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Die Seele des Bösen - Erbarmungslose Jagd

Sadie Scott 2

von Dania Dicken (Autor:in)
280 Seiten
Reihe: Sadie Scott, Band 2

Zusammenfassung

Von der Streifenpolizistin zur FBI-Agentin: Bei der Behavioral Analysis Unit in Quantico wähnt Sadie sich am Ziel. Der erste Fall in ihrem neuen Team führt sie nach Utah, wo seit Jahren immer wieder Tote in der Wüste gefunden werden. Alle Morde haben eins gemeinsam: Der Täter hat seine Opfer ausgesetzt, um gezielt Jagd auf sie zu machen. Die Ermittlungen sind in vollem Gange, als Sadie eine Hiobsbotschaft erreicht: Während der Verlegung in ein anderes Gefängnis ist ihrem Vater, dem berüchtigten Oregon Strangler, die Flucht gelungen. Ein vergessen geglaubter Alptraum holt sie ein …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dania Dicken

 

Die Seele des Bösen

Erbarmungslose Jagd

 

Sadie Scott 2

 

 

Psychothriller

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Und schießlich gibt es das älteste und tiefste Verlangen, die große Flucht: Dem Tod zu entrinnen.

 

J.R.R. Tolkien

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zwei Wochen zuvor

Inzwischen atmete sie nur noch Staub. Er versteckte sich überall, war in jede Ritze ihrer Kleidung eingedrungen. Er klebte auch auf ihren Wangen, hatte sich mit ihren Tränen vermischt und war in den kleinen Rinnsalen getrocknet.

Alles in ihr rebellierte. Ihre Füße waren bleischwer, ihre Muskeln schmerzten. Die Luft war so trocken, dass sie trotz der Hitze kaum schwitzte. Aber sie hatte Kopfschmerzen. Die kamen von der erbarmungslos brennenden Sonne und dem Wassermangel.

Aber sie befand sich mitten im Nirgendwo und wusste, wenn sie jetzt aufgab, war sie tot. Und das nicht nur, weil sie verdursten oder an einem Hitzschlag sterben konnte. Nein, das allein war nicht der Grund.

Ihr Mund war ausgedörrt, vor ihren Augen tanzten Sternchen. Und doch lief sie zwischen den Felsen hindurch und versuchte, weiterhin einen Fuß vor den anderen zu setzen. Vielleicht konnte sie ja entkommen. Sie musste es zumindest versuchen.

Es war fraglich, ob sie noch jemand suchte. Immerhin war sie schon seit Wochen verschwunden. Vermutlich hielt jeder sie für tot. Sie hätte es jedenfalls getan. Oft genug hatte sie auch geglaubt, dass sie sterben würde.

Es war so heiß. Dass der Hochsommer in Utah sich so anfühlte, war für sie nichts Neues. Sie war in der Wüste aufgewachsen, hatte schon viele Tage erlebt, die die Vierzig-Grad-Marke knackten. Aber da war sie nicht allein und verängstigt durch eine endlose Einöde voller Sand, Felsen und Staub gestolpert, nicht wissend, in welche Richtung sie überhaupt lief.

Nervös drehte sie sich um und hoffte, ihn nicht am Horizont sehen zu müssen. Eine Träne löste sich aus ihrem Auge, doch das milderte das Brennen kaum. Geblendet blinzelte sie in die Richtung der Sonne und strich sich die verfilzten Haare aus der Stirn. Der Wind, der über ihr Gesicht strich, war warm. Die verdammte Hitze war überall.

Sie wusste, irgendwo in der Nähe musste ein Highway sein. Wenn sie den fand, war sie gerettet. Ein vorbeifahrendes Auto konnte sie aufsammeln und mitnehmen. In Sicherheit bringen. Endlich ...

Wohin sie sich auch drehte, sie konnte bis zum Horizont nur Wüste sehen. Kein Baum, kein Strauch, kein Weg, nichts. Gar nichts.

Es war nun schon der zweite Tag, an dem sie durch die Wüste irrte. Nach Wochen in Dunkelheit und Angst hatte er sie in der sengenden Sonne ausgesetzt und die Jagd eröffnet. Kate hatte aufgegeben, sich zu fragen, warum er das tat. Sie hatte sich schon mehrfach tot gesehen, aber sie lebte immer noch. Sie durfte nicht aufgeben, zu hoffen.

Der rote Wüstenstaub brannte in den Augen. Müde schleppte sie sich voran, wollte nicht aufgeben. Noch nicht. Sie wollte zurück nach Hause, zu ihrem Hund Mickey und den –

Mit einem Schrei landete sie im Sand und griff instinktiv nach ihrem Fußknöchel. Sie war auf einen spitzen Stein getreten und umgeknickt. Das schmerzhafte Pochen in ihrem Knöchel führte es ihr vor Augen. Erneut schossen ihr die Tränen in die Augen, aber sie kämpfte sie mühsam zurück und versuchte, aufzustehen. Das gelang ihr noch, aber schon der erste Schritt schmerzte wie die Hölle. Ein heftiger Schmerz schoss durch ihr ganzes Bein.

„Nein“, stieß sie schluchzend hervor und sah sich hilfesuchend um. So durfte es nicht enden. Sie musste weiter. Jemand musste sie finden. Sie würde sterben, wenn sie jetzt aufgab.

Und das wollte sie nicht.

Also versuchte sie es. Erschöpft, hungrig und durstig schleppte sie sich weiter voran, jeden Schritt unter furchtbaren Schmerzen ertragend. Aber es ging hier um ihr Leben, deshalb biss sie die Zähne zusammen und kämpfte sich weiter voran. Sie hatte keine Wahl. Sie wollte doch Mickey wiedersehen und Mark ... und ihre Mum.

Ihr Knöchel wurde dick. Sie ging trotzdem weiter. Und wenn es das Letzte war, was sie tat.

Dieser Kerl durfte nicht siegen. Das hatte er nicht verdient. Er durfte sie nicht wieder finden und jagen ... oder sie fangen.

Oder töten.

Kate glaubte immer noch, dass er das vorhatte. Er konnte es sich nicht leisten, sie entkommen zu lassen. Nicht nach dem, was er ihr angetan hatte. Sie konnte ihn beschreiben, gegen ihn aussagen, ihn schwer belasten. Kate glaubte nicht, dass er sie wirklich entkommen ließ – aber sie musste es versuchen. Das war die einzige Chance, die sie noch hatte. Eine Chance, mit der sie ja gar nicht gerechnet hatte.

Oder hatte er sie in der Wüste ausgesetzt, damit sie dort starb? Wenn sie nicht bald Hilfe fand, war ihr Leben nicht mehr viel wert. Ihre Haut war verbrannt und schmerzte, die Wüstenhitze war überall. Kein Schatten, kein Versteck, kein Erbarmen.

Halb ohnmächtig vor Durst drehte sie sich um und versuchte, am Stand der Sonne abzulesen, wie spät es war. Wann die Sonne untergehen und sie endlich verschonen würde.

Doch was sie sah, schürte nur ihr Entsetzen. Am Horizont war, vor einer Staubwolke, ein Auto zu sehen.

Das war er. Er kam zurück. Kate stieß einen gequälten Laut aus und versuchte, loszulaufen, doch ihre bleischweren Füße bewegten sich nur noch langsam. Er durfte sie nicht kriegen. Sie wollte noch nicht sterben. Die Welt verschwamm hinter Tränen.

Inzwischen konnte sie das Auto hören. Panisch drehte sie sich um und versuchte, schneller zu laufen, als sie sah, wie nah der Wagen inzwischen gekommen war. Gequält schrie sie auf, als sie sah, dass der Kerl bereits mit seiner Waffe auf sie zielte. Sie war schutzlos.

Dann knallte es.

Dale City, Virginia

Nachdem die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, fühlte sie sich einsam. Es war noch düster in der Wohnung und vollkommen still, so dass sie sogar das Rauschen der Interstate ein paar Blocks weiter noch hören konnte. Nur die Lichter der Stadt erhellten die Wohnung soweit, dass Sadie schemenhaft die Umrisse der Umzugskartons wahrnehmen konnte, die sich überall stapelten.

Das alles fühlte sich noch so unwirklich an. Der Umzug war viel schneller vonstatten gegangen, als Sadie zuvor erwartet hatte. Aber nun war es soweit.

Als sie das Heulen von Polizeisirenen hörte, dachte sie gleich an Matt. Vielleicht saß er gerade im Streifenwagen und hatte noch einen Einsatz. Wie das war, wusste sie aus eigener Erfahrung gut genug. Feierabend war dann, wenn Feierabend war. Im kleinen Waterford war das zwar zumeist pünktlich gewesen, aber Dale City war nicht Waterford.

Sie streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus und blinzelte geblendet, als die Deckenlampe aufflammte. Das sah noch nicht nach einem Zuhause aus, aber sie waren ja auch erst seit einer guten Woche dort. Das Bett stand, die Küche funktionierte und man konnte duschen, das Überleben war also gesichert. Der Rest würde seine Zeit brauchen. Der noch wenig gemütliche Charakter der Wohnung trug jedoch dazu bei, dass sie sich einsam fühlte und erneut daran zweifelte, ob der Umzug die richtige Entscheidung gewesen war. Der Umzug – und die Arbeit beim FBI.

Dabei war das eigentlich falsch, denn bei der Behavioral Analysis Unit fühlte sie sich jetzt schon wohl. Allerdings lebte sie jetzt auf der anderen Seite des Landes, Tausende Meilen von ihrer Familie und ihren Freunden entfernt. Das Gefühl der Einsamkeit war dasselbe wie damals, als sie an der Academy die Ausbildung gemacht hatte. Sie hatte das fiese Knabbern dieses Gefühls unterschätzt.

Wenigstens war sie nicht ganz allein. Zumindest in der Theorie, denn irgendwann würde auch Matt nach Hause kommen.

Sadie ging in die Küche und warf einen Blick in den Kühlschrank. Das Chop Suey vom Vortag wirkte nicht unattraktiv auf sie. Sie verteilte ungefähr die Hälfte davon auf einem anderen Teller und stellte ihn in die Mikrowelle.

Um neben dem Summen des Gerätes für ein wenig Leben in der Wohnung zu sorgen, arbeitete sie sich an den Kartons vorbei zum Fernseher und schaltete ihn ein. Gerade liefen Nachrichten, was ihr nur recht war. Etwas Schlimmes würde diesmal nicht dabei sein, da konnte sie ziemlich sicher sein.

Nach einem kurzen Umweg über das Badezimmer war das Essen fertig. Die Mikrowelle piepte und Sadie holte den Teller heraus. Damit setzte sie sich in einer Ecke des Raumes an den kleinen Klapptisch, den sie provisorisch für die Mahlzeiten aufgestellt hatten.

Am meisten fehlten ihr die Katzen. Solange sie noch nicht richtig eingezogen waren, hatte sie die beiden Tiere zu Norman und Fanny gegeben. Sie war auch nicht sicher, ob die Katzen akzeptieren würden, dass sie nun in einer Wohnung in der dritten Etage lebte. In Waterford waren sie ein und aus gegangen, wie es ihnen beliebte, hatten einen Garten und eine ruhige Straße gehabt, die sie durchstreifen konnten. In Dale City sah das anders aus. Zwar war die Stadt sehr grün, aber auf die Schnelle hatten sie nur etwas in einem Apartmenthaus gefunden. Sie hatten sich auch deshalb dafür entschieden, die Wohnung zu nehmen, weil Matt sehr unkompliziert eine Versetzung nach Dale City bekommen hatte und Quantico nicht weit entfernt war. So gesehen war es eigentlich praktisch.

Sadie hörte der Nachrichtensprecherin gar nicht richtig zu. Gedankenversunken stocherte sie im Chop Suey herum und versuchte, nicht an Waterford zu denken. Oder daran, wie überrascht, beinahe geschockt Tessa gewesen war, als sie ihr vor drei Wochen gesagt hatte, dass sie mit Matt nach Quantico gehen würde. Auch Phil und Mike hatten sich nicht gefreut. Ganz im Gegensatz zu Norman, der ihr von Herzen gewünscht hatte, nun endlich ihr Potenzial vollständig ausschöpfen zu können.

Sie alle fehlten ihr entsetzlich. Das überraschte sie nicht, denn sie hatte damit gerechnet, dass sie Heimweh haben würde. Durch den überstürzten Abschied hatte sich das nur verschlimmert. Der lag aber darin begründet, dass das Dale City Police Department dringend jemanden zum Monatsanfang gesucht hatte und sie auch sehr schnell die Wohnung gefunden hatten. Sadie hatte bei Mike fast ihren gesamten verbliebenen Jahresurlaub genommen, um gleich mit nach Virginia gehen zu können, und seit dem Wochenanfang war sie auch schon Teil der BAU. So, wie sie es sich immer gewünscht hatte, und sie hatte auch endlich den Mann im Leben, den sie sich immer so gewünscht hatte.

Aber trotzdem war sie nicht glücklich. Ganz im Gegenteil. Sie biss sich auf die Lippen, während sie zum Fernseher blickte, und war froh, nicht wieder eine Schreckensnachricht zu hören, die ihr ganzes Leben einstürzen ließ.

Sie stellte den Teller beiseite und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Matt hatte noch mehrmals mit der Polizei in Oregon telefoniert und erfahren, dass Rick Foster bald in ein anderes Hochsicherheitsgefängnis verlegt werden würde, weil für ihn außerhalb des Todestraktes in seinem Gefängnis kein Platz mehr war. Das Oregon State Penitentiary war hoffnungslos überfüllt.

Er würde also einen Fuß aus dem Knast setzen. Er würde durch die Gegend kutschiert werden und den Rest seiner nun lebenslangen Haftstrafe in irgendeinem Gefängnis absitzen, wo er noch ganz andere Annehmlichkeiten haben würde. Sadie konnte nicht fassen, dass die Staatsanwaltschaft sich wirklich darauf eingelassen hatte, einem Serienmörder die Todesstrafe zu erlassen. Bei vielen anderen Tätern wurde erbittert daran festgehalten, auch wenn Zweifel an ihrer Schuld bestanden. Doch nicht so bei Rick Foster. Ausgerechnet. Er hatte sich sein Leben mit der Preisgabe seiner letzten Opfer erkauft. Sadie hätte alles dafür gegeben, dass ihr Vater aus ihrem Leben verschwand, aber das würde er wohl nicht tun.

Eine Träne löste sich aus ihrem Auge. So war sie dazu verdammt, weiterhin jeden Menschen über ihre Identität zu belügen, der bis jetzt nicht wusste, wer sie war. Wenigstens galt das nicht für Matt ... sie hätte es nicht ertragen, das für immer vor ihm geheim zu halten.

Scheu wischte sie die Träne weg und biss die Zähne zusammen. Jahrelang hatte sie ihren Vater ignorieren und vergessen können, doch nun spukte er seit Wochen in ihrem Kopf herum. Das Wissen darum, dass er am Leben bleiben würde, machte sie wahnsinnig. Obwohl sie sich eigentlich nicht für konservativ hielt und nie im Leben die Republikaner gewählt hatte, hatte sie zur Todesstrafe eine ganz klare Meinung. Sie konnte nicht anders. Wer als Kind den Tod der eigenen Familie bezeugte und selbst fast vom Vater ermordet wurde, dem blieb kaum eine Wahl. Gläubig war sie nicht und sie hielt nicht viel von Vergebung. Nachdem er über zwanzig Menschen umgebracht hatte, hatte er es in Sadies Augen nicht verdient, noch am Leben zu sein.

Mit geballten Fäusten saß sie da und rief sich zur Ordnung. Sie konnte nichts mehr tun. Sie musste jetzt akzeptieren, dass das so war. Er hatte seinen Deal bekommen und jetzt gab es nichts mehr, was sie dagegen hätte tun können. Das war lächerlich, aber so waren die Fakten. Es ging ihr gar nicht darum, dass sie mit ihrer neuen Identität haderte – aber sie hasste es, zu lügen.

Sie atmete tief durch, stand auf und brachte den Teller zur Spüle. Seufzend stützte sie sich an der Arbeitsplatte ab. Ihr war klar, dass es niemandem half, wenn sie sich nun pausenlos darüber ärgerte. Trotzdem wusste sie nicht, wie sie nun damit umgehen sollte. Sie wusste es einfach nicht.

Seufzend beschloss sie, bei Tessa anzurufen. Ihre beste Freundin hatte bestimmt Zeit für sie. Sie liebte Multitasking ohnehin.

Tatsächlich war Tessa zu Hause. Erst klang sie gelangweilt, aber dann stieß sie einen Freudenschrei aus, als sie Sadie hörte.

„Du bist es! Dass du auch noch lebst.“

„Warum sollte ich nicht leben?“

„Ich dachte, du bist jetzt total überarbeitet oder sowas.“

„Nein, ich bin nur beim FBI“, sagte Sadie lachend. „Die knechten mich nicht.“

„Ist ziemlich öde hier ohne dich“, sagte Tessa unverblümt. „Wie ist es bei euch?“

„Okay“, erwiderte Sadie. „Die Wohnung ist total chaotisch und ich vermisse meine Fellmonster.“

„Oh, das glaub ich. Wie geht es Matt?“

Sadie seufzte. „Das ist das Problem. Ich bin gern beim FBI, aber er muss in Dale City Streife fahren.“

„Was? Er hat doch viel mehr Erfahrung!“

„Entsprechend kannst du dir denken, wie ihn das frustriert.“

„Mhm“, machte Tessa. „Das ist Mist. Was sagt das FBI dazu?“

Sadie fuhr sich durchs Haar. „Das wissen wir noch nicht. Matt ist allerdings nicht so zuversichtlich. Er hat die Schießprüfung versaut.“

„Verdammt. Jetzt hast du Angst, dass er bereut, mitgegangen zu sein?“

„So ungefähr“, murmelte Sadie. „Oder dass er zurückgeht, wenn das FBI ihn nicht nimmt. Ewig Streife fahren will er bestimmt nicht.“

„Ach, muss er bestimmt auch nicht! Mädel, er verlässt dich schon nicht. Weißt du noch, wie du dir vor kurzem seinetwegen solche Sorgen gemacht hast?“

„Ja, aber das ist doch jetzt etwas vollkommen anderes“, versuchte Sadie, das Thema wieder zu wechseln.

„Klar, aber er ist schon mit dir gegangen. Er rudert nicht zurück, glaub mir.“

„Aber ich will nicht, dass er unglücklich ist.“

„Dann mach du ihn eben glücklich!“, sagte Tessa und lachte. Sadie hingegen fand das nicht so komisch.

„Und wie geht es dir?“, fragte sie dann.

„Ist halt blöd, dass ich nicht spontan nach Feierabend bei dir vorbeischneien und Junkfood mit dir futtern kann. Aber mich ruft auch die große weite Welt. Ich glaub, ich geh jetzt wirklich doch noch studieren.“

„Tessa, das ist doch toll“, sagte Sadie. „Das solltest du unbedingt machen!“

„Ja, mach ich auch. Jetzt, wo du wieder gegangen bist, komme ich mir faul vor, wenn ich hier sitzen bleibe. Ich will programmieren und nicht ewig an Computern von Hausfrauen herum schrauben.“

„Dann mach das“, sagte Sadie.

„Auf jeden Fall. Ich hoffe ja, du bist an Thanksgiving hier. Du fehlst mir.“

„Du bist süß“, sagte Sadie. „Keine neuen Bekanntschaften geschlossen?“

„Bisher nicht. Der Sommer ist fast vorbei, gerade gibt es keine guten Queer-Partys. Und für Online-Dating bin ich nicht verzweifelt genug.“

Sadie lachte. „Du bist einmalig. Du fehlst mir, Tessa.“

„Du mir auch. So, ich muss hier noch ein wenig aufräumen. Mach’s gut, Süße.“

„Du auch“, sagte Sadie und legte auf. Sie vermisste Tessa wirklich. Sie vermisste Tessa und Phil und Mike – und von ihrer Familie wollte sie gar nicht erst reden. Das war alles hart. Aber dass Matt bei ihr war, machte es leichter. Und die BAU entschädigte sie für alles.

Trotzdem war es ihr wichtig, den Kontakt nach Hause nicht zu verlieren. Sie klappte ihren Laptop auf und tippte eine Mail an Phil, denn sie wollte wissen, wie es ihm ging. Gut möglich, dass er im Augenblick Dienst hatte.

Sie war gerade fertig, als die Wohnungstür geöffnet wurde. Erleichtert spähte sie um die Ecke und lächelte, als sie Matt sah, der ein wenig abgekämpft die Wohnung betrat und die Tür mit dem Fuß schloss. Seit einigen Tagen trug er nun seine passende neue Uniform vom Dale City Police Department. Stand ihm gut.

„Hey“, sagte Sadie zur Begrüßung.

„Hey“, erwiderte er und entledigte sich seiner Schuhe. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, ging er auf sie zu, umarmte sie und schenkte ihr einen Kuss. Sofort erwiderte Sadie die Umarmung und schmiegte sich an seine Brust.

„Alles in Ordnung?“, fragte er, denn er kannte sie inzwischen gut genug, um zu wissen, wenn etwas in der Luft lag.

„Ja“, behauptete sie trotzdem, löste sich von ihm und wandte sich ab, damit er ihr nicht ansah, dass sie schwindelte. Natürlich funktionierte es nicht.

„Was ist los?“

„Nichts, was du nicht schon wüsstest.“

Matt nickte verstehend. „Du kannst es mir trotzdem sagen.“

„Aber das ändert nichts, Matt. Niemand kann das jetzt noch ändern.“

Er seufzte mitfühlend. „Du solltest dir das nicht so zu Herzen nehmen. Ich weiß, das sagt sich so leicht, aber du hast ja recht. Wir können nicht mehr ändern, was passiert ist. Lass nicht zu, dass dich das runterzieht. Was heißt das schon? Er bleibt im Gefängnis. Das hat auf dein Leben doch keinen Einfluss.“

„Auf meine Lügen schon.“

Auch das konnte Matt nur zu gut verstehen. Wortlos umarmte er Sadie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie schloss die Augen und seufzte.

„Solange du es nicht bereust, jetzt mit mir hier zu sein“, murmelte Matt.

„Nein!“ Abrupt drehte sie sich um und schüttelte den Kopf. „Nicht doch, Matt. Ich würde es bereuen, wäre ich ohne dich hier. Aber das bin ich ja nicht.“

Er ließ seinen Blick über die Kartonwüste schweifen. „Am Wochenende müssen wir unbedingt weiter auspacken.“

„Wir brauchen erst mal neue Möbel, Mr. Whitman“, erinnerte Sadie ihn.

„Auch das noch.“ Matt verdrehte die Augen und verschwand im Schlafzimmer, wo er sich seines Hemdes entledigte. Nachdenklich blickte Sadie ihm hinterher.

„Und, bereust du es schon, hier zu sein?“, fragte sie zaghaft.

„Frag mich das, wenn das FBI mir abgesagt hat“, kam die Antwort aus dem Schlafzimmer zurück. Kopfschüttelnd ging Sadie hinüber. Er schien keinen guten Tag gehabt zu haben, denn sonst äußerte er sich nicht so fatalistisch.

„Warum sollten sie dir absagen?“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

„Wenn sie mich nehmen, schicken sie mich bestimmt wieder auf den Schießstand“, brummte Matt.

„Und wenn schon. Da ist man doch regelmäßig.“

„Ja ... aber du weißt, es lief nicht so gut.“

„Sagst du“, erwiderte Sadie.

„Nein, weiß ich. Diese Warterei macht mich ganz wahnsinnig.“

Sadie legte ihm tröstlich die Hand auf die Schulter und lächelte ihm zu. „Das wird schon. Wie war es denn heute bei der Arbeit?“

„Das ist es ja“, sagte Matt. „Der Chief ist ein verdammter Mistkerl. Der hat alle im Griff und scheucht uns herum. Es macht auch nicht gerade viel Spass, den ganzen Tag Streife zu fahren.“

„Du machst das doch nur für den Übergang“, versuchte sie, ihn aufzumuntern. Aber sie hatte richtig gelegen.

„Ja, hoffentlich. In Modesto hatte ich ganz andere Aufgaben. So gesehen ist das ein Rückschritt.“

„Oh, nicht doch.“ Kurzentschlossen umarmte Sadie ihn und küsste ihn sanft. „Hast du Hunger?“

„Ein wenig.“

„Es ist noch Chop Suey da.“

Matt lächelte. „Hört sich gut an.“

Sadie stellte den anderen Teller in die Mikrowelle und blickte wieder zum Fernseher, während Matt kurz ins Bad ging und sich danach sein Essen selbst aus der Mikrowelle holte. Ihm entging nicht, dass Sadie trübsinnig den Kopf auf die Hände gestützt hatte und gelangweilt das Fernsehprogramm verfolgte.

„Bereust du es wirklich nicht?“, fragte er.

„Nein. Überhaupt nicht. Ich wusste, dass ich Heimweh haben würde. Du nicht?“

Matt schüttelte den Kopf. „Nein, ich kann überall mein Zelt aufschlagen. Da war ich nie festgelegt.“

Sadie hatte schon den Mund offen stehen, um etwas zu erwidern, aber dann biss sie sich auf die Zunge und sagte nichts. Doch auch das war Matt nicht entgangen.

„Was denn?“

„Ich wollte dich beneiden“, sagte Sadie. „Du tust das freiwillig. Ich war noch ein Kind, als ich entwurzelt wurde. Wahrscheinlich machen mir Umzüge und solche Dinge seitdem etwas aus.“

„Schon möglich“, stimmte Matt zu. „Man sucht ja seinen Platz im Leben.“

Sadie nickte. „Ich weiß nicht, ob ich ihn jetzt endlich gefunden habe. Ich darf den Job machen, den ich immer machen wollte, und ich bin auch nicht mehr allein.“

„Aber glücklich bist du trotzdem nicht“, vollendete Matt den Satz für sie.

Betreten senkte Sadie den Kopf. „Das ist doch für dich ein Schlag ins Gesicht.“

„Nein, was redest du denn da? Das beziehe ich nicht auf mich. Ich habe keinerlei Einfluss auf das, was dich unglücklich macht. Leider. Ich kann weder deinem Vater die Giftspritze verpassen, noch deine Familie herholen.“

„Das stimmt. Aber es bedeutet mir die Welt, dass du hier bist“, sagte Sadie und drückte seine Hand. Matt lächelte. Er sagte Sadie in diesem Moment nicht, wie sehr er seine Kollegen in Modesto vermisste und wie schlecht die Stimmung im Dale City Police Department war. Im Augenblick hoffte und betete er, dass ein Wunder geschah und das FBI ihn doch noch aufnahm, aber er hatte da so seine Zweifel. Die Aufnahmeprüfung war längst nicht so gut gelaufen, wie er es sich erhofft hatte. Woran das lag, konnte er nicht einmal genau sagen. Vielleicht daran, dass er schon viele Jahre als Polizist gearbeitet hatte und deshalb durchaus auch etwas eigensinnigere Ideen hatte als die jungen Leute, die sich sonst üblicherweise bewarben. Er war das eine oder andere Mal angeeckt und hatte bei der Schießprüfung grandios versagt. Er war noch nie ein guter Schütze gewesen – nicht so wie Phil Richardson, an dem wirklich ein Scharfschütze verloren gegangen war. Außerdem wusste er, dass gerade niemand mit Kenntnissen der Fotografie gesucht wurde. IT-Spezialisten standen auf der Wunschliste des FBI ganz oben, aber das brachte er nicht mit.

Er wusste nicht, was werden sollte, wenn der Ablehnungsbescheid kam. In Dale City wollte er nicht für länger bleiben. Trotzdem bereute er nicht, Sadie begleitet zu haben, denn er mochte sie sehr. Sie so bald schon wieder ans FBI und die andere Küste zu verlieren, hatte er sich nicht vorstellen können. Das war die Chance, endlich aus Kalifornien herauszukommen und mal etwas zu sehen. Er hatte gehofft, dass das FBI ihn bald aufnehmen und er bis dahin nur übergangsweise in Dale City arbeiten würde, aber ob das alles klappte?

Doch das wollte er Sadie nicht sagen. Seit der Nachricht, dass ihrem Vater nicht mehr die Todesstrafe drohte, war sie regelrecht verbittert. Matt war sehr liberal und kein großer Freund der Todesstrafe, aber er konnte verstehen, dass Sadie anders dachte. Er hatte weiter heimlich recherchiert und ahnte, was für ein Mensch ihr Vater war. Hätte er gekonnt, hätte er ihm persönlich den Hals umgedreht. Es tat ihm weh, zu sehen, dass Sadie auch nach so langer Zeit noch so sehr darunter litt.

„Lass uns ins Kino gehen“, sagte er. „Was hältst du davon?“

„Was, jetzt?“, fragte Sadie überrascht.

„Ja, jetzt. Ich habe es gerade satt, diese kahlen Wände noch länger anzustarren. Was meinst du?“

„Gute Idee.“ Für solche Einfälle liebte sie ihn.

Er nahm die letzte Gabel Chop Suey und brachte den Teller in die Spülmaschine. Sadie warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass sie es noch rechtzeitig zum Kino schaffen würden. Sie zogen ihre Schuhe an und verließen die Wohnung. In der Tiefgarage angekommen, die zum Apartmentkomplex gehörte, gingen sie schnurstracks auf Matts Wagen zu. Er wusste inzwischen, dass er Sadie nicht fragen musste, mit welchem Auto sie fuhren. Sie hatte Gefallen an seinem Challenger gefunden, mochte das laute Röhren und Blubbern des Motors. Sie hatte den Wagen auch schon gefahren, aber meist überließ sie ihm sein Schätzchen.

Er war froh, dass sie den Wagen mochte. Inzwischen besaß er ihn seit vier Jahren, aber er war nicht immer auf Gegenliebe bei seinen Freundinnen gestoßen. Während er zum Kino fuhr, dachte er darüber nach, dass Sadie sich eigentlich in keinen seiner Belange wirklich einmischte. Sie nahm ihn, wie er war, ohne an irgendetwas herumzumäkeln. Das überraschte ihn, denn schließlich war er der erste Mann, mit dem sie zusammenlebte. Er hätte damit gerechnet, dass sie sich über Bartstoppeln im Waschbecken ärgerte oder über stinkende Socken in der Wäschebox – Dinge, die er bei seinen früheren Freundinnen erlebt hatte.

Aber sie war da völlig anders. Sie begegnete ihm ohne jede Scheu oder Kritik, auch wenn er eigentlich erwartet hätte, dass sie sich in mancherlei Hinsicht in Zurückhaltung übte. Doch sie vertraute ihm vorbehaltlos, schmiegte sich im Bett in seine Arme und war damit beschäftigt, die Seiten der Liebe zu entdecken, die sie bislang nicht gekannt hatte.

Inzwischen fiel ihm immer deutlicher auf, dass sie ein außergewöhnlicher Mensch war. Sie hielt sich niemals mit oberflächlichen Dingen auf, sondern war ein eher ernster Typ.

Matt liebte sie dafür, dass sie ihm einen so großen Platz in ihrem Herzen freigeräumt hatte. Manchmal hatte er das Bedürfnis, ihr ein großer Bruder zu sein und auf sie aufzupassen. Sie brauchte etwas Verlässliches in ihrem Leben.

„Welchen Film wollen wir sehen?“, fragte sie und riss ihn damit aus seinen Gedanken.

„Hm, ich weiß nicht“, erwiderte er. „Der neue Mission: Impossible?“

„Gute Idee“, fand sie. Matt lächelte. Sie war auch immer unkompliziert in solchen Dingen. Generell war sie kein komplizierter Mensch – zumindest nicht, seit er von ihrer Vergangenheit wusste. Er wünschte, er hätte mehr für sie tun können. Dafür sorgen können, dass ihr Vater aus ihrem Leben verschwand.

Aber das konnte er nicht. Er hasste Ungerechtigkeiten; deshalb war er auch Polizist geworden. Hoffentlich zerplatzte jetzt nicht sein Traum vom FBI. Er wusste, die Erfolgsquote bei FBI-Bewerbungen lag bei traurigen fünf Prozent. Das hatte er auch gewusst, bevor er beschlossen hatte, mit Sadie nach Virginia zu gehen. Aber er hatte gehofft. Als erfahrener Polizist hatte er sich gute Chancen ausgerechnet, aber dann war er in der Realität hart aufgeschlagen. Er wusste, er hätte überall einhundert Prozent bringen müssen, um die Prüfer zu überzeugen, und das hatte er nicht.

Aber die Arbeit bei der Polizei in Dale City beleidigte seine Intelligenz. Der Chief beleidigte seine Intelligenz. Ewig würde er das nicht machen können. Es kam aber auch nicht in Frage, Sadie im Weg zu stehen oder sie allein zu lassen. Er war sich dessen bewusst, was er ihr bedeutete. Sie hatte eine solche Konstante in ihrem Leben verdient.

Am Kino angekommen, fuhr er ins Parkhaus. Die Motorgeräusche hallten an den Wänden wider. Er grinste zufrieden, stieg aus und ging mit Sadie zum Kino. Die Filmauswahl gestaltete sich herrlich unkompliziert mit ihr. Mit Popcorn und einem großen Becher Cola gingen sie in den Kinosaal und machten es sich bequem. Es war nicht viel los, der Film lief schon seit einigen Wochen. Matt war es nur recht, er mochte überfüllte Kinos nicht.

Sadie lehnte sich seitlich an ihn. Das Popcorn stand in Reichweite und sie machten sich beide darüber her, noch bevor der Film überhaupt begonnen hatte.

„Es macht Spass, mit dir ins Kino zu gehen“, sagte Sadie und lächelte.

„Ich finde das auch schön.“

Tatsächlich gelang es ihnen, beim Film abzuschalten. Action und Explosionen waren jetzt genau das Richtige für sie. Sie amüsierten sich zwei Stunden lang bestens. Als sie aus dem Kino kamen und sich auf den Heimweg machten, war es bereits dunkel draußen. Auf den Straßen war es sehr ruhig. Das erinnerte Sadie an die vielen nächtlichen Streifendienste, die sie geschoben hatte. Sie mochte es, wenn das Leben eine Pause einlegte und die Welt in der Dunkelheit der Nacht friedlich wirkte.

Auch wenn das oft nicht stimmte, wie sie wusste.

 

 

Montag

 

Mit ihrem kleinen Auto fuhr Sadie die wenigen Meilen über die Interstate bis nach Quantico. Der kleine Ort war zum Wohnen wenig geeignet, denn die Zentrale des FBI hatte alles in Beschlag genommen. Sadie kannte sich dort noch gut aus, denn sie hatte ja schon während der Ausbildung einige Monate dort verbracht. Alles war umgeben vom Wald. Noch bevor sie den großen Parkplatz erreichte, konnte sie die Gebäude des FBI durch die Bäume sehen. Das alles erschien ihr beinahe unwirklich, aber unwohl fühlte sie sich dort nicht. Ganz im Gegenteil.

Sie war froh, dass sie das Umzugsunternehmen nicht nur mit dem Transport ihrer Habe, sondern auch ihrer Autos beauftragt hatten. Es war nicht günstig, alles von der West- zur Ostküste transportieren zu lassen, aber ihnen hatte die Zeit gefehlt, tagelang mit beiden Autos durch die Staaten zu fahren. Deshalb hatten sie auch nur die wichtigsten und ihnen liebsten Möbelstücke mitgenommen und wollten den Rest verkaufen oder entsorgen. Es wurde Zeit für etwas Neues, das fanden sie beide.

Nur hatte Sadie das Gefühl, dass sie es besser angetroffen hatte als Matt. Er fühlte sich bei der Dale City Police wirklich unterfordert. Einen Polizeifotografen gab es dort schon. Man hatte ihn mit Kusshand genommen, ihm aber verschwiegen, dass sein Tätigkeitsbereich unter dem liegen würde, was er bislang in Modesto gemacht hatte. Sadie konnte verstehen, dass ihn das frustrierte und hoffte auf gute Nachrichten vom FBI. Sie würde es nicht ertragen, ihn dauerhaft so unzufrieden zur Arbeit gehen zu sehen, wie er es auch an diesem Morgen wieder getan hatte. Sie waren zeitgleich aufgebrochen, Matt hatte sich in seiner Uniform in den Wagen gesetzt und war zur Arbeit gefahren. Sadie vermisste es fast ein wenig, ihre Polizeiuniform zu tragen. Jetzt war eher Bürokleidung gefragt.

Sie betrat das FBI-Gebäude, ließ ihren Ausweis scannen und ging zum Aufzug. Von ihren direkten Kollegen war niemand dabei, im Aufzug unterhielten sich aber zwei Männer. So entstand kein peinliches Schweigen. Schließlich war es soweit, dass Sadie ebenfalls den Aufzug verlassen konnte. Sie folgte dem Flur und betrat das Büro durch eine Glastür. Sie war früh dran, deshalb war es noch ruhig. Die meisten Kollegen würden erst noch kommen.

„Guten Morgen“, wurde sie von hinten begrüßt. Sie drehte sich um und blickte ins Gesicht des Teamchefs Nick Dormer. Er war gerade Leiter der BAU geworden, als Sadie noch zur Academy gegangen war, wo er sie unter anderem ausgebildet hatte. Nick war ein hochgewachsener Mann mit muskulöser Statur, dem seine Anzüge gut standen. Er war Ende dreißig, dunkelhaarig, immer gut frisiert und verhielt sich professionell. Sadie hatte ihn schon zu Ausbildungszeiten gemocht.

„Nick“, erwiderte sie und lächelte ihm zu.

„Bist du hier schon gut angekommen?“

„Die Wohnung ist noch ein einziges Chaos“, antwortete Sadie. „Das wird noch dauern.“

„Kann ich mir vorstellen, aber das meinte ich gar nicht. Ich meine unsere Einheit.“

„Ach so.“ Sadie lachte verlegen. „Doch, natürlich. Warum fragst du?“

„Es tut mir immer noch leid, dass wir an deinem ersten Tag alle ausgeflogen waren. Wenn wir den nächsten Einsatz bekommen, kannst du gern schon dabei sein, wenn du das möchtest. Du musst dir blöd vorgekommen sein, als wir alle weg waren – und das, nachdem ich dir so viel Honig um den Mund geschmiert habe.“ Ihm war anzusehen, dass er das ernst meinte. Nick war immer schon sehr um jeden Menschen in seinem Umfeld bemüht gewesen.

„Nein, das war nicht schlimm“, winkte Sadie ab. „Ich weiß doch, wie es hier läuft.“

„Dann ist gut. Ich bin ja froh, dass du es dir nun doch anders überlegt hast“, sagte er mit einem warmen Lächeln.

„Warum? Du siehst jedes Jahr so viele Absolventen. Du könntest sie alle haben.“

„Ja, das mag schon sein ...“, druckste Nick herum, „aber nicht jeder ist geeignet für diesen Job. Fachlich nicht und auch persönlich nicht. Hier bewerben sich auch viele junge Leute, die gerade geheiratet oder sogar eine Familie gegründet haben. In den Bewerbungsgesprächen machen wir sie darauf aufmerksam, dass dieser Job auch eine private Belastung mit sich bringt. Bei vielen stellt sich dann schnell heraus, dass sie das nicht langfristig durchhalten würden. Und niemandem ist damit geholfen, wenn unsere Leute sich dauernd scheiden lassen.“

Sadie wusste, dass er da aus Erfahrung sprach. Er hatte irgendwann mal erwähnt, dass er geschieden war. Inzwischen war er wieder liiert – mit einer Agentin, die in der BAU-Einheit für Terrorismusbekämpfung arbeitete.

„Ihr nehmt also bevorzugt die jungen, ungebundenen Leute“, folgerte sie.

„Sehr gern, ja.“

„Und dann komme ich einfach mit meinem Freund!“ Sie lachte.

„Aber als Polizist kennt er doch die Widrigkeiten des Jobs“, wandte Nick ein.

„Das stimmt“, gab Sadie zu. „Um ehrlich zu sein, ist er einer der Hauptgründe, dass ich deinem Angebot gefolgt bin.“

„Hat er sich jetzt schon beworben?“

Sie nickte. „Eigentlich wartet er nur noch auf den Bescheid.“

„Ach so. Ich kann ja mal meine Nase in seine Unterlagen stecken“, bot er an.

„Das würde er nicht wollen ...“

„Du musst es ihm ja nicht sagen. Wie heißt er nochmal?“

„Matthew Whitman“, sagte Sadie, die seinen Argumenten durchaus zugänglich war. Matt würde es definitiv nicht wollen, aber er musste ja nichts davon wissen.

„Mal sehen. Aber fürs Erste freue ich mich, dass du hier bist. Heute sind wir wieder vollzählig, aber wahrscheinlich wird es ein ruhiger Tag. Die anderen müssen Berichte schreiben. Du kannst ja mit Alexandra die nächsten Anfragen durchgehen“, schlug Nick vor.

„Gern. Wenn du denkst, dass ich da eine Hilfe bin.“

„Das denke ich, und außerdem ist es die spannendste Aufgabe, die ich dir gerade geben kann. Ich will ja nicht, dass du es schon bereust, hergekommen zu sein.“

Sadie lächelte und ließ sich nicht anmerken, wie sehr diese Worte sie an Matt erinnerten. Dormer ging in sein Büro und Sadie setzte sich an ihren Schreibtisch. Hinter ihr wurde die Tür geöffnet und drei weitere Kollegen betraten das Büro. Inzwischen war die BAU ein Melting Pot der Kulturen: Belinda Merringer war Afroamerikanerin, Ian Wainsworth war karibischer Herkunft. Auch die blonde Cassandra Williams war dabei.

„Morgen“, rief sie freundlich in Sadies Richtung. Die anderen nickten ihr ebenfalls zu.

Inzwischen war die BAU in vier Abteilungen unterteilt: Terrorismusbekämpfung, Cyberkriminalität und Korruption, Verbrechen gegen Kinder und Verbrechen gegen Erwachsene. Als Nick sie damals im Team hatte haben wollen, war ein Platz in der Verbrechen gegen Kinder-Gruppe frei gewesen, aber den hatte Sadie abgelehnt. Das ging nicht, es hätte sie zu sehr an ihre eigene Familie erinnert. Nick hatte ihr aber auch ehrlich gesagt, dass diese Abteilung ihre Mitarbeiter verschleißte. Wer dort arbeitete, machte den Job meistens nicht lang, dafür ging er zu sehr an die Nieren.

Deshalb war Sadie nun in der Abteilung Verbrechen gegen Erwachsene. Das war ihr bedeutend lieber.

Erneut wurde die Tür geöffnet und David Francis kam herein, gefolgt von Jim Fuller. Sadie entschied, sich auch erst mal etwas zu trinken zu holen und begegnete in der Küche Alexandra, von der Nick gerade noch gesprochen hatte. Sie war eine drahtige junge Frau mit kurzem braunen Haar. Sadie schätzte sie nur wenig älter als sich selbst.

„Nick meinte eben auf dem Gang zu mir, dass du mir heute helfen willst. Das hört sich gut an“, sprach sie Sadie an.

„Ich hoffe, ich kann dir auch helfen.“

„Ach, klar. Das ist ja kein Teufelswerk. Sollen wir uns gleich nach der morgendlichen Besprechung zusammensetzen?“

Sadie war einverstanden. Sie hatte sich gerade erst wieder an ihren Tisch gesetzt, als es auch schon Zeit wurde für die Morgenbesprechung. Gemeinsam warteten sie auf Nick, der als Letzter kam und die Tür schloss. Zufrieden blickte er in die Runde.

„Schön, dass wir jetzt alle wieder hier sind. Belinda, du kennst Sadie Scott noch nicht, unsere neue Kollegin“, sagte er und stellte die beiden Frauen einander vor. Belinda war wegen einer Zahnoperation krankgeschrieben gewesen.

„Sadie hat schon vor längerer Zeit die Academy besucht und einen sehr guten Abschluss gemacht. Bis jetzt hat sie in Kalifornien als Polizistin gearbeitet. Die meisten von euch wissen es schon: Sie hat vor kurzem bei der Festnahme des Serienmörders Martin Grimes mitgewirkt. Das Profil war von ihr. Ich freue mich, sie jetzt doch bei uns begrüßen zu dürfen! Willst du dich auch noch kurz vorstellen, Sadie?“

„Gern“, sagte sie. „Ich bin im kalifornischen Waterford aufgewachsen und habe dort auch die letzten Jahre als Polizistin gearbeitet, wie Nick schon sagte. Nach der Academy bin ich hauptsächlich wegen meiner Familie dorthin zurückgekehrt. Mein Onkel ist an Krebs erkrankt und ich wollte in der Nähe sein. Er war es aber auch, der mich motiviert hat, doch wieder nach Quantico zu kommen. Mein Freund hat mich begleitet, er ist Polizist.“

„So bleibt alles in der Familie“, scherzte Ian. „Schön, dass du bei uns bist. Noch vor fünf Jahren hättest du hier wesentlich mehr Männer vorgefunden, aber besonders seit der Aufteilung der BAU sind die Männer in die anderen Abteilungen abgewandert. Ich weiß nur nicht, was ihr Frauen alle an Serienmördern findet!“

Sadie grinste schief, auch wenn es ihr schwer fiel. Ian hatte nur einen Spaß gemacht, er konnte nicht wissen, dass Sadie da etwas dünnhäutig war. Sie hätte ihren Kollegen gern von ihrem Vater erzählt, dafür hätten sie Verständnis gehabt. Aber sie durfte ja nicht.

„Wir freuen uns, dass du hier bist“, sagte Belinda. „Jetzt hast du etwas mehr zu tun als bei der Polizei in einer Kleinstadt.“

„Davon gehe ich aus“, sagte Sadie grinsend.

„Sollten wir uns nicht alle noch mal vorstellen?“, schlug Cassandra vor.

„Warum nicht“, sagte Nick. „Willst du anfangen?“

Cassandra war einverstanden. „Ich komme aus New Jersey, bin einunddreißig und jetzt mittlerweile seit vier Jahren im Team. In New Jersey war ich auch erst bei der Polizei – bei der Sitte, um genau zu sein. Dann habe ich noch die Academy besucht und hier bin ich.“

Sie nickte David zu, der gleich neben ihr saß. „Ich bin neunundzwanzig und komme aus Wyoming. Nach meiner Ausbildung an der Academy war ich erst in anderen Einheiten und bin jetzt seit zwei Jahren bei der BAU. Ich lebe hier mit meiner Freundin, einer Krankenschwester. Nächstes Jahr wollen wir heiraten.“

„Oh, wieder einer, der es wagt“, sagte Ian grinsend und fuhr mit seiner Vorstellung fort. „Meine Eltern kommen aus Puerto Rico, aber ich bin in Florida geboren. Das ist jetzt etwas über vierzig Jahre her. Beim FBI bin ich schon lange, bei der BAU nun seit fünf Jahren. Der Job ist anstrengend, aber ich mache ihn gern. Profiling wird nie langweilig!“

„Das stimmt“, sagte Belinda. „Ich bin jetzt Mitte dreißig und habe zuerst als Therapeutin gearbeitet. Zur BAU bin ich gegangen, nachdem eine meiner Patientinnen sich umgebracht hat. Sie ist einem Serienvergewaltiger zum Opfer gefallen, der sie so brutal misshandelt hat, dass sie fast gestorben ist. Das war wirklich ein haarsträubender Fall. Ich konnte ihr leider nicht helfen. Sie war noch gar nicht lang bei mir, als sie sich erhängt hat. Das hat mir damals Nick gesagt, der in dem Fall ermittelt hat und vor mir von der Polizei informiert wurde. Damals habe ich beschlossen, lieber an der Aufklärung solcher Fälle mitzuhelfen, als hinterher immer nur die Scherben wegzuräumen.“

„Kann ich verstehen“, sagte Sadie. Das hätte sie auch belastet, denn sie wusste, wie viele Scherben so etwas hinterließ.

„Ich komme aus Texas“, begann Jim. „Ich habe die Vierzig schon hinter mir, bin geschieden und mein Sohn geht bald aufs College. Beim FBI bin ich, seit ich die Academy besucht habe; zur BAU gehöre ich seit sechs Jahren.“

„Ein Veteran“, sagte Dormer und nickte anerkennend.

„Ich bin jetzt seit drei Jahren im Team“, erzählte Alexandra. „Vorher war ich ihm Team gegen Cyberkriminalität. Seit ich hier bin, bin ich der Hauptansprechpartner für Anfragen von außen.“

„Und warum wolltest du zur BAU?“, fragte Cassandra Sadie.

„Es hat mich immer fasziniert“, sagte Sadie ausweichend. „Und als ich letztens im Fall Grimes ermittelt habe, wurde mir klar, dass ich das wirklich machen will. Immer.“

„Kein Wunder, dass wir nicht angefordert wurden“, scherzte Nick. „Aber es ist ja kein Geheimnis, dass viele, die an der Academy ausgebildet wurden, überall im Land bei der Polizei arbeiten. Wir begrüßen das, denn wir können nicht überall sein. Aber kommen wir zum Tagesgeschäft. Bis Ende der Woche brauche ich die Berichte zu unserem Fall letzte Woche. Lasst euch nicht zuviel Zeit damit, denn Alexandra und Sadie werden uns gleich schon neue Arbeit besorgen, nicht wahr? Alexandra, hast du schon etwas im Auge?“

„Noch nichts Konkretes“, erwiderte sie. „Viele Fälle erfordern nur eine Begutachtung oder eine Zweitmeinung. Wir werden sie gleich sichten und unter euch verteilen.“

„Ich hätte auch nichts dagegen, nicht ständig durchs Land zu reisen“, sagte Ian augenzwinkernd.

„Du Armer, hast du nicht vorhin noch gesagt, dir würde hier nie langweilig?“, ärgerte Dormer ihn.

„Na und? Trotzdem ist mein Schreibtisch einsam!“

„Als ob wir Schreibtischtäter wären“, sagte David.

„Ich finde schon etwas für uns“, versprach Alexandra.

„Gut, dann an die Arbeit“, sagte Dormer. Die Kollegen schwärmten aus und Sadie setzte sich neben Alexandra an deren Tisch. Das Mailprogramm war bereits offen, Alexandra hatte die wichtigsten Mails markiert.

„Hier haben wir eine Anfrage aus Chicago“, sagte sie. „Ein Polizist, der auf der Suche nach einem Doppelmörder ist und uns die Tatmerkmale und seine Vermutungen geschickt hat. Da wir ja in der Hauptsache dann ausrücken, wenn eine Wiederholungsgefahr besteht und es sich hier aller Voraussicht nach nicht um einen Serientäter handelt, ist hier kein akuter Handlungsbedarf gegeben. Es wird wohl reichen, wenn einer von uns sich alles anschaut und seine Einschätzung abgibt.“

„Macht Sinn“, fand Sadie.

„Das hier ist interessanter“, sagte Alexandra, nachdem sie die nächste Mail geöffnet hatte. „In Ohio gibt es immer wieder Vergewaltigungen in kleinen Dörfern in einem bestimmten Umkreis. Das gebe ich Belinda zur näheren Einschätzung. Bisher ist noch keine Frau ernsthaft zu Schaden gekommen, aber die Ermittler brauchen ein Profil des Täters. Im Idealfall kann Belinda von hier aus Tipps geben, ansonsten fliegt sie hin.“

„Allein?“, fragte Sadie.

„Klar, wieso nicht.“ Alexandra leitete die Mail an Belinda weiter. „Das Nächste ist die Bitte um ein gerichtliches Gutachten. So etwas macht meistens Nick.“

Gemeinsam gingen die beiden die Anfragen durch, die Alexandra routiniert im Team verteilte. Sie gerieten ins Plaudern und Alexandra berichtete von vergangenen Fällen.

„Ich muss immer abwägen. Mordfälle schaue ich mir genau an, auch wenn es sich auf den ersten Blick um einen Einzelfall handelt. Bei Fällen wie Serienvergewaltigungen, wiederholten Banküberfällen oder anderen Serienverbrechen werden wir natürlich auch aktiv. Code Red-Fälle sind Entführungsfälle. Wenn uns da jemand anfordert, schnappen wir uns unsere Taschen und setzen uns in den Flieger.“

„Die 24 Stunden-Regel“, sagte Sadie.

„Genau die. Die Verbrechen gegen Kinder-Einheit lässt immer alles stehen und liegen. Sie rücken zwar nicht bei jedem Amber Alert aus, aber sie sind schon verdammt oft unterwegs.“

Sadie nickte verstehend. An der Academy hatte sie gelernt, wie der Amber Alert zu seinem Namen gekommen war. 1996 war die neunjährige Amber Hagerman entführt und ermordet worden. Um künftig in solchen Fällen möglichst schnell reagieren zu können, war das Notrufsystem installiert worden. Wurde ein Kind vermisst, wurde die Bevölkerung schnellstmöglich durch die Medien, über ihre Handys oder das Radio informiert. Zeit war der kritischste Faktor in solchen Fällen und viele Amber Alerts hatten schon Leben gerettet.

Sadie fand das System gut. Ebenso fand sie es gut, dass das FBI als kompetenter Ansprechpartner für die Ermittlungsbehörden des Landes da war.

„Bittet euch denn auch jeder um Hilfe?“, fragte sie.

„Eigentlich schon. Wir bekommen häufig auch Anfragen, die gar nicht nötig wären. Es ist selten, dass wir nicht angefordert werden, obwohl es nötig wäre“, erwiderte Alexandra.

Die beiden unterhielten sich angeregt. Bislang hatten sie keinen Fall ausmachen können, in dem ihr Eingreifen zwingend erforderlich gewesen wäre. Oft genügte es, von weitem Hilfestellung zu geben, so dass die Behörden vor Ort selbst weiterermitteln konnten.

Die Zeit bis zum Mittagessen verging rasch. Gemeinsam mit den Kollegen machten die beiden sich auf den Weg in die Kantine. Während sie sich alle um einen größeren Tisch scharten, machte Sadie sich bewusst, dass das wohl kaum Alltag bei der BAU war. Sie würde viel mit den Kollegen unterwegs sein. Und wenn Matt es zum FBI schaffte, würde er auch noch mehr zu tun haben als ohnehin schon. Trotzdem wünschte Sadie ihm, dass er es schaffte. Es machte ihr nichts aus, für den Beruf zu leben. Das war auf angenehme Weise kalkulierbar.

„Du warst also beim Fall Grimes ganz vorne weg“, richtete sich Ian zwischen zwei Bissen an Sadie.

„Ja, mit einem Kollegen wurde ich zu einem Tatort gerufen. Als ich gesehen habe, was dort passiert ist, war mir klar, dass das ein Serientäter sein muss.“

Ian nickte ernst. „Wir erleben hier im Alltag Typen, die noch schlimmer sind als dieser Kerl. Viel schlimmer.“

„Ich weiß“, sagte Sadie. „Das schreckt mich nicht. Hat es während der Ausbildung schon nicht.“

„Das ist gut. Dieser Job kann einem an die Nieren gehen. Ich mache es gern, weil ich finde, dass solche Kerle unbedingt hinter Schloss und Riegel gehören. Unten in Florida, wo ich aufgewachsen bin, hat während meiner Schulzeit ein sadistischer Serienmörder sein Unwesen getrieben. Inzwischen hat die Mordserie aufgehört, aber gefasst wurde der Kerl nie. Zumindest nicht nachweislich. Mich hat immer beschäftigt, warum das nicht geklappt hat. Ich will nicht, dass solche Kerle frei herumlaufen. Und vor dem Hintergrund ist es auch ein Witz, was da in Oregon passiert ist.“

Sofort schrak Sadie hoch, versuchte aber, es sich nicht anmerken zu lassen.

„Was meinst du?“ Ihre Stimme klang erstaunlich fest, worüber sie sehr froh war.

„Na, dass die Staatsanwaltschaft sich mit Rick Foster auf diesen Deal eingelassen hat. Ich kann ja verstehen, dass die Familien der letzten Opfer auch Gewissheit haben wollen – aber davon geht ein fatales Signal aus. Nachher halten alle Mörder entscheidende Informationen zurück, um im richtigen Moment einen Deal machen zu können!“ Ian schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht für die Todesstrafe, aber so einer wie Rick Foster hätte sie verdient.“

Sadie schluckte hart. „Da hast du allerdings recht.“

„Nick hat sich furchtbar über diese Sache aufgeregt, du kannst ihn fragen. Er bezeichnet Foster als einen der schlimmsten Mörder der letzten dreißig Jahre, und das will was heißen.“

Darauf erwiderte Sadie nichts. Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Für sie war er sogar der schlimmste Mörder überhaupt.

„Ich habe meinen Namen gehört?“, fragte Nick vom anderen Ende des Tisches.

„Foster“, sagte Ian knapp. „Dein persönliches rotes Tuch.“

„Ach, fang nicht wieder damit an.“ Nick lachte gequält. „Da hat einer einen Deal bekommen, der ihn wirklich nicht verdient hat.“

„Sagte ich ja“, bekräftigte Ian. Sadie lächelte ihm scheu zu und stocherte wieder in ihrer Pasta herum. Als sie den Blick hob, sah sie, dass Nicks Blick auf ihr ruhte. Er lächelte ihr zu und sie erwiderte das Lächeln, so gut sie konnte. Unter Profilern hatte sie das Gefühl, dass man ihr ihr lesen konnte wie in einem offenen Buch. Natürlich war das Unsinn, aber das Thema machte sie nervös und sie war froh, dass Ian es fallen ließ. Sadie versuchte, sich darauf zu konzentrieren, wie David Alexandra wegen ihrer Salatauswahl ärgerte und gab sich das restliche Mittagessen über schweigsam.

Auf dem Rückweg ins Büro sprach Nick sie darauf gleich an. „Alles in Ordnung?“

Sadie hielt seinem Blick stand und versuchte, sich unbefangen zu geben. „Ja, warum fragst du?“

„Du hast wieder die gleiche schweigsame Art wie früher. Gehört das bei dir zum Inventar oder stimmt etwas nicht?“, fragte Nick. „Ich hoffe, du fühlst dich bei uns wohl.“

„Natürlich“, sagte Sadie und lächelte ehrlich. „Sehr sogar. Aber ich muss die Eindrücke noch verarbeiten.“

„Das verstehe ich. Aber Alexandra ist eine Nette, oder?“

„Sehr! Wir verstehen uns gut.“

„Prima.“ Er nickte zufrieden und fügte hinzu: „Sollte es je irgendein Problem geben, kannst du damit zu mir kommen. Egal, was es ist.“

„Danke, Nick, das ist nett“, sagte Sadie. Er zwinkerte ihr zu und verschwand in Richtung seines Büros. Gedankenversunken gesellte Sadie sich wieder zu Alexandra. Sie fand es schön, dass Nick sich so um sie bemühte, denn sie fühlte sich willkommen im Team. Nur zu gern hätte sie beim Mittagessen wenigstens die Möglichkeit gehabt, ehrlich zu den anderen zu sein, aber das konnte sie ja leider vergessen.

Alexandra saß bereits wieder am Rechner, als Sadie dazustieß. In der Zwischenzeit waren drei neue Mails eingegangen, um die sie sich nun kümmerten. Eine leitete Alexandra zur Begutachtung an Ian weiter, eine andere schickte sie zur Anti-Korruptions-Einheit, weil sie den Fall dort für besser aufgehoben hielt. Die dritte Mail studierte sie etwas eingehender. Sie stammte von einem Chief Farmer aus Moab, Utah. Er berichtete davon, dass er die Existenz eines Serienmörders in seinem County für möglich hielt und bat deshalb um Hilfe. Angehängt hatte er die Akte eines einzigen Mordfalls und gab für Rückfragen die Nummer eines Officers namens Richard Lawrence an.

„Jetzt bin ich gespannt“, sagte Alexandra und öffnete die Mordakte. Eine junge Frau namens Kate Marks war Wochen nach ihrem Verschwinden aus Moab tot im Goblin Valley State Park aufgefunden worden  – erschossen und mit Spuren von Misshandlungen. Ansonsten war aber in der Akte kein Hinweis zu finden, warum es sich dabei um eine Serientat handeln sollte.

Seufzend griff Alexandra zum Telefon und wählte die Nummer des Officers.

„Mr. Lawrence, hier spricht Special Agent Alexandra Parks von der BAU in Quantico“, sagte sie, dann kam sie erst einmal eine ganze Weile nicht mehr zu Wort. Sadie grinste.

„Ja, ich habe die Akte hier offen. Es ist aber nur von einem Mordfall die Rede. Wie kommen Sie darauf, dass es sich um eine Mordserie handelt?“ Wieder schwieg Alexandra eine Weile und runzelte plötzlich die Stirn.

„Nein, er hat uns nur die eine Fallakte angehängt. Sie müssen uns die anderen nicht schicken, ich schreibe mir die Namen auf und suche sie mir selbst aus der Datenbank heraus.“ Sie klemmte sich den Hörer zwischen Kinn und Schulter ein und begann, einige Namen auf einem Stück Papier zu notieren. „Ich schaue mir das an und dann melde ich mich wieder bei Ihnen. Bis später.“

Während sie den Hörer auf die Gabel legte, verdrehte sie die Augen. „Das kommt leider auch manchmal vor. Es gibt tatsächlich noch andere, sehr ähnliche Fälle, aber die hat der Chief uns jetzt natürlich nicht mitgeschickt.“

„Das wäre ja auch nur wichtig gewesen“, sagte Sadie sarkastisch.

„Ja, allerdings. Dann wollen wir mal.“ Alexandra öffnete die VICAP-Datenbank und fütterte sie nacheinander mit Namen. In den Manti-La Sal Mountains unweit von Moab war vor drei Jahren die Leiche einer jungen Frau aus Moab gefunden worden – halb bekleidet, misshandelt und Wochen nach ihrem Verschwinden. Erst vor sechs Monaten waren die Leichen eines vermissten Pärchens aus Green River im Canyonlands National Park gefunden worden. Rote Schrift in einer Ecke machte darauf aufmerksam, dass die Tatwaffe in diesem Fall dieselbe war wie im Fall der Toten in den Bergen. Alexandra gab den Namen Kate Marks ein und auch dort erschien der Hinweis. Sie klickte auf das rote Feld und sah eine Auflistung von insgesamt fünf Fällen, in denen die Opfer mit derselben Waffe erschossen worden waren.

„Er hat recht“, murmelte sie. „Das ist eine Mordserie. Die geht jetzt seit Jahren so ...“

„Ist das was für uns?“

„Kann sein. Mal sehen, ob es Verdächtige gab.“

Alexandra klickte sich durch alle Akten und überflog die Falldaten. Die Viktimologie war immer unterschiedlich, aber der Ablauf der Taten war jedes Mal gleich. Die Opfer verschwanden und tauchten nach Wochen wieder auf – in verlassenen Gegenden, erschossen und misshandelt. Die Frauen waren missbraucht worden. Tatverdächtige gab es in keinem der Fälle.

Schließlich nickte Alexandra. „Das ist was für uns. Ich gehe zu Nick.“

Sadie nickte und blickte ihr gedankenversunken hinterher. Durch die Glasscheibe beobachtete sie, wie Alexandra mit Nick sprach. Es dauerte nicht lang, bis er mit ihr das Büro verließ und um Aufmerksamkeit bat.

„Wir haben wieder einen neuen Einsatz“, sagte er. „In Utah scheint ein Serienmörder sein Unwesen zu treiben. Ich möchte euch bitten, heute das zu beenden, woran ihr gerade arbeitet. Morgen treffen wir uns um sieben am Flugplatz und fliegen nach Moab. Das Briefing erhaltet ihr auf dem Flug.“

Die anderen nickten und beugten die Köpfe wieder über die Schreibtische. Nick und Alexandra gingen auf Sadie zu.

„Du willst mit?“, fragte Nick sie.

„Natürlich, sehr gern“, sagte Sadie sofort.

„Du weißt, wo der Flugplatz ist?“

„Ja, kein Problem. Ich bin pünktlich.“

„Sehr gut. Ich glaube, das wird ein dicker Fisch.“

Sadie wunderte sich ein wenig über die Ausdrucksweise, aber Alexandra grinste nur. Nicks Enthusiasmus war ihr nicht neu.  

„Ich mache das Briefing für morgen fertig“, sagte sie, nachdem sie sich wieder an ihren Schreibtisch gesetzt hatte. „Aber erst mal werde ich mit Officer Lawrence telefonieren.“

„Kann ich dir noch irgendwie helfen?“

„Im Moment nicht“, sagte Alexandra kopfschüttelnd. „Trotzdem danke.“

Sadie nickte und ging hinüber zu Nicks Büro. Er lächelte, als er sie kommen sah.

„Da habt ihr etwas Spannendes entdeckt, glaube ich“, sagte er. „Ach, ich habe vorhin übrigens mit Peters gesprochen, der die Rekrutierung leitet. Er meinte, es sei noch keine Entscheidung gefallen.“

Erst sah Sadie ihn verständnislos an, doch dann begriff sie und lachte. „Ach, du meinst wegen Matt.“

„Ja, genau. Er wird sich wohl noch ein wenig gedulden müssen.“

„Das weiß er ja“, erwiderte Sadie. Allerdings entging ihr nicht, wie Nick sie ansah. „Was ist denn?“

Er lachte. „Ich weiß, ich war noch nie ein guter Schauspieler. Na ja, Peters meinte auch, dass die Schießprüfung wohl ziemlich schlecht war. Das ist natürlich nicht hilfreich.“

Sadie schluckte. „Denkst du ...“

„Keine Ahnung. Kommt ja immer drauf an, was wir brauchen. Schlechte Schützen kann man auch nachschulen. Aber Peters ... na ja, er meinte zwar, dass er das noch prüft, aber ...“

„Es sieht schlecht aus“, vervollständigte Sadie den Satz.

„Das hat er nicht gesagt“, redete Nick sich heraus.

„Aber gemeint.“

„Warte mal ab, das ist noch nicht entschieden.“ Ermutigend lächelte Nick ihr zu, aber Sadie fand das überhaupt nicht ermutigend. Mit hängenden Schultern wandte sie sich ab und kehrte an ihren Schreibtisch zurück. Also hatte Matt recht gehabt. Er hatte es doch gesagt ...

Das hatte sie wie ein Faustschlag in den Magen getroffen. Er war ihretwegen mitgekommen. Er hatte sie überredet. Nun hatte er auch seinen Traum wahrmachen wollen ... aber während sie am nächsten Tag mit der BAU zu ihrem ersten Einsatz fliegen würde, fuhr er in Dale City Streife und wurde nur von der Hoffnung aufrecht gehalten, dass es mit dem FBI klappen würde.

Sadie verfluchte sich. Sie hätte besser nicht gefragt.

 

 

Fünf Jahre zuvor

 

Ungepflegte Freier konnte Sandy nicht ausstehen. Nur leider gab es davon eindeutig zu viele. Die Trucker, die durchkamen, waren oft verschwitzt, hatten die letzte Dusche vor Tagen gesehen. Andere Freier dünsteten den Alkohol regelrecht wieder aus. Bei manchen ahnte man schon vorab, dass sie eine Krankheit im Gepäck hatten.

Das war alles nicht schön. Aber was sollte sie tun? Geld wuchs nicht auf Bäumen. Und wenn man anschaffen ging, verdiente man immer noch mehr, als wenn man bloß eine Kellnerin war oder eine Kassiererin oder ...

Sie beobachtete Natasha beim Einsteigen in einen Truck. Mist, jetzt hatte sie schon wieder ein Geschäft vor ihr gemacht. Sandy verschränkte die Arme vor der Brust und seufzte unzufrieden.

Ein Familienvan fuhr vorbei, ohne anzuhalten und eine von ihnen mitzunehmen. Genervt starrte Sandy auf die Spitzen ihrer Stiefel. Das Warten bezahlte nun mal keine Brötchen.

Ein Jeep fuhr langsam die Straße entlang. Hoffnungsvoll blickte Sandy ihm entgegen. Vielleicht kam da ihre nächste Miete.

Als der Jeep gleich vor ihr langsamer wurde, drückte sie die Brust heraus, schlenderte zum Beifahrerfenster und lehnte sich an, als er die Scheibe heruntergefahren hatte. Das war immerhin kein totaler Reinfall. Es stank nicht, weder nach Schweiß noch nach Alkohol, und hässlich war der Kerl auch nicht. Sah nicht nach Krankheiten aus.

„Guten Abend“, säuselte Sandy in den Wagen. „Kann ich etwas für dich tun?“

Erst starrte der Typ sie nur an. Untersetzter Körperbau, braver Haarschnitt, fleischiges Gesicht, große Hände. Wahrscheinlich ein Farmer oder ein Arbeiter. Das konnte gut sein, konnte aber auch schlecht sein.

Dann fand er seine Sprache wieder. „Hüpf rein. Kannst du gut blasen?“

„Klar kann ich das“, erwiderte Sandy mit einem zuckersüßen Lächeln, öffnete die Beifahrertür und nahm Platz. Sie schnallte sich an und sah ihn an, bevor er den Gang einlegte und langsam losfuhr.

„Soll ich dir einen ungestörten Ort zeigen?“, fragte Sandy.

„Okay“, erwiderte er einsilbig. Er sah sie überhaupt nicht an.

„Ist nicht schlimm, wenn du zum ersten Mal hier bist“, sagte sie. „Wir werden uns schon verstehen.“

„Wenn du meinst.“

Seine schroffe Art irritierte sie. Sandy beobachtete ihn beim Fahren. Er fuhr stadtauswärts, starrte einfach nur geradeaus, die Finger ums Lenkrad gekrampft. Eigentlich wollte sie ihn schon daran erinnern, dass er zuerst zahlen musste, aber dann schwieg sie lieber. Irgendwas an ihm war ihr unheimlich.

„Wie heißt du denn?“, fragte sie ihn freundlich.

„Derek“, erwiderte er, sah sie jedoch immer noch nicht an.

„Ich bin Sandy. Coole Musik hörst du da.“

Er machte nur ein unbestimmtes Geräusch und fuhr weiter. Kurz darauf hatte er die Stadt verlassen.

„Wohin fahren wir denn?“ fragte sie, immer noch freundlich und geduldig.

„Weg“, erwiderte er.

„Fahr nicht zu weit, ich muss auch noch zurück“, erinnerte sie ihn.

Plötzlich explodierte er.

„Sei einfach still!“, brüllte er, holte aus und schlug ihr mit der Handkante gegen den Kehlkopf. Für einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen und sie konnte nicht atmen. Erstickt begann Sandy zu röcheln und krallte sich in den Sitz unter ihr.

Sie spürte, wie er am Straßenrand hielt und bremste. Als er ihre Handgelenke packte und ihr Handschellen anlegen wollte, begann sie zu schreien. Ein harter Schlag ins Gesicht ließ sie verstummen, bevor sie gepackt, umgedreht und gefesselt wurde. Danach knebelte er sie. Sandy war immer noch benommen, aber wach genug, um zu begreifen, dass sie einen Fehler gemacht hatte.

Sie schrie erstickt und versuchte alles, um sich zu wehren. Verzweifelt trat sie um sich. Als sie ihn tatsächlich traf, wurde er wütend und band auch ihre Füße zusammen. Während sie zappelte und wimmerte, wartete er den Gegenverkehr ab und stieg dann aus dem Wagen. Er ging um die Motorhaube herum und öffnete dann die Beifahrertür. Sandy schrie erstickt auf und zappelte weiter, während er sie vom Beifahrersitz zerrte und ohne größere Probleme in den Fußraum hinter den Vordersitzen stieß. Dort lag sie dann eingepfercht und konnte sich gar nicht mehr bewegen.

Tränen nahmen ihr die Sicht. Sie hatte immer befürchtet, dass sie eines Tages an einen solchen Irren geraten würde. Die gab es ja.

Offensichtlich ...

Sie schluchzte heftig, aber das war ihm egal. Er stieg vorn wieder ein, schlug die Fahrertür zu und fuhr los.

Wohin würde er sie bringen?

Davor hatte sie immer Angst gehabt. Sie hatte schon Typen gehabt, die nicht zahlen wollten und sie dann vergewaltigt hatten. Das war nicht so schlimm, sie hielt dann einfach still und wartete ab, bis es vorbei war. Sie hatte auch schon Typen gehabt, die sie schlagen wollten oder es auch getan hatten. Sie hatte schon so vieles erlebt.

Aber das ...

Hoffentlich brachte er sie nicht um. Sie wollte nicht sterben.

Beim bloßen Gedanken daran schluchzte sie noch viel heftiger. Bitte nicht so.

„Wenn du ganz brav bist, passiert dir nichts“, sagte er. Sandy hob den Kopf und hielt kurz inne. Gab es wirklich noch Hoffnung?

Sie würde ihm geben, was er wollte. Egal, was es war. Sie wollte nur leben. Sie konnte vieles ertragen. Wenn er sie danach nur laufen ließ ... Sie würde ihm versprechen, nicht zur Polizei zu gehen. Alles, wenn er sie nur nicht umbrachte.

Aber durfte sie wirklich darauf hoffen? Er fuhr irgendwo mit ihr hin. Irgendwohin, wo niemand mitbekommen würde, was er mit ihr machte. Dort konnte er sie auch unbemerkt töten.

Aber er hatte ja gesagt, dass ihr nichts passierte. An diesen Hoffnungsschimmer musste sie sich klammern.

 

 

Dale City

 

Ganz in Gedanken fuhr Sadie nach Hause und war diesmal froh, dass sie zu Hause Zeit allein haben würde, bevor Matt kam. Sie musste erst vergessen, was Nick ihr gesagt hatte. Hoffentlich bekam Matt keine Absage. Sadie hatte Angst, dass das ihre Beziehung nicht unberührt lassen würde. Sie hatte all das, was er sich wünschte, und er hatte ihretwegen einen Job in Modesto aufgegeben, mit dem er zufrieden war. Sie wusste nicht, ob er einen Plan B für den Fall gefasst hatte, dass Plan A scheiterte. Am größten war ihre Angst, dass er über kurz oder lang nach Modesto zurückkehrte, wenn er vom FBI nicht genommen wurde. Sie hätte es ja verstanden – aber es hätte ihr das Herz zerrissen.

Mit einem Blick auf die Uhr stellte sie fest, dass es zu Hause in Waterford erst kurz nach der Mittagspause war. Sie musste jetzt mit jemandem sprechen, aber alle würden arbeiten. Alle bis auf Norman.

Sadie wählte die Telefonnummer von Onkel und Tante und wunderte sich, als niemand ans Telefon ging. Sie war sich sicher gewesen, dass Norman zu Hause war, aber scheinbar war dem nicht so. Nun, da er wieder zur Chemotherapie musste, machte sie sich große Sorgen um ihn und seine Gesundheit. Wahrscheinlich war es gar nicht besorgniserregend, dass er nicht zu Hause war, aber das bloße Wissen um seine Probleme beunruhigte Sadie.

Das Leben war einfach ungerecht. Norman war so ein herzensguter Mensch, er hatte so etwas wie Krebs einfach nicht verdient. Aber nun war eben er krank – und nicht etwa Sadies Vater, dem sie nun wirklich alles Schlechte dieser Welt gewünscht hätte.

Notgedrungen widmete sie sich dem Auspacken weiterer Kartons. Eine fertig gepackte Tasche, die sie nach Moab mitnehmen konnte, stand bereits im Kofferraum. Damit musste sie sich nicht mehr befassen.

Ein Familienfoto fiel ihr in die Hände. Es war kurz vor ihrem Selbstmordversuch aufgenommen worden. Sadie hielt sich nicht weiter damit auf, aber irgendwie wurde ihr in diesem Moment bewusst, dass sie kein Foto ihrer richtigen Familie hatte. Solche Dinge hatte sie damals nicht mitnehmen dürfen, sofern überhaupt nach dem Hausbrand noch etwas übrig gewesen war. Sie fand es nicht schlimm, zumal es ja immer noch die Fotos in der Zeitung gab, die auch Matt entdeckt hatte. Trotzdem wurde ihr in diesem Moment so richtig bewusst, dass sie eigentlich nichts besaß, was sie an ihr früheres Leben erinnerte. Das Leben, das sie gerade führte, hatte vor dreizehn Jahren begonnen. Davor klaffte ein schwarzes Loch.

Der Marshal Service hatte es geschickt gestopft. Bevor sie sich beim FBI beworben hatte, hatte sie befürchtet, dass dieses Loch auffallen würde – sie hatte gewusst, dass jeder Bewerber gründlich durchleuchtet wurde und hatte das Ergebnis gefürchtet, aber niemand hatte sie je angesprochen.

Sie war gerade dabei, einige Pullover auszupacken, als sie hörte, wie die Wohnungstür geöffnet wurde. Augenblicke später stand Matt in der Tür. Er hatte eine kleine Pappschale von einem Schnellrestaurant dabei, die er hochhielt.

„Fingerfood“, sagte er.

„Oh, du hast etwas zu essen mitgebracht“, sagte Sadie überrascht. Sie legte die Pullover beiseite und stand auf.

„Ja, als Wiedergutmachung.“ Er drehte sich um und stellte die Schale auf dem Tisch ab. Sadie folgte ihm.

„Wiedergutmachung? Wofür?“

„Dafür, dass ich morgen zur Nachtschicht muss“, sagte er frustriert. „Jetzt ist es soweit. Der Chief will mich wohl jetzt schon nerven.“

„Morgen? Du bist doch erst nächste Woche dafür eingeteilt.“

„Jemand ist krank geworden und jetzt soll ich einspringen. Genau genommen bedeutet das sogar eine Doppelschicht.“

Sadie machte ein betrübtes Gesicht. Natürlich war es zu einem großen Teil Anteilnahme, aber es war auch Betroffenheit. Sie musste wieder an das denken, was Nick ihr gesagt hatte. Hoffentlich schaffte Matt es ...

„Deshalb musst du mich doch nicht bestechen“, sagte sie. „Eigentlich müsste ich dich eher bestechen, denn ich fliege morgen zu meinem ersten Fall.“

Matt blickte erstaunt. „Ehrlich? Ist doch toll! Wohin geht es?“

„Nach Utah. In Moab treibt wohl ein Serienmörder sein Unwesen.“

„Was, in Moab? Warst du schon mal dort?“

Sadie schüttelte den Kopf. „Du?“

„Ja, die Wüste ist der Wahnsinn. Wenn du es irgendwie einrichten kannst, dann schau dir die Canyonlands an. Mindestens. Und am besten den Arches Nationalpark gleich hinterher.“

„Das ist alles dort?“ Sadie setzte sich ihm gegenüber an den Tisch, während er die Pappschale öffnete. Er hatte Chicken Wings und Hühnchenschenkel zum Knabbern mit Dip besorgt. Ihr lief das Wasser im Munde zusammen.

„Moab ist der Hammer. Die ganze Wüste ist der Hammer. Ich bin gespannt, ob du dafür auch etwas übrig hast.“

„Keine Ahnung, ich war noch nie dort in der Wüste“, sagte sie achselzuckend.

„Pack bloß die richtige Kleidung ein, dort kann es selbst jetzt im September noch heiß sein. Du solltest gleich mal das Wetter im Fernsehen gucken.“

Die Idee fand Sadie gut. Schmausend beugten die beiden sich über die Hähnchenteile.

„Aber du hast recht“, sagte Matt zwischen zwei Bissen, „dann muss ich dich nicht bestechen. Wenn du überhaupt nicht hier bist, wirst du meine Doppelschicht gar nicht bemerken.“

„Nein“, sagte Sadie und nickte. „Ich hoffe, du fühlst dich nicht gleich einsam ...“

„Ach was.“ Matt griff nach ihrer Hand. „Es ist alles gut. Dass der Chief ein Spinner ist, ist nicht deine Schuld. Ich bin trotzdem froh, dass wir hier sind. Das wird schon alles.“

Sadie hoffte, dass er recht hatte. Sie nahm noch einen Bissen aus einem Hähnchenbein.

„Ein Serienmörder also. Weißt du schon Näheres?“, fragte Matt.

Sadie schüttelte den Kopf. „Noch nicht richtig. Ich bin schon sehr gespannt, ob wir ihn finden und wie das überhaupt wird.“

„Na, das glaube ich dir. Freust du dich?“

Zögerlich nickte sie. „Jetzt geht es langsam richtig los.“

„Ja, das wolltest du doch immer. Das hast du auch verdient.“

„Wenn du das so sagst, fühle ich mich immer bemitleidenswert“, murmelte sie.

„Oh. Nein, so meine ich das gar nicht ... Ich meine, dass du es verdient hast, deine Fähigkeiten gewinnbringend einzusetzen.“

„Ach so“, sagte Sadie. „Wehe, du bemitleidest mich bis ans Ende meines Lebens dafür, dass mein Vater durchgeknallt ist.“

„Nein, tue ich nicht. Auch wenn er das natürlich ist.“

„Mir ist heute das Blut in den Adern gefroren, als ein Kollege ihn beim Mittagessen erwähnt hat“, erzählte Sadie. „War schwer, sich nichts anmerken zu lassen.“

„Das glaube ich dir“, sagte Matt mitfühlend. „Was hat er denn gesagt?“

„Er hat sich darüber aufgeregt, dass die Staatsanwaltschaft diesen Deal gemacht hat. Er meinte, dass das eine falsche Signalwirkung hat.“

„Das stimmt“, sagte Matt. „Da könnte ja jeder kommen.“

„Das waren auch seine Worte. Notgedrungen konnte ich ja nicht wirklich etwas dazu sagen.“

„Nein, lass das mal schön bleiben“, sagte Matt und leckte sich die Finger ab.

Sadie seufzte. „Ich kann es nicht mal Tessa sagen, fast jeden muss ich anlügen ... Das ist furchtbar.“

„Nun, ich sage mal so“, begann Matt bedeutungsvoll. „Niemand zwingt dich, im Programm zu bleiben.“

„Doch, und soll ich dir sagen, was mich zwingt?“, fragte Sadie und schob sich den letzten Bissen in den Mund. „Meine Familie hat ihr Leben dafür aufgegeben. Ich kann das alles jetzt nicht rückgängig machen, das wäre eine völlige Missachtung aller Opfer, die sie gebracht haben, und mir sagt auch niemand, wie gefährlich das wäre. Nein, das geht nicht.“

„Okay, das verstehe ich“, sagte Matt. Wieder griff er nach Sadies Hand und drückte sie ganz fest. „Du bist wirklich etwas Besonderes, weißt du das? Ich habe den Eindruck, dass du dich nur noch mehr bemühst, gut und gerecht zu sein, weil dein Vater so ein Scheißkerl ist. Du versuchst, das Gegenteil dessen zu sein, was er ist. Und das gelingt dir auch.“

„Ich hoffe es doch“, sagte Sadie. „Ich habe mir ja schon manches Mal vorgestellt, wie ich ihn kontaktiere und ihm sage, dass ich Polizistin und FBI-Agentin bin. Das würde er hassen.“

„Und das würde dich natürlich freuen.“

„Oh, und wie“, sagte Sadie. „Er hat mich nicht nur nicht getötet, er hat aus mir seinen Feind gemacht. Er verdient auch nichts anderes.“

Matt stand auf, räumte den Müll zusammen und brachte ihn in die Küche, dann wusch er sich die Hände. Er war gerade damit fertig, als er Sadie davon abhielt, es ihm gleich zu tun. Flink hatte er die Arme um sie geschlungen und fuhr mit der Hand über ihr feuerrotes Haar, während er sie zärtlich küsste.

„Ich liebe dich“, sagte er. „Du bist ein ganz besonderer Mensch, Sadie Scott. Ich habe mich noch nie mit einer Frau so wohl gefühlt wie mit dir.“

Mit leuchtenden Augen blickte Sadie zu ihm auf. „Danke. Das ist so lieb von dir.“

„Ich meine es ernst. Bist du auch glücklich?“

In diesem Augenblick nickte Sadie und meinte es ebenfalls ernst. Mit ihm war sie ohne Frage sehr glücklich. Sie schmiegte sich an seine Brust und schloss die Augen. Matt drückte sie an sich und ließ sie wieder los, als sie sich ebenfalls die Hände waschen wollte. Er setzte sich in der Zwischenzeit aufs Sofa und zappte ziellos durchs Fernsehprogramm. Sadie gesellte sich schließlich dazu, setzte sich neben ihn und griff nach seiner Hand. Matt nahm ihre Hand in seine und strich mit den Fingern darüber. Sadie lehnte ihren Kopf an seine Schulter und schloss zufrieden die Augen.

Ihr war nicht bewusst gewesen, dass Matt so zufrieden war. Sie hatte sich Sorgen gemacht, dass sie ihm anhänglich oder anstrengend erschien, aber wenn sie darüber nachdachte, stimmte es: Er war nur bei der Arbeit frustriert. Zu Hause wirkte er entspannt und gelassen. Und obwohl sie erst seit kurzem zusammen waren, war alles schon sehr vertraut. Sadie war froh, nicht mehr allein zu sein.

„Ich geh mal duschen“, sagte Matt schließlich. Bedauernd blickte Sadie ihm hinterher, griff dann aber nach der Fernbedienung und zappte nun ihrerseits herum. Allerdings lief nirgends etwas, das ihre Aufmerksamkeit erregt hätte. Wenn man nicht gerade für Kabelfernsehen bezahlte, war das Angebot bestenfalls mäßig.

Das Wasserrauschen im Bad hörte auf. Es dauerte nicht lang, bis die Tür geöffnet wurde und Matt herauskam. Sein kurzes Haar stand wild von seinem Kopf ab, war immer noch voller kleiner Wassertropfen. Er hatte sich das große Badetuch umgebunden und beobachtete Sadie von hinten beim Fernsehen. Sie legte den Kopf in den Nacken und lächelte. Sein trainierter Oberkörper war ihr immer ein äußerst willkommener Anblick.

Er grinste, als er ihren Blick bemerkte. „Du musst mich nicht mit Blicken ausziehen. Ich bin schon nackt.“

„Ich sehe dich aber gern an“, erwiderte sie unverhohlen.

„Ach so?“ Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Er ging an ein paar Kartons vorbei und blieb seitlich vor ihr stehen. Sadie lächelte und stand auf. Wortlos umarmte sie ihn und fuhr mit den Händen über seine immer noch leicht feuchte Haut. Er roch nach Duschgel und schmeckte irgendwie verlockend, als Sadie ihn küsste.

„Weißt du, wonach mir jetzt der Sinn steht?“, fragte sie leise.

Matt lachte leise. „Lass mich raten.“

„Hey, wenn ich morgen nach Utah fliege ... ich weiß doch nicht, wann ich wieder komme. Bis dahin könnte ich ohne dich sterben ...“

„Das kann ich unmöglich zulassen“, sagte Matt grinsend. Im Handumdrehen fanden sie sich im Schlafzimmer auf dem Bett wieder. Matt lag rücklings auf dem Bett, Sadie saß auf ihm und beschloss, die Welt zu vergessen, als Matt seine Hände unter ihr Oberteil gleiten ließ und sich daran machte, sie auszuziehen. Sadie beugte sich über ihn und küsste ihn erneut. Matt lachte, denn überall waren ihre roten Haare. Sie waren überall um ihn herum. Es spornte ihn an, dass seine Freundin ihn immer wissen ließ, wie gern sie ihn hatte. Daraus machte sie keinen Hehl.

Schließlich streifte sie selbst ihre Hose ab und trug nur noch ihre Unterwäsche. Matt zog sie aufs Bett herab und drückte sie an sich. Ganz langsam machte Sadie sich daran, den Knoten an Matts Handtuch zu lösen, während er sich über sie beugte und überall zärtlich küsste.

„Du riechst immer so gut“, sagte er leise.

Sie lächelte. „Du aber auch.“

„Wie war das, man kann sich gut riechen, wenn man zusammenpasst? Ich könnte dich mit Haut und Haaren verschlingen!“

Sadie hatte da keine Einwände. Schließlich war Matt über ihr und zog ihr unter Küssen die Unterwäsche aus. Sadie merkte erst gar nicht, wie er vom Bett rutschte, bis er mit seinem Kopf in ihrem Schoß verschwand und sie sanft liebkoste.

Noch vor wenigen Wochen hätte sie nicht geglaubt, dass sie das so bald kennenlernen würde – und erst recht hatte sie nicht erwartet, dass sie es so genießen würde. Ihre Schulzeit hatte sie mit großen Hemmungen verbracht, hatte sich entweder gefragt, ob sie selbst so verrückt war wie ihr Vater oder ob sie nicht Angst vor Männern haben musste, weil sie vielleicht so waren wie er. Und danach hatte sie gar nicht erst jemanden gefunden, auf den sie sich hätte einlassen wollen.

Bis jetzt. Sie vertraute Matt. Er schaffte es mühelos, sie alles vergessen zu lassen. Sie hatte ein Gefühl, als würde sie schweben. Atemlos krallte sie sich ins Laken und legte den Kopf in den Nacken, die Augen geschlossen. Sie stieß einen leisen, lustvollen Laut aus und war erleichtert, als sie merkte, dass Matt aufs Bett zurückkehrte und ihre Ungeduld endlich erhörte. Sie schlang die Arme um ihn, als er über ihr war und eins mit ihr wurde.

„Gieriges Mädchen“, neckte er sie.

„Ich bin süchtig nach dir ...“

„Ich weiß. Ich fasse das als Kompliment auf.“

Ihre einzige Antwort war ein halblautes Stöhnen. Sie krallte ihre Finger in seinen Rücken und wollte ihn gar nicht mehr loslassen. Für Matt war das wirklich ein Kompliment, aber es belustigte ihn auch. Sadies Unbefangenheit überraschte ihn noch immer. Er hätte generell von einer unerfahrenen Frau in ihrem Alter anderes erwartet – und dann noch bei ihrer Vorgeschichte ... aber bei ihm ließ sie sich fallen.

Sie waren regelrecht ineinander verschlungen. Matt küsste sie leidenschaftlich, schob einen Arm unter ihr durch und drückte sie an sich. Irgendwie war ihm gerade auch danach, sie mit Haut und Haaren aufzufressen. Sie würde ihm fehlen, wenn sie weg war. Es würde ihm fehlen, wie sie sich nachts im Bett an ihn schmiegte und ihn morgens wachküsste. Nein, sie hatte nichts von ihrem Vater – ihr Herz war voller Liebe. Und die behielt sie auch nicht für sich.

Ihr Atem ging immer schneller, sie war ekstatisch. Matt zögerte es nicht weiter hinaus, sondern ließ sich einfach mitreißen, als sie unter ihm explodierte und zitternd nach Luft schnappte. Zärtlich strich er ihr eine Strähne ihres roten Haares aus der Stirn und schenkte ihr einen tiefen Kuss.

„Ich will nicht, dass du gehst“, sagte er leise.

„Ich auch nicht ...“ gab sie zu. „Aber ich bin ja nicht lang weg. Hoffe ich.“

„Das hoffe ich auch.“ Theatralisch ließ er sich neben sie fallen und streckte alle Gliedmaßen aus. „Heute Nacht schlafe ich wie ein Baby.“

„Gib nicht so an.“ Sadie lachte.

„Du verstehst das nicht ... ein Mann verausgabt sich eben sehr!“

Sie lachte noch lauter. „Du bist so ein Angeber, Matt. Wirklich.“

„Nun komm schon, es hat dir doch gefallen, das weiß ich.“

„Hat es auch.“

„Dann hat es sich zumindest gelohnt.“ Bevor er aufstand, gab er ihr einen Kuss und ging, das feuchte Handtuch in der Hand, splitternackt ins Bad zurück. Seufzend blickte Sadie ihm hinterher und lauschte auf ihr Herzrasen. Das hatte sie jetzt gebraucht.

 

 

Dienstag

 

Sie flogen mit der Dämmerung. Das sorgte nicht gerade dafür, dass Sadie sich wacher fühlte. Nachdenklich blickte sie aus dem Fenster und dachte an Matt, der noch geschlafen hatte, als sie aufgestanden war. Er hatte nun eine Doppelschicht vor sich. Er fehlte ihr jetzt schon, aber das gehörte zum Job dazu.

Sie spürte immer noch seine Lippen auf ihren und überall auf ihrem Körper. Er hatte gesagt, dass er sie liebte. Das konnte sie nur zurückgeben. Sie war dankbar für dieses völlig neue Gefühl, auch wenn sie sich immer noch fragte, was ein Mann wie Matt eigentlich an ihr fand. Dabei hatte sie inzwischen auch festgestellt, dass er nicht ganz derjenige war, der er auf den ersten Blick zu sein schien. Sadie genoss es, ihn immer besser kennenzulernen – und sich selbst, wie sie ebenfalls schon erkannt hatte. Matt veränderte sie, er machte sie glücklicher, ließ sie ruhiger werden. Es war das erste Mal, dass sie das Gefühl hatte, ein normales Leben zu führen.

Als der Kaffee verteilt war, klappte Nick seinen Laptop auf. „Dann wollen wir mal. Wir werden gleich um kurz vor zehn auf dem Canyonlands Airfield landen. Ich hoffe, ihr habt alle Sonnencreme dabei, denn heute werden bis zu vierunddreißig Grad in der Wüste erwartet.“

„Im Ernst?“, sagte David erstaunt.

„Hast du etwa keinen Wetterbericht gesehen?“, neckte Cassandra ihn.

„Nein, habe ich nicht. Es ist September, verdammt noch mal!“

„In der Wüste heißt das nichts“, sagte Nick. „Also ... Die Anfrage geht ursprünglich auf einen Officer namens Dick Lawrence zurück. Angefordert hat uns Chief Farmer. Zwei Aspekte machen den Fall für uns relevant: Erstens scheint es sich um einen Serientäter zu handeln, da immer dieselbe Tatwaffe verwendet wurde, und es scheint auch andere Gemeinsamkeiten zwischen den Taten zu geben: Die Opfer sind erst Tage oder Wochen nach ihrem Verschwinden gestorben.“

„Dann verstehe ich nicht, warum erst niemand die Gemeinsamkeiten gesehen hat“, merkte Belinda an.

„Oh, das kann ich dir sagen: Die Opfer ähnelten einander nicht sehr und die Leichen wurden in verschiedenen Gegenden, häufig auch verschiedenen Countys, gefunden.“

„Seit wann läuft diese Mordserie?“, fragte Ian.

„Wenn ich das richtig sehe, seit sechs oder sieben Jahren. Es gibt ein Opfer in Monticello, eins in den Manti La-Sal Mountains, eins im Canyonlands National Park ... hoffentlich nicht von Touristen gefunden. Dann ist da eine Leiche in der Nähe des Goblin Valley State Park und eine wurde im Green River gefunden. Und das sind nur die, die ich hier auf Anhieb sehe. Männer, Frauen, sogar ein Pärchen. Bei den Frauen konnten Spuren sexuellen Missbrauchs nachgewiesen werden. Lawrence wurde misstrauisch bei der Leiche in Monticello. Bei der Obduktion wurden Folterspuren nachgewiesen. Daraufhin hat er VICAP durchforstet und festgestellt, dass es da ein Muster gibt. In den ersten Fällen glaubten die jeweiligen Ermittler wohl noch an Jagdunfälle.“

„Und VICAP hat vorher keinen Alarm gegeben?“, wunderte Ian sich.

„Nein, tatsächlich nicht. Das hat der Mann alles zu Fuß gefunden. Das heißt, es ist durchaus möglich, dass es da noch weitere Fälle gibt. Wir müssen jetzt nachweisen, dass die Fälle tatsächlich zusammenhängen. Wir werden VICAP durchsuchen und wir werden uns alle Tatorte ansehen.“

„Green River?“, fragte Cassandra. „Genau der Green River, der auch schon für den gleichnamigen Killer namensgebend war?“

Nick schüttelte den Kopf. „Nein, obwohl man das glauben könnte. Der Green River Killer war in Seattle aktiv, wo es ebenfalls einen Green River gibt. Das hat aber nichts mit dem Green River zu tun, der uns jetzt begegnet.“

„Ach so“, sagte Cassandra. „Ich wusste gar nicht mehr, wo er gemordet hat.“

„Das merke ich mir auch nicht bei jedem Täter“, sagte Nick. „Aber bei Ridgway weiß ich das, weil ich ihn getroffen habe.“

„Wie hast du das erlebt?“, fragte Sadie.

„Ich war dort, als er vor einigen Jahren den neunundvierzigsten Mord gestand. Aber der ist noch nicht fertig. Wir vermuten immer noch, dass er über siebzig Opfer gefordert hat.“ Dormer zögerte kurz. „Der Kerl ist unglaublich. Dagegen kann man John Wayne Gacy und Ted Bundy vergessen – und wir dachten, diese Kerle wären schlimm. Aber ich würde sagen, Gary Ridgway ist zu Recht als einer der schlimmsten Mörder der USA in die Geschichte eingegangen, wenn nicht gar als der schlimmste. Es war schwer, ihm auf die Schliche zu kommen, weil er keine Präferenzen bei seinen Opfern hatte – genau wie der Täter, den wir gerade suchen. Er hat wahllos Frauen ermordet und wurde erst nach fast zwanzig Jahren gefasst. Das erste Opfer wurde 1982 gefunden, das bislang letzte erst 2003. Seine Opfer waren Prostituierte, er hat sie alle erwürgt. Die Polizei wusste ja 1982 bereits, dass sie es mit einem Serienmörder zu tun hat und schon 1983 hat man Ridgway befragt, aber ohne Erfolg. Absurd wurde es, als ausgerechnet Ted Bundy der Polizei ein Profil für den Green River Killer geschickt hat.“

„Im Ernst?“, fragte David.

„Die Polizei konnte damit nichts anfangen“, sagte Nick, „aber das hat es wirklich gegeben.“

„Zu dem Zeitpunkt gab es schon über vierzig Opfer. Festgenommen wurde er aber erst 2001 nach einem neuen DNA-Test. Der Mann ist inzwischen über sechzig und er wird im Gefängnis sterben, soviel steht fest. Aber niemand weiß, wieviele Frauen er wirklich auf dem Gewissen hat“, sagte Ian.

„Das wusste er doch irgendwann selbst nicht mehr, das hat er doch während seines Prozesses gesagt“, warf Sadie ein.

„Ja, das stimmt. Wobei ich ihn auch nicht als den gefühllosen Menschen kennengelernt habe, für den ihn die meisten Menschen halten. Als ihm der Vater eines Opfers im Gerichtssaal verzieh, habe ich ihn weinen sehen“, erzählte Nick.

„Mir kommen die Tränen“, äffte Ian von der Seite.

„Ich wollte das auch nicht werten“, sagte Dormer. „Ich habe das nur festgestellt.“

„Ich frage mich wirklich, wer Leichen in der Wüste verteilt“, sagte Ian, sich auf den aktuellen Fall beziehend. „Ich habe das ganz dumpfe Gefühl, dass hinter diesem Fall noch weit mehr steckt, als irgendjemand bisher ahnt.“

Dormer nickte zustimmend und wollte noch etwas sagen, aber da unterbrach eine Durchsage des Piloten ihn. „Bitte alle anschnallen, wir überfliegen ein Sturmgebiet, das könnte ungemütlich werden.“

Sie kamen der Aufforderung gleich nach und Nick klappte auch den Laptop zu. Tatsächlich ließen die Turbulenzen nicht allzu lange auf sich warten. Sadie war froh, dass sie keine Flugangst hatte. Das hätte sie in diesem Job nicht gebrauchen können.

Wenig später waren die Turbulenzen wieder vorüber. Das Wetter unter ihnen klarte auf und offenbarte einen Blick auf die Rocky Mountains. Sadie freute sich, der Heimat immer näher zu kommen, auch wenn sie eigentlich nichts davon hatte. Kurz darauf meldete der Pilot sich wieder zu Wort.

„Wir beginnen jetzt den Landeanflug. Bitte angeschnallt bleiben. Wer vorher noch einen Blick aus dem Fenster wirft, kann eine grandiose Aussicht genießen.“

Sadie folgte dem Hinweis des Piloten und musste zugeben, dass er nicht zuviel versprochen hatte. Nur in der Ferne über den grünen Bergen waren einige Wolken zu sehen, ansonsten war der Himmel blau und klar und ermöglichte einen Blick auf eine fantastische Wüstenlandschaft. Das Land leuchtete rotbraun in der Sonne, im Sinkflug konnten sie bizarre Felsformationen ausmachen. Schon aus der Luft wirkte die Wüste Utahs atemberaubend. Je weiter der Pilot sank, desto mehr konnte sie erkennen. Überall war rote Erde. Schließlich erkannte sie auf einer Seite den Arches National Park, der auf einem Hochplateau lag und mit zerklüfteten Felsen und hoch aufragenden Gesteinsspitzen aufwartete. Aus der Luft wirkte die Erdoberfläche, als habe jemand sie mit einem riesigen Kamm durchzogen.

Doch die Szenerie auf der anderen Seite war noch atemberaubender und erinnerte Sadie streckenweise an den Grand Canyon. Eine riesige, breite Schlucht schien wie aus dem Plateau herausgebrochen zu sein. Einzelne, freistehende Felsformationen erinnerten ans Monument Valley. Staunend betrachtete sie die einzigartige Landschaft durchs Fenster. Das war der wilde Westen, wie man ihn sich vorstellte. Mitten durch das rote Gestein schlängelte sich ein Fluss mit grünem Wasser, den Sadie aufgrund der Färbung für den Green River hielt. Erosion hatte die Gegend über Jahrmillionen geformt und zu einer bizarren Schönheit gemacht.

Doch bevor sie wirklich in die Landschaft eintauchen konnten, landete der Jet etwas außerhalb des Nationalparks auf einem Flughafen, den Sadie aufgrund seiner Größe zuerst gar nicht gesehen hatte. Im ersten Moment wähnte sie sich auf freiem Feld. Auf einer Seite des Flugzeugs konnte sie einen Highway sehen. Der Jet rollte langsam die Landebahn entlang und kam schließlich zum Stillstand. Wenig später konnten sie das Flugzeug verlassen und wurden dabei einem Hammer gleich von der Hitze der Wüste begrüßt. Sadie hatte das Gefühl, in eine undurchdringliche, heiße Wand zu laufen.

Der Flughafen war so klein, dass sie zu Fuß über die Landebahn bis zum Gebäude gingen. Davor parkte ein Streifenwagen der Polizei. Während sie noch versuchten, sich zu orientieren, kamen zwei Polizisten vom Gebäude aus auf sie zu. Beide waren durchschnittlich groß, der eine etwas stämmiger, während der andere eine normale Statur hatte. Sadie glaubte, Chief Farmer zu erkennen. Sie hielt den älteren der beiden Männer für den Ranghöheren. Der stämmigere der beiden musste Dick Lawrence sein.

„Willkommen in Utah“, begrüßte der Ältere sie. „Harry Farmer mein Name, ich bin der Polizeichef. Das ist mein Kollege Richard Lawrence.“

„Aber alle nennen mich Dick“, sagte der Angesprochene sofort. Dormer stellte sein Team vor und alle schüttelten einander reihum die Hand.

„Danke, dass Sie hergekommen sind“, sagte Farmer. „Wir wissen das sehr zu schätzen. Noch haben wir keine Ahnung, womit wir es hier zu tun haben, aber wir brauchen sicherlich Ihre Hilfe.“

„Dafür sind wir da“, sagte Nick.

Zu Sadies Erleichterung verbarg sich hinter dem Gebäude noch ein weiterer Polizeiwagen. Das Profiler-Team teilte sich auf die beiden Wagen auf, dann verließen sie das Flughafengelände und fuhren auf den Highway 191 Richtung Moab. Im klimatisierten Wagen war die Hitze gleich erträglicher.

„Es sind noch etwa gut zwanzig Meilen bis Moab“, erklärte Lawrence, in dessen Wagen Sadie Platz genommen hatte. Er fuhr seinem Vorgesetzten auf einem schnurgeraden Highway hinterher. Ringsum war nichts als Wüste. Am Horizont entdeckte Sadie die Berge, die sie schon aus dem Flugzeug gesehen hatte.

„Wir haben einen Raum für Sie eingerichtet, in dem Sie arbeiten können“, sagte der Officer. „Das FBI war noch nie hier. Sagen Sie einfach, wenn Sie etwas brauchen. Unsere Möglichkeiten hier sind zwar nur beschränkt, aber wir geben unser Bestes.“

Große Trucks kamen ihnen auf der anderen Straßenseite entgegen. Wenig später wand der Highway sich zwischen steilen Felsklippen hindurch und erreichte die Stadt Moab. Sie fuhren über eine Brücke und vorbei an diversen Motels und Campingplätzen. Zwar war Moab eine der größten Städte in Utah, aber ihre Dimensionen waren überschaubar. Die Straße war gesäumt von Restaurants und kleinen Läden für die Touristen.

Ein kurzes Stück weiter bog Lawrence an einer Ampel ab und parkte den Wagen vor dem zentral gelegenen Police Department. Gemeinsam betraten sie alle das klimatisierte Gebäude. Tatsächlich war das Police Department nicht besonders groß und es war auch nicht viel los, aber Lawrence hatte nicht zuviel versprochen: Für die BAU stand ein eigener Raum bereit. Kisten mit Unterlagen und ein Flipchart mit Fotos waren in dem Raum aufgebaut und schienen nur auf die Profiler zu warten. Lawrence bat die Profiler, ihm zu folgen. Sie alle scharten sich um den Tisch in der Mitte des Raumes, der schon fast zu klein für sie alle war. Der Officer blickte mit einem Nicken in die Runde.

„Vielen Dank, dass Sie alle gekommen sind. Mir ist alles recht, so lange es hilft.“

Dormer grinste. „So schlimm?“

„Ich hatte Zweifel, dass Sie wirklich kommen würden, nachdem ich hier im Department ziemlich allein mit meiner Theorie von einem Serienmörder bin. Aber ich sehe da deutliche Hinweise.“

„Die sehen wir auch, sonst wären wir nicht hier. Verschaffen wir uns doch einen Überblick.“

„Sehr gern.“ Lawrence stand auf und stellte sich neben das Flipchart mit den Fotos. „Der erste Fall, mit dem ich konfrontiert worden bin, war der eines jungen Pärchens, das tot in einem schwer zugänglichen Winkel des Canyonlands Nationalparks gefunden wurde. Man hätte vielleicht denken können, dass es Touristen waren, die vom Weg abgekommen sind, aber sie waren wirklich verdammt weit draußen – und das mitten im Winter.“

Der Officer deutete auf zwei Fotos. Sie waren an verschiedenen Orten aufgenommen worden. Von weitem erkannte Sadie nur zwei bekleidete Körper.

„Das passte alles nicht zusammen. Die beiden trugen nicht einmal Winterjacken. Sie haben schon eine Weile dort gelegen, bevor man sie gefunden hat – steif gefroren, aber das war nicht die Todesursache. Beide wurden erschossen. Den Mann fand man zuerst, eine halbe Meile weiter seine Freundin. Daniel Miller und Sarah Cooper kamen aus Green River, waren also keine Touristen im klassischen Sinn. Ihre Familien hatten sie letzten November als vermisst gemeldet, gefunden wurden sie im späten Januar. Erschossen hat man sie wohl um den Jahreswechsel herum. Dem Gerichtsmediziner sind bei der Obduktion Fesselspuren an den Gliedmaßen der beiden aufgefallen, die teilweise schon vernarbt waren. Hämatome und andere Verletzungen ließen darauf schließen, dass Sarah vergewaltigt wurde. Auch am Körper ihres Freundes fand man Folterspuren. Sie waren abgemagert, ihre Mägen leer.“ Officer Lawrence verzog die Lippen. „Ich wurde gerufen, als die Leichen gefunden wurden und habe fortan in dem Fall ermittelt. Ich wusste, da stimmt was nicht. Ich hatte im Gefühl, dass da einer am Werk war, der das schon mal gemacht hat. Deshalb habe ich mich auf die Suche gemacht.“

„Wie sind die beiden verschwunden, Officer? Geht das aus der Vermisstenmeldung hervor?“ fragte Nick.

Dick Lawrence schlug eine Akte auf, aber er warf nur einen kurzen Blick auf das Blatt. Er war vertraut mit dem Fall, wusste Bescheid. „Die Familien hatten sie gemeinsam als vermisst gemeldet, aber es ist zuerst Sarahs Mutter aufgefallen, dass die beiden verschwunden sind. Beide waren Mitte zwanzig und haben zusammen gewohnt. Sarahs Mutter hat erzählt, dass die beiden am Vorabend ihres Verschwindens gemeinsam essen gegangen sind. Das war ein Freitag. Samstags morgens hat sie bei ihrer Tochter angerufen und wollte sie etwas fragen, aber sie konnte Sarah nicht erreichen. Am Nachmittag, als sie zufällig an der Wohnung vorbeigefahren ist, hat sie dort geklingelt, aber niemand hat geöffnet. Weil sie einen Zweitschlüssel hat, ist sie reingegangen und hat festgestellt, dass die beiden verschwunden sind. Die Katze der beiden saß vor dem leeren Napf, also war ersichtlich, dass die beiden schon länger nicht mehr zu Hause gewesen waren. Das Auto fehlte auch. Am späten Abend, nach einer kurzen Suche mit Daniels Eltern, haben die Eltern die beiden dann bei der Polizei als vermisst gemeldet.“

„Was waren die Schlussfolgerungen der Polizei?“, fragte Belinda.

„Die Polizisten haben in dem Restaurant nachgefragt, in dem beide essen gehen wollten, und haben dort erfahren, dass sie tatsächlich dort gewesen sind. Sie haben das Restaurant gegen viertel vor zehn verlassen. Danach verliert sich jede Spur. Das Auto fand man ein paar Tage später auf einem Feldweg.“

„Eine Entführung“, sagte Nick.

„Das haben die Kollegen auch vermutet. Die Fahndung verlief jedoch erfolglos. Bis heute weiß niemand, wo und wie die beiden verschwunden sind. Es waren ganz unauffällige junge Leute, sie eine Verkäuferin, er Mechaniker. Aber es scheint sie jemand über Wochen festgehalten und misshandelt zu haben, bevor er sie in die Wüste gefahren und dort erschossen hat. Der Fundort der Leichen war auch jeweils der Tatort. Ich weiß nicht, ich hatte einfach im Gefühl, dass das kein normaler Mord war.“

„Das Gefühl beschleicht mich hier auch“, stimmte Ian zu.

„Und dann haben Sie sich auf die Suche begeben?“, fragte Nick.

Lawrence nickte zustimmend. „Ich habe Akten gewälzt und tatsächlich etwas gefunden. Vor drei Jahren wurde eine junge Frau in den Manti-La Sal Mountains erschossen aufgefunden. Auch da war auf Anhieb ersichtlich, dass sie keinen Wanderausflug gemacht hat, denn auch für die hochsommerliche Jahreszeit war sie ziemlich dünn bekleidet. Sie trug nur ein Top und einen Slip, das ist alles.“ Er deutete auf ein weiteres Foto am Flipchart.

„Die Auffindesituation war ähnlich. Sie lag erschossen im Wald am Fuß des Berges, wies Spuren von sexuellem Missbrauch auf. Es handelte sich dabei um Sophia Reeves, zweiundzwanzig, hier aus Moab. Niemand wäre auf die Idee gekommen, eine Verbindung zwischen den Fällen herzustellen, aber ich habe das Projektil aus ihrem Körper mit denen aus dem anderen Mordfall abgeglichen – und siehe da: Abgefeuert aus derselben Waffe.“

„Interessant“, fand Dormer.

„Wieviele Projektile wurden denn gefunden?“, fragte Sadie.

„Jeweils nur eins“, sagte Lawrence. „Das waren immer tödliche Schüsse. Auf Anhieb.“

„Ein Jäger“, murmelte Sadie.

„Auf jeden Fall jemand, der wirklich gut schießen kann“, stimmte Lawrence zu. „In dem Moment wusste ich, dass ich etwas gefunden habe.“

Dormer beugte sich vor. „Und das hat hier niemand ernst genommen?“

Lawrence schüttelte den Kopf. „Natürlich hat niemand bestritten, dass ein Zusammenhang zwischen diesen beiden Fällen besteht. Aber ich habe ja nicht nur die Fälle aus unserem County durchgesehen, sondern auch die aus den Nachbarcountys, da für meinen Geschmack die Canyonlands und die Berge schon recht weit auseinanderliegen. Und was soll ich sagen – ich bin wieder fündig geworden.“

Dormers gleichgültiges Gesicht verriet, wie wenig ihn das überraschte. „Immer die gleiche Tatwaffe?“

„Ja, immer. Und Ihre Kollegin hat recht: Es handelt sich um ein Jagdgewehr. Der erste Fall ist der einer jungen Frau, die vor fünf Jahren erschossen wurde. Ihre Leiche hat man im Green River gefunden. Sie weist als einzige zwei Schusswunden auf. Erst die zweite war tödlich, der erste hat sie nur verletzt. Dabei handelte es sich um eine fünfundzwanzigjährige Prostituierte aus der Stadt Green River. Sie war eine Woche vor dem Fund ihrer Leiche als vermisst gemeldet worden. Der andere Fall war vor zwei Jahren, eine junge Kellnerin verschwand in Monticello und wurde drei Wochen später tot in der Prärie gefunden. Tja, und der letzte Fall ... der ist zwei Wochen alt. Deshalb habe ich sie jetzt auch endgültig gerufen. Eine junge Frau von einer entlegenen Farm wurde tot unweit des Goblin Valley State Parks gefunden. Auch sie wurde mit derselben Tatwaffe erschossen.“

„Fällt das überhaupt in Ihre Zuständigkeit?“, fragte Dormer.

„Nein“, sagte Lawrence kopfschüttelnd. „Das nicht. Aber man kriegt ja mit, wenn im Nachbarcounty ein Mord geschieht. Dafür ist die Gegend hier einfach zu dünn besiedelt. Ich habe die ballistischen Daten erneut abgeglichen und hatte wieder einen Treffer. Das muss endlich aufhören. Irgend jemand läuft hier durch die Wüste und ermordet Leute.“

„Offensichtlich“, sagte Nick trocken. „Wenn ich das richtig sehe, hat er jährlich im Sommer gemordet – nur letztes Jahr hat er nicht im Sommer gemordet, sondern im Winter und nun ein halbes Jahr später weitergemacht. Es haben sich also Unregelmäßigkeiten bei ihm ergeben, so dass fortan völlig unklar ist, wann er wieder mordet.“

„Ja, eben. Genau das ist meine Sorge. Der Chief war nicht erfreut, als ich ihn gebeten habe, Sie zu rufen. Er hat es letztlich auch nur getan, weil sich nicht widerlegen lässt, dass alle Opfer mit der gleichen Waffe erschossen wurden. Aber er ist kein Freund des FBI und will das, was hier passiert ist, auch nicht Serienmord nennen. Dabei denkt er gleich an Ted Bundy.“

„Nein, mit Bundy hat das hier nichts zu tun“, sagte Dormer. „Was denken Sie, wie lang braucht man, um zu den Leichenfundorten zu gelangen?“

„Ich würde vorschlagen, das morgen in Angriff zu nehmen. Wir sollten früh losfahren, denn wir werden eine ganze Weile unterwegs sein.“

„Gut, vertiefen wir uns bis dahin in die Fallakten. Dann sind wir im Bilde, wenn es morgen losgeht.“

Die anderen waren einverstanden und so machten sie sich an die Arbeit. Lawrence hatte die Kopien chronologisch sortiert, so dass sich die Entwicklung gut nachvollziehen ließ.

Das erste Opfer war Sandy Cleaver aus Green River, eine Prostituierte, die als solche zu einer Hochrisikogruppe gehörte. Sadie sah vor sich ein Bild der beeindruckend hübschen jungen Frau. Sie war fünf Jahre zuvor vom Strich verschwunden und erst wieder aufgetaucht, als man sie nackt und mit einem Einschussloch im Rücken im Fluss gefunden hatte. Damals hatte sich niemand etwas dabei gedacht. Eine Prostituierte, die vergewaltigt und erschossen im Green River trieb – niemand hatte mehr dahinter vermutet. Klar war allerdings, dass sie eine ganze Weile im Wasser gelegen hatte und vermutlich irgendwo draußen in der Wüste erschossen worden war.

Sie blätterte weiter zum nächsten Opfer. Sophia Reeves aus Moab war vor drei Jahren tot in den Manti-La Sal Mountains gefunden worden. Irritiert blätterte Sadie zurück, aber es stimmte. Sandy Cleaver war vor fünf Jahren gestorben, Sophia Reeves vor drei. Sie blätterte noch weiter, doch es gab eine Lücke im Zeitraum vor vier Jahren. Lawrence hatte für diesen Zeitraum kein Opfer finden können.

Sophia war gefesselt und vergewaltigt worden. Ihr Freund hatte sie als vermisst gemeldet, als sie nicht nach Hause gekommen war. Zwei Tage später hatten Wanderer ihre Leiche im Wald am Fuß der Berge gefunden. Sie war nur notdürftig bekleidet gewesen. Der Täter hatte sie nicht lang in seiner Gewalt gehabt.

Vor zwei Jahren hatte es die Kellnerin Amanda Hicks aus Monticello getroffen. Auch sie war auf dem Heimweg von der Arbeit verschwunden, obwohl es kein weiter Weg gewesen war. Drei Wochen später war sie abgemagert, misshandelt und vergewaltigt in der Wüste gefunden worden – erschossen, genau wie die anderen Opfer auch.

Sadie betrachtete auch ihr Foto genau. Sie war, genau wie die anderen Opfer, sehr hübsch. Amanda war brünett, Sandy blond, Sophia aschblond. Sie alle unterschieden sich, nicht nur in der Haarfarbe, sondern auch im Körperbau. Der Täter war also nicht auf einen bestimmten Typ festgelegt.

Das machte es nicht leichter.

Sadie blätterte noch einmal kurz über den Fall des ermordeten Pärchens in den Canyonlands, der die Aufmerksamkeit von Officer Lawrence erregt hatte, und blieb schließlich beim letzten Opfer hängen. Kate Marks stammte von einer Farm mitten im Nirgendwo auf der anderen Seite des Canyonlands-Nationalparks. Sie hatte mit ihrem Freund und ihrem Hund auf der Farm ihrer Eltern gewohnt. Die Mutter war nach dem Tod des Vaters nach Salt Lake City zurückgekehrt.

Anders als die anderen war Kate nicht irgendwo entführt, sondern vermutlich von der Farm verschleppt worden, während ihr Freund unterwegs gewesen war. Er hatte sie sofort nach seiner Rückkehr als vermisst gemeldet. Das hatte Kate jedoch auch nicht gerettet. Sie war Wochen später im Goblin Valley State Park tot aufgefunden worden, in einer entlegenen Ecke, in die sich kein Tourist verirrte. Zwar war sie ebenfalls erschossen worden, doch sie wäre auch beinahe verdurstet. Sie hatte Verbrennungen auf der Haut gehabt, die nahelegten, dass sie lang im Hochsommer durch die Wüste gelaufen war. Auch sie war länger festgehalten und vergewaltigt worden.

Sadie legte die Blätter beiseite. Es war durchaus möglich, eine Entwicklung zwischen den Fällen zu erkennen. Der Täter hatte mit einer Prostituierten angefangen und sie recht beliebig getötet, zumindest konnte man aus diesem Vorgehen noch nichts ableiten. Später hatte er dann eine Handschrift entwickelt. Sadie beschäftigten nur die Lücke im zweiten Jahr seit Beginn der Serie und die Frage, warum er im Winter ein Pärchen entführt und ermordet hatte. Zwei Opfer, davon ein Mann – das erhöhte das Risiko. Und dann im Winter – dafür musste es einen bestimmten Grund geben.

„Wollen wir uns zusammensetzen und sammeln, was wir bis jetzt haben?“, unterbrach Nick sie in ihren Gedanken. Augenblicke später hatten sie sich alle um den langen Tisch geschart und Nick blickte neugierig in die Runde.

„Sadie, hast du irgendwelche Schlüsse gezogen?“, fragte Nick sie.

„Das würde ich schon sagen“, erwiderte sie. „Wenn man die Viktimologie betrachtet, fällt auf, dass der Täter auf keinen bestimmten Opfertyp festgelegt ist. Die Frauen sind alle vollkommen unterschiedlich. Ansonsten finde ich, dass man durchaus eine Entwicklung sehen kann. Das erste Opfer, von dem wir wissen, war noch Prostituierte. Er wäre ja nicht der erste Täter, der sich sein erstes Opfer in dieser Gruppe sucht. Aber dann ... vor vier Jahren gab es eine Lücke. Ich bin ziemlich sicher, dass wir da ein Opfer übersehen haben. Oder es gab keins – das wäre ja nicht die erste Unregelmäßigkeit. Letzten Sommer gab es kein Opfer, aber dafür ein Pärchen im Winter.“

„Das ist mir auch aufgefallen“, sagte Cassandra. „Diese Unregelmäßigkeiten könnten uns bei der Profilerstellung helfen, denn die haben mit Sicherheit einen Grund.“

„Das denke ich auch. Vor allem aber habe ich mich gefragt, warum er plötzlich ein Pärchen entführt hat. “

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739325583
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Januar)
Schlagworte
Wüste Profiling Psychothriller Gefahr Thriller Serienmord Krimi Spannung FBI Killer Ermittler

Autor

  • Dania Dicken (Autor:in)

Dania Dicken, Jahrgang 1985, schreibt seit ihrer Kindheit. Die in Krefeld lebende Autorin hat in Duisburg Psychologie und Informatik studiert und als Online-Redakteurin gearbeitet. Mit den Grundlagen aus dem Psychologiestudium setzte sie ein langgehegtes Vorhaben in die Tat um und schreibt seitdem Psychothriller mit Profiling als zentralem Thema.
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Titel: Die Seele des Bösen - Erbarmungslose Jagd