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Die Seele des Bösen - Blutiges Wiedersehen

Sadie Scott 3

von Dania Dicken (Autor:in)
275 Seiten
Reihe: Sadie Scott, Band 3

Zusammenfassung

Als er eine blutige Spur in ihrem Heimatort Waterford hinterlässt, ist FBI-Agentin Sadie klar, dass ihr Vater auf der Suche nach ihr ist. Ihre Kollegen vom FBI unterstützen sie bei der Suche nach dem flüchtigen Mörder, denn solange der Oregon Strangler auf freiem Fuß ist, schwebt Sadie in Lebensgefahr. Allerdings ist er den Ermittlern immer einen Schritt voraus und hinterlässt auf seiner Flucht eine Spur von Leichen. Mit der Unterstützung ihres Freundes Matt stellt Sadie sich dem Schrecken ihrer Vergangenheit, um ihren Vater zu finden, bevor er sie findet. Eine vergebliche Hoffnung …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dania Dicken

 

Die Seele des Bösen

Blutiges Wiedersehen

 

Sadie Scott 3

 

Psychothriller

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Erzieher verdient den Namen Vater mehr als der Erzeuger.


Talmund

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Klamath Falls, Oregon, 1993

 

Freudestrahlend kletterte Kim auf den Schoß ihres Vaters und grinste ihn mit einer imposanten Milchzahnlücke an. Kristy saß neben ihrer Mutter, die inzwischen hochschwanger war. Kim konnte es kaum erwarten, bis ihr kleiner Bruder endlich geboren war. Dann hatte sie eine Schwester und einen Bruder.

Aus dem Radio dudelte Weihnachtsmusik. Die Kerzen tauchten alles in ein heimeliges Licht, die Christbaumkugeln glänzten und funkelten. Unter dem Weihnachtsbaum stapelten sich die Geschenke und warteten darauf, am nächsten Morgen ausgepackt zu werden. Das fiel den Mädchen immer schwer, aber ihre Eltern ließen da kein Pardon gelten.

Kim war aufgeregt. Sie hoffte, dass die neue Barbiepuppe, die sie sich so sehr wünschte, in einem der Kartons war. Das hoffte sie wirklich ...

Wenig später war der Weihnachtsbraten fertig. Rick pikste seine Tochter in die Seite und kitzelte sie, so dass sie fröhlich lachte und kreischte. Kristy beobachtete die beiden, während Clarice in die Küche ging und den Braten holte. Minuten später saßen sie um den Tisch und begannen zu essen, während im Radio Stille Nacht, heilige Nacht lief.

In diesem Moment war Kim glücklich. So war Weihnachten perfekt. Ihre Eltern hatten keinen Streit, Dad war bester Laune, alles war gut. Das war ja nicht selbstverständlich. Aber an Weihnachten war auch er zufrieden.

Weil es noch Nachtisch gab, aßen sie, bis sie sich kaum noch rühren konnten. Einzig Clarice hatte da Schwierigkeiten, denn das Baby drückte so sehr auf ihre Organe, dass sie kaum noch etwas essen konnte. Aber es dauerte ja nicht mehr lang. Kim und Kristy waren beide sehr aufgeregt und freuten sich auf ihren kleinen Bruder.

Nachdem Clarice abgeräumt hatte, holte Rick eins ihrer Brettspiele aus dem Schrank und baute alles auf. An Weihnachten durften die Mädchen länger aufbleiben und sie spielten gemeinsam Spiele. Das liebte Kim an Weihnachten. Im Radio liefen die Weihnachtslieder, die sie so mochte, und sie war mit ihrer Familie zusammen.

Als Nächstes spielten sie gemeinsam Mensch ärgere dich nicht. Kristy fiel das immer sehr schwer, denn sie war eine schlechte Verliererin. Deshalb liebte Kim es, sie aufs Korn zu nehmen und jagte mit Vorliebe ihre Figuren. Als Kristy irgendwann zickig wurde, rief Rick seine Tochter streng, aber immer noch liebevoll zur Ordnung.

Doch schließlich war es soweit, dass die Mädchen schlafen gehen mussten. Sie gaben ihrem Vater einen Gutenachtkuss, bevor ihre Mutter sie nach oben begleitete und ihnen dabei half, sich bettfertig zu machen. Die Mädchen zogen ihre Nachthemden an, putzten sich die Zähne und legten sich dann in ihre Betten.

„Freut ihr euch schon auf eure Geschenke?“, fragte Clarice die beiden.

„Ja!“, riefen sie wie aus einem Munde. Sie waren so aufgeregt wegen der Bescherung am nächsten Tag. Mit funkelnden Augen blickte Kim an die Decke, als ihre Mutter sie bis an die Nasenspitze zugedeckt hatte. Sie drehte sich noch einmal zu ihren Töchtern um und hauchte ihnen einen Kuss zu, bevor sie das Licht löschte und die Tür heranzog. Sie schloss die Tür nie ganz, weil die beiden das nicht mochten.

Als Clarice unten ins Wohnzimmer kam, saß Rick mit den Füßen auf dem Schemel vor dem Fernseher und zappte durch Weihnachtsfilme und Fernsehshows. Clarice setzte sich daneben und schaute schweigend zu.

Sie merkte nicht, dass Rick nur auf den Moment wartete, in dem sie müde wurde und schlafen ging. Im Moment, da sie hochschwanger war, passierte das nicht allzu spät. Es war noch vor Mitternacht, als sie langsam aufstand und sagte: „Ich gehe ins Bett. Kommst du auch?“

„Später“, sagte er. „Ich bin noch nicht müde. Du musst nicht warten.“

Sie nickte nur und nahm es zur Kenntnis. Er hatte noch etwas vor. Sie wusste nicht, was es war, aber sie kannte ihn und es war zwecklos, mit ihm darüber zu diskutieren. Rick achtete nicht weiter auf sie, während sie nach oben ging. Er stierte gedankenlos auf den Fernseher, aber er wartete darauf, dass Clarice sich die Zähne putzte und ins Bett ging. Bald war das Licht aus und alles war still.

Er wusste, wie lang es ungefähr dauerte, bis sie eingeschlafen war. Er wartete noch zwanzig Minuten, dann schaltete er den Fernseher aus, zog sich die Stiefel an und schnappte sich seine Taschenlampe. Seine Jacke zog er bis zur Nasenspitze hin zu, denn es war kalt draußen. Immerhin schneite es nicht.

Es war totenstill und düster auf den Straßen. Niemand war unterwegs. Manche Fenster waren noch hell erleuchtet, er sah Weihnachtsbäume, beleuchtete Vorgärten, Figuren und Lichterketten in Auffahrten und auf Bäumen. Alles war ruhig. Friedlich. Geradezu idyllisch.

Nur ab und zu kam ihm ein Auto entgegen, während er Klamath Falls verließ und tiefer in den Wald fuhr. Den Weg kannte er auswendig. Er war als Kind schon oft dort gewesen ... und nun war er auch immer wieder da. Regelmäßig.

Sie brauchten ja etwas zu essen. Ganz von selbst hielten die Mädchen sich nicht am Leben.

Er parkte auf einer Lichtung, stieg aus und schaltete seine Taschenlampe ein. Auch im Dunkeln kannte er den Weg genau. Das lag daran, dass er meist im Dunkeln da war. Nachts hatte er am meisten Zeit für sie.

Die Umrisse der Jagdhütte tauchten in der Dunkelheit vor ihm auf. Irgendwo im Unterholz raschelte es, aber das kannte er schon. Das waren Tiere, was ihn nicht weiter interessierte.

Er kramte in seiner Winterjacke nach den Schlüsseln für die Hütte und entriegelte die Schlösser. Die Tür quietschte leise, als er sie öffnete. Er schaltete das Licht in der Hütte an und ging schnurstracks zur Falltür, nachdem er die Eingangstür wieder verschlossen hatte.

Da unten wartete sie auf ihn. Die süße Trish, die nun ihr letztes Weihnachten erlebte. Rick öffnete das Vorhängeschloss, schob den Riegel zurück und blickte hinab in das düstere und um diese Jahreszeit bitterkalte Loch.

Da saß sie und starrte zu ihm hoch. Sie hatte sich in eine Decke gehüllt, denn es war wie im Eisschrank da unten. Und eigentlich war sie ja nackt. Ihre Augen wirkten glasig, ihre Haut war aschfahl, ihr Haar fettig und verfilzt. Das blieb nicht aus, schließlich hockte sie schon wochenlang da unten.

Sie zerrte an den Ketten, während sie ihn stumm ansah. Sie hatte schon aufgegeben. Das machte das Ganze weniger reizvoll für Rick. Wenn sie sich nicht wehrten, war es uninteressant. Aber konnte er ihr das verübeln? Er hatte sie entführt, geschlagen, vergewaltigt, gebissen, sie geschnitten, getreten, gefoltert und hungern lassen. Inzwischen wusste er, dass er das nicht unbegrenzt machen konnte. Da gab es natürliche Grenzen.

Die Blicke der beiden trafen sich. Rick grinste. „Fröhliche Weihnachten, Trisha ...“

 

 

Dale City, Virginia: Montag

 

Lautes Maunzen riss Sadie aus dem Schlaf. Mit einem Auge spähte sie auf ihren Wecker und stellte fest, dass er in fünf Minuten sowieso klingeln würde. Figaro stand vor dem Bett und blickte Sadie erwartungsvoll an. Sie war erstaunt, dass zumindest der Kater die Reise so gut weggesteckt hatte.

Sie seufzte kurz, dann schlug sie die Decke zurück und stand auf. Allerdings war sie gar nicht so müde, wie sie erwartet hätte. Dabei stand sie gefühlt noch am Flughafen in Washington. Ihre Maschine aus San Francisco war erst kurz vor Mitternacht gelandet und vor zwei war Sadie nicht eingeschlafen.

Während sie das Schlafzimmer verließ, entdeckte sie keine Spur von Mittens. Vermutlich versteckte sie sich irgendwo, aber sie würde sich schon eingewöhnen.

Die ersten Sonnenstrahlen streckten ihre Finger in die unaufgeräumte Küche aus. Sadie nahm eine Dose Katzenfutter von der Anrichte und gab sie den beiden Samtpfoten in den Napf. Danach machte sie sich auf den Weg ins Bad. Mit der Zahnbürste in der Hand kehrte sie ins Schlafzimmer zurück und betrachtete Matt, der immer noch schlafend im Bett lag. Sein rechter Arm hing aus dem Bett, er wirkte entspannt. Sadie brachte es nicht fertig, ihn zu wecken. Er musste schließlich nicht aufstehen. Er hatte wieder den Dreitagebart, den sie so liebte, und sein kurzes Haar war verwuschelt. Er würde ihr fehlen, aber das tat er in jeder Sekunde, die sie nicht in seiner Nähe verbringen konnte.

Leise zog sie sich um und machte sich ein Frühstück. Sie hatte sich gerade erst in ihrer improvisierten und chaotischen Küche hingesetzt, als Matt aus dem Schlafzimmer kam, sich immer noch den Schlaf aus den Augen reibend.

„Du weckst mich gar nicht“, mokierte er sich.

„Warum sollte ich dich wecken? Du kannst doch ausschlafen“, fragte sie unbekümmert.

„Und dann hast du gleich kaum das Haus verlassen und schon sitzen zwei Monster auf mir, um mich vollzuhaaren. Das ahne ich doch schon!“

Sadie lachte. „Dann bist du wenigstens nicht allein. Übrigens, Mittens ist verschwunden. Bestimmt ist sie noch beleidigt.“

„Tatsächlich? Okay, dann haart mich eben nur der Kater voll.“

„Figaro ist ganz lieb.“

„Ich weiß“, sagte Matt mit einem Lächeln. Er warf einen Blick in den Kühlschrank, fand aber nichts Ansprechendes und lehnte sich daran an, als er die Tür wieder geschlossen hatte.

„Denkst du, ihr habt schon einen neuen Fall?“, fragte er.

„Ich weiß es nicht, aber ich halte dich auf dem Laufenden“, versprach Sadie.

Unmotiviert löste Matt sich vom Kühlschrank und setzte sich Sadie zum Frühstücken gegenüber. Er aß allerdings nicht besonders viel, denn er hatte morgens selten Hunger. Gedankenversunken und immer noch ein wenig müde starrte Sadie Löcher in die Luft, bis sie bemerkte, wie Matt sie ansah.

„Was ist los?“, fragte sie.

„Ich bewundere nur wieder deine wunderschönen roten Haare.“

Verlegen lächelte sie. „Du bist ein Charmeur, Matt.“

„Nein, ich meine das ernst. Das ist so selten. Ich finde das toll.“

Sadie spürte regelrecht, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie liebte Matt für diese Aufmerksamkeiten. Dabei verstand sie noch immer nicht so ganz, was dieser gutaussehende, trainierte Polizist eigentlich an ihr fand. Sie hatte ihn so lang zappeln lassen – und nun, obwohl sie erst seit wenigen Wochen zusammen waren, hatten sie nicht nur schon eine gemeinsame Wohnung, sondern sie waren ganz ans andere Ende der USA gezogen. Dabei war Sadie nicht sicher, ob sie es ohne Matt gewagt hätte, wirklich noch einmal zum FBI nach Quantico zu gehen.

Nach dem Frühstück räumte Sadie schnell den Tisch ab und packte ihre Tasche. Matt wühlte gerade in einem der noch nicht ausgepackten Umzugskartons herum.

„Pass mir gut auf die Katzen auf, ja?“, bat Sadie, als sie kurz den Kopf durch die Tür steckte.

„Die passen wahrscheinlich eher auf mich auf.“

Sie grinste. Allerdings beschäftigte es sie, wie es ihren geliebten Katzen ging. Verstaut im Frachtraum eines Flugzeugs hatten sie sich bestimmt nicht wohl gefühlt, aber Sadie hatte keine andere sinnvolle Möglichkeit gesehen, die Tiere mitzunehmen.

Sie griff nach ihrem Autoschlüssel und schulterte ihre Tasche. Matt kam ihr im Flur entgegen, deshalb fing sie ihn schnell ab und gab ihm einen Abschiedskuss.

„Ich liebe dich“, sagte sie.

Er lächelte. „Ich dich auch. Bis heute Abend.“

Sie blickte noch einmal über die Schulter zurück, bevor sie das Apartment verließ und sich in ihr Auto setzte. Auf der Interstate war zu dieser Zeit viel Verkehr, aber Sadie fuhr glücklicherweise in die entgegengesetzte Richtung. Das war morgens auf dem Weg nach Quantico ein unschätzbarer Vorteil.

Der Weg führte durch Wälder und das kleine Dorf, das sich in der Nähe der Marinebasis und des FBI-Hauptquartiers angesiedelt hatte. Es war eine seltsame Gegend, aber Sadie fühlte sich dort nicht unwohl. Sie stellte ihren Wagen auf dem riesigen Parkplatz des FBI ab und machte sich auf den Weg zum Gebäude. Sie hatte das Büro kaum betreten und gerade erst ihre Reisetasche im Abstellraum verstaut, als Nick vor ihr stand. Supervisory Special Agent Nick Dormer war nicht nur Sadies Chef, sondern auch so etwas wie ihr Vorbild.

„Du bist es“, sagte Sadie überrascht.

„Wie war dein Wochenende?“, erkundigte er sich. Der Enddreißiger mit den dunklen Haaren trug immer perfekt sitzende Anzüge.

„Es war schön“, sagte Sadie und fügte hinzu: „Wir haben viel geredet.“

„Das ist gut zu hören“, erwiderte Nick. Er wusste gleich, wovon sie sprach. „Gleich um neun setzen wir uns zusammen. Das übrige Team weiß noch nicht über deine Identität Bescheid, aber jetzt ist der richtige Zeitpunkt, es ihnen zu sagen. Was meinst du?“

„Ich bin das Thema zwar leid, aber du hast recht. Bringen wir es hinter uns“, sagte Sadie und meinte es auch so.

„Ich habe übrigens am Freitag noch mit dem Rekrutierungsteam gesprochen“, fuhr Nick fort und riss sie damit aus ihren Gedanken.

Sofort begann Sadies Herz, schneller zu schlagen. „Und?“

„Ich habe ihnen gesagt, dass ich Matt persönlich kennengelernt habe und ihn für einen aussichtsreichen Kandidaten halte. Sie sagten, sie würden sich in den nächsten Tagen entscheiden, aber sie haben die Fürsprache interessiert angenommen.“

„Wirklich?“, fragte Sadie hoffnungsvoll.

„Ich denke, das wird klappen.“

„Das wäre wunderbar!“ Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Damit stand Matts alter Traum vom FBI doch nicht auf der Kippe. Dabei hatte er sich nach der vergeigten Schießprüfung solche Sorgen gemacht.

Nick lächelte ihr zu, dann verschwand er in Richtung Kaffeeküche. Sadie folgte ihm und holte sich etwas zu trinken, dann setzte sie sich in den Besprechungsraum. Dort war sie nicht allein, Ian war schon da.

„Guten Morgen“, begrüßte er sie freundlich. „Wie ist das Wetter in Kalifornien?“

„Ganz schön heiß“, erwiderte Sadie. „Hier ist es um die Zeit schon deutlich angenehmer.“

„Ich bin froh, dass wir am Wochenende nicht angefordert wurden. Aber vielleicht erfahren wir ja gleich, was unser nächster Fall ist.“

Sadie lächelte, sagte aber nichts dazu. Der Gedanke, sich gleich den Blicken und Fragen der Kollegen stellen zu müssen, beunruhigte sie doch ein wenig. Natürlich hatte sie nichts zu befürchten, aber alles, was mit ihrem Vater zu tun hatte, machte sie nervös.

Schweigend hörte sie den Kollegen beim Plaudern zu, als sie nacheinander den Raum betraten und Platz nahmen. Belinda lachte laut und fröhlich, David hatte ihr einen Witz erzählt. Jim und Alexandra hatten sich neben Ian gesetzt. Nick stieß als letzter dazu und nahm unweit von Sadie Platz. Nur Cassandra befand sich noch zwischen ihnen.

„Guten Morgen allerseits“, begrüßte Nick sein Team. „Ich hoffe, ihr habt alle das Wochenende genutzt, um euch ein wenig zu erholen. Ich möchte heute mit etwas beginnen, das vermutlich überraschen wird.“

„Jetzt bin ich gespannt“, sagte Ian und wirkte dabei gleichzeitig unbefangen und neugierig. Sadies Puls schoss in die Höhe.

Nick warf ihr einen Blick zu, bevor er fortfuhr. „Ihr habt letzte Woche in Utah alle mitbekommen, dass der Serienmörder Rick Foster, der vor kurzem noch mit der Umwandlung seiner Todesstrafe von sich reden gemacht hat, geflohen ist. Bis jetzt befindet er sich auf freiem Fuß.“

„Warum auch immer“, unkte Jim.

Dormer ging nicht darauf ein. „Ihr fragt euch jetzt sicher, warum uns das interessiert. Schließlich sind wir nicht der Marshal Service, der ihm seitdem auf den Fersen ist. Wir haben aber trotzdem einen guten Grund, uns damit zu beschäftigen, und der heißt Sadie.“

Obwohl Sadie die Blicke ihrer Kollegen auf sich spürte, verzog sie keine Miene. Ihr war heiß.

Nick machte eine kurze Pause und sah sie an. „Ich kann weitermachen, wenn du willst.“

Sadie nickte. Sie hatte Angst, dass sie kein Wort herausbekam.

„Vielleicht erinnern einige von euch sich noch daran, dass er in der Nacht, in der er seine Familie getötet hat, zum Glück nicht ganz erfolgreich war. Seine Tochter Kim ist ihm entkommen“, fuhr Nick fort. Noch wirkten die Gesichter der anderen unbeteiligt.

„Kim Foster wurde damals im Zeugenschutzprogramm aufgenommen und hat eine neue Identität erhalten.“ Er machte eine kurze Pause. „Ihr neuer Name lautet Sadie Scott.“

Es war totenstill. Sadie versuchte, den nun überraschten Blicken der anderen standzuhalten, was ihr nicht leicht fiel. Ian war erstaunt, Belinda wirkte betroffen. Die Gesichtsausdrücke der anderen ähnelten diesen in verschiedenen Abstufungen. Dann fuhr Nick fort.

„Ich wusste davon, seit Sadie sich hier beworben hat. Allerdings habe ich es ihr nie gesagt, um ihre Tarnung aufrecht zu erhalten. Das ist leider letzte Woche hinfällig geworden, denn Rick Foster hat auch herausgefunden, wie sie jetzt heißt. Das ist ein weiterer Grund für mich, es euch auch zu sagen. Solange er auf freiem Fuß ist, ist Sadie in Gefahr. Das sollten wir uns alle bewusst machen und ein Auge auf sie haben.“ Er atmete tief durch. „Hat jemand Fragen?“

Im ersten Moment sagte niemand ein Wort. Belinda fing sich zuerst, blickte zu Sadie und sagte: „Ich erinnere mich an den Fall. Es tut mir sehr leid, das zu hören, Sadie. Es ist traurig, dass du das erleben musstest.“

Nervös erwiderte Sadie Belindas Blick und lächelte scheu, bevor sie sich räusperte. „Es ist okay ... aber danke, Belinda.“

„Das ist mein Ernst“, betonte ihre Kollegin. „Ich kann mir nicht wirklich vorstellen, wie dir zumute sein muss.“

„Ich mir auch nicht“, gab Alexandra zu.

„Das kann ich verstehen“, sagte Sadie, die sich nun langsam wieder fing. „In den letzten Tagen habe ich viele dieser Gespräche geführt und zu jedem gesagt: Ich habe fünfzehn Jahre Vorsprung vor euch. Ich habe längst verarbeitet, was ihr gerade erst erfahrt. Und wie ihr euch denken könnt, ist mein Vater der Grund dafür, dass ich heute hier bin. Vor zehn Jahren habe ich mich gefragt, wer ich bin und ob etwas von ihm in mir steckt.“

Ian schüttelte den Kopf. „Unfug.“

„Damals war ich nicht so sicher. Aber ich bin erst zur Polizei gegangen und heute bin ich hier. Ich will verstehen, warum mein Vater ist, wie er ist. Ich will verhindern, dass so etwas passiert – damit niemand das erleben muss, was ich erlebt habe.“

„Das glaube ich dir“, sagte Cassandra.

„Das ist schlimm“, sagte Alexandra. „Ich denke, ich spreche hier für alle, wenn ich sage, dass wir keinerlei Vorbehalte haben.“ Die anderen nickten zustimmend. „Aber du hast schlimme Erfahrungen gemacht und das tut mir leid. Wie alt warst du, als das passiert ist?“

„Er hat vor meiner Geburt mit dem Morden begonnen und als er aufgeflogen ist, war ich elf“, sagte Sadie. „Meine Mutter ist hinter sein Geheimnis gekommen. An dem Abend hat er sie und meine Geschwister erschossen. Mich hat er am Rücken erwischt, aber ansonsten hatte ich Glück. Danach habe ich bei meinem Onkel und meiner Tante gelebt.“

„Und er ist immer noch frei?“, fragte Ian kopfschüttelnd. „Drehen die Marshals Däumchen?“

„Überhaupt nicht“, sagte Nick, „aber Foster ist gerissen. Er ist ja auch damals nur rein zufällig aufgeflogen. Zuletzt wurde er in Nevada gesehen, seitdem ist er wie vom Erdboden verschluckt.“

„Können wir denn da nicht helfen?“, fragte Belinda.

Während Nick zu einer Antwort ansetzte, spürte Sadie, wie das Handy in ihrer Tasche vibrierte. Sie wollte zwar nicht unhöflich sein, aber im Augenblick konnte jeder Anruf wichtig sein. Vielleicht war es der Marshal.

Nick bemerkte zwar, wie sie das Handy aus der Tasche zog, aber er sprach unbeirrt weiter. Sadie schielte aufs Display und entdeckte Phils Namen.

„Ist es der Marshal?“, fragte Nick, dessen Gedankengänge Sadies ähnelten.

Sie schüttelte den Kopf. „Es ist mein Polizeikollege zu Hause in Waterford.“

Dormer nickte. „Mach nur. Ich kann so lange warten. Vielleicht ist es wichtig.“

Sadie lächelte kurz und hielt ihr Handy fest in der Hand, als sie auf den Flur vor dem Besprechungsraum ging. Dort nahm sie das Gespräch an.

„Phil, was ist los? Warum rufst du so früh an?“, fragte Sadie. Ihr war bewusst, dass es in Waterford noch früh am Morgen war.

Sie hörte Phil am anderen Ende der Leitung atmen und da waren auch weitere Hintergrundgeräusche, aber er antwortete nicht gleich.

„Sadie, ich ...“ Er brach ab. „Ich stehe im Haus deiner Familie. Bei Norman und Fanny. Sie ...“ Wieder fehlten ihm die Worte.

„Was ist los?“, fragte Sadie mit zitternder Stimme. Ihr wurde heiß vor Angst. „Geht es ihnen gut?“

Zögerlich antwortete Phil: „Er war hier, Sadie. Dein Vater. Er ...“

Sadies Blick ging ins Nichts. Sie lehnte sich an die Wand, weil ihre Knie weich wurden. „Phil, was hat er getan?“

Seine Stimme zitterte nun ebenfalls. „Er hat sie angegriffen.“ Er holte tief Luft. „Fanny ... sie ist tot. Norman wird gerade operiert.“

Sadie konnte nicht antworten, ihr blieb die Luft weg. In ihrem Kopf hallten nur Phils Worte nach. Ihre Knie wurden weich.

Nick erschien in der Tür des Besprechungsraums. Als er sah, dass Sadie in sich zusammenzubrechen drohte, war er mit zwei Schritten bei ihr und fing sie auf.

„Es tut mir so leid“, sagte Phil am Telefon gepresst.

Sadie begann zu schluchzen. Ihr fiel das Telefon aus der Hand, sie schaffte nicht mehr, es festzuhalten. Nick hielt sie fest umklammert und strich ihr über den Rücken. Er stellte keine Fragen.

Sie sah nur noch Tränen. Die Verzweiflung war so groß, dass sie kaum atmen konnte. Angestrengt schnappte sie nach Luft, zitterte am ganzen Leib und weinte laut.

In der Tür erschienen die anderen Kollegen, doch das sah Sadie nicht. Cassandra beugte sich hinab zu Sadies Handy und hielt es sich ans Ohr. Nick, der immer noch Sadie im Arm hielt, warf Cassandra einen fragenden Blick zu, während sie mit Phil sprach. Schließlich beendete sie das Gespräch blickte ernst in die Runde.

„Rick Foster ist in Waterford aufgetaucht, heute Nacht. Er hat Sadies Onkel und Tante angegriffen. Der Onkel wird noch notoperiert, aber ...“

Mit Blick auf Sadie wagte sie es nicht, die Wahrheit auszusprechen, doch das war nicht nötig. Alle verstanden.

Nick kräuselte die Lippen und griff Sadie unter die Arme, um sie zurück in den Besprechungsraum zu bringen. Zitternd sank sie auf ihren Stuhl und schloss die Augen, immer noch weinend. Cassandra blieb hinter Sadie stehen und legte beruhigend eine Hand auf ihre Schulter.

„Verdammt“, murmelte Ian und nahm wieder Platz. Belinda reichte Sadie ein Taschentuch, während Nick sich vor die Leinwand stellte.

„Wir fordern uns jetzt selbst an“, sagte er entschlossen. „Wir fliegen hin und suchen den Kerl. Das muss ein Ende haben.“

Sadie wischte sich die Tränen ab und blickte zu ihren Kollegen. „Das ist meine Schuld ...“

„Jetzt red keinen Unsinn“, wehrte Nick ab. „Aber damit muss jetzt Schluss sein. Du weißt, wir mischen uns ungern ungebeten ein, aber jetzt hat er uns jeden Grund geliefert. Er läuft frei herum und mordet wieder und er wird nicht aufhören, bis er vor dir steht. Das kann ich unmöglich zulassen – nicht nur, weil du zu uns gehörst.“

„Wir finden ihn“, sagte Ian.

„Fliegen wir nach Kalifornien“, sagte Nick. „Wer will mit?“

Cassandra und Ian meldeten sich sofort. Dormer nickte zufrieden und sagte: „Ich denke, das sollte genügen. Danke für eure Einsatzbereitschaft.“

Sadie sagte nichts. Sie wusste nicht, was. Innerlich fühlte sie sich wie tot. In ihrem Kopf waren gleichzeitig tausend Gedanken und keiner.

„Können wir sonst irgendwas für dich tun?“, fragte Cassandra.

Sadie lachte bitter. „Ein neues Leben könnt ihr wohl nicht für mich erfinden.“

„Nein, aber wir werden diese Episode jetzt zu einem Ende bringen“, sagte Nick. „Das ist jetzt unser neuer Fall. Ich sorge dafür, dass der Jet so schnell wie möglich startklar ist. Holt eure Sachen.“

Während die anderen ausschwärmten, nahm Nick wieder Platz. Er hatte schon begonnen, auf dem Telefon zu wählen, als Sadie fragte: „Nick, ist es okay für dich, wenn ich Matt anrufe und ...“ Sie brach ab und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht, aber Nick wusste, was sie fragen sollte.

„Er kann mit. Natürlich. Ruf ihn an.“

Sadie nickte langsam, nahm ihr Handy vom Tisch und stellte sich auf den Gang, um Nick beim Telefonieren nicht zu stören. Sie wählte ihre eigene Festnetznummer und Matt war auch ziemlich schnell am Telefon.

„Wo geht’s hin?“, fragte er gleich. Seine unbefangene Stimme zu hören, machte alles noch surrealer für Sadie.

„Matt ...“ begann sie leise und atmete tief durch. Ihre Stimme zitterte noch immer. „Kannst du herkommen?“

„Klar kann ich ... was ist los? Weinst du?“

„Mein Vater ...“ stammelte sie und schniefte. „Er hat Norman und Fanny in Waterford gefunden.“

Für einen Augenblick war es totenstill. „Bitte was? Was heißt das?“

„Phil hat mich gerade angerufen. Er sagte ...“ Erneut kamen Sadie die Tränen. „Er sagte, dass Fanny tot ist ... und Norman operiert wird.“

Matt antwortete nicht. Er wusste nicht, was er sagen sollte.

„Das ist meine Schuld ...“ schluchzte sie.

„Nein, so fängst du jetzt gar nicht erst an. Ich packe schnell meinen Rucksack und bin gleich bei euch. Ist das okay für deinen Chef?“

„Ja, er ist einverstanden.“

„Ich frage unten bei Mrs. Andrews, ob sie nach den Katzen schaut.“

„Ja, danke ... du denkst an alles.“ Sadie war nicht sicher, ob sie daran gedacht hätte.

„Bin gleich bei euch“, versprach Matt. „Fliegt nicht ohne mich los!“

Damit legte er auf und ließ Sadie mit ihren Grübeleien allein. Sie ging wieder hinein in den Besprechungsraum, wo Nick ebenfalls gerade sein Gespräch beendete.

„Der Jet ist in einer Stunde startklar. Bis dahin ist Matt doch auch hier?“

Sadie nickte. „Das schafft er. Danke, dass du nichts dagegen hast.“

Nick schüttelte den Kopf. „Er kann uns helfen. Außerdem hat er rund um die Uhr ein Auge auf dich. Seine Anwesenheit wird dir guttun.“

„Ist trotzdem nett von dir.“ Sie wischte sich über die Augen und atmete tief durch. Obwohl sie wusste, dass es Unsinn war, war ihr dieser Ausbruch peinlich.

Nick lächelte. „Ist doch klar. Ich brauche jetzt vor allem dich. Du kennst deinen Vater. Aber das wird hart für dich und da ist solche Hilfe nicht verkehrt.“

Sadie nickte langsam. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. „Vielleicht solltest du mit Chief Eamon in Waterford sprechen. Mein alter Chef. Er wird wissen wollen, dass wir kommen.“

„Ja, das kann ich gern tun. So viel Zeit haben wir noch. Mit dem Marshal Service spreche ich jetzt erst mal nicht, die glaubten ja, alles im Griff zu haben ...“

„Daran sind die nicht schuld. Ich hatte auch meinen Kollegen gebeten, ein Auge auf das Haus meiner Familie zu haben. Aber ...“ Sie brach ab.

„Wir haben das alle unterschätzt. Ich hätte auch nicht damit gerechnet, dass dein Vater jetzt schon dort auftaucht und dann gleich so ausrastet“, gab Nick zu.

„Aber jetzt hat er, was er will“, sagte Sadie bitter. „Ich komme vorbei.“

Dazu sagte Nick nichts. Er ließ sich von Sadie Mike Eamons Nummer diktieren und hatte ihn auch gleich am Apparat.

„Chief Eamon, hier spricht Supervisory Special Agent Nick Dormer vom FBI. Neben mir sitzt Sadie Scott.“

„Oh, Agent ... mit Ihnen hätte ich jetzt noch nicht gerechnet“, dröhnte Mikes Stimme aus dem Lautsprecher. „Sadie ist bei Ihnen?“

„Wir haben vorhin erfahren, was passiert ist.“

„Ja, ich habe Officer Richardson gebeten, es ihr zu sagen. Was kann ich für Sie tun?“

„Wir können etwas für Sie tun, Chief. Wir wollen nach Waterford kommen, um Sie bei der Suche nach Rick Foster zu unterstützen.“

Mike zögerte kurz. „Sie glauben also, dass er dahinter steckt.“

„Wissen Sie Bescheid über die wahre Identität von Sadie Scott?“

„Ja ... letzte Woche sagte mir ein Marshal, dass wir mit Besuch von Rick Foster rechnen müssten. Aber ...“ Er brach ab.

„Mike, ich bin es“, sagte Sadie. „Es ist okay, du kannst nichts dafür. Ich habe ja noch mit meinem Onkel gesprochen und selbst er hat sich nicht in Gefahr gesehen, wie du weißt.“

Mike seufzte laut. „Ach, Sadie ... ich hatte ja keine Ahnung. Als der Marshal hier anrief und sagte, wir sollten nach Rick Foster Ausschau halten, habe ich erst überhaupt nichts begriffen. Er hat mir dann gesagt, dass wir ein Auge auf deine Familie haben sollen und da bin ich dann von selbst drauf gekommen. Phil sagte mir vorhin, dass er es ohnehin schon wusste. Ich hatte überlegt, dich anzurufen, aber ich dachte, du willst bestimmt deine Ruhe ...“

„Schon in Ordnung, Mike. In ein paar Stunden sind wir bei euch und gehen das zusammen an“, sagte Sadie und klang dabei bedeutend ruhiger, als sie eigentlich war.

„Wenn du das so sagst, klingt das sehr abgeklärt“, stellte auch Mike gleich fest.

„Bin ich nicht“, sagte Sadie. „Aber ich bin wütend. Ich bin wütend, seit er seinen Deal gemacht hat. Und jetzt ...“ Sie schnappte nach Luft und wischte eine Träne weg. „Er hat meine Tante getötet.“

„Die Prognose für deinen Onkel ist gut“, sagte Mike. „Sadie, ich weiß nicht, ob du dir den Tatort ansehen wirst. Das ist nicht schön.“

Nick und Sadie tauschten einen Blick, dann fragte Sadie: „Was ist passiert?“

Mike holte tief Luft. „Er hatte ein Messer dabei. Es ist alles voller Blut. Kein schöner Anblick.“

Sadie nickte langsam. „Sieht ihm ähnlich. Und ihr habt keine Ahnung, wo er ist?“

„Nein. Wir wissen nur, dass er dich sucht. Er ...“ Mike zögerte. „Er hat mit Blut riesengroß den Namen Kim an die Wand geschmiert. Über dem Bett.“

Erneut tauschten Nick und Sadie einen Blick, dann sagte Nick: „Wir sind kurz vor Mittag da, wir landen in Modesto.“

„Alles klar, wir holen Sie ab.“

Sie beendeten das Gespräch und Nick stand auf. Bevor er den Raum verließ, sagte er: „Wir werden dir helfen, Sadie. Das kriegen wir hin.“

Ein kurzes Lächeln war die einzige Antwort, die Sadie zustande brachte. Langsam stand sie ebenfalls auf und ging zur Tür. Im Büro herrschte Hochbetrieb. Als Cassandra Sadie in der Tür entdeckte, kam sie gleich herüber und blieb mit nachdenklicher Miene vor Sadie stehen.

„Tut mir leid, was passiert ist“, sagte sie.

Sadie nickte dankbar. „Nett von dir. Ich weiß überhaupt nicht, was ich sagen oder denken soll ... da fängt es eigentlich schon an.“

Mitfühlend legte Cassandra eine Hand auf ihre Schulter. „Das ging ja alles Schlag auf Schlag. Die anderen sind schon voll bei der Sache. Sie brennen darauf, dir zu helfen. Ein Serienmörder läuft frei herum? Da fühlen sie sich angesprochen. Diesmal besonders.“

„Und ich würde mich am liebsten eingraben“, erwiderte Sadie.

„Kann ich verstehen, aber das musst du nicht. Du hast eine Menge Unterstützung.“

Dessen war Sadie sich bewusst, aber sie fühlte sich trotzdem schrecklich. Cassandra kehrte schließlich wieder zu ihrem Schreibtisch zurück und Sadie stand verloren in der Tür, fühlte sich innerlich wie tot.

Tot. Das war so ein endgültiges Wort. Allmählich wurde ihr wieder bewusst, dass Phil es kurz zuvor benutzt hatte. Er hatte von Fanny gesprochen ...

Sadie lehnte sich an die Wand und schloss die Augen, aber die Tränen kamen trotzdem. Fanny war ihre Mutter gewesen. Nicht ihre leibliche, aber sie hatte sie mit Liebe und Verständnis großgezogen. Sie hatte Sadie das schönste Zuhause bereitet, das sie sich hatte wünschen können. An Fanny hatte sie sogar fast noch mehr Erinnerungen als an ihre richtige Mutter.

Am Vortag hatte sie sie noch gesehen, mit ihr gesprochen. Am Flughafen hatte Fanny sie zum Abschied liebevoll umarmt.

Und nun hatte ihr Vater Fanny getötet. Sadie wusste, was das hieß. Es musste blutig und brutal gewesen sein. So war ihr Vater nun einmal. Und bei Norman und Fanny machte er gewiss keine Ausnahme ...

Zitternd wischte Sadie sich die Tränen weg und ging zur Toilette. Dort war wenigstens niemand. Sie stützte sich auf eines der Waschbecken und starrte ihr eigenes Spiegelbild an.

War sie Sadie Scott oder Kim Foster? Zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren stellte sie sich diese Frage ernsthaft. Irgendwann hatte sie begonnen, sich einzureden, dass sie Sadie Scott war. Und das sogar mit großem Erfolg. Aber jetzt war dieser nagende und bohrende Zweifel wieder da.

Sadie Scott war in Waterford zur Schule gegangen. Sie hatte einen Collegeabschluss gemacht, war Polizistin geworden und nun FBI-Agentin. Sadie Scott hatte einen Freund und zwei Katzen.

Aber nun waren die Leben von Sadie Scott und Kim Foster kollidiert. Kim Fosters Vater hatte die Eltern von Sadie Scott angegriffen. Das machte sie wütend, mehr noch, als dass es sie schockierte. Dabei schockierte es sie bereits gehörig.

Sie waren alle naiv gewesen. Hatten geglaubt, dass Rick Foster nicht die Frechheit besaß, so weit zu gehen. Oder dass er keinen Grund hätte. Aber jetzt, wo es passiert war, wusste Sadie, dass er überhaupt keinen Grund brauchte. Er war einfach böse. Der klassische Soziopath, wie sie heute wusste.

Sie starrte immer noch ihr Spiegelbild an. Natürlich hatte man sie als Rick Fosters Tochter erkannt. Sie hatte seine Augen, das konnte sie selbst deutlich sehen. Das hatte sie noch nie so gequält wie an diesem Tag, jedenfalls nicht, dass sie sich erinnern konnte und nicht auf diese Weise.

Sie verließ die Toilette wieder und holte ihre Tasche aus der Abstellkammer. Kaum dass sie mit der Tasche in der Hand zurückkehrte, blieb sie überrascht mitten im Gang stehen. In der Tür stand, mit seinem großen Rucksack über der Schulter, Matt. Zögerlich schaute er sich um und wirkte ein wenig eingeschüchtert, aber als er Sadie entdeckte, fasste er sich ein Herz und ging auf sie zu. Neben ihr ließ er den Rucksack fallen und umarmte sie wortlos. In diesem Moment war es Sadie egal, dass sie mitten im Raum stand und alle sehen konnten, wie sie den Kopf an seiner Schulter vergrub und nicht länger gegen die Tränen kämpfte.

Er strich ihr über den Rücken und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Da bin ich.“

An seinem Hemd war ein Besucherausweis festgeklemmt. Berührungsängste mit der Behörde hatte er nicht mehr, schließlich hatte er sie schon öfter besucht. Sadie konzentrierte sich ganz auf seine Wärme und seinen Geruch, denn dadurch beruhigte sie sich schnell. Schließlich ließ sie ihn wieder los und wischte sich scheu über die Augen.

„Mr. Whitman“, begrüßte Dormer ihn mit Handschlag. Matt erwiderte die Begrüßung und nickte ihm zu.

„Danke, dass ich mitfliegen darf“, sagte er. Nick lächelte erst nur, aber als Sadie ihre Tasche und Matts Rucksack zum Gepäck der anderen brachte, nutzte Nick gleich die Gelegenheit und sagte: „Die Situation ist außergewöhnlich für uns. Jetzt haben wir jemanden im Team, der genau weiß, mit wem wir es zu tun haben. Ich brauche jemanden, der Sadie aufrecht hält und außerdem ein Auge auf sie hat. Ich denke, Sie können sehr hilfreich sein.“

Matt wollte schon etwas erwidern, aber da kam Cassandra auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand. „Schön, Sie wiederzusehen.“

Matt nickte ihr mit einem Lächeln zu, sagte aber nichts. Cassandra ging weiter zu Sadie und sprach mit ihr.

„Das muss aufhören“, sagte Matt zu Nick.

Der Chef der Einheit nickte bloß. Er war der gleichen Ansicht.

 

***

 

Die Erkenntnis kam langsam. Sadie hatte den Kopf gegen die Lehne des Flugzeugsitzes gedrückt und die Augen geschlossen. Sie versuchte schon, alle Einflüsse von außen zu verbannen, doch es gelang ihr nicht. Sie hörte das Summen der Turbinen, die Stimmen der anderen, spürte Matts Hand auf ihrer.

Und sie hatte ein Gefühl, als müsse sie ersticken. Oder als säße ein Elefant auf ihrer Brust, der verhindern wollte, dass sie atmete. So hatte sie noch nie empfunden – nicht einmal in dem Moment, als ihr Vater damals alles zerstört, ihre Familie ermordet und auch auf sie geschossen hatte. Damals waren alle ihre Sinne auf Flucht gerichtet gewesen. Sie hatte Adrenalin im Blut gehabt, Herzrasen, Schweißausbrüche. Das war jetzt anders, jetzt fühlte sie sich in die Ecke gedrängt und allem ausgeliefert. Hatte sie je irgendetwas beeinflussen können? Alles passierte immer, ohne dass sie je Einfluss darauf gehabt hätte.

Das musste sich ändern. Sie musste ihren Vater in die Schranken weisen, bevor er noch mehr Menschen verletzte oder tötete.

Sadie fragte sich, ob Joanna und Gary es schon wussten. Danach hatte sie Phil nicht gefragt. Hoffentlich sagte es ihnen irgendjemand, damit sie es nicht tun musste. Sie konnte es nicht. Es war doch ihre Schuld ...

Sie merkte nicht, wie Matt sie von der Seite ansah. Er konnte fast am eigenen Leib spüren, wie sie litt. Ihre Gesichtszüge waren verhärtet, sie hatte die Lippen gepresst, ihre Hand war verkrampft. Verdenken konnte er es ihr nicht. Er konnte sich nicht wirklich vorstellen, wie es ihr ging, aber Agent Dormers Worte gingen ihm nicht aus dem Kopf. Es überraschte ihn nicht, dass SSA Dormer ihm gleich ins Gesicht gesagt hatte, dass er ihn aus strategischen Gründen dabei haben wollte. Im ersten Moment hatte es Matt überrascht, dass Dormer sofort beschlossen hatte, auf die Suche nach Rick Foster zu gehen. Aber auch nüchtern betrachtet gab es genügend gute Gründe, Rick Foster zu jagen. Er hatte gerade bewiesen, dass er zu allem fähig war. Je länger er auf freiem Fuß war, desto schlechter. Das brachte Menschenleben in Gefahr. Dass er hinter Sadie her war, war nur noch die Krönung des Ganzen.

Und Dormer hatte recht, Sadie war diejenige, die sie Foster am nächsten bringen konnte. Das klappte aber nur, wenn sie nicht vor Schmerz und Trauer wie gelähmt war. Irgendwo fand Matt das berechnend, aber Dormer hatte Recht und er war froh, dabei zu sein. Er hätte Sadie in diesem Moment nicht allein lassen wollen.

„Es wird noch etwas dauern, bis wir mit Norman Scott reden können“, sagte Dormer in die Runde und riss damit alle aus ihren Gedanken. „Sadie, hast du eine Vermutung, warum dein Vater die beiden so attackiert hat?“

Sadie nickte. „Weil er die Gelegenheit dazu hatte. Ich glaube, das ist der Grund. Schlicht und ergreifend. Er mochte Norman nie, daraus hat er kein Geheimnis gemacht. Die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit.“

„Aber warum greift er Fanny dann so an?“

Sadie schüttelte unwirsch den Kopf. „Warum hat er seinen sechsjährigen Sohn erschossen?“

„Was vermutest du, was er bei den beiden gewollt hat?“

„Er wollte wissen, wo ich bin. Fragen wir Norman, wenn er wieder bei Bewusstsein ist. Ich wette, er wird uns das bestätigen.“

„Denkst du, er hat es ihm gesagt?“, fragte Nick.

„Ich weiß es nicht. Warum fragst du? Wir werden es doch von Norman erfahren.“

„Sicher, nur versuche ich vorab, mir ein Bild zu machen. Denkst du, dein Vater hasst die beiden dafür, dass sie dich großgezogen haben? Könnte er glauben, dass sie dich ihm weggenommen haben?“

Irritiert sah Sadie ihn an. „Er wollte mich umbringen. Warum sollte ihn interessieren, ob sie mich ihm weggenommen haben?“

Nick lächelte und beugte sich vor. „Du bist aufgewühlt, das verstehe ich. Alles, was ich mir wünschen würde, ist, dass du versuchst, dir seine Beweggründe vorzustellen. Du kannst sie am besten einschätzen.“

„Kann ich nicht“, widersprach Sadie impulsiv. „Ich habe ihn seit dreizehn Jahren nicht gesehen.“

Sie war gereizt. Automatisch legte Matt einen Arm um ihre Schultern, um ihr damit Trost zu spenden. Nick hatte Recht, es fiel ihr verdammt schwer.

„Ich frage deshalb so gezielt, weil ich überlege, ob er dir damit eine Falle stellen wollte“, sagte Nick. „Vielleicht erwartet er, dass du herkommst, um ihn zu finden.“

„Kann sein.“ Sie holte tief Luft. „Du glaubst nicht, wie sehr ich ihn hasse.“

„Doch, das verstehe ich. Aber wenn wir ihn finden wollen, ist es wichtig, dass du deine professionelle Distanz bewahrst.“

„Wie soll ich das machen?“, rief Sadie händeringend.

„Wir helfen dir dabei. Ich weiß, dass du das kannst. Auch jetzt. Versuch, deinen Hass auf ihn außen vor zu lassen. Er hat damals alles zerstört, das muss man fraglos anerkennen. Aber woran erinnerst du dich? Was für ein Mensch ist er? Was denkst du, was er jetzt tun wird?“

Nachdenklich wandte Sadie den Blick ins Nichts. Nick hatte recht, sie musste nachdenken. Natürlich war es fünfzehn Jahre her, aber sie war diejenige, die am meisten über ihren Vater wusste. Sie musste sich zusammenreißen und ihren Kollegen Anhaltspunkte liefern. Das würde helfen – das und nichts sonst.

„Er war eben mein Vater“, sagte Sadie. „Ich meine das im Wortsinn, er hat meine Geschwister und mich erzogen, er hat uns gelobt oder getadelt, manchmal bestraft, er hat uns eine Schaukel im Garten gebaut, einen Sandkasten, hat mit uns den Zoo besucht. Das war seine Fassade. Eigentlich hat das auch ziemlich lange funktioniert. Er war nie besonders liebevoll ... aber er hat seine Rolle schon erfüllt. Er hat gearbeitet, die Reparaturen am Haus gemacht, ganz normale Dinge eben. Sehr gemocht hat er Dinge wie Zoobesuche nie, aber er hat es getan. Zumindest, bis ich in die Schule kam. Vielleicht hat es ihn gestrest, dass plötzlich auch noch Toby da war. Wenn mein kleiner Bruder nachts geweint hat, ist mein Vater ausgerastet. Er hat dann herumgebrüllt und meiner Mutter befohlen, dass sie den Kleinen beruhigen soll. Das haben meine Schwester und ich uns immer von unseren Betten aus angehört. Wir hatten ja ein gemeinsames Zimmer. Es war ein schleichender Prozess. Damals hat er begonnen, gelegentlich zu trinken und meine Mutter zu schlagen. Sie hatten öfter Streit.“

„Also würdest du sagen, dass deine Kindheit anfangs recht normal verlaufen ist?“, fragte Nick.

„Ja, schon. Er war immer herrisch, hat getan, was er für richtig hielt und meiner Mutter gesagt, was sie zu tun und zu lassen hatte. Sie sollte kochen und das Haus sauber halten. Und sich um uns Kinder kümmern, natürlich. Er ist oft abends fort gewesen, um zu trinken und er hat sich nie um uns gekümmert, wie meine Mutter es getan hat. Sie war für uns da, wenn wir krank waren oder um uns Gutenachtgeschichten vorzulesen. Besonders glücklich war sie nicht mit ihm, denke ich, aber sie war gefangen in der Situation und hat sich immer sehr liebevoll um uns gekümmert. Wir waren das Wichtigste für sie, glaube ich. Was mein Vater daneben tat, war ihr egal. Bis er angefangen hat, sie zu schlagen.“

„Also ist er durchaus beherrscht“, sagte Nick. „Er hat es lange genug verstanden, keinen Verdacht zu erregen.“

„Ganz genau. Aber als ich in die Schule kam, hat sich das geändert. Er hat meine Mutter angeschrien. Er war nie mit etwas zufrieden, was sie getan hat. Er hat auch uns angebrüllt. Wir hatten Respekt vor ihm und haben ihn gemieden, würde ich sagen. Das war nicht schwer, denn er war oft genug gar nicht da. Meiner Mutter war das sogar lieber, glaube ich, denn so hatte sie ihre Ruhe. Die beiden haben nicht viel miteinander gesprochen. Aber es wurde zunehmend ungemütlich zu Hause. Ich war neun oder zehn, als Kristy begann, sich zu verändern. Sie kam gerade in die Pubertät und hat es geliebt, sich mit ihm anzulegen. Sie war nicht zu Hause, wenn er es wollte, woraufhin sie ihm vorwarf, auch nie zu Hause zu sein. Da hat er auch sie geschlagen. Sie hat öfter nachts in ihrem Bett gelegen und geweint, wenn sie glaubte, dass ich es nicht merke. Ich habe sie gefragt, was nicht stimmt, aber sie hat es mir nicht gesagt. Es war ungefähr ein Jahr, bevor mein Vater ausgerastet ist, dass ich es herausgefunden habe.“ Sadie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und holte tief Luft.

„Ich wollte eigentlich nach der Schule auswärts mit Freunden etwas unternehmen, aber es ging mir nicht gut und so bin ich nach Hause gegangen. Eigentlich habe ich nicht damit gerechnet, dass jemand zu Hause ist und ich habe mich auch nicht besonders leise verhalten. Ich wollte ganz normal in unser Zimmer gehen, aber dann habe ich Stimmen daraus gehört. Mein Vater war bei meiner Schwester und er hat ihr gedroht. Ich bin erst auf der Treppe stehengeblieben und habe zugehört. Er hat ihr eingeschärft, niemandem etwas zu sagen und dann ...“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin hingeschlichen, habe durch den Türspalt gespäht und gesehen, wie mein Vater sie missbraucht hat. Ich habe das nicht gleich begriffen, aber irgendwann war es mir klar. Außerdem habe ich sie überrascht, als sie ihren Slip im Bad ausgewaschen hat. Sie hat geweint. Ich bin zu ihr gegangen, habe einen Arm um ihre Schulter gelegt und wollte sie trösten. Sie konnte das nicht annehmen. Sie sagte, dass ich das vergessen und niemandem sagen solle. Sie hatte Angst vor unserem Vater.“

„Ganz typisch“, sagte Nick.

„Ja, natürlich. Ich habe es auch tatsächlich für mich behalten, denn wir waren Freundinnen. Ich wollte Kristys Vertrauen nicht verraten. Sie war ohnehin die Stärkere und Frechere von uns beiden. Sie hat immer rebelliert und Prügel bezogen. Irgendwie ist sie damit zurechtgekommen.“

„Und du ... du hattest Glück?“, fragte Matt.

„So gesehen schon. Ich habe gemerkt, wie Kristy mich beobachtet hat. Irgendwann nachts im Bett sagte sie zu mir, dass ich es ihr sagen müsste, wenn er mir weh tun würde. Aber das hat er nie. Auf mich hat er nie wirklich geachtet. Ich war immer still und unauffällig. Kristy hat Prügel bezogen, die wollte ich nicht auch.“

Dormer nickte ernst. „Klingt alles ganz typisch. Hast du ihn jemals etwas Grausames tun sehen? Ein Tier töten zum Beispiel?“

Sadie überlegte und nickte schließlich. „Ja, ich habe mit meinen Geschwistern im Garten gespielt, als wir ein Mäusenest gefunden haben. Er kam zufällig vorbei und wollte wissen, was uns da so fasziniert.“ Sie zog die Schultern hoch und schloss die Augen. „Als er die Mäuse gesehen hat ... da hat er in das Nest gegriffen und ein paar Babys herausgezogen. Er ...“

Sie konnte es nicht in Worte fassen. Plötzlich war ihr eiskalt.

„Es hat ihm Vergnügen bereitet, die Tiere zu quälen?“, fragte Nick.

Sadie nickte. „Er hat sie getötet. Sie in die Luft geworfen ... und ... er ist draufgetreten.“ Sie zog die Schultern hoch und schüttelte sich. „Toby hat geheult. Kristy ist schreiend auf ihn losgegangen, aber er hat nur gelacht. Das war alles ein Spiel für ihn.“

„Hat deine Mutter darüber nachgedacht, sich zu trennen?“, fragte Nick.

„Kristy hat ihr öfter gesagt, dass sie es tun soll. Sie konnte es aber nicht. Ich kann mich kaum erinnern, sie hat versucht, es vor uns Kindern zu verbergen. Aber sie hat geweint. Natürlich. Sie hat sich gefragt, wo er ist, wenn er nicht nach Hause gekommen ist. Irgendwann muss sie dann auf die Idee gekommen sein, ihm nachzuspionieren. Darüber weiß ich nichts. Es war anfangs ein Streit wie jeder andere, weshalb Kristy und ich uns nichts dabei gedacht haben. Aber als wir dann nachgesehen haben ...“ Sie schüttelte den Kopf. „Er hat Mum eine Waffe in den Mund gesteckt. Das war furchtbar. Ich hab ja nicht geglaubt, was da passiert. Aber es ist passiert. Und selbst da wäre ich nicht auf die Idee gekommen, dass er nicht nur meine Familie ermordet hat, sondern ein Serienmörder ist.“

„Das konntest du auch nicht wissen“, sagte Nick. „Aber ich denke, es ärgert ihn, dass du davongekommen bist, weil er da die Kontrolle verloren hat. Menschen wie er sind absolute Kontrollfreaks. Und du lebst noch, einfach so. Das muss ihn ja ärgern.“

„Ich habe mich immer gefragt, wie ernst man seine Drohung gegen mich nehmen muss. Er war im Knast. Was hätte er mir tun können?“

„Es stimmt, die Chancen sind verschwindend gering, dass dein Leben in Gefahr gewesen wäre. Aber deine Unversehrtheit war es. Hättest du dich ihm nicht gänzlich entzogen, hätte er dich terrorisieren können. Und das hätte er auch getan“, sagte Nick.

„Meinst du?“, fragte Sadie.

„Ja, sonst würde er jetzt kaum diesen Feldzug starten. Er hat irgend einen Plan. Ich könnte mir schon vorstellen, dass er dich herlocken will.“

„Dafür müsste er gemerkt haben, dass ich nicht mehr hier bin.“

„Mit Sicherheit. Ich denke, dass dein Onkel uns da mehr zu sagen kann. Immerhin haben wir einen Zeugen.“

„Wir müssen jetzt das Profiling rückwärts machen“, sagte Cassandra. „Wir kennen den Täter, aber wir müssen jetzt wissen, was er als nächstes tun wird.“

„Kriegst du das hin?“, fragte Nick Sadie.

Sie nickte. „Das wird weh tun. Aber ich will ihn kriegen. Für mich ist er nicht mein Vater. Norman ist mein Vater. Für Rick Foster empfinde ich nur Hass!“

 

 

Klamath Falls, Oregon, 1996

 

Sie hatte den Kopf in die Hände gestützt und kaute auf ihrem Bleistift herum. Matheaufgaben waren für sie immer eine besonders harte Nuss. Zahlen waren nicht ihr Ding. Ihre Gedanken schweiften ab, als sie begann, Toby beim Bauklötzestapeln zu beobachten. Er machte das weniger mit Geschick, aber dafür mit viel Geduld. Die hätte Kim mit ihren Rechenaufgaben auch gern gehabt, aber davon war sie meilenweit entfernt.

In der Küche klapperte ihre Mutter mit den Töpfen. Kim versuchte, sich zusammenzureißen und auf die Aufgaben zu konzentrieren. Nur noch ein paar ... dann war es geschafft.

Schritte auf der Treppe lenkten sie ab. Ihr Vater kam nach unten und ging an ihr vorbei, um sich aufs Sofa zu setzen. Er schaltete den Fernseher ein und zappte durch die Programme. Kim war die Abwechslung sehr willkommen. Sie blickte ebenfalls auf den Fernseher und vergaß die Matheaufgaben.

„He, junge Dame“, sagte ihr Vater, als er das bemerkte. „Du sollst deine Hausaufgaben fertig machen.“

„Ja“, murmelte Kim. Sie versuchte es ja. Aber sie hasste Mathe. Mathe war furchtbar ...

Als ihr Vater aufstand, beobachtete sie ihn fragend. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben Kim.

„Wo hängt es denn?“, fragte er.

Kim tippte auf einen der Aufgabenblöcke. „Die Matheaufgaben sind blöd.“

Ihr Vater schaute über ihre Schulter und nickte. „Erst Minus und dann Plus. Hat die Lehrerin das erklärt?“

„Ja, aber ich versteh das nicht. Warum muss ich erst 3 abziehen und dann 5 dazutun?“

„Weil das da steht. Wieviel sind 3 weniger?“

„Sechs ...“

„Siehst du. Und plus 5?“

„Elf“, sagte Kim.

„Genau.“ Zufrieden strich er über ihr Haar und blieb sitzen, während sie sich mit den nächsten Aufgaben herumschlug. Sie hasste Mathe. Aber jetzt fühlte sie sich nicht mehr so allein und das machte es leichter. Trotzdem würde sie Mathe nie mögen, das stand fest.

Bis das Abendessen fertig war, hatte Kim ihre Hausaufgaben geschafft. Zufrieden packte sie alles in ihre Tasche und half ihrer Mutter beim Tischdecken. Ihr Vater setzte sich wieder vor den Fernseher, eine Dose Budweiser vor sich auf dem Couchtisch. Kim störte sich nicht daran, der Anblick war normal für sie. Ihr Vater setzte sich erst an den Esstisch, als der Topf mit den Spaghetti in der Mitte stand. Toby kletterte auf seinen Stuhl neben seiner Mutter. Nur Kristys Stuhl war noch leer.

„Wo ist das verdammte Gör?“, fragte ihr Vater gereizt.

„Sie kommt bestimmt gleich“, erwiderte ihre Mutter beschwichtigend.

„Sie hat gefälligst pünktlich zu sein! Sie weiß doch, wann das Essen auf dem Tisch steht.“

„Wir fangen einfach schon mal an.“ Ihre Mutter begann, Kim Nudeln und Soße auf den Teller zu geben. Danach machte sie bei Rick weiter und gab auch sich und Toby etwas. Sie war noch gar nicht ganz damit fertig, als die Haustür geöffnet wurde und Kristy hereinkam.

„Hallo“, rief sie, zog sich die Schuhe aus und kam dann zum Tisch. Ihr Vater starrte sie an, was Kristy sofort merkte.

„Dad?“

„Warum bist du nicht pünktlich zu Hause?“, fragte er.

„Weiß nicht, hab getrödelt.“ Kristy wollte sich schon an den Tisch setzen, doch er sah sie scharf an.

„Und die Hände gewaschen hast du dir auch nicht.“

„Oh Mann ...“ Stöhnend ging Kristy ins Bad. Unwirsch beobachtete ihr Vater, wie sie zurückkehrte und sich setzen wollte. Als ihre Mutter ihr Nudeln auf den Teller geben wollte, hielt er ihre Hand eisern fest und schüttelte den Kopf.

„Sie war nicht pünktlich. Sie bekommt nichts, damit sie lernt, dass sie pünktlich zu sein hat!“

„Rick“, sagte Clarice und versuchte, sich loszureißen, doch ohne Erfolg. „Kristy wird nicht hungrig ins Bett gehen.“

„Und das entscheidest du, sehe ich das richtig?“

Jetzt wurde er laut. Kim zog schon einmal den Kopf ein und machte sich klein. Auch Toby beobachtete seinen Vater furchtsam.

Clarice stand auf und riss sich von Rick los. „Kristy war vier Minuten zu spät.“

„Na und? Es geht ums Prinzip!“, brüllte er und sprang ebenfalls auf. Das rief auch Kristy auf den Plan, die nun ebenfalls aufstand.

„Hör auf, Mum so anzubrüllen!“, rief sie. Erneut bewunderte Kim sie für ihren Mut, sich so mit Dad anzulegen. Aber Kristy war ja auch schon zehn.

Doch ihr Vater achtete gar nicht darauf. „Clarice, wer hat hier das Sagen?“

Kim beobachtete, wie die Lippen ihrer Mutter zu zittern begannen. „Ich lasse mein Kind nicht hungern.“

Dann war es soweit. Rick holte aus und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht – so hart, dass ihr Kopf zur Seite flog. Toby begann zu weinen und Kristy schrie vor Wut. Sie rannte hinter ihrer Mutter vorbei und stürzte sich wutentbrannt auf ihren Vater, dem es nicht schwer fiel, sie von sich zu stoßen. Kristy verlor das Gleichgewicht und ging zu Boden. Kim sprang ebenfalls auf und lief zu ihrer Schwester. Kristy zitterte, ihre Augen standen voller Tränen.

„Hör auf!“, schrie Clarice. Rick schlug sie erneut. Toby weinte noch lauter.

Clarice wich zurück. Bevor Kim reagieren konnte, kämpfte Kristy sich hoch und trat ihrem Vater mit aller Kraft vors Schienbein. „Hör auf, Mum zu schlagen!“

„Halt du dich da raus!“, brüllte er. Er stieß Kim zur Seite und warf Kristy zu Boden zurück, bevor er ihr einen gezielten Tritt in die Magengrube verpasste. Erstickt schnappte Kristy nach Luft und hustete gequält.

Das war zuviel für Clarice. Sie stellte sich vor ihre beiden Töchter und schlug nun ihrerseits Rick ins Gesicht.

„Bist du wahnsinnig?“, schrie sie. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie ebenfalls handgreiflich wurde und sah sie für einen Moment erstaunt an. Dann packte er sie an der Kehle und warf sie an die Wand zurück, die einige Schritte hinter ihr war. Kristy hustete und röchelte immer noch, deshalb sprang Kim beherzt auf und rannte zu ihren Eltern. Sie traute sich nicht, ihren Vater anzufassen, aber sie stellte sich neben ihre Mutter und blickte zu ihm hoch.

„Lass Mum los“, bat sie flehentlich. Er hatte beide Hände um die Kehle ihrer Mutter geschlossen, die mit ihren Händen seine Handgelenke umklammert hielt. Das beeindruckte ihn jedoch nicht.

Kim zupfte an seinem T-Shirt. „Dad ... bitte tu Mum nicht weh.“

Doch das beeindruckte ihn nicht. Ihre Mutter wimmerte erstickt, zappelte und wand sich hilflos. Fassungslos beobachtete Kim, wie ein seltsames Leuchten in die Augen ihres Vaters trat.

„Dad“, stieß sie unter Tränen hervor und zupfte weiter an seinem T-Shirt. „Dad, bitte ...“

Sie sagte das sehr weinerlich, flehte ihn an. Er achtete jedoch gar nicht darauf. Wie hypnotisiert starrte er seine Frau an.

„Dad!“, schrie Kim und ging in die Knie. „Bitte, Dad ...“

Es dauerte noch einige Sekunden, aber da lockerte er tatsächlich seinen Griff um die Kehle seiner Frau. Hustend ging Clarice in die Knie.

Fragend blickte er zu Kim hinab. Schluchzend kniete sie am Boden und wagte es nicht, zu ihm aufzublicken. Sie war vor Furcht wie gelähmt.

„Du bist ein braves Kind“, sagte er und strich ihr übers Haar. Dann ging er zum Tisch und setzte sich, als wäre nichts gewesen.

Kim blickte von ihrer Mutter zu Kristy und zurück. Beide knieten schluchzend und zitternd am Boden und kämpften darum, wieder zu Atem zu kommen. Sie wusste nicht, um wen sie sich kümmern sollte.

Kristy nahm ihr die Entscheidung ab, indem sie aufstand und zu ihnen herüber kam. Clarice breitete die Arme aus und fing ihre Tochter darin auf. Langsam wandte Kim den Kopf zu ihrem Vater, der zufrieden schmausend am Tisch saß und sich auch nicht um Toby kümmerte, der immer noch heulend neben ihm saß.

„Ich hasse dich!“, schrie Kim. Als er auch nur die geringste Bewegung machte, rannte sie sofort zur Haustür, riss sie auf und floh hinaus auf die Straße. Dorthin würde er ihr nicht folgen, das wusste sie. Vor der Auffahrt blieb sie stehen, drehte sich um und schnappte nach Luft.

Tatsächlich verließ er das Haus nicht. Er erschien in der Tür und starrte sie an.

„Komm wieder rein, Kim.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Du kommst sofort wieder rein!“

„Nein!“, schrie sie ihm entgegen und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Dann bleib halt draußen.“ Er drehte sich um und ließ die Haustür ins Schloss fallen. Zitternd und mit Tränen in den Augen blickte Kim auf die Tür und konnte es nicht fassen.

Am ganzen Körper angespannt wartete sie ab und lauschte. Von drinnen war nichts mehr zu hören. Trotzdem traute sie dem Frieden nicht. Es dauerte einige Minuten, bis sie sich ein Herz fasste und ganz langsam zum Haus zurückging. Sie setzte sich auf die Stufen vor der Tür und wartete. Klopfen würde sie nicht, das Risiko war ihr zu groß, dass ihr Vater öffnete.

Irgendwann würden Mum oder Kristy öffnen, das wusste sie.

Das war immer so.

Sie verstand nicht, warum er so war. Erst hatte er ihr noch bei den Hausaufgaben geholfen und dann brachte er Mum fast um. Das machte Kim Angst. Große Angst.

Er hatte sie geschlagen und getreten. Das war nicht normal. Nicht richtig. Aber Kim konnte nichts dagegen tun. Inzwischen wusste sie, wie sie mit Dad umgehen musste. Dass sie in Sicherheit war, wenn sie auf der Straße stand, wo alle Nachbarn sie sehen konnten.

Aber zu Hause war sie nicht sicher. Sie alle waren es nicht.

Geduldig blieb sie auf den Treppenstufen sitzen und wartete. Drinnen war es ruhig, sie konnte nichts hören. Es dauerte jedoch eine ganze Weile, bis die Haustür geöffnet wurde. Es geschah langsam und leise und als Kim sich umdrehte, sah sie ihre Mutter. Ihre Augen waren blutunterlaufen, ihre Gesichtshaut aschfahl. Sie kam schnell nach draußen und reichte Kim die Hand.

„Komm wieder rein“, sagte sie. „Er hat sich beruhigt.“

„Okay“, sagte Kim leise. Sie folgte ihrer Mutter in die Küche. Kristy und Toby waren weg, vermutlich in ihren Zimmern. Clarice zeigte Kim einen Teller mit Nudeln und Soße, der heiß dampfte. Sie hatte ihn gerade aus der Mikrowelle geholt und legte eine Gabel hinein. Dann reichte sie Kim den Teller.

„Geh damit in euer Zimmer“, sagte sie. Liebevoll strich sie ihrer Tochter übers Haar. Das fühlte sich anders an als bei Dad.

Kim blieb stehen und blickte zu ihrer Mutter auf. „Ich hab dich lieb, Mum.“

„Ich dich auch.“

Kim überlegte kurz. „Können wir nicht von Dad weggehen?“

Clarice seufzte unglücklich. „Vielleicht, Süße.“

Kim nickte und huschte mit ihrem Teller die Treppe hinauf, bevor ihr Vater es merkte.

 

 

Waterford

 

Obwohl die Gegend ihr vertraut war, fühlte Sadie sich fremd. Weil Norman immer noch nicht ansprechbar war, fuhren sie zuerst nach Waterford. Sie war die Strecke von Modesto in ihr Heimatdorf so oft gefahren, aber diesmal kam sie sich vor wie ein Fremdkörper. Das waren Schuldgefühle.

Sie wies Ian den Weg. Als sie erst in die Straße eingebogen waren, wussten sie jedoch gleich, wo ihr Ziel lag. Drei Polizeiwagen parkten vor Normans und Fannys Haus, das Grundstück war mit dem Absperrband der Polizei eingezäunt, vor dem Haus standen Polizisten. Beim Näherkommen erkannte Sadie Mike, Phil und zwei weitere ihrer ehemaligen Kollegen.

Ian parkte den Wagen neben einem der Streifenwagen, dann stiegen sie nacheinander aus. Mike und Phil wurden aufmerksam. Langsam ging Sadie um den Wagen herum und beobachtete, wie Nick Mike die Hand reichte. Nacheinander stellte er sie alle vor. Mit zaghaften Schritten ging Sadie auf sie zu, doch Phil umarmte sie impulsiv und verzog die Lippen.

„Es tut mir so leid“, sagte er.

„Ist doch nicht deine Schuld.“

„Aber ... du hattest mich noch gebeten, auf sie aufzupassen.“

„Schon, aber das ist wirklich nicht deine Schuld. Daran hat niemand Schuld ... außer meinem Vater. Das ist er ja nun mal leider“, sagte sie und seufzte.

Phil nickte mitfühlend. „Stimmt wohl. Leider.“ Er blickte aufs Haus. „Du willst da aber nicht rein, oder?“

„Doch“, sagte Sadie. „Ich will das sehen.“

„Willst du nicht.“

Sadie holte tief Luft. „Ich weiß, wie es dort aussieht. Mike hat es mir gesagt.“

„Ja, aber es zu wissen und zu sehen ... das sind unterschiedliche Dinge. Glaub mir, du willst das nicht sehen.“

„Ich muss, Phil. Ich schaffe das schon.“

Phil sagte nichts mehr dazu, denn er wusste, dass es sinnlos war, sich mit ihrem Sturkopf zu streiten. In diesem Augenblick stieß Mike dazu und begrüßte Sadie ebenfalls mit einer Umarmung. Sie war überrascht, denn das hatte er noch nie getan.

„Ich wünschte, du wärst unter anderen Umständen hergekommen“, sagte er.

„Ja, das wünsche ich mir auch“, sagte sie.

„Tut mir leid, dass das passiert ist. Und alles andere. Ich wollte es nicht glauben, als ich gehört habe, wer du bist. Das ist seltsam.“

„Allerdings. Ich hätte nie gedacht, dass meine Vergangenheit mich mal auf diese Weise einholen würde.“

„Ihr könnt auf jeden von uns zählen“, sagte Mike. „Wir sind alle in Alarmbereitschaft. Die gesamte Polizei von Waterford und einige Kollegen aus Modesto haben jetzt nichts anderes zu tun, als nach Rick Foster zu suchen. Wir werden euer Team unterstützen, wo es nur geht.“

„Danke, Mike.“

„Gehörst du denn jetzt auch schon zum FBI?“, erkundigte Mike sich bei Matt.

„Nein, noch nicht. Aber ich konnte Sadie doch nicht allein herkommen lassen!“, erwiderte Matt.

„Das stimmt wohl.“

Sie verstummten, als Nick Dormer zu ihnen stieß. Er nickte ihnen zu und blickte zu Sadie. „Du machst nur, was auch wirklich geht.“

Dagegen hatte sie keinerlei Einwände. Aber sie musste auch verstehen, was passiert war.

„Was ist mit Gary und Joanna?“, erkundigte Sadie sich bei Phil.

„Mit Gary habe ich heute morgen gesprochen. Soweit ich weiß, ist er bei deinem Onkel im Krankenhaus. Er wollte Joanna informieren.“

„Danke ...“

Phil lächelte. „Das konnte ich dir ja abnehmen.“

„Wie ist Foster ins Haus gekommen?“, erkundigte Nick sich bei Mike.

„Er hat die Hintertür aufgeknackt, wahrscheinlich mit seinem Messer. Man kann sehen, dass er das Schloss damit bearbeitet hat. Wir wissen noch nicht, wie er überhaupt hergefunden hat, aber da sind wir dran. Klar ist, dass er die Scotts im Schlaf überrascht hat. Das war schon eine ganze Weile nach Mitternacht. Einer der Nachbarn wurde schließlich gegen halb drei aufmerksam, weil Norman Scott um Hilfe gerufen hat. Er hat uns sofort verständigt und wir haben auch gleich ärztliche Hilfe angefordert.“ Während er eine Pause machte, blickte Mike zu Sadie. „Für deine Tante kam schon jede Hilfe zu spät.“

„Sie ist verblutet, oder?“, fragte Sadie mit tonloser Stimme.

„Ja. Dein Onkel hatte auch nur Glück. Er hat ebenfalls extrem viel Blut verloren. Das kann man im Schlafzimmer sehen.“

„Ich will es sehen“, sagte Sadie. Die anderen machten Platz, einzig Matt heftete sich gleich an ihre Fersen und folgte ihr ins Innere des Hauses.

Im Flur wirkte alles wie immer. Erst, als Sadie um die Ecke bog, entdeckte sie Blutflecken auf der Treppe. Es waren nicht viele, aber sie vermutete, dass sie von Norman stammten. Und das verriet ihr etwas. Es war viel Blut geflossen.

„Ist die Spurensicherung schon durch?“, fragte sie leise.

„Ja, die Kollegen waren heute schon im Morgengrauen hier. Viele Spuren gab es nicht, das war mehr nur so eine Formalität. Wir ahnen ja, wer es war, aber wir brauchen die Beweise“, sagte Mike.

Sadie erwiderte nichts, sondern ging gleich nach oben. Matt und Phil folgten ihr.

Oben angekommen, blieb sie kurz stehen. Schon von weitem konnte sie die riesigen Blutlachen auf dem Teppichboden sehen. Matt und Phil warteten ab, während Sadie langsam weiter ging und schließlich kurz hinter dem Türrahmen stehenblieb.

Die Fläche, über die die Blutlache sich erstreckte, deckte den gesamten Fußboden vor dem Bett ab. Der Teppich war quadratmeterweise durchtränkt und glänzte immer noch feucht. Sadie hielt die Luft an und straffte die Schultern. Genau genommen waren es zwei Blutlachen, die sich in der Mitte getroffen hatten. Sie grenzten die beiden Stühle ein, die vor dem Bett standen. Auch die Stühle selbst waren blutverschmiert. Reste von Klebeband hingen daran. Am Rand konnte sie blutige Fußabdrücke sehen, vermutlich von den Sanitätern, die ins Blut hatten treten müssen.

Doch als hätte dieser Anblick nicht gereicht, stand links an der Wand über dem Bett der Name Kim, geschrieben mit riesigen Buchstaben aus Blut. Es war von den Buchstaben herabgelaufen und hatte Tropfspuren hinterlassen.

KIM. Obwohl sie nichts mehr mit diesem Namen verband, fühlte sie sich angesprochen.

Als Matt seine Hand auf ihre Schulter legte, reagierte sie nicht. Sie starrte nur auf die blutigen Buchstaben an der Tapete. War das eine Drohung? Eine Aufforderung?

Auch im Bett entdeckte sie Blutspritzer. Ihr war fast, als läge ein metallischer Geruch in der Luft. Bei den Unmengen an Blut auf dem Boden war das möglich.

Ganz langsam ließ sie ihre Gefühle an sich heran. Ihr wurde klar, dass ihr Vater noch vor wenigen Stunden in diesem Raum gestanden hatte. Und dass Fanny an einen dieser Stühle gefesselt gestorben war. Norman hatte es gesehen. Er hatte seine Frau verbluten sehen; unfähig, ihr zu helfen.

Mit zu Fäusten geballten Händen stand sie da und spürte erst Augenblicke später, wie fest sie sich auf die Lippe biss. Ihr Blick wanderte von den Blutlachen zur Wand und zurück.

„Dafür könnte ich ihn töten“, murmelte sie.

„Immerhin müssen wir nicht raten, was hier passiert ist“, sagte plötzlich Nick von hinten. Sadie drehte sich um und sah ihn emotionslos an.

„Der Chief wurde gerade angerufen. Norman Scott ist vorhin aufgewacht. Er hat nach dir gefragt, Sadie.“

„Nach mir?“, wiederholte sie leise. „Ausgerechnet.“

Nick blickte an ihr vorbei ins Schlafzimmer und kam ebenfalls herein. Wortlos blickte er sich um.

„Ich bin froh, dass wir hier sind“, sagte er.

Erschrocken sah Sadie ihn an. „Wie meinst du das?“

Mit einer Kopfbewegung deutete Nick auf die Blutlachen. „Er hat gerade erst angefangen. Jetzt hat er, im wahrsten Sinne des Wortes, Blut geleckt. Wir müssen sehen, dass wir ihn bald finden.“

„Was denkst du, was er tun wird?“, fragte Sadie.

„Er ist jetzt wieder auf den Geschmack gekommen. Die Schmiererei an der Wand war ja überhaupt nicht nötig, aber während ...“ Abrupt brach er ab.

„Nein, mach nur weiter“, sagte Sadie und blickte ins Nichts.

„Während deine Tante hier verblutet ist, hat er sich die Zeit genommen, in aller Seelenruhe deinen Namen an die Wand zu schmieren. Das zeugt für mich von hochgradigem Sadismus. Und wir wissen über ihn, dass er nicht aufhören kann. Er steigert sich immer weiter.“

„Meine Güte“, murmelte Phil leise. „Ich kann verstehen, dass du das immer für dich behalten hast, Sadie.“

Sie drehte sich zu ihm um. „Anfangs war es Scham. Aber jetzt hasse ich ihn nur noch. Ich will, dass er dafür bezahlt.“

„Wir finden ihn“, sagte Matt. Als Sadie ihn ansah, bemerkte sie, wie blass er war.

„Was ist los?“, fragte sie.

„Gestern haben wir die beiden noch gesehen und alles war in Ordnung. Und jetzt das ...“ Er deutete auf die Blutlachen.

„Gibt es sonst noch etwas zu sehen?“, fragte Sadie, aber ihre Stimme zitterte deutlich hörbar.

Phil schüttelte den Kopf. „Nichts, was von besonderem Interesse wäre.“

„Dann fahren wir zurück nach Modesto“, sagte Nick. „Lasst uns mit Norman sprechen.“

Sadie nickte und verließ als erste das Schlafzimmer. Erst, als sie wieder draußen vor dem Haus stand, merkte sie, dass es den metallischen Geruch tatsächlich gegeben hatte. Ihr Herz raste.

„Ich würde gern mitfahren“, sagte Phil, als sie draußen vor dem Auto standen. Dagegen hatte niemand etwas einzuwenden. Sie verteilten sich auf die Autos und machten sich auf den Weg nach Modesto. Sadie saß zwischen Matt und Phil und fühlte sich wie taub. Nick, der auf dem Beifahrersitz saß, sagte kein Wort. Mike fuhr.

„Das ist meinetwegen passiert“, murmelte Sadie. „Und ich war nicht hier.“

„Du darfst dir keine Schuld geben“, sagte Phil.

„Tue ich nicht, aber so ist es doch.“ Sadie schüttelte den Kopf. „Ich verstehe auch immer noch nicht, dass ihr das nicht auf mich projiziert. Mein Vater gehört zum schlimmsten Abschaum, der unter der Sonne wandelt, aber keiner von euch bezieht das auf mich.“

„Nein, weil es Unsinn ist“, sagte Nick. „Ich unterscheide mich von meinem eigenen Vater auch wie Tag und Nacht. Viele Menschen tun das. Wir haben manche Eigenschaften von unseren Eltern und andere nicht. Du hast sicherlich auch irgendetwas von deinem Vater, aber die Vorliebe für sadistische Serienmorde gehört bestimmt nicht dazu.“

„Das nicht“, sagte Sadie, „aber ich beschäftige mich beruflich damit. Als Matt gerade oben stand, war er kreidebleich. Ich glaube, ich war das nicht. Meine Tante ist da heute Nacht gestorben, aber ich sehe es mir einfach an.“

Nick drehte sich zu ihr um. „Das ist ein Schutzmechanismus, aber davon abgesehen bist du auch darin ausgebildet. Mit deinem Vater hat das jedenfalls nichts zu tun.“

„Ich weiß ...“

„Genaugenommen bist du das Gegenteil von ihm“, sagte Phil. „Du verabscheust, was er tut. Du verstehst es, aber du würdest nie handeln wie er. Da könnte durchaus eine Gemeinsamkeit liegen: Ihr beide habt mit Grausamkeit zu tun, aber gegensätzlicher könnte es nicht sein.“

„Er hat dich aber auch in diese Laufbahn gedrängt“, sagte Nick. „Du wärst wahrscheinlich nicht zur BAU gekommen, wenn es ihn nicht gäbe.“

„Wahrscheinlich nicht“, stimmte Sadie zu. „Ich wollte erst in meiner Jugend Polizistin werden. Vorher war das nicht so.“

„Siehst du. Ein Mensch ist mehr als die Summe seiner Gene.“

Dazu sagte Sadie nichts mehr. Sie schwieg, während sie auf dem Highway zurück in die Stadt und zum Krankenhaus fuhren. Dort angekommen, ging Mike voran, denn er wusste, wo sie hin mussten. Mit einem Gefühl der Beklemmung folgte Sadie ihm. Sie war ja zuletzt im Krankenhaus gewesen, als Norman dort Chemotherapie erhalten hatte. Davor hatte sie das Krankenhaus zuletzt von innen gesehen, nachdem sie versucht hatte, sich umzubringen.

Das waren alles keine schönen Erinnerungen, aber jetzt war es noch viel schlimmer. Sie hatte Angst, Norman in die Augen sehen zu müssen, auch wenn sie wusste, dass das Unfug war.

Sie folgten den langen Gängen bis zu einem Patientenzimmer. Ein Streifenpolizist, den Sadie nicht kannte, stand vor der Tür und grüßte sie freundlich. Mike öffnete die Tür, aber dann ließ er Sadie den Vortritt. An der Wand neben dem Bett saßen Gary und Sandra. Im Bett, an Elektroden und Tropfe angeschlossen, lag Norman. Er war bleich wie der Tod und trug Verbände unter seinem Krankenhemd. Als er bemerkte, wer alles ins Zimmer kam, wurde er gleich wacher.

Ihn so zu sehen, war zuviel für Sadie. Sie schlug die Hände vors Gesicht, machte einen Schritt zurück und spürte, wie ihr die ersten Tränen über die Wangen liefen.

Norman hob eine Hand und winkte ihr. „Komm her. Komm, Sadie. Setz dich zu mir.“

„Ich kann nicht“, stieß sie mit erstickter Stimme hervor.

„Doch, du kannst. Komm.“

Er winkte immer weiter, so dass sie es schließlich tat. Dann griff er nach ihrer Hand und machte eine Kopfbewegung zu den Besuchern.

„Du hast ja das halbe Polizeirevier mitgebracht.“

Sadie nickte. „Wusstest du, dass ich komme?“

„Ich habe vorhin erfahren, dass du schon hier bist. Ich bin sehr froh darüber.“

„Du bist froh, mich zu sehen?“ Schniefend wischte Sadie sich die Tränen weg. „Ich ... ich war gerade bei euch zu Hause. Und Fanny ...“

Norman drückte ihre Hand erstaunlich fest. Eine Träne löste sich aus seinem Auge.

„Ich finde ihn“, sagte Sadie. „Damit kommt er nicht davon.“

Sie hielten einander wortlos fest und sahen sich an. Norman weinte, was jeder Anwesende nur zu gut verstehen konnte.

„Wen hast du mitgebracht?“, fragte Norman mit zitternder Stimme und deutete auf Nick.

„Das ist SSA Nicholas Dormer“, sagte Sadie. „Mein Chef. Er und einige meiner Kollegen sind mitgekommen.“

Norman nickte Dormer zu, der die Geste erwiderte.

„Und es war mein ... Vater?“ Sadie sagte das sehr zögerlich.

Norman nickte wieder. „Ich will es euch erzählen, damit ihr nach ihm suchen könnt. Das müsst ihr. Schon für Fanny ...“

Erneut schosse Sadie Tränen in die Augen. Norman drehte den Kopf und blickte zu Gary und Sandra.

„Ich möchte, dass ihr draußen wartet. Das solltet ihr nicht hören. Vor allem du nicht, Sandra.“

Während seine Schwiegertochter gleich aufstand und zur Tür ging, schüttelte Gary den Kopf. „Ich will es hören, Dad. Das muss ich.“

„Aber warum?“

„Sonst muss ich immer darüber nachdenken. Aber ich ... ich will wissen, warum Mum tot ist.“

Sandra war bereits draußen und Norman machte keinerlei Anstalten, mit Gary darüber streiten zu wollen. Die anderen nahmen Platz oder lehnten sich an die Wand.

„Ich kann mich erinnern, dass ich schon einmal wach geworden bin“, begann Norman. „Er hat mich bewusstlos geschlagen. Da habe ich ihn gar nicht gleich erkannt, es ging alles zu schnell. Ich bin erst wieder zu mir gekommen, als ich auf einem der Stühle saß. Fanny saß mir genau gegenüber.“

Weil er nicht gleich fortfuhr, fragte Nick: „Er hat Sie beide an die Stühle gefesselt?“

Norman nickte. „Er hat Klebeband benutzt. Mit Fanny hat er schon gesprochen, während ich noch weg war. Und er hat sie nicht Fanny genannt, sondern Michelle. Er hat ihren alten Namen benutzt. Das hat er bei uns allen gemacht. Für ihn war ich Paul und du warst Kim“, berichtete Norman in Sadies Richtung.

„Er hat mit Fanny über dich gesprochen. Er wusste zumindest, dass du Polizistin bist. Und er wollte wissen, wo du bist. Er hat also an deinem Haus nach dir gesucht. Er wollte mich zwingen, es ihm zu sagen, er hat Fanny das Messer an die Kehle gehalten. Sie wollte nicht, dass ich es ihm sage.“

„Hast du?“, fragte Sadie mit tonloser Stimme.

Norman nickte. „Ich hatte die vage Hoffnung, dass er Fanny vielleicht doch verschont. Und er hätte es ja herausgefunden – irgendwie.“

„Ist okay“, sagte Sadie. „Du musstest das tun.“

„Ich habe ihm gesagt, dass du beim FBI bist. Er fand das lustig. Er ... er ist auch auf Matt gekommen“, sagte Norman mit einer Kopfbewegung in dessen Richtung. „Das solltest du wissen, du wirst bestimmt ein Hindernis für ihn sein.“

„Das will ich doch hoffen“, erwiderte Matt bissig.

„Ich habe ihm das alles gesagt, weil ich gehofft habe, dass er mit diesem Wissen nichts anfangen kann. Jetzt weiß er zwar, wo du bist, aber ich habe ihm gesagt, dass du nicht allein bist, Sadie.“

„Das ist ihm doch egal“, sagte sie.

„Ich weiß ...“ Norman wischte sich zitternd eine Träne ab. „Ich hatte die Hoffnung, dass er einfach geht, wenn er hat, was er will. Aber das hat er natürlich nicht getan.“

„Was ist dann passiert?“, fragte Sadie leise.

„Er hat Fanny in die Leber gestochen. Da wusste ich, dass ...“ Er schloss die Augen und verzog schmerzerfüllt das Gesicht. „Ich wusste, dass sie verbluten würde. Er hat überall auf sie eingestochen ...“

Im Augenwinkel sah Sadie, wie Gary sich ebenfalls Tränen abwischte. Er wippte auf dem Stuhl vor und zurück.

„Er ist dann zu mir gekommen und hat auf mich eingestochen“, fuhr Norman fort. „Und er hat behauptet, wir hätten dich gegen ihn gestellt.“

„Das glaubt er doch nicht im Ernst“, brauste sie auf.

„Ich weiß nicht, warum ihm das wichtig ist. Fanny hat ihm sogar erzählt, wie es dir ergangen ist. Dass du ...“ Er zögerte.

„Sag es ruhig.“ Sadie nickte ihm zu.

„Dass du versucht hast, dich umzubringen. Und trotzdem ... er war wütend auf uns. Glaubt, wir hätten ... ich weiß es nicht. Wir hätten dich ihm weggenommen.“

„Er ist vollkommen übergeschnappt! Er wollte mich erschießen, hat er das vergessen?“, rief Sadie.

„Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung, was er mit Fanny noch besprochen hat. Er ist dann zu ihr hinüber und hat die Hände auf ihre blutende Wunde gelegt. An der Leber. In einer Seelenruhe hat er dann angefangen, deinen Namen an die Wand zu schmieren. Fanny ... sie hatte Schmerzen. Ich wusste nicht, was ich tun soll. Ich konnte ihr ja nicht helfen. Ich habe ihn gefragt, was er vor hat, aber er hat nicht geantwortet. Er sagte nur, dass er will, dass wir alle sterben. Er ist immer nur herumgelaufen und hat blutige Buchstaben an die Wand geschmiert. Und dann ...“ Ein erstickter Schluchzer entrang sich seiner Kehle.

„Dann hat er Fanny das Messer in die Brust gerammt. Sie ... sie hatte überhaupt keine Chance ...“

Sadie sah nur noch Tränen. Während sie zu schluchzen begann, strich ausgerechnet Norman ihr übers Bein.

„Er lachte und ist gegangen. Mir ist noch aufgefallen, dass er etwas mitgenommen hat. Es war ein Bilderrahmen. Ich glaube, es war eins unserer Familienfotos aus dem Wohnzimmer unten. Vielleicht, weil er ein Bild von dir wollte ...“

„Er ist doch krank“, zischte Sadie.

„Ja, das ist er. Er hat sich seit damals kein bisschen verändert. Du musst ihn finden, Kleines ...“

„Wir werden ihn finden“, sagte Nick. „Darf ich Sie etwas fragen, Mr. Scott?“

„Nur zu“, sagte Norman.

„Er ist nicht sicher gegangen, dass Sie verbluten, sehe ich das richtig?“

Norman nickte. „Ich war noch bei Bewusstsein, als er gegangen ist. Als ich glaubte, dass er fort ist, habe ich so viel Lärm gemacht, wie ich konnte. Dann habe ich das Bewusstsein verloren. Fanny war da schon bewusstlos. Ich ...“ Norman schluckte hart. „Ich konnte mich nicht einmal von ihr verabschieden.“

Gary weinte. Es war ihm egal, was die anderen dachten. Sadie streckte zaghaft eine Hand nach ihm aus und sah ihn fragend an, doch Gary nahm ihre Hand und drückte sie.

„Du kannst nichts dafür“, sagte er.

„Mr. Scott ... er hat Sie nie gemocht, oder?“, fragte Nick weiter.

„Nein, er hatte immer ein Problem mit mir. Ich war ja nicht damit einverstanden, dass meine Schwester ihn heiratet. Zu recht ...“ murmelte Norman. „Und dann habe ich hinterher Sadie zu mir genommen und sie ihm entzogen, indem wir ins Zeugenschutzprogramm gegangen sind. Er hat jeden Grund, mich zu hassen.“

„Also ging es ihm in erster Linie darum, dass Sie den Tod Ihrer Frau mitansehen.“

„Kann sein“, erwiderte Norman ruhig. „Würde zu ihm passen.“

Dormer nickte. „Und sonst hat er nichts gesagt?“

Norman schüttelte den Kopf. „Nein, gar nichts. Er hat sich nur ausgetobt und ist gegangen.“

„Gut, das war es schon. Danke, Mr. Scott.“

Norman nickte und blickte wieder zu Sadie. „Du musst ihn finden, Kleines. Finde ihn, bevor er dich findet. Er wird keine Ruhe geben. Er ist völlig besessen von dir.“ Dann hob Norman den Blick zu Matt und den anderen. „Ihr müsst ein Auge auf Sadie haben. Ich würde es nicht ertragen, wenn ihr wie Fanny etwas zustößt ...“

Während er leise weinte, schüttelte Sadie den Kopf und drückte seine Hand. „Mir passiert nichts. Er wird für das bezahlen, was er Fanny angetan hat ...“

„Du hattest recht, Sadie. Die ganze Zeit. Ich wollte es ja nicht glauben, aber ... hätte ich doch bloß die Polizisten nicht weggeschickt.“ Die Tränen strömten Norman nur so über die Wangen, aber er weinte ganz leise. Ihn so zu sehen, zerriss nicht nur Sadie das Herz. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

Gary ließ ihre Hand los, um sich die Tränen abzuwischen, doch dann sagte er: „Ich bin froh, dass er dich nicht damals schon erwischt hat. So ein Scheißkerl. Wärst du doch nur wirklich meine Schwester ...“

„Gary.“ Sadie stand auf und umarmte ihn. „Mein Vater tötet deine Mutter und du sagst das?“

„Ja, ich will nicht, dass du seine Tochter bist. Das ergibt keinen Sinn, du bist so gar nicht wie er.“

Das wollte Sadie auch hoffen. Sie ließ Gary los und drehte sich um, als die Tür geöffnet wurde. Es war Joanna. Mit einem Ausdruck schieren Entsetzens betrat sie den Raum und ging an den anderen vorbei zu Normans Bett.

„Dad ... Dad, ich bin da. Ich bin jetzt hier.“

„Joanna“, sagte Norman leise und lächelte. Joanna drückte ihm einen Kuss auf die Hand und sah ihn lange an, bevor sie den Blick wieder hob und sich vor Sadie aufbaute.

„Ich habe gewusst, dass das eines Tages passieren würde“, sagte sie. „Vielleicht nicht das, aber so etwas in der Art. Seit du in unsere Familie gekommen bist, ist nichts mehr, wie es war. Wir haben deinetwegen alles aufgegeben und unsere Namen geändert. Und wofür? Damit dein Vater meine Mutter abschlachtet?“

Damit hatte Sadie nicht gerechnet. Nicht mit dieser Wortwahl. Tief getroffen rief sie: „Fanny war auch meine Mutter!“

„Das war sie eben nicht. Und eigentlich hieß sie Michelle!“, schnappte Joanna zurück.

„Halt doch einmal deine dumme Klappe!“, ging Gary dazwischen. „Sadie hat nie darum gebeten, dass ihr Vater so ein krankes Schwein ist. Und dass er unsere Eltern angegriffen hat, ist auch nicht ihre Schuld! Du spinnst ja wohl!“

Norman tastete nach dem Griff über dem Bett und zog sich mühevoll hoch. Dabei biss er mit schmerzverzerrtem Gesicht die Zähne zusammen.

„Ihr haltet alle sofort den Mund“, sagte er überraschend laut. Joanna fuhr zu ihm herum.

„Ich lasse nicht zu, dass du Sadie die Schuld für irgendetwas gibst. Das ist ungerecht. Wenn ich das nicht tue, wirst du dich wohl auch noch zusammenreißen können!“

„Aber es war doch ihr Vater, der Fanny das angetan hat!“

„Er hat auch mir etwas angetan“, erwiderte Norman. „Und trotzdem ist das nicht Sadies Schuld. Reiß dich zusammen oder geh!“

Das wirkte tatsächlich. Kleinlaut setzte Joanna sich auf seine Bettkante, doch für Sadie war alles gesagt.

„Ich werde mich mit meinen Kollegen an die Arbeit machen“, sagte sie mit zitternder Stimme und fügte leise hinzu: „Danke, Norman.“

Er lächelte nur. Gemeinsam mit ihren Kollegen verließ Sadie das Zimmer und blieb auf dem Flur erst einmal stehen. Mit ihrer eiskalten Hand fuhr sie sich durchs Haar und seufzte, doch da kam Sandra zu ihr.

„Joanna hat es mal wieder übertrieben?“, fragte sie.

„Jo gibt mir die Schuld“, sagte Sadie.

„Das war ja klar. Konnte Norman euch helfen?“

Sadie nickte. „Wir werden uns jetzt an die Arbeit machen.“

„Das ist auch das Beste, was du tun kannst.“

Dankbar umarmte Sadie ihre Schwägerin, bevor Sandra wieder in Normans Zimmer ging. Phil blickte ihr stirnrunzelnd hinterher und sagte: „Deine Kusine hat ja eine Schraube locker.“

„Das ist Jo“, sagte Sadie. „Für sie war ich immer an allem schuld.“

„Starker Auftritt“, fand auch Nick. „Sie ist eine Egozentrikerin, habe ich recht?“

„Immer gewesen“, bestätigte Sadie. „Sagt zumindest ihr Bruder.“

Während Matt nach Sadies Hand griff, fuhr Nick fort. „Also, was haben wir? Foster hat ein Souvenir mitgenommen. Das überrascht mich nicht. Er wollte Norman Scott bestrafen. Es ging ihm gar nicht nur darum, Sadie auf die Spur zu kommen. Er hat seinen Sadismus ausgelebt. Das haben wir alle unterschätzt ... aber jetzt sind wir gewarnt. Da ist eine Bestie auf freiem Fuß.“

Instinktiv legte Matt einen Arm um Sadie. „Ich lasse nicht zu, dass er dir etwas tut.“

„Das werden wir alle gemeinsam verhindern“, sagte Nick. „Trotzdem bin ich ziemlich sicher, dass er nicht nach Virginia unterwegs ist. Er kann sich denken, dass du hergekommen bist, Sadie. Er wird hier in der Nähe sein und sich jetzt überlegen, wie er an dich herankommen kann.“

„Wollen wir zum Department fahren?“, schlug Mike vor. Alle waren einverstanden, deshalb machten sie sich auf den Weg. Sadie folgte den anderen jedoch nur langsam. Matt war die ganze Zeit bei ihr.

„Hast du Angst?“, fragte er schließlich.

Sadie überlegte und sah ihn einfach nur an. Darüber hatte sie noch nicht nachgedacht. Bis jetzt hatte sie sich in der Sicherheit gewiegt, FBI-Agentin zu sein, eine Waffe zu tragen und Selbstverteidigungstechniken zu beherrschen.

Aber jetzt hatte sie gehört, was er Fanny angetan hatte. Und Norman natürlich auch. Das hatte er getan, weil er sie finden wollte. Vielleicht, um dasselbe zu tun?

„Du musst keine Angst haben“, nahm Matt ihre Antwort vorweg. „Ich kann mir auch eine Waffe besorgen, wenn du möchtest.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Hilft das?“

„Ich lasse dich nicht aus den Augen.“

„Ich übrigens auch nicht“, sagte Phil, der in Hörweite vor den beiden lief.

„Ihr seid lieb“, sagte Sadie.

„Nein, im Ernst, mir macht das Angst“, sagte Matt. „Aber ich werde nicht zulassen, dass dir etwas passiert.“

Das fand Sadie rührend, aber half das? Für Fanny kam es zu spät. Das quälte sie auf unaussprechliche Weise. Ihr Vater hatte Fanny umgebracht. Sie schloss die Augen und ballte die Hände zu Fäusten, um der Wut Herr zu werden.

Sie hatte große Lust, ihren Vater umzubringen.

 

 

Klamath Falls, Oregon, 2000

 

Ein regelmäßiges Piepen war das erste, was in ihr Bewusstsein vordrang. Das Piepen – und Schmerz. Er war allgegenwärtig. Grenzenlos. Stöhnend hob sie die Hand und versuchte, ihre Augen zu öffnen.

„Ganz ruhig“, sagte eine Stimme, die ihr vertraut vorkam. Auf ihrem Unterarm spürte sie eine große, warme Hand.

Unter großer Anstrengung gelang es ihr, die Augen zu öffnen. Der Mann mit dem freundlichen Gesicht, der da vor ihr saß und sie besorgt ansah, war ihr Onkel. Das empfand sie jedoch nicht als so beruhigend, wie man hätte erwarten können. Denn Onkel Paul musste aus Portland gekommen sein. Hektisch schaute Kim sich um, aber er war allein. Tante Michelle war nicht da und, was noch viel schlimmer war, weder ihre Mum noch ihre Geschwister.

„Onkel Paul“, wisperte Kim leise.

„Es ist okay, ich bin hier“, sagte er. „Ich bin bei dir, Kim. Du bist in Sicherheit.“

Sicherheit? Also war es tatsächlich passiert. Kim hob eine Hand und tastete damit hinter ihre Schulter. Da war ein riesiges Pflaster, unter dem es heftig pochte.

Es war wirklich passiert.

„Was ist mit Mum?“, stieß sie hervor. „Wo sind Kristy und Toby?“

Stumm senkte Onkel Paul den Blick und atmete tief durch. „Kannst du dich an irgendwas erinnern?“

Kim nickte. „Es war Dad ... er hat auf Mum geschossen.“

Onkel Paul nickte. „Das stimmt. Deine Mum ist tot.“

Zwar musste sie heftig schlucken, aber dann nickte Kim. „Ja, ich weiß. Aber was ist mit Kristy und Toby?“

Paul seufzte. „Er hat sie alle erschossen.“

„Sie sind tot?“, murmelte Kim. Ihr Onkel nickte nur.

„Auf dich hat er ja auch geschossen“, fügte Paul leise hinzu.

Kim nickte stumm. Der dumpfe Schmerz in ihrem Rücken und das dicke Pflaster verrieten ihr, dass es so sein musste. Sie wusste noch, dass sie in der Auffahrt zusammengebrochen war. Also war das der Grund.

Tränen traten ihr in die Augen. „Er ... er hat mit Mum gestritten. Er hat ihr gedroht. Und dann hat er sie erschossen ... und Kristy auch, als sie ihn aufhalten wollte. Er wollte das ganze Haus abbrennen ...“

„Er hat es angezündet, ja.“ Paul nickte langsam. „Aber eure Nachbarn haben schon die Polizei gerufen, weil sie die Schüsse gehört haben. Die Feuerwehr war auch gleich da. Das Haus hat gebrannt, aber es steht noch.“

Kim weinte laut und schluchzte verzweifelt. „Warum hat er das gemacht?“

Ihr Onkel seufzte betroffen. „Wir hatten gehofft, dass du uns das sagen könntest. Er hat es bislang nicht getan.“

„Wo ist er?“

„Er ist im Gefängnis. Du wurdest heute Nacht gleich ins Krankenhaus gebracht und operiert. Heute Morgen hat mich die Polizei angerufen und mir gesagt, was passiert ist. Deshalb bin ich gleich hergekommen. Deine Tante ist bei Tom und Angela, aber sie kommen auch noch her.“

Kim tastete nach seiner Hand und krallte sich daran fest, als sie sie gefunden hatte. Sie krallte sich so heftig fest, wie sie sich noch nie zuvor an etwas festgehalten hatte. Als würde sie ihn nie wieder loslassen wollen.

„Bist du wegen mir hergekommen?“

„Natürlich. Du brauchst doch jetzt jemanden, der sich um dich kümmert“, sagte Paul beruhigend.

Schluchzend schloss sie die Augen, versuchte dann aber, sich zu beruhigen. „Was soll denn jetzt aus mir werden?“

„Du bleibst bei uns. Wir sind jetzt deine Familie. Dein Vater wird jetzt für lange Zeit eingesperrt.“

Kim nickte und wischte sich die Tränen ab. „Warum hat er das nur gemacht?“

Paul schüttelte ratlos den Kopf. „Ich weiß es nicht, Kim. Ich hatte immer befürchtet, dass eines Tages so etwas passiert.“

„Ja“, sagte sie und schniefte. „Mum hatte ja immer Angst vor ihm.“

„Ich weiß. Ich habe deiner Mum oft gesagt, sie soll mit dir und deinen Geschwistern weggehen. Aber sie hat das nicht geschafft. Ich weiß nicht, warum.“

„Er hat sie geschlagen“, sagte Kim bitter. „Sie und Kristy auch.“

„Und dich?“

Kim nickte. „Klar. Manchmal.“

Paul drückte ihre Hand. „Das ist jetzt vorbei, Kim. Du bleibst bei uns und wir werden dafür sorgen, dass es dir gut geht.“

Ein scheues Lächeln huschte über ihre Lippen. „Danke, Onkel Paul.“

Er erwiderte ihr Lächeln. „Aber natürlich, meine Kleine. Das muss ich doch für deine Mutter tun. Das hätte sie so gewollt.“

Kim nickte, aber dann traten ihr wieder die Tränen in die Augen. „Warum hat er das nur gemacht? Warum hat er denn auf Toby geschossen? Er war doch noch so klein ...“

„Wir wissen es nicht. Bisher wollte er gar nichts dazu sagen.“

„Er ist doch unser Dad ...“ Fast ließ ihre Stimme sie im Stich.

Paul seufzte. „Ich weiß. Aber so etwas darf kein Vater tun.“

„Nein ...“

Er drückte ihre Hand ganz fest. „Er wird dir nie mehr etwas tun, Kim. Dafür sorge ich persönlich.“

 

 

Waterford

 

„Ich muss pinkeln“, sagte Sadie knapp und verschwand in Richtung der Toiletten, als sie das Department betreten hatten. Die anderen blickten ihr kommentarlos hinterher.

„Starker Auftritt von ihrer Cousine“, sagte Phil.

„Völlig überflüssig“, kommentierte Matt. „Aber ich habe sie schon öfter erlebt. Sie ist einfach so.“

Nick drehte sich langsam zu den beiden um und warf einen ernsten Blick in die Runde. „Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich habe bereits genug gehört und gesehen, um zu wissen, dass Sadie in Gefahr ist.“

Matt legte den Kopf schief. „Er ist also hinter ihr her?“

Dormer nickte. „Und wenn er sie findet, wird er sie töten.“

„Sind Sie sicher?“, fragte Phil.

„Ja. Die Hinweise sind eindeutig. Wir müssen ihn finden, und zwar bald. Er ist ein notorischer Sadist und Mörder und er hat noch eine Rechnung mit Sadie offen. Noch weiß ich nicht, was er vorhat, aber wir sollten Sadie nicht eine Sekunde aus den Augen lassen.“

Während Matt nur überlegte, nickte Phil ernst und sagte: „Ich hole dir eine Waffe, Matt. Ist wahrscheinlich besser.“

Auch jetzt sagte Matt nichts. Er sah Phil nur hinterher und verschränkte seufzend die Arme vor der Brust. Das alles gefiel ihm überhaupt nicht.

„Denken Sie, er ist noch in der Nähe?“, fragte er Nick.

„Ich weiß es nicht. Er wird vorsichtig sein. Er wird nicht riskieren, dass wir ihn allzu bald wieder finden und ich mache mir da auch keinerlei Illusionen: Das wird nicht leicht.“

Matt wollte schon etwas erwidern, aber da kehrte Phil mit einer Waffe zurück, die er ihm kommentarlos in die Hand drückte. Matt hatte sie gerade an seinem Gürtel befestigt, als Sadie zu ihnen zurückkehrte.

„Eine Waffe?“, fragte sie erstaunt, denn die entging ihr natürlich nicht für eine Sekunde.

Matt nickte. „Für alle Fälle.“

„Setzen wir uns zusammen und überlegen, was wir tun können“, sagte Nick. Im Besprechungsraum saßen bereits Ian und Cassandra. Auch Mike gesellte sich dazu. Als sie komplett waren, stellte Nick sich vors Whiteboard und griff nach einem Stift.

„Das ist eine etwas ungewöhnliche Situation, zumindest für uns Profiler. Normalerweise haben wir Hinweise und suchen einen Unbekannten. Nun suchen wir jemanden, den wir kennen und versuchen, vorauszuahnen, was er als Nächstes tun wird. Ich denke, ich mache nichts falsch, wenn ich feststelle, dass er versuchen wird, nicht geschnappt zu werden. Außerdem ist es sein Ziel, seine Tochter zu finden. Dass seine Tochter Mitglied der Ermittlungsbehörden ist, macht es für ihn nicht einfacher, aber er ist sich dessen mit Sicherheit bewusst. Ich vermute, dass er uns jetzt beschäftigen will. Vor allem befürchte ich eins: Nach heute Nacht wird er auf den Geschmack gekommen sein.“

„Und was heißt das?“, fragte Mike.

„Ich denke, dass seine Mordlust geweckt ist. Er liebt es, zu töten. Es würde mich nicht wundern, wenn er jetzt tötet, um mit uns eine Art Schnitzeljagd zu veranstalten. Und er wird versuchen, auf diese Weise an Sadie heranzukommen. Oder siehst du das anders, Sadie?“

Sie verzog nachdenklich die Lippen und zuckte mit den Schultern. „Klingt für mich plausibel. Ich muss zugeben, es fällt mir schwer, das nüchtern aus der Perspektive eines Profilers zu betrachten, weil er mein Vater ist. Aber logisch betrachtet muss es so sein. Ja, er ist ein notorischer Mörder und ja, er sucht mich. Er wird das tun, was ihm am meisten Nutzen bringt und deshalb denke ich, er wird vielleicht Raubmorde begehen oder irgendwo einbrechen und die Bewohner töten, um sich zu verstecken.“

„Das ist anzunehmen“, stimmte Nick zu. „Wir müssen eindringlich vor ihm warnen. Er macht das leider verdammt gut, zwischen Nevada und Waterford hatten wir keine Ahnung, wo er ist.“

„Dumm war er nie“, sagte Sadie trocken.

„Nein, das denke ich auch. Aber was braucht er jetzt? Er braucht Geld, Essen und ein Dach über dem Kopf. Das alles bekommt er nur von anderen Menschen. Nur da können wir ihn schnappen. Überall muss die Polizei sensibilisiert sein, wir brauchen Zugriff auf Überwachungskameras, besonders die von Tankstellen und Supermärkten. Wir müssen eine Pressekonferenz abhalten. Dort müssen und sollten wir Sadie mit keiner Silbe erwähnen, das würde nicht helfen. Aber wir müssen die Menschen vor ihm warnen. Wir müssen ihn unter Druck setzen, damit er einen Fehler macht.“

„Und wenn wir Sadie doch erwähnen?“, überlegte Phil laut. „Wenn wir ihm irgendwie verraten, wo sie ist. Das könnte ihn auf den Plan rufen. Vielleicht lässt er sich in eine Falle locken.“

„Nun, das können wir überlegen, wenn nichts Anderes funktioniert“, sagte Nick. „Das ist nämlich auch nicht risikolos.“

„Ich weiß, aber er läuft gerade herum und ist im Blutrausch. Das müssen wir unterbinden!“

„Das werden wir und die Zeit arbeitet für uns. Er kann sich ja nicht eingraben. Irgendwann stoßen wir auf seine Spur und dann können wir ihr folgen.“

„Pressekonferenz finde ich gut“, sagte Mike. „Es hat sich bereits herumgesprochen, dass es hier schon wieder einen Mord gegeben hat. Dazu sollten wir langsam ein Statement abgeben.“

„Da stimme ich Ihnen zu, Chief. Wir sollten vielleicht auch mit dem Marshal Service sprechen, vielleicht haben die noch Hinweise für uns.“

„Übernehmen wir deren Ermittlungen jetzt?“, fragte Cassandra.

Dormer nickte. „Das ist jetzt ein Fall für uns. Er ist staatsgrenzenübergreifend unterwegs – und er hat gemordet. Ich wette, dass der Marshal Service das anders sieht, aber darüber diskutiere ich nicht. Bislang haben die sich ja nicht sehr mit Ruhm bekleckert.“

Sadie sagte dazu nichts, obwohl sie seiner Meinung war. Sie war wütend. Fanny war tot und ihres Erachtens wäre das vermeidbar gewesen.

„Würde es uns eigentlich helfen, in die Gerichtsmedizin zu gehen?“, fragte sie.

„Hm“, machte Nick. „Vielleicht. Aber versteh mich nicht falsch – das wirst nicht du machen.“

„Ich glaube, das will ich auch nicht“, erwiderte Sadie.

„Generell sollte sich jemand mit den alten Akten beschäftigen. Wir könnten noch etwas Nützliches erfahren. Ich denke, das sollten unsere Prioritäten sein. Wir organisieren eine intensive Fahndung, eine Pressekonferenz und wir arbeiten am Profil.“

Nick wollte schon die Aufgaben verteilen, als es an der Tür klopfte und Barbara hereinkam. „Wir haben gerade eine Nachricht von der Polizei in Stockton bekommen. Foster wurde an einer Tankstelle gesehen.“

„Weiß die Polizei in Stockton über alles Bescheid?“, fragte Mike. „Wen sie da jagen?“

„Ja, überall wurden Straßensperren errichtet. Die waren da sehr schnell. Könnte gut sein, dass sie ihn bald finden“, sagte Barbara.

„Das wäre ja schön“, sagte Nick. „Vielleicht sollte jemand in Stockton vorbeischauen und mithelfen.“

„Das würde ich gern tun“, sagte Ian.

„Ich organisiere die Pressekonferenz“, sagte Mike.

„Gut, ich würde dann in die Gerichtsmedizin fahren. Und was ist mit dir, Sadie?“

„Ich nehme mir die alten Akten vor“, sagte sie. „Mir könnte am ehesten etwas auffallen.“

„Mag sein. Aber wenn du damit Schwierigkeiten hast, sag es uns.“

„Wir helfen ihr“, sagte Phil und deutete auch auf Matt, der sofort nickte. Cassandra wollte sich ebenfalls anschließen. Sie standen auf und verließen nacheinander den Besprechungsraum. Sadie hielt Ausschau nach einer Ecke, in der sie ungestört arbeiten konnten und hielt inne, als sie überraschend ihre Freundin Tessa bemerkte. Sie stand vor dem Tresen und wartete.

„Du bist ja hier“, entfuhr es ihr. Sofort ging sie auf Sadie zu und umarmte sie wortlos. Sadie erwiderte die Umarmung und kämpfte schon wieder mit den Tränen.

Nur langsam löste Tessa sich von ihr und sah sie an.

„Als ich vorhin zur Arbeit gefahren bin, bin ich am Haus deiner Familie vorbeigekommen. Da war überall Polizei ...“

„Komm mit“, bot Sadie ihr an und ging mit ihr an den anderen vorbei in den Besprechungsraum. Matt folgte den beiden.

„Sag jetzt nicht, du bist deshalb hier“, murmelte Tessa, noch bevor sie Platz genommen hatte.

„Hm“, machte Sadie verhalten. „Doch, bin ich.“

„Mit Matt und deinem Chef?“ Tessa schluckte. „Sadie, was ist hier los? Das ist doch nicht normal.“

„Nein ....“ Irgendwie gelang es Sadie, die Tränen zurückzuhalten. „Mein Vater war hier. Heute Nacht.“

„Was?“, sagte Tessa leise. „Oh mein Gott. Oh Gott ...“

„Er hat Norman und Fanny angegriffen“, sagte Sadie mechanisch. „Norman liegt in Modesto im Krankenhaus und Fanny ... sie ist tot.“

Entsetzt starrte Tessa sie an und wusste nicht, was sie sagen sollte. Scheu wischte Sadie sich eine Träne weg. Matt bezog ganz langsam Posten hinter ihr und legte seine Hände auf ihre Schultern.

Auch in Tessas Augen glitzerten Tränen, als sie wieder aufsah. „Das ist so schrecklich ... Wie ist das passiert?“

„Er war auf der Suche nach mir. Er ist bei den beiden eingebrochen und wollte wissen, wo ich bin. Dann hat er auf die beiden eingestochen. Fanny ...“ Sadie stockte kurz. „Sie ist verblutet. Und Norman hatte wirklich nur Glück. Ich habe ihn vorhin im Krankenhaus besucht. Phil hat mich heute Morgen angerufen und jetzt bin ich mit meinem Team hier, um meinen Vater zu finden. Das muss aufhören.“

„Oh Gott“, murmelte Tessa leise. „Das ist so furchtbar ...“

Mit zu Fäusten geballten Händen sagte Sadie: „Ich könnte ihn umbringen. Du hast ja keine Ahnung.“

„Nein ... ich habe gestern noch die ganze Zeit darüber nachgedacht. Und ich habe im Internet nach ihm gesucht. Mir war das alles gar nicht klar ... er hat achtzehn Frauen ermordet?“

„Noch mehr“, präzisierte Sadie. „Die letzten fünf hat er den Behörden für seinen Deal geliefert.“

„Liebe Güte, Sadie ...“ Tessa beugte sich vor und griff nach Sadies Händen. „Es tut mir so leid. Kann ich irgendwas für dich tun?“

„Bring mir seinen Kopf“, erwiderte Sadie hart.

Tessa lachte kurz, wurde dann aber wieder ernst. „Das würde ich, wenn ich könnte, Süße. Das ist entsetzlich. Hast du Norman schon gesehen?“

Sadie nickte. „Ich war schon bei ihm, ja. Ich weiß noch, wie er gestern sagte, dass er sich keine Sorgen macht. Er hat nicht geglaubt, dass mein Vater so etwas tun würde ...“

Tränen erstickten alles, was sie noch sagen wollte. Tessa stand auf, hockte sich vor sie und umarmte sie. Während Sadie nicht länger gegen die Tränen kämpfte, tauschten Tessa und Matt einen vielsagenden Blick.

„Ihr werdet ihn bestimmt finden“, sagte Tessa. „Und dafür kann er doch diesmal die Todesstrafe kriegen, oder?“

Sadie schluchzte. „Wenn man es dabei belassen hätte, wäre das alles nicht passiert.“

„Oh, Süße ...“ Tessa strich ihr über den Rücken und seufzte. „Du musst ihn finden und es ihm zeigen! Mach ihn fertig. Das kannst du.“

„Das habe ich auch vor.“ Sadie wischte sich die Tränen von den Wangen und stand langsam wieder auf. „Am liebsten würde ich ihm persönlich den Hals umdrehen!“

Wortlos umarmte Matt sie von hinten und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

„Wenn irgendwas ist, dann meld dich einfach“, sagte Tessa. „Ich wollte eigentlich nur bei Phil fragen, was hier los ist ... ich muss wieder zur Arbeit.“

„Kein Problem“, sagte Sadie.

„Es tut mir leid, ich würde gern ...“

„Schon gut“, unterbrach Sadie sie. „Du bist eine echte Freundin, Tessa. Danke.“

Tessa lächelte bloß, umarmte Sadie zum Abschied und verschwand wieder. Seufzend blickte Sadie ihr hinterher.

Das war ein böser Traum. Das alles. Es musste so sein. Sie wusste nicht, was sie denken oder fühlen sollte.

Während im Police Department alle geschäftigt herumliefen, stand sie einfach nur da, spürte Matts Wärme an sich und fragte sich, ob das alles noch echt war. Wieder einmal hatte sie das Gefühl, als zöge alles nur an ihr vorbei.

Sie fragte sich, wo ihr Vater jetzt steckte und was sein Plan war. Glaubte er wirklich, dass er an sie herankam? Das würden weder Matt noch Nick noch irgend jemand sonst zulassen. Davor hatte sie eigentlich keine Angst. Sie war nur voller Hass und Wut.

Schließlich war es Zeit für die Pressekonferenz. Die ersten Reporter trafen ein. Mike hatte dafür gesorgt, dass ein langer Tisch aufgebaut wurde, an dem nun alle ermittelnden Polizisten und Agents Platz nahmen.

„Soll ich dabei sein?“, fragte Sadie.

„Gute Frage“, erwiderte Nick. „Wir dürfen uns keine Illusionen machen, er wird das sehen. Die Frage ist nur: Wie reagiert er darauf?“

„Passieren kann ihr doch nichts“, sagte Matt. „Er kann ruhig wissen, dass sie hier ist.“

„Zudem ist es gut möglich, dass wir eine Reaktion provozieren, wenn er sie sieht“, überlegte Nick und wandte sich dann an Sadie. „Du hältst dich im Hintergrund, aber du bist dabei. Ich glaube, das ist richtig.“

Sadie nickte und begleitete sie alle nach nebenan.

„Ich bin da“, sagte Nick atemlos und lief an allen vorbei nach vorn. Der Raum wimmelte bereits vor Journalisten und Kameras. Nick setzte sich neben Mike.

„Vielen Dank für Ihr zahlreiches Erscheinen“, eröffnete Mike die Pressekonferenz. „Wie Sie sicher schon erfahren haben, hat heute Nacht ein Verbrechen in Waterford stattgefunden. Das Ehepaar Norman und Fanny Scott wurde in seinem Haus überfallen und angegriffen. Norman Scott hat die Attacke überlebt, so dass wir eine Zeugenaussage haben und wissen, wer der Angreifer war. Dabei handelt es sich um den flüchtigen Serienmörder Rick Foster. Ich übergebe an Supervisory Special Agent Nicholas Dormer von der Verhaltensanalyseeinheit des FBI.“

„Guten Tag, meine Damen und Herren“, sagte Nick. „Gemeinsam mit meinen Kollegen unterstütze ich nun die hiesige Polizei bei der Suche nach dem Täter. Wie Sie wissen, ist Foster seit letzter Woche auf der Flucht. Er ist sehr gefährlich, deshalb raten wir ausdrücklich davon ab, sich ihm zu nähern oder ihn anzusprechen. Wenn Sie ihn sehen, verständigen Sie bitte die Polizei.“

Sadie hörte nicht ganz zu, während Nick und Mike alle nötigen Informationen bekanntgaben. Sie taten so, als handle es sich bei Norman und Fanny um Zufallsopfer. Mehr musste die Öffentlichkeit nicht wissen, denn das hätte nur unangenehme Fragen provoziert. Sie hätten erklären müssen, dass es um Sadie ging, und das wollten sie nicht.

Doch schließlich war es überstanden und sie gingen wieder hinüber ins Büro. Fahndungsergebnisse gab es immer noch keine. Rick Foster war wieder mal untergetaucht.

„Konntest du Erkenntnisse gewinnen?“, erkundigte Sadie sich bei Nick.

„Ich konnte unsere Vermutungen untermauern. Der Gerichtsmediziner hat sie sich zumindest oberflächlich angeschaut und bestätigt, was wir vermutet haben: Sie ist verblutet. Das ist ziemlich schnell gegangen, denn ein Stich ging in die Leber und das führt schnell zum Tod.“

Sadie nickte und versuchte, nicht die Fassung zu verlieren. Ihre arme Tante.

„Ich habe aber auch bestätigt gesehen, was wir vermutet hatten: Er hat wieder Geschmack daran gefunden. Ich gehe jede Wette ein, dass er sich jetzt durch die Landschaft mordet. Dass alles war überhaupt nicht nötig, aber er hat es trotzdem getan. So wird das weitergehen.“

„Dann werden wir ihn auch finden“, sagte Sadie.

„Er kann sich nicht ewig verstecken. Die Frage ist im Moment aber hauptsächlich, wer schneller ist. Finden wir ihn oder findet er dich zuerst?“ Nick machte eine bedeutungsvolle Pause. „Du musst mir versprechen, dass du nicht allein bleibst.“

„Hältst du es für sinnvoll, wenn wir bei Phil übernachten?“, fragte Sadie. Das hatte er ihr und Matt nämlich bereits angeboten.

Dormer nickte. „Du wärst bei zwei Polizisten. Das halte ich für ziemlich sicher. Ich denke ja auch nicht, dass er dich dort finden würde.“

Sadie holte tief Luft. „Was denkst du, warum er mich sucht?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete Nick, aber inzwischen kannte sie ihn gut genug, um zu wissen, dass er flunkerte.

„Das glaube ich dir nicht. Denkst du, dass er mich umbringen will?“

Er nickte, ohne sie anzusehen. „Das denke ich allerdings. Er ist ein Sadist, der das Morden liebt. Ich weiß nicht, warum er dich hasst, aber er tut es. Rational ist das alles nicht, aber das ist nicht sein Problem.“

„Ich bin die Einzige, die ihm je entkommen ist“, stellte Sadie fest. „Vielleicht ärgert ihn das. Ich war noch ein Kind.“

„Gut möglich. Du bist ihm entkommen, hast gegen ihn ausgesagt und ein neues Leben begonnen. Einen Kontrollfreak wie ihn muss das ärgern.“

Phil gesellte sich zu den beiden. „Können wir noch etwas tun, Agent Dormer?“

Nick schüttelte den Kopf. „Für den Moment sind wir fertig. Machen wir Feierabend. Jetzt müssen wir abwarten.“

Alle waren einverstanden. Matt und Sadie schlossen sich Phil an, um mit ihm nach Hause zu fahren. Nun, da er allein wohnte, hatte er genug Platz. Das waren seine sarkastischen Worte gewesen. Er tat Sadie leid, aber sie wusste auch seine Gastfreundschaft zu schätzen. Zwar hätte Tessa auch genug Platz gehabt, aber bei Phil und Matt war sie sicherer. Außerdem wollte sie Tessa um keinen Preis in Gefahr bringen.

„Sollen wir Tessa dazuholen?“, schlug plötzlich Matt vor.

„Hat sie denn schon Feierabend?“, fragte Phil.

„Schauen wir nach.“

So machten sie noch einen Abstecher zu Estebans Computerladen. Inzwischen war es zehn vor fünf und als Tessa sie alle in der Tür bemerkte, winkte sie ihnen und beeilte sich. Minuten später stand sie vor ihnen und nickte.

„Feierabend. Was auch immer ihr hier alle tut – ich bin dabei.“

„Wir wollten fragen, ob du uns heute Abend Gesellschaft leistest“, sagte Sadie.

„Klar! Bin dabei. Wir haben alle zusammen ein Auge auf dich, was?“

Matt grinste, als er sie das sagen hörte. Zu viert machten sie sich auf den Weg zu Phil. Für Sadie war es nicht seltsam, wieder dort zu sein. Unterwegs erzählte sie Tessa, dass sie und Matt dort übernachten würden und natürlich war Tessa sofort beleidigt, aber dem Argument mit der Sicherheit war sie doch überraschend zugänglich.

„Ich hab nun mal keine Knarre unter meinem PC versteckt“, gab sie zu.

„Dachte ich mir“, sagte Phil. „Ist wahrscheinlich wirklich ganz gut, wenn zwei Polizisten bei Sadie sind.“

„Ja, hast ja recht“, brummte Tessa, grinste dann aber. „Auf den ganzen Schreck habe ich jetzt richtig Hunger. Wem geht es noch so?“

„Mir“, sagte Phil grinsend.

„Wollen wir uns was bestellen?“

„Können wir machen“, sagte Phil. Kurz darauf erreichten sie ihr Ziel. Während Matt, Sadie und Tessa ins Wohnzimmer gingen, ging Phil in die Küche und kehrte mit einer ganzen Handvoll Speisekarten zurück.

„Chinesisch, Indisch, Burger, Pizza, Mexikanisch ... sucht euch was aus“, sagte er.

„Ich hab Hunger auf Mexikanisch“, sagte Matt. „Drüben in Virginia taugt mexikanisches Essen nichts.“

Gemeinsam steckten sie die Köpfe in die Speisekarte und suchten sich etwas aus, dann gab Tessa die Bestellung auf. Tessa schaute sich interessiert in Phils Wohnzimmer um und blickte dann in die Runde.

„Ich bin immer noch fassungslos.“

„So ging es mir auch“, sagte Matt. „Als Sadie mich heute morgen aus Quantico anrief und mir sagte, dass Foster hier sein Unwesen getrieben hat ... ich wollte es nicht glauben.“

„Ja, aber ihr beiden Helden hattet immerhin etwas Vorsprung vor mir in Sachen Zeugenschutzprogramm. Ich hab das erst gestern erfahren“, sagte Tessa. „Wie hast du das eigentlich herausgefunden, Phil?“

„Ich musste ein bisschen länger suchen“, sagte er. „Ging eigentlich nur über die Rekonstruktion von Eckdaten. Aber dann habe ich den Artikel mit dem Kinderfoto von Sadie gefunden.“

„Die roten Haare“, sagte Tessa augenzwinkernd. „Ich hab das jetzt auch gesehen. Man erkennt sie wirklich gut.“

„Das war leider schon längst im Umlauf, bevor wir im Zeugenschutzprogramm gelandet sind. Aber färben wollte ich mir die Haare auch nie“, sagte Sadie.

„Kann ich verstehen“, erwiderte Tessa. „Wie siehst du dich denn selbst? Als Kim oder als Sadie?“

„Ich bin Sadie Scott. Mein altes Leben kann mir gestohlen bleiben. Mein Vater ist zwar ein Serienmörder, aber das hat mich eigentlich nie so sehr beschäftigt. Ich fand es viel schlimmer, dass er meine Mum geschlagen hat und meine Schwester. Und er hat meine Schwester missbraucht. Es war immer schwierig.“

„Ich hätte das nie gemerkt“, sagte Phil. „Du warst zwar immer recht still, aber das?“

„Ich habe schon gemerkt, dass da etwas ist. Aber darauf wäre ich auch nicht gekommen“, sagte Matt.

„Darauf kommt man auch nicht“, sagte Sadie nüchtern. „Aber ja, das ist mein verdammtes, kaputtes Leben. Es wurde erst normal, als mein Vater im Knast war und ich hier in Waterford. Fanny und Norman haben es normal gemacht. Und jetzt ...“

„Damit kommt er nicht davon“, sagte Phil. „Und ich glaube auch nicht, dass sie ihn noch einmal aus dem Todestrakt lassen. Auf seiner Flucht hat er doch gleich wieder mit dem Morden begonnen.“

„Und er ist noch nicht fertig“, sagte Sadie. „Im Gegenteil. Er hat gerade erst angefangen.“

„Kann ich irgendwie helfen?“, fragte Tessa noch einmal.

„Ich fürchte, nicht“, erwiderte Sadie. „Uns hilft jetzt nur die Zeit. Er wird uns irgendwann in die Falle tappen – aber was hat er bis dahin angestellt? Wieviele Menschen müssen noch sterben?“

Darauf wusste niemand eine Antwort.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739332697
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Februar)
Schlagworte
USA Profiling Profiler Gefahr Kalifornien Thriller Serienmörder Spannung FBI Ermittlungen Psychothriller Krimi Ermittler

Autor

  • Dania Dicken (Autor:in)

Dania Dicken, Jahrgang 1985, schreibt seit ihrer Kindheit. Die in Krefeld lebende Autorin hat in Duisburg Psychologie und Informatik studiert und als Online-Redakteurin gearbeitet. Mit den Grundlagen aus dem Psychologiestudium setzte sie ein langgehegtes Vorhaben in die Tat um und schreibt seitdem Psychothriller mit Profiling als zentralem Thema.
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Titel: Die Seele des Bösen - Blutiges Wiedersehen