Ich freue mich, dass du jetzt ein bisschen Zeit mit deiner Familie verbringen kannst.“

„Lieb von dir, Owen. Trotzdem fehlst du mir.“

„Ja, du fehlst mir auch. Ist gerade ziemlich einsam hier.“

„Was machst du gerade?“

„Netflix. Disenchantment. Nichts für dich, glaube ich.“

Libby grinste, denn sie hatte den Trailer der Cartoonserie gesehen. Das traf nicht ganz ihren Humor. „Nein, aber solange du Spaß hast. Wie war es denn heute vor Gericht?“

„Tatsächlich recht unspektakulär, wenn man von der Belagerung durch die Medien absieht. Klar, ein Kind als Mörder sorgt immer für Schlagzeilen, aber ich glaube, der Junge hat einen guten Pflichtverteidiger und der vorsitzende Richter ist ganz okay. Es ist ja kein Geschworenenprozess, was aber richtig ist, glaube ich.“

„Ja, ich denke auch. Ich hoffe, es ist nicht zu langweilig ohne mich.“

„Ach, ich komme schon klar, das weißt du doch. Grüß deine Familie schön von mir, ja?“

„Na klar, das mache ich. Wir schreiben uns.“

„Bis später. Ich liebe dich.“

„Ich dich auch“, sagte Libby und legte mit einem Lächeln ihr Handy wieder weg.

Nach einem kurzen Moment des Schweigens sagte Sadie: „Ich hatte immer gehofft, dass du so jemanden findest.“

„Ja, ich auch. Mit Kieran hatte ich auch immer eine tolle Zeit, aber das war nicht dasselbe.“

„Glaube ich dir. Ich mochte ihn, aber Owen schätze ich anders ein. Ich glaube, bei ihm findest du alles, was du brauchst.“

„Es ist so toll, dass ihr ihn mögt.“

„Ja, absolut. Bei ihm wissen wir dich in den besten Händen.“

Dieses Bekenntnis machte Libby glücklich. Schließlich sagte sie ganz aus eigenem Antrieb: „Er war mir auch eine große Hilfe nach der Sache mit Melville. Fast so wie du.“

„Oh, das ist toll. Du hast auch länger nicht mehr davon gesprochen.“

„Nein, ich glaube, ich bin drüber hinweg. Ich habe mich allerdings manchmal gefragt … ach, vergiss es.“

„Was denn?“

„Wie du überhaupt so lang Profilerin bleiben konntest, obwohl du so genau weißt, wie die Hölle von innen aussieht.“

Ein unwilliges Lächeln huschte über Sadies Lippen. „Das trifft es auf den Kopf … und gerade das war der Grund. Du kennst meine Geschichte und so traurig das ist, aber dass es auch etwas anderes als Hölle gibt, musste ich erst lernen. Ich bin mit einem gewalttätigen Vater aufgewachsen, der meine Familie getötet hat. Damals bin ich in einem Loch gelandet, das die nächsten fünfzehn Jahre meines Lebens definiert hat und ich war immer motiviert, anderen so etwas zu ersparen. Das ist bis heute so, deshalb unterrichte ich jetzt zukünftige Profiler. Was ich damit sagen will … ich bin ein relativ leidensfähiger Mensch und ich kann so einiges einstecken, aber meine persönliche Schmerzgrenze war erreicht, als es um meine Familie ging, um Hayley und dich. Ich war verantwortlich für euch.“

„Aber solange es nur um dich ging, hast du das ausgehalten?“

„Ja, irgendwie schon. Vielleicht habe ich die Tatsache, dass ich zweimal fast gestorben wäre, auch anders weggesteckt als du, weil ich mal versucht habe, mich umzubringen. Was jetzt nicht gerade für mich spricht …“

Libby warf Sadie einen mitfühlenden Blick zu. „Du hast dich aber immer wieder aufgerichtet.“

„Ja, was mit Matt immer einfacher war. Und eben weil ich weiß, wie wichtig es ist, so jemanden zu haben, bin ich froh, dass du Owen hast.“

„Danke.“ Libby lächelte und freute sich, mit Sadie so darüber sprechen zu können. Während sie auf Pleasanton zu fuhren, wurde ihr bewusst, wie sehr sie ihre Familie und ihre Heimat vermisste – aber sie wollte Profilerin in der BAU sein und deshalb blieb ihr keine Wahl.

Es war fast sieben Uhr abends, als sie vor dem Haus der Whitmans parkten und gemeinsam hinein gingen. Sie fanden Matt und Hayley im Wohnzimmer, die beiden spielten gerade zusammen ein Spiel zum Zeitvertreib. Auf dem Sofa lag Cookie und schlief. Als Sadie und Libby hereinkamen, stand Matt mit einem Lächeln auf und ging zu ihnen, um sie zu begrüßen. Er umarmte Libby fest und sagte: „Wie schön, dass du bei uns bist.“

„Ich freue mich auch“, erwiderte Libby und spähte an ihm vorbei zu Hayley. „Hey, Schwesterlein.“

Das Mädchen bemühte sich zu lächeln, aber es wirkte nicht echt. Libby war vollkommen irritiert, beschloss, aber sich erst einmal nichts anmerken zu lassen. Als Hayley nun zu ihr kam und sie ebenfalls umarmte, drückte Libby sie an sich.

„Schön, dich zu sehen.“

„Dich auch“, erwiderte Hayley knapp und löste sich von ihr. Libby wusste ihr Verhalten nicht zu deuten. Was war da los? Ärger in der Schule? Oder kam Hayley etwa allmählich in die Pubertät? Libby konnte es nicht sagen, sie hatte ihre kleine Schwester seit über neun Monaten nicht gesehen.

„Habt ihr Hunger? Soll ich uns eine Kleinigkeit machen?“, erkundigte Matt sich.

„Ja, gern“, sagte Libby.

„Das Gästezimmer ist auf jeden Fall bereit für dich. Finde ich toll, dass du jetzt bei uns bist.“ Er lächelte, als er das sagte.

„Und ich erst.“

„Wie geht es deinem Freund?“

„Gut. Er wäre ja zu gern mitgekommen, aber das ging leider nicht.“

„Nein, schon klar. In welchem Fall ermittelt ihr jetzt hier?“

„Das erzähle ich dir später“, sagte Libby mit Blick auf Hayley.

„Ach, ihr könnt ruhig über irgendwelche Serienmörder reden, ich hab sowieso keinen Hunger“, sagte das Mädchen und wandte sich schon zum Gehen.

„Wo gehst du denn hin?“, fragte Matt mit dem neutralsten Unterton, den er zustande brachte.

„In mein Zimmer.“

„Deine Schwester ist zu Besuch.“

„Sie ist ja morgen auch noch da.“

Mit diesen Worten verschwand Hayley und ließ vor allem Libby sehr irritiert zurück.

„Was ist denn da los?“, fragte sie, als sie davon ausging, dass Hayley inzwischen oben war.

Matt zuckte mit den Schultern. „Vielleicht hat sie einen schlechten Tag. Dann kann sie ziemlich zickig sein.“

„Eigentlich ist sie seit gestern Abend so drauf, aber sie behauptet, es wäre alles in Ordnung“, sagte Sadie.

„Was war denn gestern?“, fragte Libby.

„Sie war in Waterford. Ich weiß nicht, ob sie sich dort mit einem ihrer Cousins gezofft hat. Ich habe Norman schon gefragt, ob ihm was aufgefallen ist, aber das hat er verneint. Und uns sagt sie nichts.“ Sadie machte ein bedauerndes Gesicht, woraufhin Libby ihre Vermutung äußerte und sagte: „Glaubt ihr, sie kommt schon in die Pubertät?“

Matt grinste. „So zickig, wie sie in letzter Zeit manchmal sein kann, habe ich mich das durchaus schon gefragt. Inzwischen sind wir auch schon so weit, dass sie es peinlich findet, mit einem von uns im Bad zu sein – vor allem mit mir.“

„Ich glaube schon, dass es langsam losgeht“, sagte Sadie. „Bei mir war es in dem Alter so und einige Veränderungen kann man schon sehen, insofern … möglich, dass unsere Kleine langsam erwachsen wird.“

„Ist ja nicht schlimm“, sagte Libby. „Wenigstens muss sie deshalb keine Angst haben.“

Während Matt noch kurz zu überlegen schien, worauf Libby anspielte, warf Sadie ihrer Tochter einen ernsten und gleichermaßen traurigen Blick zu und umarmte sie.

„Ich kann mir nicht vorstellen, wie es dir damals gegangen sein muss.“

„Das Ganze ist schwierig genug, auch ohne dass einem eine Zwangsverheiratung droht, sobald jemand mitkriegt, dass man seine Regel hat. Aber bei mir … ihr könnt euch nicht vorstellen, was ich alles angestellt habe, damit das niemand merkt. Dabei hat meine Mum mich da ja nach Kräften gedeckt und beschützt.“

„Ich hätte deine Mum sehr gern kennengelernt“, sagte Sadie. „Sie muss eine ganz tolle und mutige Frau gewesen sein.“

„Ja, das war sie. Bist du aber auch“, sagte Libby und lächelte.

 

 

Vier Jahre zuvor

 

Das frühe Aufstehen schlauchte ihn gewaltig. Es war so anstrengend. Für den heutigen Tag hatte Marcus sich fest vorgenommen, Mr. Sands darauf anzusprechen, ob er nicht mal woanders eingesetzt werden konnte. Immerhin war er ja jetzt schon eine ganze Weile dabei und machte seine Sache gut. Das hatte Mr. Sands ihm auch schon gesagt.

Er war ja verdammt froh über diesen Job. Über das Geld, das er ihm einbrachte und die Möglichkeiten, die damit verbunden waren. Wenigstens konnte er sich so endlich seine eigene Wohnung leisten und musste nicht mehr ständig bei Onkel Mick die leeren Flaschen wegräumen, die überall herumstanden.

Während Marcus mit geübten Handgriffen weitere Cornflakes-Pakete ins Regal räumte, versuchte er, die frustrierenden Gedanken nicht schon wieder hochkommen zu lassen, aber das fiel ihm schwer. Was manchmal dabei half, war Musik, deshalb hatte er jetzt immer seinen iPod dabei und lenkte sich damit bei der Arbeit ab. Denn es gab so vieles, über das er nicht nachdenken wollte.

Shannon. Chrissie. Er würde ihre Schreie wohl ewig in seinem Kopf hören.

Was hätte er nicht alles tun können, wenn die Dinge an diesem Tag anders gelaufen wären. Er hatte sich ja schon über Colleges informiert und darüber nachgedacht, welche außerschulischen Aktivitäten sich wohl in einer Bewerbung am besten machten. Und jetzt hatte er einerseits nicht das Geld, um ans College zu gehen, und andererseits hatte er in der Schule keine ausreichend guten Leistungen mehr erbracht, um auf ein Stipendium hoffen zu können. Er saß also in der Falle. Statt einem Informatikstudium an einem der angesagten Colleges in der Bay Area hieß es jetzt Regale einräumen ab fünf Uhr morgens bei Walmart.

Diese verfluchte Scheiße. Das hätte doch alles anders laufen sollen.

Als er schließlich fertig war und sich seine Arbeitszeit dem Ende näherte, machte er sich auf den Weg zum Büro von Mr. Sands. Durch die Glasfront konnte er ihn bereits sehen, wie er in seinem Chefsessel saß und telefonierte. Das lebende Klischee. Marcus mochte ihn nicht sonderlich, aber er war immer freundlich zu ihm. Das musste sich jetzt mal auszahlen. Schließlich leistete er auch gute Arbeit.

Er klopfte an den Türrahmen und Sands nickte ihm zu, deshalb ging Marcus hinein und setzte sich, als Sands eine entsprechende Handbewegung machte. Sein Chef beendete sein Telefonat jedoch erst nach ein paar Minuten, in denen Marcus verlegen wahlweise Löcher in die Luft starrte oder den Kalender an der linken Wand eingehend studierte.

Dann endlich war es so weit. Sands legte auf und nahm einen Schluck Kaffee, bevor er sich Marcus zuwandte.

„Was kann ich denn für Sie tun?“

„Guten Morgen, Mr. Sands“, begann Marcus besonders höflich. „Ich bin hier, weil ich Sie etwas fragen wollte.“

„Nur zu.“

„Ich bin ja jetzt schon eine Weile dabei und Sie sagten ja, dass Sie zufrieden mit meiner Arbeit sind.“

Sands nickte und grinste wissend. „Und jetzt wollen Sie mehr Geld.“

Marcus war überraschend. So weit hatte er gar nicht gedacht, aber weil das auch gar nicht sein Anliegen war, schüttelte er den Kopf und sagte: „Nein, gar nicht … ich wollte fragen, ob ich nicht mal eine andere Arbeit übernehmen könnte. Sie wissen schon, alle Aufgabenbereiche hier kennenlernen und so …“

„Eine andere Aufgabe? An was hatten Sie da gedacht?“, fragte Sands stirnrunzelnd.

„Die Kasse vielleicht.“

Jetzt sah Sands ihn ungläubig an. „Die Kasse?“

„Sicher, da müsste ich erst noch angelernt werden und ich weiß, dass das ein anderer Verantwortungsbereich ist …“

„Ein vollkommen anderer“, sagte Sands gleich. „Ich bin vollauf zufrieden mit Ihrer Arbeit, Sie sind immer pünktlich und zuverlässig. Ich fürchte nur, an der Kasse haben wir gerade gar nichts frei.“

„Warum? Carol bekommt doch bald ihr Baby und macht dann erst mal Pause. Dann könnte ich doch für sie einspringen.“

Selbstbewusst beobachtete Marcus, wie Sands ins Schwimmen geriet. „Ja, das stimmt, aber dafür läuft bereits das Bewerbungsverfahren.“

Marcus zögerte kurz und holte tief Luft, dann sagte er: „Geben Sie mir doch diese Chance. Ich würde gern unter Beweis stellen, dass ich mehr kann.“

Sands verzog die Lippen und seufzte. „Mr. Greene … es tut mir wirklich leid, aber die Kasse … das halte ich für keine gute Idee.“

„Ich kann das bestimmt.“

„Ja, daran habe ich keinen Zweifel, aber sind Sie sicher, dass Sie dem auf allen Ebenen gewachsen sind? Ich will Sie nicht im direkten Kundenkontakt unnötigen Schwierigkeiten aussetzen, verstehen Sie?“

Marcus musste erst mal darüber nachdenken, wie Sands das meinte, aber dann verstand er.

„Sie meinen wegen meiner Narben?“

Für einen kurzen Moment sah Sands ihn nur an, aber dann nickte er. „Mir ist das egal, wissen Sie? Aber ich fände es furchtbar, wenn die Kunden Sie da den ganzen Tag lang anstarren. Ich möchte Sie schützen, Mr. Greene.“

Marcus schluckte. „Das macht mir nichts aus. Ich werde ja immer und überall angestarrt.“

„Ich finde das schwierig, Mr. Greene. Denken Sie doch noch mal darüber nach.“

 

Allmählich spürte Marcus, wie die Wut in ihm aufstieg. „Denken Sie doch vielleicht noch mal drüber nach, Mr. Sands. Ihnen geht es doch gar nicht um mich. Sie wollen nur einfach niemanden an der Kasse sitzen haben, der Ihre Kunden erschreckt, oder?“

Mit diesen Worten stand Marcus auf und stapfte aus Greenes Büro. Verfluchtes Arschloch. Marcus wusste selbst, wie er aussah, die Blicke der anderen Menschen oder sein eigener in den Spiegel erinnerte ihn ja ständig daran. Der Harvey Dent von San José. Two-Face. Jetzt war er schon nicht mehr gut genug, um bei Walmart an der Kasse zu sitzen. Beim Rausgehen trat er vor Wut so heftig gegen den Wasserspender, dass er ins Schwanken geriet und umfiel.

 

 

Dienstag, 29. September

 

Sadie konnte Libby vormittags nicht nach San José begleiten, weil sie noch eine Vorlesung und ein Seminar hatte. Sie hatte aber zugesagt, vor der Pressekonferenz in San José zu sein, um das Profil abschließend zu begutachten. Es machte Libby aber nichts aus, allein nach San José zu fahren, zumal Matt ihr sein Auto geliehen hatte. Es machte Libby stolz, dass sie mit seinem geliebten Challenger fahren durfte, was ungewohnt für sie war. Ihr eigenes Auto war keine fünf Meter lang, aber sie kam schon damit zurecht.

Die Kollegen waren bereits im Büro, als Libby bei der Polizei eintraf, und begrüßten sie herzlich.

„Also dann, machen wir weiter“, sagte Nick voller Tatendrang. „Die Pressekonferenz ist um fünfzehn Uhr, bis dahin muss das stehen. Bislang gestaltet sich das ja noch schwierig.“

Die Detectives hatten bereits für Kaffee in ausreichender Menge gesorgt, als sie sich alle zusammen setzten und zusammen überlegten, wie sie weiter vorgehen wollten. Sie einigten sich schnell darauf, zunächst ein weiteres Mal mit den Opfern der Angehörigen sprechen, um neue Ideen für das Profil zu entwickeln.

Libby fand sich mit Alonso, Nick und Jesse in einem Team wieder. Gemeinsam fuhren sie mit einem zivilen Dienstwagen des SJPD nach Willow Glen, wo Walter Nelson mit seiner Frau gelebt hatte. Sie parkten vor einem schmucken kleinen Haus mit Blumenkübeln vor der Tür und klopften. Es dauerte einen Augenblick, bis ihnen geöffnet wurde. Vor ihnen erschien eine Frau, die fast zwei Köpfe kleiner war als Libby. Sie trug ihr graues Haar kurz, ihre Gesichtszüge wirkten verhärmt. Ihr Blick streifte Alonso und sie nickte.

„Guten Tag, Detective. Möchten Sie reinkommen?“

„Sehr gern, Mrs. Nelson. Ich habe Unterstützung vom FBI mitgebracht.“

„Vom FBI? Haben Sie schon eine Spur?“

„Noch nicht, aber Sie können uns vielleicht helfen.“

Die Witwe von Walter Nelson öffnete die Tür weit und trat zur Seite, so dass die Ermittler eintreten konnten. Alonso schloss die Tür hinter ihnen und ließ die Frau voran ins Wohnzimmer gehen. Nachdem sie einander vorgestellt hatten, bot sie ihnen einen Platz auf dem Sofa an und erkundigte sich, ob sie etwas trinken wollten. Während sie in der Küche verschwand, um Kaffee zu machen, nahm Libby das Wohnzimmer in Augenschein. Auf dem Kaminsims standen mehrere Vasen mit riesigen Blumensträußen, ebenso auf einer Kommode. Dazwischen stand ein Foto von Walter Nelson. An einer Wand hingen ebenfalls einige Fotos, die Walter zusammen mit seiner Frau an den verschiedensten Orten der Welt zeigte.

Schließlich kehrte Mrs. Nelson mit dem Kaffee zurück und setzte sich zu ihnen. „Wie kann ich Ihnen denn noch weiterhelfen?“

„Wir hatten ja schon einmal darüber gesprochen, wo Walter gearbeitet und an welchen anderen Orten er sich regelmäßig aufgehalten hat. Darin müssten wir noch weiter ins Detail gehen, denn das machen wir gerade auch bei den anderen Opfern und versuchen so, herauszufinden, ob sich Überschneidungen ergeben.“

„Aber wo er gearbeitet hat, wissen Sie doch schon.“

„Von seiner letzten Stelle, sicher, aber wir wollen auch ältere Jobs in Betracht ziehen. Sind Sie in den letzten Jahren umgezogen? Wir vermuten, dass die Mordserie mit einem Ereignis in Zusammenhang steht, das möglicherweise auch länger zurückliegt.“

„Was für ein Ereignis denn?“

„Ist Ihr Mann mal Zeuge eines Überfalls geworden? Es war irgendein Ereignis, bei dem jemand schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde. Wir vermuten, dass diese Person sich im Stich gelassen fühlt und nun Vergeltung sucht.“

„Bei Walter? Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Er hatte seine Eigenheiten, sicher, aber in den 28 Jahren unserer Ehe waren wir immer glücklich.“

„Seit wann wohnen Sie denn hier?“, fragte Alonso.

„Seit 22 Jahren. Seine aktuelle Stelle hatte er seit sieben Jahren, er war froh, dass ihm der Wechsel in seinem Alter noch einmal geglückt ist.“

„Und wo hat er zuvor gearbeitet?“

Mrs. Nelson sagte es ihm und sie arbeiteten sich langsam durch das Leben von Walter Nelson. Er hatte gern Golf gespielt und sich oft mit Männern aus seinem Golfclub getroffen. Das kinderlose Ehepaar war viel gereist, außerdem war Walter oft bei seinem Kardiologen gewesen, weil er eine Herzschwäche hatte. Alonso schrieb alles auf, erkundigte sich sogar, wo Walter aufs College gegangen war. Sie sammelten alle Adressen und erkundigten sich bei der Frau auch noch einmal, ob Walter Feinde gehabt hatte, ob er jemandem Anlass gegeben hatte, ihm zu grollen oder irgendwas in der Art, aber seine Frau konnte ihnen da nicht weiterhelfen.

Schließlich machten sie sich wieder auf den Weg und kehrten ins Department zurück. Die Kollegen waren noch nicht wieder dort, aber dessen ungeachtet begannen sie, alle weiteren Orte und Wege auf ihre große Karte zu übertragen.

Vor der Mittagspause trafen auch die anderen wieder ein, die etwas Interessanteres zu berichten wussten. Detective Martin, Jesse und Dennis hatten den Ehemann von Patty Cornell besucht und nachdem er sich gesetzt hatte, deutete Martin auf seinen Notizblock.

„Ich weiß jetzt alles. Ich kenne alle ehemaligen Arbeitgeber, die früheren Wohnungen, ihre Universität, die regelmäßig besuchten Supermärkte, das Aerobic-Studio, enge Freundinnen, das Haus ihrer Eltern … hab ich was vergessen?“

„Den Tierarzt.“ Jesse grinste.

„Was ich damit sagen will: Wir kriegen ein vollständiges Bewegungsprofil hin. Wenn uns das bei den anderen Opfern auch gelingt, finden wir vielleicht eine Überschneidung.“

„Ist Mr. Cornell irgendwas zum Fundort der Leiche seiner Frau eingefallen?“

„Nein, gar nicht. Ich weiß im Moment nicht, wie ich das alles finden soll. Wir haben schon so viel, aber irgendwie auch nichts. Ich kann mir immer noch nicht recht vorstellen, wer das warum getan hat“, gab Martin zu.

„Bergersons Ex-Frau konnte sich daran erinnern, dass Bergerson vor einigen Jahren beinahe mal in einen Verkehrsunfall verwickelt worden wäre“, berichtete nun Alonso. „Damals waren sie noch verheiratet und sie wusste noch, dass er mal nach Hause gekommen ist und berichtet hat, fast in eine Unfallstelle gefahren zu sein. Wir haben sie gefragt, ob das aktenkundig geworden ist, aber das hat sie verneint.“

„Das bringt uns ja nicht wirklich weiter. Wie lang ist das her?“

„Sechs bis acht Jahre, meinte sie, aber sie war sich absolut nicht sicher. Mehr ist ihr dazu leider nicht eingefallen.“

„Sechs bis acht Jahre? Ich bin mal gespannt, ob wir dazu etwas finden. Und wo soll das gewesen sein?“

„Das konnte sie uns leider auch nicht mehr sagen. Das wird wirklich die berühmte Suche nach der Nadel im Heuhaufen“, sagte Alonso.

„Sieht ganz so aus. Wenn wir jetzt wissen, wo er damals gelebt und gearbeitet hat, kommen wir der Sache vielleicht näher.“

„Straßen könnten auf jeden Fall etwas damit zu tun haben. „Es gibt nicht viele Gemeinsamkeiten bei allen Fällen, aber die Straße ist eine. Als Leichenablageort sah der Straßenrand bislang einfach nur recht passend aus, aber vielleicht ist das Absicht.“

„Das wäre möglich“, sagte Nick. „Wir sollten uns mal alle Unfälle vor allem im Zeitraum von vor sechs bis acht Jahren genauer ansehen. Allerdings sollten wir auch nicht ausschließen, dass es sich vielleicht auch um ein Verbrechen gehandelt haben könnte.“

„Bei diesem Ereignis hat er einen tragischen Verlust erlitten. Vielleicht wurde ihm die Hilfe verweigert, die ihm zugestanden hätte“, überlegte Libby. Nick begann, alles auf einem Whiteboard zu sammeln und die Detectives beobachteten ganz fasziniert, wie die Profiler brainstormten und sich an ersten Formulierungen versuchten. Für Nick war klar, dass er zusammen mit den Detectives wortführend bei der Pressekonferenz sein würde.

Schließlich hatten sie einen Text auf die Beine gestellt, der sich sehen lassen konnte. Nick las ihn immer wieder, um alles aus dem Kopf rezitieren zu können. Libby schaute ihm dabei über die Schulter.

„Ich bin gespannt, ob das funktioniert“, sagte Nick.

„Er nimmt bestimmt Kontakt auf.“

„Du bleibst den Kameras übrigens fern, wenn es nach mir geht. Nach der Sache mit Melville will ich dich keinesfalls an vorderster Front. Deine Mutter macht mir die Hölle heiß.“

Libby grinste und sagte: „Das können wir auf keinen Fall riskieren. Aber im Ernst – das ist total okay für mich, ich brauche das nicht.“

„Prima“, sagte Nick. „Ich denke, jetzt haben wir uns die Mittagspause verdient.“

Der Meinung waren die Kollegen ebenfalls, deshalb machten sie sich auf den Weg zur Kantine. Sie hatten die Aufzüge gerade erst erreicht, als Sadie ihnen entgegenkam und sich ihnen gleich anschloss. Libby freute sich, dass Sadie wieder bei ihnen war.

In der Kantine herrschte nicht mehr sehr viel Betrieb, deshalb hatten sie keinerlei Probleme, einen ausreichend großen Tisch für alle zu finden.

„Wir werden gleich sehen, ob uns die Pressekonferenz weiterbringt“, sagte Nick.

„Ach, ganz bestimmt. Wir haben doch so viele Experten hier … und Ihnen hat der Son of the Nightstalker mal Briefe geschrieben, Mrs. Whitman?“, fragte Martin.

Sadie nickte. „Das war hinterher eine muntere Korrespondenz. Wir haben uns in der Presse an ihn gerichtet und prompt kam eine Antwort. Er hat ja bewusst Killer nachgeahmt wie den Son of Sam, der die Polizei auch mit Briefen beschäftigt hat.“

„Das ist doch inzwischen auch ein paar Tage her.“

Sadie grinste. „Ziemlich genau zehn Jahre. Ich war damals schwanger und meine Tochter ist vor ein paar Wochen zehn geworden.“

„Oh, Sie haben noch eine so viel jüngere Tochter?“

„Die Whitmans haben mich adoptiert“, erklärte Libby.

„Ah, verstehe. Ich muss Ihnen auch ein Kompliment machen, Mrs. Whitman – Sie sehen tatsächlich deutlich zu jung aus, um Agent Whitmans Mutter zu sein.“

„Danke“, erwiderte Sadie ehrlich erfreut.

Nach dem Mittagessen hatten sie noch einen Augenblick Zeit, in dem Nick Sadie das Profil vorstellte, das sie zuvor ausgearbeitet hatten. Als Sadie es las, zeichnete sich plötzlich Erkenntnis auf ihrem Gesicht ab.

„Das könnte es sein“, sagte sie. „Vielleicht fühlt der Täter sich von den Opfern betrogen oder im Stich gelassen. Das könnte etwas mit einem Verlust zu tun haben, den er erlitten hat. Vielleicht bei einem Unfall, so wie ihr schon vermutet habt. Oder bei einem Verbrechen, bei dem die Opfer Zeugen waren – untätige Zeugen, die nicht eingegriffen haben. Das muss nicht mal aktenkundig sein, was es für uns natürlich höllisch schwer macht, dieses Ereignis zu finden.“

Dormer nickte zustimmend. „Das glaube ich auch. Wir werden als nächstes versuchen, im System einen passenden Unfall zu finden, der Todesopfer gefordert hat.“

Sadie war mit einem Mal hochkonzentriert. „Mein Instinkt sagt mir, dass es das sein könnte.“

Nick lächelte. „Und auf deinen Instinkt war immer Verlass.“

Wenig später machten sie sich auf den Weg in den Raum, in dem die Pressekonferenz stattfinden würde. Es war bereits alles vorbereitet und auch die ersten Reporter waren schon dort. Als es um zwei pünktlich losging, war der Raum gut gefüllt. Während Detective Martin das Wort ergriff, hielt Libby sich bewusst weit abseits, um im Idealfall nicht mal von den Kameras eingefangen zu werden. Dafür hatte Nick ganz unauffällig gesorgt.

„Ich freue mich, Sie alle heute hier begrüßen zu dürfen, auch wenn der Anlass alles andere als erfreulich ist“, begann Martin. „Seit gestern unterstützt uns die Profiler-Einheit des FBI aus Quantico in dem Serienmordfall, der uns hier seit einigen Wochen beschäftigt. Es ist mir eine Ehre, Ihnen Supervisory Special Agent Nick Dormer vorzustellen, der mit seinen Kollegen am Profil des vierfachen Mörders arbeitet.“

Martin übergab das Wort an Nick, der sich routiniert vor die Kameras stellte. „Vielen Dank, Detective. Wir stimmen dem SJPD in der Annahme zu, dass Patty Cornell, Harry Bergerson und Walter Nelson vom selben Täter ermordet wurden. Sie alle wurden auf die gleiche Weise getötet und ihre Leichen wurden alle an Schnellstraßen gefunden. Bei ihnen handelt es sich nicht um Zufallsopfer – wir sind sicher, dass der Täter in einer Beziehung zu ihnen stand.

Der Täter ist vermutlich ein Mann zwischen zwanzig und dreißig, der allein lebt und in seinem Leben einen tragischen Verlust oder ein großes Unrecht erlitten hat. Wie lange dieses Ereignis zurückliegt, wissen wir noch nicht. Er ist einsam und wird in dem Schmerz, der ihn begleitet, von niemandem gesehen. Im Augenblick versuchen wir, mehr über seine Motivation zu erfahren, da wir noch nicht alles aus den Tatumständen herauslesen können, was wir wissen müssten. Wir können ihm die Hilfe zukommen lassen, die er braucht. Nur so können wir verhindern, dass weitere Verbrechen geschehen, die unschuldige Opfer fordern und für ihre Familien eine Katastrophe bedeuten. Harry Bergersons Söhne haben ihren Vater verloren und Patty Cornells Tochter ihre Mutter. Unsere höchste Priorität ist, zu verhindern, dass so etwas noch einmal geschieht. Unrecht mit weiterem Unrecht zu vergelten kann nicht der richtige Weg sein.“

Es war nicht viel, was Nick sagte, aber sie hatten lange darüber diskutiert. Details über die Tatumstände wollten sie nicht preisgeben, aber sie mussten sich ihm in der Öffentlichkeit vertrauenswürdig präsentieren, ohne es so aussehen zu lassen, als würden sie ihn in Schutz nehmen. Außerdem hatten sie beschlossen, an sein Gewissen zu appellieren. Sie rechneten nicht damit, dass er deshalb das Morden sein ließ, aber sie hofften darauf, dass er sich von ihnen dahingehend motiviert fühlte, sie zu kontaktieren.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739484907
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (September)
Schlagworte
Serienkiller Ritualmord Profiler Serienmörder Entführung Serienmord Spannung FBI Ermittlungen Krimi Ermittler Psychothriller

Autor

  • Dania Dicken (Autor:in)

Dania Dicken, Jahrgang 1985, schreibt seit der Kindheit. Die in Krefeld lebende Autorin hat Psychologie und Informatik studiert und als Online-Redakteurin gearbeitet. Mit den Grundlagen aus dem Psychologiestudium schreibt sie Psychothriller zum Thema Profiling. Bei Bastei Lübbe hat sie die Profiler-Reihe und "Profiling Murder" veröffentlicht, im Eigenverlag erscheinen "Die Seele des Bösen" und ihre Fantasyromane. Die Thriller-Reihe um FBI-Profilerin Libby Whitman ist ihr neuestes Projekt.
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Titel: Dein Schmerz wird meine Rache sein