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Die Seele des Bösen - Undercover

Sadie Scott 6

von Dania Dicken (Autor:in)
292 Seiten
Reihe: Sadie Scott, Band 6

Zusammenfassung

Ein Neuanfang wartet auf FBI-Agentin Sadie Scott: Als Profilerin arbeitet sie nun für das FBI Los Angeles Division und ermittelt gleich in ihrem ersten großen Fall gegen einen Serienvergewaltiger. Während der Ermittlungen lässt sie sich nicht anmerken, was sie wenige Monate zuvor durchgemacht hat. Davon wissen in Los Angeles nur ihr Freund und Kollege Phil und Matt, mit dem sie frisch verheiratet ist. Auch Matt ist nun Agent beim FBI und schon bald bittet er Sadie um Hilfe. Er ermittelt undercover gegen einen mexikanischen Kartellboss und ist zufällig auf eine Mordserie an illegalen Einwanderinnen aus Mexiko gestoßen. Erschreckende Gemeinsamkeit: Alle toten Frauen haben kurz vor ihrer Ermordung ein Kind geboren. Neben ihren eigenen Ermittlungen unterstützt Sadie Matt bei seiner Arbeit, doch beide ahnen nicht, in welche Gefahr sie sich begeben …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Donnerstag

 

Inzwischen hatte Sadie aufgehört, zu zählen, wie oft sie jeden Tag die Polizeisirenen hörte, die den Wilshire Boulevard entlangjagten und langsam wieder verklangen. Selbst durch die geschlossenen Fenster konnte man, wenn es leise war, das Rauschen der nahen Interstate 405 hören, das Hupen der Autos auf dem flimmernden Asphalt.

Das Büro, in dem sie arbeitete, lag auf der dem Pazifik zugewandten Seite des FBI-Hochhauses im Nordwesten von Los Angeles. Das hatte eine beruhigende Wirkung auf sie.

Die Mittagspause war gerade vorbei und sie wollte sich wieder an ihren Rechner setzen, als ihr Telefon klingelte. Die Nummer auf dem Display des Telefons sagte ihr nichts.

„Special Agent Sadie Whitman“, meldete sie sich und klemmte das Telefon zwischen Kinn und Schulter ein.

„Gut, dass ich Sie erreiche, Agent Whitman“, sagte eine freundliche Frauenstimme. „Hier ist Detective Marla Winter vom Pasadena Police Department. Ich denke, ich benötige Ihre Hilfe.“

„Worum geht es?“, fragte Sadie.

„Es geht um den Pasadena Stalker“, sagte Detective Winter.

„Okay, was kann ich für Sie tun?“

„Er hat vorletzte Nacht wieder zugeschlagen. Diesmal traf es eine junge Verkäuferin. Sie ist zwar inzwischen stabil, aber sie redet nicht wirklich mit mir. Ich denke, allmählich könnte ich da wirklich Hilfe gebrauchen.“

Sadie nickte verstehend. Der Pasadena Stalker war ein Serienvergewaltiger, der Pasadena nun seit dem Frühjahr in Atem hielt. In unregelmäßigen Abständen brach er in die Apartments alleinstehender Frauen ein, überwältigte sie und quälte sie die ganze acht lang. Sadie hatte schon längst davon gehört und war nicht überrascht über diesen Anruf.

„Man sagte mir, dass Sie ein Händchen für sowas haben“, fuhr Detective Winter fort.

„Ich kann mein Glück gern versuchen“, sagte Sadie.

„Es geht um Janine White. Sie liegt im Huntington Memorial Hospital. Bitte, sprechen Sie mit ihr. Ich brauche diese Aussage. Vielleicht hat sie etwas an ihm bemerkt, das uns weiterhilft.“

„Bin schon unterwegs“, sagte Sadie. Winter verabschiedete sich von ihr und Sadie legte auf. In Windeseile hatte sie ihre Sachen zusammengesucht und hielt den Autoschlüssel in der Hand. Der schnellste Weg nach Pasadena führte über die Interstate 10. Um diese Zeit war da noch kein Stau zu befürchten, deshalb ging sie das Risiko ein.

Sie setzte sich in einen der FBI-Dienstwagen, gab das Ziel im Navigationsgerät ein und fuhr los. Aus dem Radio schallten die Black Keys.

Jetzt also der Pasadena Stalker. Sie war mit dem Fall bereits vertraut, denn der fiel jetzt in ihre Zuständigkeit. Seit sechs Wochen gehörte sie als einzige Profilerin zur Major Crimes Unit des FBI in Los Angeles, einer Einheit, die bei schweren Verbrechen aktiv wurde und entweder von vornherein ermittelte oder die Polizei bei ihren Ermittlungen unterstützte. Als Profilerin der Behavioral Analysis Unit hatte man sie mit Kusshand genommen – erst recht, nachdem sie im Frühsommer noch vor ihrem Umzug einen Kurs absolviert hatte, der sie im Umgang mit traumatisierten Menschen schulte. Auf die Idee hatte sie das Profiler-Team in England gebracht, das über einen ausgebildeten Traumatherapeuten verfügte. Sadie wusste, wie wichtig es war, jemanden mit solchen Kompetenzen an Bord zu haben - und weil sie die Gelegenheit dazu gehabt hatte, hatte sie eben selbst eine solche Fortbildung gemacht.

Es war brütend heiß, aber dank der Klimaanlage merkte Sadie das im Auto kaum. Tatsächlich war um diese Zeit nicht sonderlich viel Verkehr, so dass sie nach einer halben Stunde pünktlich in Pasadena eintraf. Sie parkte den Wagen in der Nähe des Krankenhauses und erkundigte sich, nachdem sie ihre Dienstmarke vorgezeigt hatte, am Empfang nach Janine White.

Während sie auf den Aufzug wartete, betrachtete sie ihr Spiegelbild in den Aufzugtüren. Sie trug eine schlichte, nicht zu schicke Bluse, eine schwarze Hose, unauffällige Schuhe. An diesem Tag hatte sie sich ihr langes, feuerrotes Haar zu einem Zopf gebunden, beschloss nun aber, es doch lieber offen zu tragen. Das sah nicht so streng aus. Einschüchternd wollte sie schließlich nicht auf Janine wirken.

Als sie die richtige Etage erreicht hatte, verließ sie den Aufzug und folgte dem Flur bis zu dem Zimmer, in dem Janine White lag. Sie klopfte vorsichtig, wartete kurz und öffnete dann langsam die Tür. Das Krankenbett stand direkt vor dem Fenster; es war ein Einzelzimmer. Der Monitor neben dem Bett war ausgeschaltet, davor stand ein Tropf. Im Bett lag eine junge Frau mit dunklem Haar. Sie blickte zu Sadie, sah sie aber nicht wirklich an.

Schon von der Tür aus konnte Sadie sehen, wie furchtbar er sie zugerichtet hatte. Das tat er immer. Sie hatte ein blaues Auge, im Gesicht klebten Pflaster, ihre Handgelenke waren bandagiert. Mehr konnte Sadie auf Anhieb nicht sehen, auch wenn sie wusste, dass da mehr war.

„Hallo, Janine“, sagte Sadie halblaut. „Ich hoffe, ich störe nicht. Mein Name ist Sadie Whitman, ich bin beim FBI.“ Zur Untermauerung ihrer Worte hielt sie kurz ihre Marke hoch.

Doch Janine erwiderte nichts. Sie schaute wieder aus dem Fenster, ihr Blick ging unverändert ins Leere.

Sadie zog einen Stuhl heran und setzte sich ans Fußende des Bettes. Aus dem Fenster konnte man auf die nahen Berge blicken. Sie waren sonnenverbrannt. Es wurde Zeit, dass es mal wieder regnete.

Sadie sagte überhaupt nichts. Janine hatte sie schon angesehen und sich jetzt wieder eingekapselt, aber das würde nicht so bleiben. Sadie studierte die Beschriftung am Fußende des Bettes und wartete.

„Was wollen Sie?“, fragte Janine schließlich. Sie klang heiser, die Würgemale an ihrem Hals verrieten den Grund dafür. Sadie hob den Kopf, die Blicke der beiden trafen sich.

„Vorhin habe ich mit Detective Winter telefoniert“, sagte Sadie. „Sie ist besorgt.“

„Besorgt?“, wiederholte Janine verständnislos.

Sadie nickte. „Sie sagte mir, dass Sie nicht mit ihr gesprochen haben.“

Janine schüttelte den Kopf, aus ihrem Auge löste sich eine Träne. Dieser Anblick ließ Sadie nicht kalt, aber das durfte sie sich nicht anmerken lassen.

„Ich verstehe, wie schwer Ihnen das fallen muss“, sagte sie und hatte das Gefühl, das müsse in Janines Ohren wie der pure Hohn klingen. Wie eine Floskel. Dabei meinte sie es ernst.

Erwartungsgemäß sagte Janine nichts, deshalb fuhr Sadie fort. „Wir sind auf Ihre Mithilfe angewiesen, um den Täter zu finden. Glauben Sie mir, die Polizei nimmt den Fall sehr ernst und tut alles in ihrer Macht Stehende, damit so etwas nicht wieder passieren muss.“

Doch Janines einzige Reaktion bestand aus einem leisen Schluchzen. Sadie konnte sie gut verstehen. Sie hatte schon vermutet, dass sie so nicht weiterkam. Also beschloss sie, aufs Ganze zu gehen und Janine zu einer Reaktion zu provozieren.

„Wir wissen über ihn, dass er sehr groß ist, trainiert aussieht, immer eine Maske trägt ...“

In diesem Moment begann Janine plötzlich, sehr heftig zu schluchzen. Sadie hörte sofort auf. Sie hatte gehofft, durch diese Konfrontation etwas auszulösen.

„Er hat so dunkle Augen“, sagte Janine. „So böse ...“

„Wie klingt seine Stimme?“, fragte Sadie. Sie war sofort hellwach und konzentriert.

„Ruhig. Immer ruhig. Es sei denn, er ist wütend“, sagte Janine. „Dann klingt sie gefährlich.“

„Drohend?“, fragte Sadie.

Janine nickte. „Ich kann sie immer noch hören.“

„Hat er einen Akzent?“

Die junge Frau schüttelte den Kopf. „Nein. Er klingt wie jemand aus der Gegend.“

„Kommt Ihnen irgendwas an ihm bekannt vor?“

„Nein, nichts. Ich weiß nicht, wie er auf mich gekommen ist.“

Sadie hatte nun nicht mehr den Eindruck, dass Janine nicht sprechen wollte. Man musste nur die richtigen Fragen stellen. Mit ihrer Aufzählung seiner Merkmale hatte sie bei Janine etwas getriggert, das ihr dabei half, zu sprechen.

„Wann sind Sie vorgestern nach Hause gekommen?“, fragte Sadie.

„Das war so gegen halb neun ... ich hab mir noch schnell ein Sandwich gemacht und die neue Folge von Navy CIS geguckt.“ Janine holte tief Luft. „Sie war noch nicht vorbei, als er plötzlich hinter mir stand. Ich weiß nicht, wie er reingekommen ist. Ich habe nichts gehört. Nicht mal, wie er hinter mich geschlichen ist.“

„Wie hat er sich bemerkbar gemacht?“

„Er hat mir mit der einen Hand das Messer an die Kehle gehalten und die andere auf meinen Mund gedrückt. Dann hat er gesagt, ich soll mich auf den Bauch legen, auf den Boden.“ Tränen strömten Janine über die Wangen. „Ich habe es gemacht. Bis dahin hatte ich ihn nicht mal gesehen.“

Sadie nickte ernst. Das machte er eigentlich immer so. Weil Janine heftig weinte, übernahm Sadie das Reden für sie.

„Dann hat er Sie gefesselt?“, fragte Sadie.

Janine nickte. „Mit Handschellen.“ Mehr konnte sie nicht sagen, ihre Stimme brach weg. Doch Sadie ließ ihr Zeit.

„Was ist dann passiert?“, fragte sie nach einigen Augenblicken.

„Er hat verhindert, dass ich schreie. Mit einem Tuch. Dann lag ich am Boden und er ist ins Schlafzimmer gegangen.“ Janine zitterte heftig und wischte sich über die Augen. „Er hat Stricke an meinem Bett befestigt. Als er damit fertig war, ist er zurückgekommen. Er hat mich ins Schlafzimmer geschleift, meine Füße festgebunden und dann meine Hände. Ich konnte mich nicht mehr rühren.“ Sie schnappte heftig nach Luft und atmete stoßweise.

„Ganz ruhig“, sagte Sadie. „Sie machen das wirklich toll, Janine. Das ist uns eine wahnsinnig große Hilfe dabei, ihn zu finden, wissen Sie das?“

„Er ist so ein Schwein“, sagte Janine schluchzend. Sadie wusste, dass sie es jetzt nicht übertreiben durfte, sonst machte Janine wieder dicht. Erneut ließ sie ihr einen Moment Zeit, bevor sie ihr wieder auf die Sprünge half.

„Dann hat er Ihre Sachen mit dem Messer zerschnitten“, formulierte sie es vorsichtig.

Janine nickte. „Er hat sich Zeit gelassen. Ich konnte ja nichts tun. Nicht mal schreien. Er ... er hat nur die ganze Zeit gesagt, dass ich ihn ansehen soll. Das wollte ich nicht ... es war furchtbar.“

Das konnte Sadie sich nur allzu gut vorstellen. Sie konzentrierte sich jedoch ganz auf Janine, auf ihre Worte und das, was ihr zugestoßen war. Inzwischen wussten die Ermittler über den Pasadena Stalker, dass er ein Sadist war. Er war sehr geschickt, denn niemand sah ihn je kommen und gehen. Die Frauen in ihren Wohnungen zu überfallen war seine Vorgehensweise. Das war auch gar nicht so selten, wie Sadie wusste. Er benutzte einen Dietrich, lauerte ihnen auf, überwältigte sie, fesselte sie an ihr eigenes Bett und tat dann die ganze Nacht über, wonach auch immer ihm der Sinn stand. Er vergewaltigte sie, traktierte sie mit seinem Messer, würgte sie. Dabei war er die ganze Zeit maskiert und er benutzte Kondome, so dass die Ermittler nicht das kleinste Krümelchen DNA hatten. Sadie hoffte, dass er irgendwann einen Fehler machte. Dass er immer maskiert und darauf bedacht war, seine DNA für sich zu behalten, ließ sie vermuten, dass er einschlägig vorbestraft und sein genetischer Fingerabdruck längst in der Datenbank hinterlegt war.

„Hat er mit Ihnen gesprochen?“, fragte Sadie schließlich.

„Ja ... er hat verschiedene Dinge gesagt. Er wollte mich erniedrigen. Er hat mir Dinge befohlen ... er wollte ja, dass ich nicht leise bin. Ich sollte auch weinen. Das hat ihn angetörnt“, berichtete Janine mit zitternder Stimme.

„Haben Sie sich irgendwas gemerkt? Ist Ihnen irgendwas an ihm aufgefallen? Welche Kleidung trug er?“

„Er trug einen Overall“, sagte Janine. „Dunkelblau. Darunter hatte er ein T-Shirt. Das hat er auch die ganze Zeit anbehalten. Mir ist aufgefallen, dass er für einen Weißen ziemlich dunkle Haut hatte. Vielleicht stammt er von Einwanderern ab. Unter dem T-Shirt trug er eine Kette.“

„Eine Kette?“, wiederholte Sadie interessiert.

„Ja, eine dicke Silberkette. Irgendwann konnte ich den Anhänger sehen. Und er hatte eine Tätowierung am Oberarm.“

Sadie nickte, davon wusste sie schon. Die Kette interessierte sie viel mehr.

„Wie sah der Kettenanhänger aus?“, fragte sie.

„Ich fand das verrückt ... es war ein Engel. Ein silberner Engel, ziemlich groß. Er hat die Kette gleich wieder unter sein T-Shirt gesteckt.“

„Danke, Janine. Davon hat uns bislang noch keine Frau berichtet.“ Ganz sicher war Sadie sich da zwar nicht, aber soweit sie über den Fall Bescheid wusste, hatte sie davon nichts erfahren. Außerdem wollte sie Janine aufbauen und ihr das Gefühl geben, dass sie die Ermittlungen vorantrieb. Irgendetwas musste ihre schmerzvolle Aussage ja bringen.

„Was hat er zu Ihnen gesagt?“, fragte Sadie dann. „Ist Ihnen etwas Besonderes im Gedächtnis geblieben?“

Janine putzte sich die Nase und überlegte eine Weile. „Einmal war es seltsam ... da hat er mich Susie genannt. Das habe ich nicht verstanden.“

Susie? Damit konnte Sadie auch erst nichts anfangen, aber sie beschloss, es sich zu merken.

„Sonst noch etwas?“

Janine schüttelte den Kopf. „Nichts Bestimmtes. Eigentlich nur Befehle ... Dinge, die ich tun sollte. Ich weiß nicht, ob er besonders gesprächig war oder nicht. Er hat immer wieder etwas gesagt. Wenn er ...“ Janine holte tief Luft. „Wenn er mich geschnitten hat, hat er mich gefragt, ob das weh tut. Oder wenn er mich gewürgt hat ... ob er loslassen soll.“

„Okay“, sagte Sadie. „Sie sind richtig tapfer, Janine.“

„Dieses Schwein!“, schrie Janine plötzlich. „Sie müssen ihn kriegen, bitte ... Ich dachte, das hört nie auf. Er hat es einfach immer wieder getan. Er ... er liebt Blut. Er ...“

„Ganz ruhig“, versuchte Sadie, Janine mit sanfter Stimme zu beruhigen. „Ich weiß, was er getan hat.“

Schluchzend verbarg Janine das Gesicht in den Händen. „Ich wollte einfach nur, dass er aufhört. Dass er verschwindet. Mich einfach in Ruhe lässt ... aber ich konnte ja nichts tun. Gar nichts. Ich dachte, ich ersticke. Dann habe ich gehofft, dass er verschwindet und mich am Leben lässt, weil er ja maskiert war. Und das hat er dann auch gemacht.“

„Wann ist er gegangen?“, fragte Sadie.

„Im Morgengrauen. Als es anfing, hell zu werden, hat er sich angezogen, sein Messer genommen und ist gegangen. Einfach so. Er hat nicht mal was gesagt. Losgebunden hat er mich auch nicht. Irgendwann habe ich dann versucht, dieses Tuch aus dem Mund zu kriegen. Ich habe geschrien, so laut ich konnte. Ich habe am Bett gerüttelt. Schließlich haben die Nachbarn dann an der Tür geklopft und als ich nicht aufgemacht habe, haben sie die Polizei gerufen. Die hat mich gefunden.“

Genau wie in den anderen Fällen. Der Täter hatte ja kein Problem damit, in eine Wohnung in einem Apartmentkomplex einzusteigen. Bislang waren die Frauen alle am nächsten Morgen gefunden worden – mit Schnittverletzungen am ganzen Körper. Einige der vorigen Opfer hatten berichtet, dass er es genoss, ihnen in die Haut zu schneiden und an ihrem Blut zu lecken. Sadie hatte sich geschüttelt, als sie davon gelesen hatte. Er genoss es, Macht zu haben und sie auszuüben – stundenlang. Er vergewaltigte die Frauen und wenn er in ihren Zimmern irgendwelche Gegenstände fand, die er dafür benutzen konnte, nahm er auch die. Er würgte sie, wenn ihm danach war – manche bis zur Bewusstlosigkeit. Dann weckte er sie wieder auf.

Aber es war immer nur eine Nacht. Dann hatte er genug, ging wieder – und er ließ seine Opfer am Leben. Für Sadie klang das nach einem gewaltigen Ego. Viele dieser Täter begingen anschließend noch Morde, um ihre Taten zu verdecken und Zeugen zu beseitigen, aber das war diesem Kerl vollkommen egal. Er wollte sie nicht töten. Er wollte, dass sie weiterlebten, um von ihm zu erzählen und in Angst und Schrecken zu leben. Das fand Sadie ziemlich widerwärtig.

Sie holte tief Luft und blickte zu Janine. „Beschreiben Sie ihn mir. Alles, was Ihnen einfällt.“

„Seine Haare konnte ich nicht sehen“, begann Janine langsam. „Die Maske reichte bloß bis knapp unter sein Kinn. Dunkle Augen hat er und ganz dichte Augenbrauen. Wenn Sie ihn jetzt vor mich stellen, erkenne ich ihn bloß an den Augen. Die habe ich ja die ganze Zeit gesehen.“

Sadie nickte bloß und hörte weiter zu.

„Er ist wirklich sehr groß und er scheint Sport zu machen oder zu trainieren, jedenfalls hat er muskulöse, starke Arme. Er hat auch ziemlich behaarte Beine. An einem Bein hat er eine Narbe ...“ Janine überlegte kurz. „Ich glaube, links. Ein ganz langer Strich an der Wade, ziemlich dunkel.“

„Sehr gut, Janine“, sagte Sadie und lächelte. „Das ist großartig.“

„Er hat was von einem Latino. Außerdem hatte er ganz lange, schlanke Finger, das fand ich eigenartig. Passte nicht richtig zu ihm.“

Nur sein Gesicht konnte Janine natürlich nicht beschreiben. Das ärgerte Sadie, denn er hatte bislang immer diese Maske getragen und deshalb wusste keins der Opfer, wie er wirklich aussah.

Janine wischte sich die letzten Tränen ab. „Ich wollte einfach nur, dass es aufhört. Dass er wieder geht. Ich hatte immer Angst, dass mich mal so ein Irrer angreift ... aber in meiner eigenen Wohnung ...“

„Wir kriegen ihn, Janine“, sagte Sadie und nickte heftig. „Sie haben ihn mir gut beschrieben. Ich werde mit der Polizei sprechen und dann sehen wir zu, dass wir ihn endlich aus dem Verkehr ziehen.“

„Bitte“, sagte Janine. Erneut kullerte eine Träne über ihre Wange. „Das war die furchtbarste Nacht meines Lebens. Seien Sie bloß froh, wenn Ihnen das nie passiert ...“

Für einen Moment vergaß Sadie zu atmen. Sie starrte Janine einfach nur an, aber dann fing sie sich.

„Vielen Dank, Janine. Sie können stolz auf sich sein. Kommen Sie schnell wieder auf die Beine.“ Mit diesen Worten stand Sadie auf, griff nach ihrem Portemonnaie und zog eine Visitenkarte heraus. „Wenn Sie jemanden zum Reden brauchen, rufen Sie mich an.“

Janine war überrascht. „Danke ...“

„Alles Gute“, sagte Sadie, nickte ihr zu und verließ das Zimmer wieder. Auf dem Gang kamen ihr zwei Schwestern entgegen. Sadie starrte stur geradeaus, während sie zu den Aufzügen ging und sich beeilte, das Krankenhaus zu verlassen. Sie musste dringend den Krankenhausgeruch aus der Nase bekommen. Schnell. Damit verband sie nicht viel Gutes.

Als sie draußen auf dem Parkplatz stand, lehnte sie sich erst einmal gegen den Dienstwagen, schloss die Augen und atmete tief durch. Das hatte solange gut geklappt, bis Janine ihren letzten Satz gesagt hatte.

Aber sie konnte es ja nicht wissen.

Sadie setzte sich in den Wagen, um der brütenden Hitze zu entgehen, stellte die Klimaanlage an und rief bei der Polizei von Pasadena an, wo sie sich mit Detective Winter verbinden ließ.

„Agent Whitman hier“, sagte sie.

„Hat sie mit Ihnen auch nicht gesprochen?“, fragte Winter.

„Doch. Bin gerade fertig.“

Für einen Moment war es still in der Leitung. „Also hat sie mit Ihnen gesprochen.“

„Ja, sie hat mir einiges erzählt. Ich kann gern vorbeikommen und es Ihnen schildern.“

„Gute Idee“, sagte Winter und nannte Sadie die Adresse ihrer Dienststelle. Sadie legte auf und fuhr los. Inzwischen war mehr Verkehr auf der Interstate. Erneut führte ihr Weg gleich an Downtown vorbei.

Allmählich gewöhnte Sadie sich an das Leben in dieser riesigen Stadt. Es war das erste Mal, dass sie in einer so dicht besiedelten Gegend lebte. In Oregon war, ähnlich wie in Waterford, der Hund begraben gewesen und auch in Virginia hatten sie in keiner großen Stadt gelebt. Aber Los Angeles war eine Metropole. Eigentlich war es eine gewaltige Ansammlung vieler kleiner Städte.

Bis sie das Büro von Detective Winter betrat, war eine weitere halbe Stunde vergangen. In der Polizeidienststelle war um diese Zeit nicht besonders viel los. Marla Winter saß an ihrem Computer und blickte auf, als Sadie im Türrahmen stand.

„Sie müssen Special Agent Whitman sein“, sagte sie, während sie aufstand und auf Sadie zuging, um ihr die Hand zu schütteln.

Sadie nickte. „So ist es.“

„Kommen Sie rein“, sagte Detective Winter. „Was trinken?“

„Bitte“, sagte Sadie. Im Handumdrehen hatte die Polizistin ihr ein Glas Wasser besorgt und setzte sich ebenfalls wieder.

„Schießen Sie los“, sagte sie.

„Hat je eins der Opfer erwähnt, dass er eine Silberkette trägt?“, fiel Sadie gleich mit der Tür ins Haus.

Winter schüttelte den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste. Hat sie das gesagt?“

Sadie nickte. „Sie hat ihn mir überraschend detailliert und lebhaft beschrieben. Außer der Kette sprach sie von einer Narbe am Bein und der Tätowierung am Oberarm.“

„Eine Narbe?“, sagte die Polizistin. „Das wusste ich auch noch nicht. Mir war nur die Tätowierung bekannt.“

„Das war alles noch sehr frisch“, sagte Sadie. „Es ist ihr schwer gefallen, mir den Tathergang zu beschreiben und ich bin auch nicht mit dem ins Detail gegangen, was er ihr angetan hat. Jedenfalls nicht jetzt.“

„Aber er ist unser Mann?“

„Definitiv“, sagte Sadie. „Ich habe den Fall ja beobachtet und sie hat mir den Tathergang so beschrieben, wie die anderen Opfer ihn auch angegeben haben.“

Sie gab Winter detailliert wieder, was Janine ihr erzählt hatte und die Polizistin nickte zufrieden.

„Das ist gut. Immerhin haben wir jetzt ein paar weitere Anhaltspunkte. Leider ist es nicht besonders viel ... ich wette mit Ihnen, seine DNA ist in der Datenbank.“

„Das glaube ich auch“, sagte Sadie.

Winter legte den Kopf schief und lachte kurz. „Ich verstehe jetzt bloß nicht, wie Sie das fertiggebracht haben. Gestern habe ich geduldig auf sie eingeredet, stundenlang. Ich habe ganz allein mit ihr gesprochen. Aber da kam nichts. Bis zur Mittagspause habe ich es heute wieder versucht, aber ohne Erfolg.“

Sadie zuckte mit den Schultern. „Ich habe sie bestimmen lassen, was sie mir erzählt und was nicht. Eigentlich hat es nicht lang gedauert, bis sie angefangen hat, zu reden.“

Winter schüttelte den Kopf. „Unglaublich. Ich meine, deshalb hatte ich sie auch angerufen. In unseren Reihen haben wir niemanden, der sich damit auskennt, aber eine Kollegin hat mir von Ihnen erzählt. Sie sagte mir, dass Sie da entsprechend ausgebildet sind.“

Sadie nickte. „Wie wichtig das ist, weiß ich aus meiner Zeit in Quantico.“

„Ach, Sie sind richtig drüben bei den Profilern gewesen?“, fragte Winter.

„Ja, bis zum Frühjahr. Als hier nach jemandem mit Erfahrung im Profiling gesucht wurde, bin ich hergekommen.“

„Wie interessant“, sagte Winter. „Tausend Dank, wirklich. Mit diesen neuen Merkmalen kann ich mich gezielter auf die Suche machen.“

„Wenn Sie noch einmal Hilfe brauchen, sagen Sie Bescheid.“

Winter bedankte sich noch einmal, reichte Sadie zum Abschied die Hand und wünschte ihr noch einen schönen Tag. Auf ihrem Weg nach draußen fragte Sadie sich, wie der jetzt noch aussehen sollte. Es war fast vier. Wenn sie zurück beim FBI war, hatte es kaum noch Sinn, etwas anzufangen – aber dann hatte sie eine Idee. Sie wollte sich die Akten des Stalker-Falls noch einmal genauer ansehen.

So fuhr sie zu den Federal Buildings am Wilshire Boulevard zurück und setzte sich an ihren Schreibtisch. Am Computer suchte sie alle Unterlagen über den Pasadena Stalker heraus.

Seine Übergriffe waren immer identisch verlaufen. Er hatte sich mit Einbruchswerkzeug Zutritt verschafft – zumindest vermutete die Polizei das, denn es gab so gut wie keine Einbruchsspuren. Die Frauen ließen ihn jedoch auch nicht herein. Sie waren auch nicht unvorsichtig. Plötzlich war er da, überwältigte sie, fesselte sie ans Bett und quälte sie die ganze Nacht lang. Sie alle hatten den Overall und die Maske beschrieben, irgendwann die Tätowierung und auch seine Hautfarbe. Obwohl es keine DNA gab, konnten sie ziemlich sicher sein, dass es immer derselbe Mann war. Er war noch jung, keine dreißig. Und wenn er im Morgengrauen fertig war, verschwand er, ohne sie zu töten.

Das war ein enorm großes Risiko für ihn und verriet Sadie deshalb seine Selbstsicherheit. Er hatte ein riesiges Ego. Er vergewaltigte die Frauen mehrmals und liebte es, sie zu schneiden. Es war immer nur die eine Nacht. Diese Stunden mussten den betroffenen Frauen wie eine Ewigkeit vorkommen.

Er hatte Anfang April begonnen und schlug alle zwei bis vier Wochen zu. Er tat das ziemlich unregelmäßig, aber er musste seine Opfer vorher ausgekundschaftet haben. Jedes Mal wählte er alleinstehende, junge Frauen ohne Hunde, die in Apartments ohne Alarmanlage lebten. Und sie entsprachen alle dem gleichen Typ.

Sadie studierte die Beschreibung, die die Polizei von ihm hatte, und stellte fest, dass sie nur aufgrund der Zeugenaussagen erstellt worden war. Es beschrieb seine Ethnie, die Stimme und die Tätowierung, stellte ebenfalls die Vermutung an, dass seine DNA in der Datenbank war und er immer maskiert war, weil er befürchtete, sonst erkannt zu werden. Aber da stand natürlich nichts über seine Psyche und seine Motive.

Sadie beschloss, sich am nächsten Tag dranzusetzen. Inzwischen war es kurz vor fünf und sie wollte nicht zwischen Tür und Angel mit einem Profil beginnen. Das brauchte Zeit. Sie würde ihre Vermutungen über Nacht reifen lassen und am nächsten Morgen in aller Frische damit beginnen. Darauf kam es jetzt auch nicht mehr an.

Es war ihr wichtig, nicht ständig zu spät nach Hause zu kommen. Ihre Katzen verließen sich auf ihre Portion Futter. Dass Matt schon zu Hause sein würde, war hingegen nicht so sicher, aber Sadie musste ja auch erst einmal dorthin.

Sie setzte sich ins Auto und machte sich auf den Weg nach Culver City. Im Auto angekommen, lauschte sie auf die Staunachrichten und war nicht überrascht, zu hören, dass die Interstate 405 schon wieder hoffnungslos verstopft war.

Ihr war es gleich, sie beschloss, über den Westwood Boulevard auszuweichen, wie sie es öfter tat. Trotz der Ampeln würde sie so schneller sein.

Sie hatten ein kleines Haus mitten in Culver City gefunden. In der Nähe lag das Schulzentrum, diverse Filmstudios waren nicht weit, es gab einen Park und zahlreiche Geschäfte. Trotzdem war es eine sehr grüne Gegend.

Dort, wo Phil jetzt wohnte, war das etwas anders. Er hatte ein Apartment in Palms gefunden, war damit aber auch sehr zufrieden. Sadie überlegte, ihn anzurufen, denn sie hatte seit Tagen nichts von ihm gehört.

Als sie in ihre Straße einbog, musste sie daran denken, dass das die typisch amerikanische Wohngegend war. Das störte sie jedoch nicht. Sie und Matt hatten dort ein hübsches kleines Haus mit einem ebenso hübschen kleinen Garten entdeckt – und es war jetzt ihres. Es waren zwar noch nicht alle Umzugskartons ausgepackt, aber sie fühlte sich dort trotzdem wohl und auch die Katzen hatten wieder mehr Gelegenheit, auch außerhalb des Hauses herumzustromern.

Sie parkte in der Einfahrt, denn Matts Challenger stand in der Garage. Im Augenblick fuhr er mit der Metro, weil alles andere zu auffällig gewesen wäre, und wann er nach Hause kam, stand meist in den Sternen. Er ermittelte eben undercover, da waren normale Büroarbeitszeiten eher die Ausnahme.

Die Sonne schien ihr ins Gesicht, als sie zum Haus ging und die Tür aufschloss. Wie fast jeden Abend stand Figaro lamentierend im Flur und verlangte nach Futter.

„Na, mein Hübscher“, sagte Sadie, schnappte sich den Kater und ging mit ihm um die Küche, um ihm Futter zu spendieren. Mittens war nirgends zu sehen.

Sadie überlegte kurz, ob sie die Klimaanlage anstellen sollte, entschied sich dann jedoch, sich zuerst einmal umzuziehen. Sie tauschte die Bürokleidung gegen Shorts und Top und band sich wieder einen Zopf. Ein wenig Hunger hatte sie und höchstwahrscheinlich würde es Matt nicht anders gehen, deshalb steckte sie ihre Nase in den Kühlschrank und überlegte, was man kochen konnte. Im Kühlschrank fand sie nichts Überzeugendes, entdeckte aber in einem der Küchenschränke eine riesige Dose Campbell’s Nudelsuppe.

Da musste sie nicht lang überlegen. Sie schnappte sich die Dose und machte sich daran, sie zu öffnen. Durch den plötzlichen Kraftaufwand machte sich ein leichter Schmerz in ihrem rechten Unterarm bemerkbar. Ohne lange nachzudenken, hielt Sadie die Dose mit der anderen Hand fest und versuchte es erneut.

In solchen Momenten spürte sie den verheilten Bruch immer noch. Die Erinnerung lenkte ihren Blick auch auf die zahlreichen frischen Narben, die ihre Arme verunzierten. Sie waren der Grund dafür, dass sie im Büro entweder lange Ärmel trug oder versuchte, besonders die geraden Narben an ihren Handgelenken unter ihrer Armbanduhr oder einem Armband zu verstecken. Sie wollte nicht, dass jemand falsche Schlüsse zog – und sie hätte auch kaum erklären können, dass sie sich die Wunden nicht einmal selbst beigebracht hatte.

Dabei musste sie sich eingestehen, dass eine Erklärung sehr wohl möglich gewesen wäre. Nur war Sadie nicht bereit, in Los Angeles auch nur ein Wort über ihre Begegnung mit dem Pittsburgh Strangler zu verlieren. Sie wusste nicht, wie Nick es gedeichselt hatte, dass niemand davon erfuhr, aber sie war dankbar dafür. Nur so war ein Neuanfang möglich, denn außer ihr, Matt und Phil wusste niemand Bescheid.

Sie war jetzt Special Agent Sadie Whitman. Sadie Scott war nicht mitgekommen.

Sie hatte die Suppe gerade in einen Topf gegeben, als sie hörte, wie die Haustür ins Schloss fiel. Augenblicke später stand Matt in der Küche. Er trug eine zerschlissene Jeans, die ältesten seiner Schuhe und ein einfaches weißes T-Shirt. Die Kette, die er um den Hals trug, passte überhaupt nicht zu ihm, genausowenig wie die Gelfrisur. Aber Sadie musste zugeben, dass er auf diese Weise bestens getarnt war.

Lächelnd umarmte Matt sie und schenkte ihr einen tiefen Kuss. „Hallo, Mrs. Whitman.“

Sadie lachte. „Das gefällt dir, was?“

„Durchaus“, sagte Matt und grinste. „Es hat eben nicht jeder so eine wunderschöne und kluge Frau.“

Errötend senkte Sadie den Blick. „Du übertreibst wieder schamlos.“

„Nein, das ist mein Ernst. Ich hatte heute wieder zuviel mit zu stark geschminkten Püppchen auf High Heels zu tun.“

„Du wolltest es nicht anders“, erinnerte Sadie ihn.

„Nein, aber diese Zuhälter sind furchtbar.“ Matt griff nach der Kette und zog sie sich über den Kopf. „So könnte ich nicht freiwillig herumlaufen.“

„Kommst du denn weiter?“

„Ja, schon. Es ist halt noch zu früh, um sie anzusprechen. Ich denke, ich muss da noch ein wenig Präsenz zeigen, bevor sie irgendwann nicht mehr misstrauisch sind.“

„Das gehört dazu“, sagte Sadie.

„Richtig.“ Er hielt inne und schnupperte. „Campbell’s.“

„Gut erkannt.“

Matt stellte den Topf auf den Herd und schaltete die Herdplatte ein. „Das kommt mir jetzt gelegen.“

Sadie trat hinter ihn und legte die Arme um ihn. Matt ließ das nicht lange gelten, sondern drehte sich zu ihr um und drückte sie an sich. Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und wiegte sie übermütig hin und her, so dass sie lachen musste.

„Was ist denn mit dir los?“, fragte Sadie.

„Ich mache das einfach gern“, sagte Matt. „Ich freue mich immer noch darüber, dass wir jetzt verheiratet sind.“

Sadie lächelte, denn dafür liebte sie ihn. Er ließ sie jeden Tag wissen, was sie ihm bedeutete. Dass er sie liebte, hatte sie zwar immer gewusst, aber besonders seit ihrer spontanen, kleinen Hochzeit in Las Vegas zeigte Matt ihr jeden Tag, was er für sie empfand. Einfach so und ohne ihr das Gefühl zu geben, dass er das aus Gewissensgründen tat. Er meinte es so – und das war alles, was sie in diesem Augenblick brauchte.

Schließlich saßen sie gemeinsam mit der Nudelsuppe am Tisch und hatten gerade angefangen, zu essen, als sie die Katzenklappe hörten und Mittens erschien. Die Katze maunzte einmal kurz und begab sich dann zum Napf.

„Es ist gut, dass die beiden jetzt einen Garten haben“, sagte Matt.

„Das stimmt. Ich freue mich, dass du die beiden magst.“

„Ohne hätte ich dich nicht gekriegt“, sagte er nicht ganz ernst gemeint.

„Ich hätte sie Norman geben können.“ Das brachte Sadie auf einen Gedanken. „Ich würde ihm wirklich gern eine Freude machen. Er hat eine Anerkennung dafür verdient, was er all die Jahre für mich getan hat.“

Matt nickte. „Das hat er allerdings.“

„Ich weiß, ihm ein Auto zu kaufen, ist natürlich so eine Sache ... aber ich würde mir den Wagen gern mal ansehen.“

„Ich komme mit“, sagte Matt. „Aber auf dem Foto sah er gut aus.“

Sadie trug sich schon seit längerem mit dem Gedanken, Norman einen Lebenstraum zu erfüllen. Ähnlich wie Matt liebte er besondere Autos und er träumte seit Jahr und Tag davon, sich einen 1964er Ford Mustang zuzulegen. Beim Stöbern im Internet hatte Sadie ein gepflegtes und fahrtüchtiges Modell bei einem Händler in der Stadt entdeckt – in wundervollem Candy Apple Red, aber das hatte natürlich alles seinen Preis. Und da sie sich gerade erst ein Haus gekauft hatten, war das eine Investition.

Allerdings hatte Norman sie auch schon beim Hauskauf unterstützt. Seit er vor einem halben Jahr die Lebensversicherung seiner Frau ausbezahlt bekommen hatte, staubte das Geld auf einem Konto ein und als Sadie und Matt das Häuschen in Culver City entdeckt hatten, hatte ihnen Startkapital gefehlt. Norman hatte ihnen nicht nur sofort ausgeholfen, er hatte ihnen das Geld geschenkt – und noch etwas extra. Er hatte all seinen Kindern etwas zukommen lassen, wusste aber nicht, was er mit dem übrigen Geld tun sollte und einen Mustang hatte er sich auch noch nicht gekauft. Sadie wollte es tun. Sie wollte Norman etwas zurückgeben.

„Wie war dein Tag?“, fragte Matt schließlich.

Sadie zuckte unbestimmt mit den Schultern. „Ich habe mit dem letzten Opfer des Pasadena Stalkers gesprochen.“

Matt nickte wissend. „Der läuft also immer noch frei rum.“

„Ja, leider. Eine Polizistin hatte mich um Hilfe gebeten. Die Frau wollte nicht mit ihr sprechen.“

„Mit dir aber schon.“

Sadie nickte. „Eigentlich war das gar kein Problem.“

„Und du hast dir das dann einfach angehört?“

„So ziemlich“, sagte Sadie. „Es gibt aber noch gar kein psychologisches Täterprofil. Darum werde ich mich morgen mal kümmern.“

Matt lächelte. „Du findest da bestimmt noch was.“

„Das wäre schön, denn es geht mir gegen den Strich, dass der Kerl frei rumläuft.“

„Das kann ich mir denken.“

Sadie hob den Blick und sah ihn direkt an. „Ich verstehe immer noch nicht, dass dich das nicht stört.“

„Was?“, fragte Matt.

„Ich habe eine traumapsychologische Fortbildung gemacht und mich in eine Einheit versetzen lassen, die sich – ähnlich wie die BAU – mit den ganz schweren Fällen beschäftigt. Ausgerechnet ich und ausgerechnet jetzt. Niemand versteht das. Nur du.“

Matt ließ seinen Löffel sinken. „Es steht mir doch gar nicht zu, darüber zu urteilen. Ich sehe ja, dass es dir damit gut geht. Ganz davon abgesehen, dass ich auch nichts anderes möchte. Ich muss die Probleme doch nicht herbeireden.“

„Nein, sicher“, murmelte Sadie. „Aber Norman erdrückt mich manchmal geradezu mit seiner Sorge und Phil kann mich auch nicht ansehen, ohne dass ich in seinen Augen sehe, woran er denken muss. Gerade bei dir könnte ich verstehen, wenn es dir ähnlich ginge.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich schreibe dir doch nicht vor, wie du dich zu verhalten hast, Sadie. Und du kannst nicht leugnen, dass es am Anfang verdammt schwierig war. Aber ich würde sagen, wir haben das zusammen gemeistert. Ist doch gut.“

„Ist es auch“, sagte Sadie mit einem Lächeln. „Manchmal traue ich mir selbst fast nicht. Ich habe der Frau zugehört – und da war nichts. Gar nichts. Ich bin einfach nur auf sie eingegangen.“

„Hm“, machte Matt. „Ganz ehrlich: Mir fällt niemand ein, der ähnliche Voraussetzungen mitbringt, um mit solchen Dingen umzugehen, wie du. Natürlich schockt dich so etwas nicht mehr, wie könnte es auch? Anders kann ich mir das auch nicht erklären.“

Sadie griff über den Tisch nach seiner Hand und hielt sie ganz fest. Matt verstand, obwohl sie kein Wort sagte.

 

 

 

 

Freitag

 

Aus einer anderen Ecke des Großraumbüros drang Gelächter an ihre Ohren. Sadie hatte gelernt, so etwas auszublenden und konzentrierte sich weiter auf die Fallakten des Pasadena Stalkers.

Welcher Vergewaltiger benutzte denn immer Kondome? Das kam so selten vor, dass Sadie nicht mal ein entsprechender Referenzfall einfallen wollte. Das konnte er nur tun, weil er verhindern wollte, dass man seine DNA bekam. Also war er einschlägig vorbestraft. Dann war er höchstwahrscheinlich auch nicht allzu jung.

So mussten sie ihn doch finden können. Sie kannten schon so viele seiner Merkmale.

Er hatte ein enormes Selbstbewusstsein und er verzichtete darauf, seine Opfer zu töten, obwohl er sadistische Tendenzen hatte. Macht auszuüben war ihm wichtig, aber nur über seine Opfer und nicht über Leben und Tod. Er missbrauchte und dominierte sie, aber Töten war ihm nicht wichtig. Damit ging er Risiken ein. Warum?

Sadie wusste es nicht, aber sie hielt ihn für intelligent. Für das Profil war wichtig, dass er die Frauen gezielt aussuchte. Er beobachtete sie. Unter diesem Gesichtspunkt fand Sadie die Frequenz der Taten erschreckend, denn er schlug ja alle paar Wochen zu.

Es nährte ihren Verdacht, dass er vielleicht ein Gangmitglied war. Auf jeden Fall ging er wohl keiner geregelten Arbeit nach, dazu fehlte ihm die Zeit und er hatte eine enorme kriminelle Energie. Nur töten war nicht sein Ding.

Er stalkte die Frauen, brach unbemerkt bei ihnen ein, vergewaltige sie und verschwand wieder. Nein, dumm konnte er nicht sein und auch nicht ungeschickt. Dass er Frauen gegenüber ein riesiges Ego hatte, wenn er sie gefesselt hatte, hieß auch nicht unbedingt, dass das in anderen Kontexten auch so war. Vielleicht war er in seiner Gang eher ein kleines Licht.

Es hatte ihm nie Mühe gemacht, die Frauen zu überwältigen. Dadurch, dass er bei ihnen einbrach und sie im eigenen Bett misshandelte, sorgte er dafür, dass sie sich in ihren eigenen vier Wänden nie mehr sicher fühlen würden. Sadie stützte den Kopf in die Hände und ließ sich alles durch den Kopf gehen. Vielleicht war es kein großes, sondern ein ganz kleines Ego. Vielleicht markierte er bloß. Er riskierte wagemutige Dinge, um sich selbst etwas zu beweisen, aber zum Töten fehlte ihm letztlich der Mut.

Das passte besser. Sadie durchdachte alles neu. Sie stellte sich einen Mann Anfang oder Mitte zwanzig vor – aus dem Knast entlassen, arbeitslos, Gangmitglied. Er hielt sich mit Gelegenheitsverbrechen über Wasser, vielleicht mit Drogen. Und weil er wusste, dass seine DNA in der Datenbank war, benutzte er Kondom und Maske. Er reagierte Frust an seinen Opfern ab.

Aber warum brach er dann bei ihnen ein? Warum nicht eine Prostituierte verschleppen und auf einem verlassenen Grundstück vergewaltigen?

Die Opfer entsprachen alle demselben Typ. Vielleicht wollte er sich auch beweisen, dass er so etwas konnte. Vielleicht war ihm alles andere zu einfach.

Er schützte also ein großes Ego vor, ohne wirklich eins zu haben. Aber warum dieser Typ Frau? Hatte das einen Grund?

Sadie ging zurück zum ersten Fall. Der war für ihn vermutlich besonders bedeutsam. Ganz oft kannten der Täter und sein erstes Opfer sich. Er hatte nicht zufällig dort begonnen, wo er angefangen hatte. Sadie nahm den Fall erneut genau unter die Lupe.

Sheila Hopkins arbeitete als Kellnerin und Kassiererin, lebte seit einem Jahr allein und hatte eine kleine Wohnung im Süden Pasadenas. Sie war einundzwanzig und hatte zwar einen neuen Freund, aber erst seit kurzem. Sadie fragte sich, ob es unerwünschte Verehrer oder Ex-Freunde gab, die man genauer unter die Lupe nehmen musste. Aber Sheila hatte auch angegeben, den Täter nicht zu kennen.

Er war durch ein gekipptes Fenster eingestiegen, während Sheila geduscht hatte. Dann hatte er ihr aufgelauert, sie an ihr Bett gefesselt und vergewaltigt. In dieser Nacht war er mehrmals über sie hergefallen. Er hatte sie gewürgt, geschlagen und ihr überall mit seinem Messer Schnitte beigebracht. Sie hatte es als Butterflymesser beschrieben. Das passte zu der Idee, dass er ein Kleinkrimineller war.

Im Morgengrauen war er dann verschwunden. Sheila war erst am Nachmittag von ihrem Freund gefunden worden, als sie längst bewusstlos dagelegen hatte.

Sie mussten noch einmal mit Sheila reden. Vielleicht kannte sie den Täter, ohne es zu wissen. Und nachdem er beim ersten Mal Erfolg gehabt hatte, hatte er Blut geleckt und weitergemacht. Dass ihm noch niemand auf der Spur war, spornte ihn erst recht an.

Sadie griff zum Hörer und wählte die Nummer des BAU-Chefs in Quantico. Vielleicht hatte sie Glück und traf Nick im Büro an.

„Dormer“, meldete er sich knapp.

„Hey, Nick.“

„Sadie!“, sagte er hocherfreut. „Das ist ja eine Überraschung. Wie geht es dir?“

„Gut“, sagte sie. „Und dir?“

„Wir haben wie immer viel zuviel zu tun. Und ich müsste lügen, würde ich behaupten, dass du uns nicht fehlst.“

Sadie lächelte. „Ihr mir auch. Aber vielleicht kannst du dir vorstellen, wie froh ich bin, wieder in Kalifornien zu sein.“

„Oh, und wie. Was ist mit Matt, hat er sich schon eingewöhnt?“

„Ja, er mag seinen Job. Es gefällt ihm.“

„Wenn ich mal drüben bin, besuche ich euch“, sagte Nick. „Ist ja nun schon ein paar Tage her, dass wir uns gesehen haben.“

„Leider ... aber es geht mir gut.“

Nick atmete tief durch. „Freut mich zu hören. Wirklich. Warum rufst du an?“

„Ich habe gestern mit dem letzten Opfer eines Serienvergewaltigers gesprochen. Die Presse hat ihn Pasadena Stalker getauft.“

„Okay. Davon haben wir hier nichts mitbekommen.“

„Nein, das dachte ich mir. Ich erarbeite gerade ein Profil für ihn.“

„Schieß los“, sagte Nick, der wusste, dass sie seine Meinung hören wollte. Sadie beschrieb ihm die Fälle, die immer gleichen Vorgehensweisen und stellte ihm dann auch ihre Schlussfolgerungen vor. Konzentriert hörte Nick sich alles an, stellte nur hin und wieder eine Rückfrage.

„Okay“, sagte er dann. „Ich kann deine Verunsicherung verstehen. Einerseits geht er große Risiken ein, indem er die Opfer in Apartmenthäusern überfällt und am Leben lässt, andererseits stellt er es aber gut durchdacht an. Aus meiner Erfahrung heraus glaube ich, dass er eigentlich verunsichert ist und sich etwas beweisen will. Dumm ist er jedoch überhaupt nicht. Sonst wäre er wohl kaum bis jetzt davongekommen. Ich denke auch, dass er längst erkennungsdienstlich behandelt wurde und ihr eigentlich nur noch den richtigen Hinweis braucht. Die Idee, dass er ein Gangmitglied ist, finde ich gut. Mit deinem Profil und allen übrigen Fakten, die ihr bereits über ihn habt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis ihr ihn findet.“

„Also kannst du keine Fehler erkennen?“, fragte Sadie.

„Nein, ich denke, du hast das alles richtig bestimmt. Nicht schlecht.“ Er hielt kurz inne. „Schon beachtlich, dass du dort gleich weitermachst.“

Sadie schaute sich um, bevor sie antwortete, aber es war niemand in Hörweite. „Darüber habe ich gestern noch mit Matt gesprochen. Er ist wirklich der Einzige, der sich darüber nicht wundert.“

„Vielleicht sollte ich das auch nicht“, sagte Nick. „Bei euch weiß niemand Bescheid, oder?“

„Nein, da du es vermieden hast, mehr zu sagen als nötig ...“

„Das musste einfach aufhören.“

„Danke, Nick. Ich muss Schluss machen“, sagte Sadie, bevor er das Thema noch weiter vertiefte. Das konnte sie gerade nicht brauchen. Schon gar nicht im Büro.

Sie atmete tief durch und widmete sich wieder ihrem Profil. Nachdem sie ihm den letzten Feinschliff verpasst hatte, rief sie bei Detective Winter an. Die Polizistin war sofort am Apparat.

„Haben Sie noch etwas für mich?“, fragte sie.

„Ich habe mich an einem Profil des Täters versucht“, sagte Sadie.

„Tatsächlich? Ich hatte überlegt, ob ich Sie darum bitten soll, aber ich bin noch nicht dazu gekommen, Sie zu fragen.“

„Das mache ich gern“, sagte Sadie.

„Also, was haben Sie?“

„Ich denke, dass er ein Gangmitglied ist“, begann Sadie und erklärte der Frau alles, was sie sich überlegt hatte.

„Ich vermute, dass er in keiner Beziehung ist, aber es in seiner Vergangenheit eine Frau gab, die den Opfern ähnlich sieht. Gut möglich, dass jemand im Umfeld seiner Gang auch ahnt oder weiß, was er tut“, schloss sie dann.

„Wow“, sagte Winter. „Hört sich gut an. Gut möglich, dass er in einer Gang ist. Ich habe zwar schon allerhand Vorbestrafte den Opfern zum Abgleich gezeigt, aber bislang war kein Treffer dabei.“

„Ist auch nicht gesagt, dass er die Strafe hier abgesessen hat. Vielleicht kommt er woanders her.“

„Ja, mag sein. Aber jetzt habe ich schon ein ziemlich präzises Bild vor Augen. Damit kommen wir ihm näher! Danke, Agent Whitman.“

„Gern“, sagte Sadie und grinste. Sie genoss es, mit ihrem neuen Nachnamen angesprochen zu werden. Das fühlte sich gut an. Aber Nick hatte eben auch dafür gesorgt, dass nicht nur niemand wusste, wie sie vor ihrer Hochzeit hieß, sondern er hatte auch in ihrer Personalakte nicht mehr vermerkt als nötig. Als letzter Eintrag stand nur drin, dass sie im März bei einem Einsatz verletzt wurde. Sie wusste nicht, wie Nick das gedreht hatte, aber nur ein kleiner Kreis von Eingeweihten wusste, dass ihr eigener Halbbruder sie entführt und in seine persönliche Hölle gebracht hatte.

Das sollte auch so bleiben. Weder in der Mittagspause noch bei dem späteren Meeting ließ sie sich etwas anmerken – so wie üblich. Im Büro gab sie sich professionell und etwas distanziert, weil es ihr nur recht war, mit niemandem ins Plaudern zu geraten. Darauf hatte sie keine Lust.

Das Meeting war noch nicht zuende, als sie das Vibrieren ihres Handys bemerkte. Es war eine Nachricht von Matt. Heute wird es spät. Warte nicht auf mich. Ich mache es wieder gut. Ich liebe dich.

Sadie antwortete ihm schnell, dass das in Ordnung war. Zwar gefiel es ihr nicht, aber das gehörte eben dazu. Es war Freitag, da war es wenig überraschend, wenn er Präsenz zeigen musste.

Er war damit beschäftigt, sich in ein regelrechtes Kartell einzuschleusen, das sich in den letzten Jahren in Santa Monica gebildet hatte. Er hatte es Sadie nur grob umrissen, denn auch wenn sie seine Frau und ebenfalls beim FBI war, war er dazu angehalten, möglichst viel für sich zu behalten. Er hatte ihr sowieso schon mehr verraten, als er sollte.

Ein Mexikaner namens Juan Filhos bestimmte nun schon seit längerem, wo es im Untergrund von Santa Monica langging. Er kontrollierte Drogen und Dealer, er kollaborierte mit Mädchenhändlern und stand auch unter Verdacht, für einige Auftragsmorde verantwortlich zu sein. Nun war es Matts Aufgabe, Filhos hochgehen zu lassen. Im Augenblick war er damit beschäftigt, sich in der Szene blicken zu lassen und das Vertrauen des Kartells zu gewinnen. Er machte das allein, um vertrauenswürdiger zu wirken und weil er ohnehin auf langjährige Polizeierfahrung zurückblickte, trauten seine Vorgesetzten ihm das auch zu. Er gab vor, neu in der Stadt zu sein und sich dafür zu interessieren, beim Kartell mitzumischen. Wie er Sadie erzählt hatte, hatte er zu einem von Filhos’ Handlangern Kontakt geknüpft, deshalb nahm sie an, dass er den Abend mit ihm verbringen würde – vermutlich in einem der Stripclubs, in denen er sich schon öfter bewegt hatte.

Das alles machte ihr nichts aus. Er machte seinen Job, so wie sie ihren machte.

Weil sie keine akute Aufgabe mehr auf dem Tisch hatte, machte sie früh Feierabend und fuhr auf dem Heimweg noch zu einem Supermarkt, um den Kühlschrank wieder zu befüllen. Bevor sie mit ihren Einkäufen nach Hause fuhr, hatte sie jedoch eine Idee und schrieb Phil eine Nachricht, in der sie ihn fragte, ob er nicht Lust hatte, sich mit ihr zu treffen.

Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort, aber als sie zu Hause angekommen war, hatte sie eine Nachricht von ihm erhalten. Sorry, bin schon vergeben. Ich gehe mit den Jungs weg.

Sadie antwortete ihm, dass es nicht schlimm war. Sie fand es toll, wie gut er sich mit seinen Kollegen verstand. Obwohl er in der Vergangenheit nur als Streifenpolizist gearbeitet hatte und beim Hostage Rescue Team nach drei Monaten rausgeflogen war, genoss er ein ziemliches Ansehen in seiner Einheit. Das lag wohl unter anderem an seiner beeindruckenden Treffsicherheit als Scharfschütze.

Aber jetzt musste sie sehen, wie sie den Abend verbrachte. Gern hätte sie auch wieder einmal mit Profilerin Andrea in England telefoniert, aber das ging aufgrund der Zeitverschiebung eigentlich nur am Wochenende.

Sie beschloss, es sich gemütlich zu machen, ein paar Filme auszuleihen und dabei ein bisschen Junkfood zu verspeisen. Das tat sie immer noch viel zu oft, aber ganz oft ließ der Job ihr keine Wahl. Am Wochenende liebte sie es, mit Matt zu kochen – wenn er denn nicht gerade im Einsatz war.

Sie brauchte eine Beschäftigung. Neue Bekannte. Vielleicht einen Sportclub. Das Problem hatte sie in Dale City schon gehabt. Aber in diesem Moment war ihr das alles egal. Sie schob ihre Tiefkühlnudeln in den Ofen, suchte sich Filme aus und machte es sich schließlich mit den Nudeln und ihren Katzen auf dem Sofa bequem.

Um kurz vor zehn war es jedoch auch damit vorbei. Sie wusste, ihre beste Freundin musste sie freitags nicht anrufen, denn da war Tessa immer ausgeflogen. So setzte Sadie sich schließlich mit Mittens auf dem Schoß vor ihren Computer und vertrieb sich die Zeit ein wenig mit Internetsurfen und der Suche nach einem neuen Buch, aber sie wurde nicht fündig.

Immer noch keine Spur von Matt. Sie räumte noch ein wenig auf und löschte das Licht in der Küche. Im Wohnzimmer fiel ihr Blick auf die Fotos, die groß und gerahmt an der Wand hingen. Ein paar nette Touristen hatten sie gleich im Anschluss an ihre Hochzeit vor der Wedding Chapel in Las Vegas fotografiert. Matt hielt sie so im Arm, dass man ihren Gipsarm auf dem Foto kaum erkennen konnte. Ihr buntes Sommerkleid und auch seine legere Kleidung ließen nicht erahnen, dass sie da gerade geheiratet hatten. Aber zumindest Sadie hatte sich auch spontan dafür entschieden. Matt hatte es geplant, aber er hatte sich nichts anmerken lassen wollen.

Wenn Sadie sich auf dem Foto betrachtete, wusste sie nicht, wie sie empfinden sollte. Zwar lächelte sie auf dem Bild und in diesem Moment war sie wirklich glücklich gewesen, aber eigentlich hatten sie zu keinem günstigen Zeitpunkt geheiratet. Und dabei dachte Sadie nicht daran, dass es ihr Geburtstag gewesen war.

Wenn sie genau hinschaute, konnte sie in ihren eigenen Augen sehen, wie verletzt sie zu diesem Zeitpunkt noch gewesen war. Auf dem Foto, das neben dem Hochzeitsbild hing, sah das schon anders aus. Sie hatten sich beide in Schale geworfen und sich nebeneinander mit ihren FBI-Dienstmarken von Phil ablichten lassen. Da trug sie auch schon keinen Gipsarm mehr. Matt strahle vor Stolz, was Sadie gut verstehen konnte. Für ihn war ein Lebenstraum in Erfüllung gegangen.

Hoffentlich war er auch jetzt glücklich. In Momenten wie diesem fühlte sie sich auch in der Millionenstadt Los Angeles einsam und isoliert. Zu ihren neuen Kollegen hatte sie noch keine besondere Beziehung aufgebaut, weil sie meist allein arbeitete, und sonst hatten sie außer Phil niemanden in der Gegend, den sie kannten.

Schließlich entschied Sadie, ins Bett zu gehen. Sie war müde und Mittens warf sie vermutlich am nächsten Morgen wieder früh aus dem Bett, denn der Katze war egal, ob es Samstag war oder nicht.

Sadie zog sich um, streifte nur ihr kurzes Nachthemd über und ging ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Das ging nicht, ohne  sich die roten Haare zu einem Zopf zu binden, denn inzwischen waren sie richtig lang. Matt mochte das, deshalb ließ Sadie sie einfach wachsen.

Sie versuchte, nicht zu sehnsüchtig an ihn zu denken, aber es fiel ihr schwer. Besonders, als sie im Bett lag und das Foto neben ihr stand, das Norman von ihnen gemacht hatte. Das war auch schon fast ein Jahr alt.

Sadie dachte nicht weiter darüber nach, sondern widmete sich ihrem Buch. Irgendwann fielen ihr jedoch die Augen zu und sie legte das Buch beiseite. Sie löschte das Licht und drehte sich auf die Seite. Durch die geöffnete Schlafzimmertür fiel immer noch etwas Licht hinein, von fern hörte sie Polizeisirenen. Eine Katze im Bett hätte ihr jetzt gefallen, aber es war keine da.

Im Handumdrehen dämmerte sie weg. Sie reagierte nicht, als die Haustür ins Schloss fiel und Matt unten das Licht einschaltete. Er legte seinen Schlüsselbund ab und zog sich die Schuhe aus, aber das alles war Sadie egal. Sie wurde erst aus dem Halbschlaf gerissen, als er die Treppe erklommen hatte und in der Schlafzimmertür stand.

„Sadie?“, fragte er leise. Sie machte ein unbestimmtes Geräusch.

„Ich wollte dich nicht wecken“, wisperte er.

„Hast du nicht“, erwiderte sie. Er sollte bloß nicht weggehen, sie sehnte sich nach seiner Nähe.

Wortlos betrat er das Schlafzimmer, streifte im Gehen sein T-Shirt ab und entledigte sich neben dem Bett seiner Hose. Sadie wollte schon das Licht einschalten, als Matt sich von hinten an sie schmiegte und sie in den Nacken küsste. Sofort war Sadie wie elektrisiert und tastete rücklings nach ihm. Er war ganz kühl.

„Du hast mir gefehlt“, sagte sie leise.

„Du mir auch“, erwiderte er und küsste sie erneut. Er strich ihr Haar zur Seite und übersäte ihren Hals mit Küssen. Sadie wandte sich ihm zu und gierte nach einer Berührung seiner Lippen. Ganz plötzlich stand ihr der Sinn nach sehr viel mehr.

Matt entging ihre Reaktion keineswegs. Er beugte sich halb über sie und fuhr mit der Hand unter die Decke, um sie berühren zu können. Sadie strich mit den Fingern durch sein Haar und genoss seine zärtlichen Berührungen. Vorsichtig schlug Matt ihre Decke zurück und zog einen Träger ihres Nachthemdes von ihrer Schulter. Unter Küssen arbeitete er sich ein Stück weiter abwärts vor. Für einen Moment hielt Sadie die Luft an, als sie seine Lippen auf ihrer Brust spürte.

„Du hast Hunger mitgebracht“, stellte sie grinsend fest. Dass Matt nicht einmal antwortete, war ihr Antwort genug.

Von unten schob er eine Hand unter ihr Nachthemd und begab sich mit seiner Hand auf Entdeckungsreise. Sadie konnte seine Umrisse nur schemenhaft im Licht erkennen, das vom Flur ins Schlafzimmer hinein fiel. Schließlich schob Matt seine Hand unter ihren Slip und raubte ihr ohne jede Mühe den Atem.

„Ich kann auch aufhören, wenn du nicht willst“, sagte er.

„Als würde ich nicht wollen“, erwiderte Sadie leise. Allerdings wusste sie, wie er das meinte. Es kam oft vor, dass er sich rückversicherte und sich nicht nur darauf verließ, dass ihr scheinbar gefiel, was er tat. Sie fand es lieb und gewissenhaft von ihm.

„Okay“, sagte er, küsste sie und fuhr damit fort, sie in den Wahnsinn zu treiben. Er berührte sie immer zärtlich und vorsichtig, aber das war es gerade, was ihr gefiel.

Irgendwann hielt er inne, entledigte sich seiner Shorts und warf sie irgendwohin. Langsam zog er ihren Slip aus und schloss sie von hinten in seine Arme, während sie seitlich vor ihm lag. Sadie hielt die Luft an, als sie ihn spürte. Sie drehte den Kopf zu ihm und küsste ihn, schlang ihre Finger um seine und vergaß in diesem Moment die ganze Welt um sich herum.

Inzwischen kannte Matt sie gut genug, um zu wissen, was sie mochte und wie er sie ganz mühelos um den Verstand brachte. Er hielt sie an sich gedrückt, küsste sie weiter in den Nacken und ließ sich alle Zeit der Welt. Als sie irgendwann seine Hand im Schoß spürte, war es ganz um sie geschehen. Sie umklammerte seinen Arm und gab sich keine Mühe mehr, leise zu sein.

Ihretwegen hätte es ewig so gehen können, aber das tat es leider nicht. Matt hielt sich zurück, bis sie schließlich regelrecht explodierte und ließ sich erst dann mitreißen. Keuchend hielt er sie an sich gedrückt und strich ihr übers Haar.

„Das habe ich jetzt gebraucht“, sagte er leise und lachte.

Sadie küsste ihn. „Ich auch, glaube ich.“

„Fühlte sich zumindest so an.“ Langsam stand er auf, schaltete das Licht ein und ging auf die Suche nach seinen Shorts. Er lächelte ihr zu, bevor er ins Bad ging und sich die Zähne putzte.

Sadie war froh, noch nicht wirklich eingeschlafen zu sein. Der Blick auf ihren Wecker verriet, dass es kurz vor Mitternacht war.

Allmählich beruhigte sich ihr Herzschlag wieder. Sie war unaussprechlich erleichtert darüber, so zu empfinden. Bis sie nach Los Angeles gezogen waren, hatte sie es nicht fertiggebracht, ihn so nah an sich heranzulassen. Sie hatten die verschiedensten Dinge versucht, aber es hatte nicht funktioniert, ganz gleich wie rücksichtsvoll Matt sich verhalten hatte. Solange ihre Verletzungen noch nicht alle verheilt waren, war es sowieso nicht möglich gewesen, aber auch danach hatte sie immer wieder an Sean denken müssen – ganz gleich, ob sie das wollte oder nicht. Es war ihr in so vieler Hinsicht nur recht gewesen, wieder umzuziehen. So konnte sie das alles hinter sich lassen.

Und jetzt war es wieder schön. Sadie wollte, dass auch Matt glücklich war. Das verdiente er einfach. Beklagt hatte er sich nie, weder in der furchtbar entgleisten Nacht gleich nach ihrer Hochzeit in Las Vegas, noch später. Aber inzwischen spürte Sadie fast keinen Unterschied mehr zu vorher.

Das wollte sie auch nicht. Das gestand sie Sean nicht zu. Sie lebte noch und er war tot – daran dachte sie jeden Tag.

Augenblicke später kam Matt ins Schlafzimmer und hatte Figaro im Schlepptau. Der Kater machte es sich am Fußende auf Sadies Seite bequem, während Matt sich ins Bett fallen ließ und tief durchatmete.

„Ich musste schon den ganzen Tag an dich denken“, sagte er. „Als sich plötzlich ergab, dass ich noch länger im Club bleiben würde, dachte ich, ich sterbe ...“

Sadie grinste. „Und ich dachte, du hättest zuviele halbnackte Tänzerinnen gesehen.“

„Die waren mir egal“, sagte Matt. „Die sind alle nicht mein Typ. Keine Rothaarigen dabei.“

Sadie lachte. „Charmeur.“

„Bis ich dich getroffen habe, wusste ich auch nicht, dass ich drauf stehe. Aber für mich bist du die schönste Frau der Welt.“

„Das ist gut, du musst es noch ein bisschen mit mir aushalten“, neckte Sadie ihn.

„Das kriege ich hin.“

„Wenn du auch so glücklich bist wie ich ...“

Die beiden sahen einander für einen Moment schweigend an, dann nickte Matt.

„Bin ich“, sagte er. „Und es ist schön, zu sehen, dass du es auch bist.“

Sadie küsste ihn, dann bettete sie den Kopf auf seine Brust und schlang einen Arm um ihn. Er legte einen Arm um ihre Schultern und hielt sie ganz fest. Sie schloss die Augen und merkte nicht mehr, wie er sie ansah, bevor er das Licht löschte.

 

 

Samstag

 

Wie immer funktionierten die Katzen zuverlässiger als jeder Wecker. Um das Geheule in der Küche verstummen zu lassen, ging Sadie müde hinunter und fütterte die Tiere, dann kehrte sie ins Bett zurück und ließ sich neben Matt fallen.

„Den Tag heute habe ich mir geblockt“, sagte er. „Heute müssen die Mexikaner ohne mich auskommen.“

„Das ist eine gute Nachricht“, fand Sadie.

„Heute kümmern wir uns um Normans Geschenk! Ich muss auch zusehen, dass ich ein ganzes Wochenende frei bekomme, damit wir das Auto nach Waterford bringen können.“

Sadie war überrascht, was er sich am frühen Morgen schon alles überlegt hatte. Sie fühlte sich immer noch müde.

„Wenigstens bist du nicht rund um die Uhr weg“, sagte sie.

„Nein, das ist nicht nötig. Ich komme auch so allmählich rein.“

„Ja, in dem Aufzug, in dem du da immer aufkreuzt, ist das auch kein Wunder“, neckte Sadie ihn.

„Du bist fies“, sagte Matt nicht ganz ernst gemeint. „Aber ja, manchmal ist das wirklich denkwürdig. Und bei mir ist das noch moderat!“

„Ich weiß“, sagte Sadie und schmiegte sich an seine Schulter.

„Kann ich dich etwas fragen?“

„Klar.“

Trotzdem zögerte Matt kurz. „Bisher hatte ich das nur gerüchteweise aufgeschnappt, aber gestern war ich in der Nähe, als eine Leiche gefunden wurde. Wir haben die Ankunft der Polizei mitbekommen, die den Fundort gesichert und abgesperrt hat. Dabei habe ich erfahren, dass es um eine tote Frau ging. Diego war gar nicht überrascht. Er sagte mir, das wäre jetzt schon die fünfte oder sechste Frau in ein paar Monaten, die irgendwo tot in einem Hinterhof gefunden wurde. Alles illegale Einwanderinnen aus Mexiko. Sie sind auf verschiedene Art ermordet worden, aber sie haben eine Gemeinsamkeit, die mir zu denken gibt: Sie haben alle kurz vor ihrer Ermordung ein Kind bekommen.“

„Ach was“, sagte Sadie interessiert und runzelte nachdenklich die Stirn.

„Ich habe keine Ahnung, ob sie in Verbindung mit dem Kartell stehen. Vielleicht hat das mit meiner Aufgabe gar nichts zu tun. Allerdings beschäftigt es mich. Ich bin natürlich noch nicht dazu gekommen, mich weiter damit auseinanderzusetzen, aber irgendwie lässt mir die Sache keine Ruhe. Hast du schon einmal von so etwas gehört?“

Sadie nickte. „Da fällt mir als Erster ausgerechnet Gary Heidnik ein. Der hat die Frauen ja unter anderem entführt und eingesperrt, damit sie ihm Kinder schenken. Was ihn nicht davon abgehalten hat, eine von ihnen zu Tode zu foltern, obwohl sie schwanger war.“

Matt gab nicht zu erkennen, was er dachte. „Von Heidnik hast du mir mal erzählt, oder?“

Sie nickte. „Als ich sagte, dass Sean mich an ihn erinnert hat.“

Jetzt fiel es Matt wieder ein. Sie hatten nie viel über Sean Taylor gesprochen und er wusste wenig über das, was Sean Sadie in den fast zwei Tagen ihrer Entführung angetan hatte. Das Meiste hatte sie über die Zeit erzählt, die sie später außerhalb des Kellers verbracht hatte – als er ihr etwas zu essen gegeben und sie in seinem Bett hatte schlafen lassen. Sie hatte Matt erzählt, dass sie Sean in diesem Moment beinahe freiwillig gefolgt war, weil sie gefürchtet hatte, im Keller zu sterben, wenn Sean sie wieder an die Decke gefesselt hätte. Dabei hatte sie genau an dieses Opfer von Gary Heidnik denken müssen, dem das passiert war. Und trotzdem hatte sie sich gefühlt, als hätte sie Sean erlaubt, ihr weh zu tun. Matt konnte sich diesen Zwiespalt gar nicht vorstellen – sie hatte die Wahl gehabt zwischen entsetzlichen, qualvollen Schmerzen mit möglicherweise tödlichem Ausgang oder seinen erneuten Übergriffen. Auch wenn Sadie es nie so formuliert hatte, wusste er, dass Sean gleich mehrmals über sie hergefallen war. Das hatte er jedes Mal gespürt, wenn er eine falsche Bewegung gemacht hatte und sie in seinen Armen erstarrt war.

Aber er hatte gelernt, damit umzugehen, denn zu seiner absoluten Genugtuung war Sean mausetot und Sadie ließ sich nicht mehr anmerken, was passiert war. So ganz begriff auch er nicht, wie Sadie das schaffte, aber von gelegentlichen Alpträumen abgesehen ging es ihr gut. Deshalb stellte er nicht in Frage, was sie tat.

„Matt?“, riss Sadie ihn aus seinen Gedanken.

Er schüttete den Kopf. „Vergiss es.“

„Du hast an Sean gedacht. Sorry, ich hätte ihn nicht erwähnen sollen.“

Matt winkte ab. „Was kratzt mich Sean? Er ist eher dein Problem als meins.“

„Das stimmt ja nun auch nicht“, widersprach Sadie.

„Egal. Irgendwie lässt mich das jetzt nicht los ... tote Frauen, die Kinder bekommen haben. Ich meine, was ist aus den Kindern geworden? War das auch jemand wie Heidnik? Aber es ist in dem Milieu passiert, in dem ich unterwegs bin. Scheinbar waren es alles Illegale. Was, wenn es um die Kinder ging? Wenn sie verkauft werden sollten?“

Sadie überlegte. „Klingt irgendwie verrückt.“

„Ich weiß, aber da passiert irgendwas und ich habe nicht die Zeit, mich darum zu kümmern. Das würde auch auffallen. Ich will es aber nicht auf sich beruhen lassen.“

„Du könntest mich ganz offiziell um Hilfe bitten“, sagte Sadie.

„Offiziell?“

„Ja, was du hier gerade machst, ist doch fast auch schon wieder zuviel. Offiziell weiß ich doch nicht, was du tust. So genau will ich das auch nicht wissen, ich will dich ja nicht in Schwierigkeiten bringen. Aber du kannst den Dienstweg gehen und mich am Montag offiziell ins Boot holen. Du bittest mich einfach, mir die Fälle anzusehen und ein Profil zu erstellen.“

Matt überlegte kurz und nickte dann. „Du hast Recht. Eigentlich wollte ich nur deine Meinung hören, aber es offiziell zu machen, hätte sogar Vorteile.“

„Eben, und ich verstehe auch, dass dich das beschäftigt. Du glaubst, da steckt etwas Großes hinter, oder?“

„Irgendwie schon“, sagte Matt. „Und ich weiß, wie die Polizei funktioniert. Das sind Illegale, da wird man sich nicht mit viel Nachdruck drum kümmern. Mir persönlich ist aber egal, ob das Amerikanerinnen, Mexikanerinnen oder sogar illegale Einwanderinnen sind. Sie sind tot, und das sollte nicht so sein.“

Sadie lächelte. „Siehst du, und das liebe ich so an dir.“

Überrascht erwiderte ihren Blick. „Was?“

„Dass du einfach ein so guter Mensch bist, Matt Whitman.“

„Einen anderen hättest du auch kaum geheiratet.“

Sadie lächelte und stand schließlich auf. Sie bereitete das Frühstück vor, während Matt duschte und wenig später bestens gelaunt unten erschien. Sie frühstückten gemütlich zusammen und machten sich dann auf den Weg zu dem Autohändler, bei dem Sadie den Mustang entdeckt hatte. Sie hatte schon mit dem Mann telefoniert und ihm das Versprechen abgerungen, den Wagen nicht wegzugeben, bevor sie ihn nicht gesehen hatte.

Sie fuhren mit Matts Challenger. Er kam schon unter der Woche nicht dazu, damit zu fahren, deshalb überließ Sadie ihm alle gemeinsamen Fahrten. Die beiden trafen kurz vor Mittag bei dem Händler in Santa Monica ein und wurden freundlich von ihm begrüßt. Er war ein älterer, etwas beleibter Herr südamerikanischer Abstammung und er sprach höflich und zuvorkommend mit ihnen.

„Ich habe es nicht so oft, dass eine junge Frau wie Sie sich für so ein altes Schätzchen interessiert“, sagte er.

„Er soll auch nicht für mich sein“, sagte Sadie. „Er ist ein Geschenk für meinen Onkel.“

„Ihren Onkel? Ein Geschenk? Oh, solche Nichten bräuchte ich auch!“ Der Mann lachte. Matt und Sadie folgten ihm über den Hof.

„Nach dem Tod meiner Eltern hat er mich großgezogen“, erklärte Sadie.

„Verstehe. Und jetzt wollen Sie ihm etwas zurückgeben.“

Sadie nickte. „Er war immer wie ein Vater für mich und hat viel für mich getan. Ein solcher Wagen war immer sein Traum, aber er hatte nie die Gelegenheit und den Mut, ihn zu verwirklichen. Deshalb will ich das jetzt tun.“

Das gefiel dem Mann sichtlich. Schließlich standen sie vor dem Mustang, der frisch poliert in einem wunderschönen Candy Apple Red erstrahlte. Fachmännisch begann Matt, den Händler über technische Details auszufragen, während Sadie sich in den Wagen setzte und tief Luft holte. Die Lederpolitur roch wundervoll.

„Wie sind Sie an dieses Schätzchen gekommen?“, erkundigte sie sich.

„Er hat auch einem Liebhaber gehört“, sagte der Händler. „Ein älterer Herr, der ihn selbst restauriert und lange gefahren hat. Nachdem er vor kurzem nach schwerer Krankheit verstorben ist, hat seine Schwester ihn mir verkauft.“

„Der ist nicht in der Familie geblieben?“, fragte Matt erstaunt.

„Hab ich auch nicht verstanden, aber so war das.“ Der Mann seufzte. „Deshalb gefallen Sie beide mir auch. Ich finde den Gedanken schön, dass er wieder zu einem Liebhaber kommt und nicht zu einem jungen Neureichen!“

Sadie zog ihr Portemonnaie aus der Hosentasche und zeigte dem Mann ein Foto von Norman und Fanny, das sie immer bei sich trug.

„Das ist mein Onkel“, sagte sie, während sie auf Norman tippte.

„Ah, wunderbar“, sagte der Händler lächelnd.

„Und den kriegen wir heil Richtung Modesto?“, fragte Matt.

„Aber sicher. In einigen Jahren werden sicher ein paar Erneuerungen fällig, aber davon abgesehen, dass der Wagen alt ist, gibt es nichts, was Sie wissen müssten!“

Schließlich bot er an, die beiden allein zu lassen und kümmerte sich um einen weiteren Kunden. Matt begutachtete alles ganz genau und sagte schließlich: „Mal sehen, ob wir den Preis noch ein wenig gedrückt bekommen, aber das solltest du machen. Der Wagen ist top in Schuss. Der ist den Preis wert.“

„Wenn du das sagst“, erwiderte Sadie. „Ich kenne mich leider nicht so mit Autos aus.“

„Ich kenne mich auch nicht besonders gut aus, aber ich habe auch schon am Challenger rumgeschraubt und ich weiß genug, um auf die entscheidenden Dinge achten zu können. Das ist ein faires Angebot.“

„Ich will aber noch mal über den Hof fahren“, sagte Sadie grinsend. Als der Händler zu ihnen zurückkehrte, holte er auch gleich den Schlüssel und entsprach Sadies Wunsch. Ein breites Grinsen schlich sich auf ihr Gesicht, während sie den Wagen einmal ums Gelände lenkte und er mit lautem Geblubber über den Asphalt glitt.

„Das wird Norman lieben“, sagte sie fröhlich. Matt nickte und legte einen Arm um ihre Schultern. Schließlich unterstützte er sie noch ein wenig beim Feilschen mit dem Händler, damit er ihnen einen guten Preis machte. Sadie leistete eine Anzahlung und würde sich um die Begleichung der Restsumme in der Folgewoche kümmern, aber das genügte dem Mann. Schließlich drückte er ihr den Schlüssel in die Hand und sie setzte sich erneut in den Wagen, um diesmal mit ihm nach Hause zurück zu fahren.

Matt fuhr voraus. Sadie hatte schon an der nächsten Ampel ihre Schwierigkeiten damit, sauber zu schalten und stellte fest, dass der Blinker nicht automatisch ausging, aber sie gewöhnte sich schnell daran. Matt war klug genug, über eine nicht so stark befahrene Strecke zu fahren, deshalb kamen sie recht problemlos zuhause an. Zwar gelang es Sadie unterwegs zweimal, den Wagen abzuwürgen, aber er nahm es ihr nicht übel. Jedes Mal sprang er röhrend wieder an und sorgte dafür, dass es ihr nicht leid tat, ein kleines Vermögen ausgegeben zu haben.

Matt parkte neben dem Vorgarten und lief zur Garage, um sie zu öffnen. Bis sie nach Waterford fahren konnten, sollte der Wagen sicher darin verstaut sein.

Vorsichtig lenkte Sadie den Mustang in die Garage, stellte den Motor ab und stieg aus. Grinsend blieb sie stehen und atmete tief ein.

„Das sind noch echte Abgase“, sagte sie.

„Norman wird Augen machen“, sagte Matt. „Ich gebe zu, am liebsten würde ich den Wagen glatt behalten.“

Sadie lachte. „Ich auch. Er ist toll. Aber deiner auch. Du musst also nicht traurig sein.“

„Ich weiß“, sagte Matt. „Aber ich finde es toll, dass du deinem Onkel dieses Geschenk machen willst. Das kann ich gut verstehen.“

„Wirklich?“, sagte Sadie. „Das ist auch dein Geld, das ich da vorhin ausgegeben habe.“

„Ach, jetzt rechne mir doch sowas nicht vor. Das ist unser Geld. Und ich stehe voll hinter deiner Idee. Ich finde es toll, dass du Norman dieses Geschenk machen willst und das hat er auch verdient!“

Sadie fiel ihm um den Hals und küsste ihn. „Danke.“

„Wofür?“

„Dass du das mitmachst. Und danke für die Hilfe vorhin. Ich kümmere mich ja gern selbst um meine Angelegenheiten, aber Autos ... das ist so eine Sache. Da erfülle ich voll das Klischee.“

„Macht nichts“, sagte Matt. „Dafür hast du mich ja.“

Sadie grinste ihn breit an und ging mit ihm ins Haus. Matt hatte vor, sich an den Computer zu setzen und ein wenig beim Spielen zu entspannen. Sadie hatte nichts dagegen, es war kein Problem für sie, wenn Matt auch mal etwas für sich allein unternehmen wollte. Das tat er ohnehin nicht besonders oft.

Während sie noch überlegte, was sie nun anstellen sollte, klingelte das Telefon. Sadie hatte einen nicht ganz unmaßgeblichen Verdacht, wer es sein konnte, und wurde nicht enttäuscht.

„Ich wollte mal hören, ob du noch lebst“, überfiel Tessa sie gleich auf ihre ganz unnachahmliche Weise.

„Klar lebe ich noch. Und du?“

„Hör bloß auf.“ Tessa stöhne theatralisch. „Manchmal frage ich mich wirklich, ob das mit dem Studium sein musste. Ich habe kein Geld und keine Zeit. Warum tue ich das?“

Sadie lachte. „So schlimm?“

„Allerdings. Würde ich nicht bei Sylvie wohnen, wäre ich völlig pleite. Diese Studiengebühren fressen mich auf! Und ich habe auch immer noch Prüfungen vor der Brust. Ich bin doch zu alt für so etwas!“

„Du solltest dich mal jammern hören. Damit wärst du in der FBI Academy aber nach einer Woche rausgeflogen!“

„Nach einer Woche? Nach einem Tag! Ich hab ja nie begriffen, wie du das geschafft hast. Und Matt. Der ist ja sogar noch älter als wir“, sagte Tessa.

„Du tust ja gerade so, als wäre er ein alter Mann.“

„Er ist Mitte dreißig! Das ist uralt!“

Sadie amüsierte sich köstlich. „Jetzt weiß ich wieder, warum du mir fehlst.“

„Na ja, ich tingel ja nicht durch die Weltgeschichte! Wann kommt ihr wieder her?“

„Hoffentlich nächstes Wochenende. Wir haben da ein besonderes Geschenk für Norman“, sagte Sadie und begann, von dem Mustang in der Garage zu erzählen.

„Wow“, sagte Tessa staunend. „Du schenkst deinem Onkel ein Auto. Das ist der Hammer.“

„Ich weiß, aber ich finde, dass er das auch verdient hat.“

„Klar hat er, aber trotzdem ... dass du dir das jetzt noch leisten kannst! Ihr habt gerade ein Haus gekauft.“

„Ja, aber Norman hat uns auch Geld aus Fannys Lebensversicherung gegeben. Uns und Gary und Jo.“

„Oh.“

„Theoretisch könnte er sich den Mustang selber kaufen, aber das macht er nicht. So ist er nicht.“

„Nein, da hast du Recht. Ich wäre ja gern dabei, wenn ihr ihm das Auto überreicht!“

„Kein Problem, die Details können wir ja noch klären“, sagte Sadie.

„Das wird toll! Ist echt schon viel zu lang her, dass wir uns gesehen haben. Und das, obwohl ihr schon näher dran wohnt.“

„Darüber bin ich auch sehr froh.“

„Gefällt es dir denn in deiner neuen Einheit?“, fragte Tessa.

„Das tut es“, sagte Sadie. „Ich kann auch meine Fortbildung schon zum Einsatz bringen. Gerade habe ich noch mit einem Vergewaltigungsopfer gesprochen.“

„Uh ... du kennst auch wirklich kein Pardon, oder?“

„Wieso?“, fragte Sadie arglos.

„Vergewaltigung ... ich hab ja schon nicht verstanden, dass du überhaupt weiter die schweren Fälle bearbeiten willst, aber dann noch so etwas ... ist das nicht viel zu nah dran?“

Sadie seufzte ergeben. Natürlich hatte Tessa das fragen müssen. „Es ist nah dran, aber ich kann es gut. Vielleicht gerade deshalb. Es macht mir nichts aus, deshalb sehe ich da kein Problem.“

„Süße ...“ Tessa seufzte tief. „Irgendwie gefällt mir das nicht. Ich mache mir Sorgen.“

„Ich weiß, das verstehe ich auch. Das muss seltsam für euch aussehen. Aber glaub mir, es ist alles in Ordnung. Du kannst Matt fragen. Er ist mir so eine große Hilfe.“

„Das glaube ich, aber trotzdem ... irgendwie ist mir das zu hoch. Ich meine, es ist schon schlimm genug, was Sean getan hat. Aber er war dein Bruder! Wie kannst du das einfach wegstecken?“

Zwar hatte Sadie kein besonderes Bedürfnis, mit Tessa darüber zu sprechen, aber sie wollte ihre Freundin auch nicht einfach abwürgen. Tessa machte sich nur Sorgen, das konnte Sadie ihr nicht übel nehmen.

„Das geht nur so“, sagte Sadie. „Würde ich jetzt ständig darüber nachdenken, was passiert ist und wer er war, würde mich das verrückt machen. Ich muss einfach weitermachen. Ich habe keine andere Möglichkeit, verstehst du? Vielleicht sieht das seltsam für euch aus, aber es ist wirklich alles in Ordnung.“

„Okay ...“ Tessa klang nicht überzeugt. „Aber wenn du mal irgendwie mit mir reden willst – du weißt, wo du mich findest. Wenn du denkst, du kannst mit Matt nicht sprechen. Er weiß doch bestimmt auch nicht alles, oder?“

„Nein, wo denkst du hin? Er weiß sowieso schon zuviel“, murmelte Sadie. „Zwischen uns ist es eigentlich auch kein besonderes Thema. Nicht mehr jedenfalls. Wir kommen zurecht.“

„War anständig von ihm, dich zu heiraten. Auch wenn ich immer noch beleidigt bin, dass ihr das klammheimlich in Vegas gemacht habt!“

„Tessa ...“ Sadie seufzte. „Das war doch nichts gegen dich oder irgendjemand anderen. Du weißt doch, wie es dazu gekommen ist. Matt hatte die Idee und ich war einverstanden. Ich wollte ihn in dem Moment nicht enttäuschen! Und es war ja auch richtig so.“

„Ja, sicher ... aber vielleicht verstehst du, dass ich traurig bin. Ich wäre gern bei der Hochzeit meiner besten Freundin dabei gewesen.“

„Wir hatten doch ein Fest in Waterford. In Vegas war es vollkommen langweilig!“

Doch Tessa klang immer noch unglücklich. „Ich weiß, tut mir leid. Am besten halte ich einfach meine Klappe.“

„Ach, jetzt komm schon. Du bist meine beste Freundin, das weißt du.“

„Ja ... auch wenn ich dich jetzt mit Matt teilen muss. Das fällt mir manchmal schwer.“

„Ich bitte dich, ihr konkurriert doch nicht miteinander!“

„Nein, ich weiß. Und ich bin ja froh, dass du ihn hast. Du bist glücklicher, seit er da ist. Auch trotz Sean.“

„Ich möchte mir nicht vorstellen, wie es jetzt wäre, wenn ich Matt nicht hätte“, murmelte Sadie.

„Gut, dann stell dir das nicht vor!“

„Lass uns von etwas anderem sprechen“, schlug Sadie vor. „Erzähl mir doch von deinem Studium. Wie kommst du zurecht?“

Tessa geriet ins Plaudern und berichtete von ihren Vorlesungen und dem Leben am College. Sie absolvierte ihr Studium in Teilzeit und jobbte nebenbei, aber Sadie konnte sich vorstellen, dass es finanziell eng für Tessa war. Zwar hatte sie jahrelang auf das Studium gespart und Sadie freute sich riesig für sie, dass sie es nun machte. Aber einfach war das mit Sicherheit nicht.

Nachdem sie eine ganze Weile über die verschiedensten Dinge gesprochen hatten, verabschiedeten sie sich und Sadie ging zu Matt. Er saß vor seinem Computer, hatte Kopfhörer aufgesetzt und war vollkommen in seinen Egoshooter vertieft. Sadie stellte sich nur vorsichtig hinter ihn und legte die Hände auf seine Schultern. Sie wollte ihn nicht ablenken. Als er die Runde beendet hatte, zog er sich das Headset vom Kopf und legte den Kopf in den Nacken.

„Dass ihr Frauen immer so lang telefonieren könnt“, sagte er.

„Tessa hatte viel zu erzählen. Sie will nächste Woche dabei sein, wenn wir den Mustang verschenken.“

„Schön“, sagte Matt und atmete tief durch. „Ein Glück, dass Phil nicht online ist. Der hätte mich jetzt wieder abgezogen.“

Sadie lachte. „Du solltest ja auch mit keinem Scharfschützen Egoshooter spielen!“

„Nein, vor allem nicht, weil ich nicht mal halb so gut bin wie er. Waffen sind einfach nicht mein Ding. Aber Phil ... der schießt wie ein junger Gott.“

Sadie drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Ja, und das ist auch gut so.“

 

 

Montag

 

Sie fuhren gemeinsam mit dem Challenger zur Arbeit. Das hatten sie bisher noch nicht oft getan und umso mehr genoss Sadie es. Während sie dem Freeway folgten, beobachtete Sadie den wachsenden Stau auf der gegenüberliegenden Seite. Zum Glück fuhren sie dem Hauptverkehrsfluss entgegengesetzt.

Wenig später stellte Matt den Challenger auf dem Parkplatz ab und sie machten sich auf den Weg ins Büro. Am Eingang ließen sie ihre Ausweise scannen, bevor sie mit dem Aufzug nach oben fuhren. Sadie folgte Matt etwas unsicher und versuchte, sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen. Allerdings achtete im Büro erst mal niemand auf sie.

Die beiden begaben sich in einen Besprechungsraum und mussten gar nicht lang warten, bis Matts Kollegen dort eintrafen. Es war noch nicht ganz neun Uhr, als der letzte den Raum betrat und die Tür hinter sich schloss. Sadie stand neben Matt und versuchte, die neugierigen Blicke der Kollegen zu ignorieren.

„Guten Morgen“, sagte Matt und nickte den anderen zu. „Entschuldigt den Überfall am Wochenende, aber wir sind hier, weil ich etwas mit euch besprechen wollte. Bei unseren Ermittlungen könnten wir ein wenig Unterstützung gebrauchen, und die habe ich auch gleich mitgebracht.“ Er deutete auf Sadie. „Special Agent Sadie Whitman. Und bevor ihr euch wundert, sie ist meine Frau.“

Ein Lachen ging durch den Raum.

„Junge Liebe“, feixte ein älterer Kollege. „Sag doch einfach, wenn du nicht ohne sie arbeiten kannst!“

Matt grinste. „Ganz so schlimm ist es noch nicht, Jones. Sadie hat als Profilerin bei der Behavioral Analysis Unit in Quantico gearbeitet und ist jetzt hier beim Major Crimes Unit.“

„Uh, eine echte Profilerin“, sagte ein jüngerer Kollege, dem die lateinamerikanische Herkunft anzusehen war.

„Ja, ich denke, wir könnten ihre Hilfe gebrauchen. Sadie, das sind Jones“, begann Matt und deutete auf den Kollegen, der sich zuerst zu Wort gemeldet hatte, „Jason Wheeler und Supervisory Special Agent Peter Warner.“

„Kriegen wir jetzt eine Persönlichkeitsanalyse?“, ärgerte Jones ihn weiter, während Matt und Sadie sich setzten.

„Sadie ist nicht euretwegen hier“, sagte Matt. „Ich habe sie mitgebracht, weil ich am Freitag etwas aufgeschnappt habe, das ich besorgniserregend fand. Ich war zufällig in der Nähe, als die Polizei mit der Spurensicherung an einem Leichenfundort begonnen hat. Es ging um eine illegale Einwanderin. Diego sagte in einem Nebensatz, es sei bereits das fünfte oder sechste Opfer. Alles junge Frauen und alle haben vor ihrer Ermordung ein Kind bekommen.“

„Und was hat das mit Filhos zu tun?“, fragte Warner.

„Ich weiß es nicht“, sagte Matt. „Vielleicht nichts, vielleicht aber auch eine ganze Menge. Heute kann ich mir Diego vom Leib halten und mich damit befassen, aber morgen muss ich wieder raus und ich hätte gern, dass Sadie sich um diese Mordfälle kümmern kann. Die fallen sowieso in ihren Zuständigkeitsbereich.“

„Also uns musst du das nicht erklären“, sagte Jones. „Wenn meine Frau so hübsch wäre, hätte ich sie auch gern immer bei mir!“

Matt lachte. „Danke, Jones, ich weiß deine Meinung zu schätzen.“

„Ich habe ja nichts dagegen, dass deine Frau uns unterstützt, aber was erhoffst du dir davon?“, fragte SSA Peter Warner.

„Ich weiß nicht, was da ständig passiert. Allerdings riecht das Ganze für mich nach organisiertem Verbrechen, nach Filhos. Und selbst wenn nicht, sollte vielleicht mal jemand der Sache auf den Grund gehen.“

„Hm“, machte Warner. „Theoretisch wäre Filhos so etwas ja zuzutrauen. Sollte er tatsächlich damit zu tun haben und sollten wir ihm das nachweisen können, wäre uns natürlich sehr geholfen.“

„Eben“, sagte Matt.

„Okay, dann los“, sagte Warner. „Braucht ihr Unterstützung?“

„Nein, ich denke, wir kommen zurecht“, sagte Matt. Damit war die Besprechung auch schon beendet und sie schwärmten ins Büro. Matt und Sadie nahmen an seinem Schreibtisch Platz und Matt begann, in der Datenbank nach allen Fällen zu suchen. Auf eine bereits vorgenommene Verknüpfung verließ er sich dabei nicht, sondern suchte selbst nach toten Frauen mexikanischer Herkunft, die kurz zuvor ein Kind geboren hatten. Trotzdem fand er genau sechs Fälle, ganz so, wie Diego gesagt hatte.

Die erste Tote war Eva Munoz, zweiundzwanzig, aus Santa Catarina. Sie war vor anderthalb Jahren in die USA gekommen und hatte als illegales Kindermädchen gearbeitet. Zumindest hatten ihre Eltern das gesagt, als ihre Leiche Ende März gefunden wurde. Sie war schon nach zwei Monaten in den USA spurlos verschwunden, aber natürlich hatte niemand sie als vermisst gemeldet. Sie hatte keinen Freund gehabt und zum Zeitpunkt ihrer Einreise in die USA war sie nicht schwanger gewesen. Was nach ihrem Verschwinden passiert war, wusste niemand. Sadie betrachtete ihr Foto und auch das Foto ihrer Leiche. Sie hatte Würgemale am Hals, war erdrosselt worden. An den Handgelenken trug sie Fesselspuren.

Anfang Mai hatte die Polizei die Leiche der einundzwanzigjährigen Valentina Ruiz entdeckt. Sie stammte aus Ensenada, war vor etwa zwei Jahren illegal in die USA eingereist und das letzte Lebenszeichen hatte es etwa ein Jahr vor dem Fund ihrer Leiche gegeben. Sie lächelte sympathisch auf dem Foto, das in der Akte hinterlegt war. Trotzdem hatte auch sie ein schreckliches Ende gefunden. Man hatte sie gleich nach der Geburt ihres Kindes erdrosselt. Von dem Kind fehlte, wie schon bei Eva, jede Spur.

Das dritte Opfer hatte nicht einmal einen Namen. Es war der Polizei nie gelungen, zu klären, wer sie war. Deshalb gab es auch nur ein Foto von ihrer Leiche. Man hatte sie Ende Mai gefunden – erdrosselt, genau wie die anderen, und mit noch blutverschmierten Beinen. Auch sie hatte ein Kind bekommen, das wie vom Erdboden verschluckt war. Sie war etwas abgemagert und wies ebenfalls Fesselmale an den Handgelenken auf. Man hatte sie also gegen ihren Willen festgehalten.

Die Parallelen waren unübersehbar. Sadie betrachtete jeden Fall genau. Beim nächsten Fall stutzte sie etwas. Frida Mendez war eine Studentin gewesen, Anfang zwanzig wie die anderen, und hatte in Tijuana gelebt. Sie hatte eine Arbeitserlaubnis für die USA gehabt und auf der anderen Seite der Grenze gejobbt. Verschwunden war sie vor anderthalb Jahren, aber ihre Leiche war erst Ende Juni aufgetaucht.

„Das ist anders“, sagte Sadie. „Sie war gar keine illegale Einwanderin.“

„Aber der Rest passt“, sagte Matt.

Sadie nickte und widmete sich dem nächsten Opfer, wieder einer unidentifizierten jungen Frau. Man hatte ein Foto von ihr veröffentlicht, aber keinerlei Hinweise auf ihre Identität erhalten. Man wusste nichts über sie, nur dass sie Anfang zwanzig war, ein Kind geboren hatte und erdrosselt worden war.

Während Sadie sich den bisher vorhandenen Daten über das letzte Opfer zuwandte, griff Matt nach seinem Telefon und rief bei den zuständigen Ermittlern an. Sadie hörte jedoch nicht zu, sondern betrachtete das Foto von Rosa Pablo, dem letzten Opfer von Freitag. Man hatte sie bereits identifiziert und es war auch klar, dass sie ins Schema passte. Bei ihrer Leiche war, wie bei allen anderen auch, getrocknetes Blut an den Beinen zu sehen, die Wölbung ihres Bauches war immer noch vorhanden. Sadie fand das unendlich grausam.

Schließlich legte Matt auf und blickte zu Sadie „Ich habe mit der zuständigen Ermittlerin gesprochen. Wir können mit ihr reden.“

„Gute Idee“, sagte Sadie. „Vielleicht sollten wir das tun, bevor ich mich weiter damit befasse.“

Kurzerhand beschlossen sie, zum Santa Monica Police Department zu fahren. Gemeinsam schnappten sie sich einen Dienstwagen und fuhren los. Matt überlegte kurz, wie er am besten fahren sollte, entschied sich dann aber dafür, die Interstate 10 zu nehmen. Inzwischen hatte der Berufsverkehr auch nachgelassen.

„Ich hoffe, meine vorlauten Kollegen stören dich nicht“, sagte er. „Ich dachte mir irgendwie, dass es das gefundene Fressen für sie ist, wenn ich meine Frau mitbringe.“

„Du vergisst, dass ich Polizeischule und Academy hinter mir habe. Vorlaute Männer machen mir nichts aus“, sagte Sadie.

„Dann bin ich beruhigt. Jones ist echt ein Großmaul, aber er ist in Ordnung. Bei ihm ist es immer gut, schlagfertig zu sein und ihm Kontra zu geben. So, wie er austeilen kann, kann er auch einstecken. Also wehr dich ruhig gegen ihn, das bringt noch Pluspunkte.“

Sadie grinste. „Aber nett sind sie.“

„Auf jeden Fall. Jason ist echt in Ordnung. Sind sie eigentlich alle. Wäre ich nicht undercover unterwegs, hätte Jason es gemacht. Der wäre nicht mal weiter aufgefallen, aber ich habe mehr Erfahrung als er, deshalb wollte Warner, dass ich gehe.“

„Ist Jason auch neu beim FBI?“

„Nein, er ist zwar länger beim FBI, aber weil ich älter bin, habe ich mehr Erfahrung als Ermittler. Jason ist etwa so alt wie du.“

„Oh“, machte Sadie.

Nach kurzer Fahrt hatten sie Santa Monica erreicht. Sie fanden das Police Department ohne Probleme, aber als sie dort angekommen waren, parkte Matt den Wagen vorsichtig in einer Ecke des Parkplatzes in der Nähe der Eingangstür und beeilte sich, im Gebäude zu verschwinden. Zwar glaubte er nicht, dass jemand von Filhos’ Leuten dort war, aber das hatte ja auch nicht immer unbedingt mit Freiwilligkeit zu tun.

Entsprechend froh war er, als sie ohne Zwischenfälle das Büro von Detective Woodberg erreichten. Die Tür stand offen und Matt klopfte an den Rahmen. Die Frau mit den kurz geschnittenen Haaren blickte auf und ein Strahlen huschte über ihr Gesicht.

„Ah, Sie müssen vom FBI sein“, sagte sie und stand auf, um die beiden zu begrüßen.

„Richtig“, sagte Matt. „Special Agent Matt Whitman, das ist meine Frau, Special Agent Sadie Whitman.“

„Oh, Sie kommen im Doppelpack“, sagte Woodberg augenzwinkernd.

„Meine Frau ist Profilerin und ich dachte, sie könnte uns behilflich sein.“

„Ach, wenn Sie wüssten, wieviele Kollegen hier im Department untereinander verbandelt sind ... damit kann man mich nicht beeindrucken.“ Sie grinste. „Nehmen Sie doch Platz. Was kann ich für Sie tun?“

„Ich war am Freitag in der Nähe, als die Leiche von Rosa Pablo gefunden wurde“, sagte er. „Im Moment ermittle ich gegen Juan Filhos und ich habe mich gefragt, ob diese Mordserie nicht vielleicht mit ihm zu tun hat.“

„Gute Frage“, sagte Detective Woodberg. „Ich bin seit der ersten Toten dabei. Als Eva Munoz gefunden wurde, dachte ich mir noch nicht viel dabei. Ich hatte vermutet, dass der Vater des Kindes sie und das Kind getötet hat, aber ich konnte nie herausfinden, wer der Vater eigentlich ist. Von dem Kind gibt es keine Spur – das ist ja in allen Fällen so.“

„Das haben wir schon gesehen“, sagte Sadie. „Haben Sie denn irgendeine Vermutung, was da los ist?“

„Klar habe ich die“, sagte Woodberg. „Ich sehe, dass da quasi im Monatsabstand die Leichen junger Mexikanerinnen gefunden werden, die mit einer einzigen Ausnahme illegal in den Staaten waren und offensichtlich gerade ein Kind bekommen haben. Das hat sich ja mit der Zeit alles herauskristallisiert. In dem Maße, wie das alles vonstatten geht, würde ich eine bestimmte Organisiertheit beim Täter vermuten. Das bleibt ja gar nicht aus. Er findet die Frauen, er entführt sie, er hält sie monatelang irgendwo gefangen. Niemand weiß davon. Er hält sie soweit bei Laune, dass sie bis zur Geburt durchhalten und dann stranguliert er sie, weil er sie nicht mehr braucht. Dass er Illegale entführt, macht Sinn, denn die vermisst niemand. Nach ihnen wird nicht gesucht. Das ist also sehr vorteilhaft für ihn. Auffällig ist, dass alle Kinder verschwunden sind. Ich bin ziemlich sicher, dass es genau um die Kinder geht. Er nimmt sie und verkauft sie.“

Sadie nickte ernst. „Eigentlich lässt die ganze Situation keine anderen Schlussfolgerungen zu.“

„Nicht wirklich“, sagte Woodberg. „Ich hatte erst alles Mögliche vermutet – Zwangsprostitution oder dass irgendein Irrer am Werk ist. Aber so ... ich denke, er braucht die Frauen nur, damit sie Kinder bekommen. Danach wirft er sie weg. Ich weiß, dass wohlhabende, weiße Amerikaner eine Menge Geld für ein gesundes Kind bezahlen würden. Die Frage ist nur, ob die Kinder im System erfasst sind, bevor sie adoptiert werden, oder ob sie sogar unter der Hand verkauft werden. Ich habe versucht, die Kinder ausfindig zu machen, aber bislang ist mir das nicht gelungen.“

„Ich kann mir auch kein anderes Szenario vorstellen“, sagte Sadie. „Nicht bei dieser Organisiertheit. Es gehört einiges dazu, so viele Frauen die ganze Zeit festzuhalten und für ihre Gesundheit zu sorgen. Es müssen mehrere Täter sein.“

„Ich vermute es“, stimmte Detective Woodberg zu. „Leider haben wir überhaupt keinen Ansatz. Dass es da ein Problem gibt, erfahren wir ja erst, wenn die Leichen gefunden werden. Wir haben versucht, herauszufinden, mit wem die jungen Frauen zum Zeitpunkt ihres Verschwindens Kontakt hatten, aber nach so langer Zeit und in diesem Milieu ist das wahnsinnig schwierig. Die Eltern von Eva Munoz wussten einiges zu berichten, aber nichts, was geholfen hätte. Frida Mendez hat mir auch immer zu denken gegeben, weil sie gar keine Illegale war. Trotzdem wissen wir nichts darüber, wie sie verschwunden ist. Ehrlich gesagt wissen wir überhaupt nichts.“

„Dann haben Sie jetzt auf jeden Fall Hilfe“, sagte Matt.

„Das freut mich! Wie Sie sich denken können, habe ich nie viel Zeit, mich mit diesen Fällen zu befassen, obwohl sie so vertrackt sind. Es geht hier um illegale Einwanderinnen. Kaum ist das nächste Gewaltverbrechen auf dem Tisch, verschwinden die Frauen in der Versenkung. Gefällt mir nicht, ist aber leider so.“

„Für wann ist der Obduktionsbericht von Rosa Pablo angekündigt?“, fragte Sadie.

„Ich weiß es nicht, aber ich gebe Ihnen gern Bescheid. Wenn Sie sonst noch Fragen haben, stellen Sie sie.“

Sadie bedankte sich, aber im Moment hatte sie keine weiteren Fragen. Gemeinsam verließen Sadie und Matt das Police Department und machten sich auf den Rückweg zum FBI.

„Ich bin nicht sicher, ob du mich hier überhaupt wirklich brauchst“, sagte Sadie, als sie schon wieder auf der Interstate waren. „Ich kann aus allem, was wir wissen, keine anderen Schlüsse ziehen als Detective Woodberg. Da missbraucht jemand illegale Einwanderinnen im großen Stil als Gebärmaschinen. Und weißt du, was mir daran Sorgen bereitet?“

„Was denn?“, fragte Matt.

„Die Toten wurden wirklich fast im Monatsabstand gefunden. Im März hat das angefangen, im Mai ging es weiter, im Juni, Juli und August gab es ebenfalls Tote. Das lässt mich befürchten, dass da noch andere Frauen sind.“

„Mhm“, machte Matt wenig enthusiastisch. „Das glaube ich auch.“

Sadie kräuselte die Lippen. „Wir müssen rauskriegen, wer dahintersteckt, sonst wird das so weitergehen.“

„Was ich nicht verstehe: Warum werden die Frauen getötet, nachdem sie das Kind geboren haben?“

Achselzuckend sagte Sadie: „Ist vielleicht am einfachsten. Ich muss mir gleich die Obduktionsberichte ansehen, aber es ist nicht leicht, jemanden für so lange Zeit gefangenzuhalten. Vielleicht hat sich ihr gesundheitlicher Zustand verschlechtert.“

„Das ist völlig krank“, sagte Matt. „Ich finde, du bist hier doch richtig. Das fällt eindeutig in deinen Zuständigkeitsbereich. Mit solchen Dingen kennst du dich aus.“

„Ja, da hast du schon Recht ... die ganzen besonders kranken Fälle machen mir eben keine Angst“, erwiderte Sadie trocken. Matt grinste bloß.

Das Gespräch erlahmte, bis sie das FBI-Gebäude wieder erreicht hatten. Matt schlug vor, dass sie sich am besten mit einem Laptop in den kleinen Besprechungsraum setzten, um ungestört zu sein. Sadie suchte sich alle Obduktionsberichte heraus und studierte sie eingehend.

Alle Leichen wiesen Fesselmale und sogar Narben an den Handgelenken auf. Man hatte sie für lange Zeit eingesperrt, soviel stand fest. Einige von ihnen waren ziemlich abgemagert und wiesen Mangelerscheinungen auf. Sie wusste, für die Kinder musste das nicht gelten, aber sie fand es barbarisch.

Genauso barbarisch war die Auffindesituation der Toten gewesen. Manche von ihnen waren nur halb bekleidet, voller Blut, bei den meisten hatte der Gerichtsmediziner noch die Plazenta im Leib gefunden. Daraus und aus anderen Indizien hatte er geschlossen, dass die Frauen ziemlich bald nach der Geburt stranguliert worden waren.

Sadie schluckte hart und schloss für einen Moment die Augen. Sie hatte furchtbare Bilder im Kopf, sah die Frauen in einem finsteren Loch vor sich, in Verschlägen eingesperrt und als Brutmaschinen missbraucht.

„Was ist?“, fragte Matt, dem nicht entging, wie Sadies Fassung ins Wanken geriet.

„Das ist einfach pervers“, sagte sie. „Vielleicht sind die Frauen alle zusammen eingesperrt. Sie wissen, dass sie sterben müssen, wenn ihre Kinder geboren sind. Ihnen werden die Kinder weggenommen und sie werden getötet ...“

„Jetzt weißt du, warum ich diesen Fall nicht auf sich beruhen lassen kann.“

„Ja, aber du bist ein Mann, Matt. Natürlich findest du das schlimm, aber ich könnte mir vorstellen, dass ich das noch viel schlimmer finde. Mir als Frau tut diese Vorstellung ziemlich weh.“

Tröstend legte Matt einen Arm um sie. „Wir kriegen diese Mistkerle. Das wird aufhören.“

„Wir müssen das schaffen“, sagte Sadie. „Ich will nicht, dass das noch einer weiteren Frau passiert.“

„Ich auch nicht. Legen wir den Mistkerlen das Handwerk! Von der Größenordnung her würde das Ganze zu Filhos passen.“

„Finde ich auch“, sagte Sadie. „Nach allem, was du mir über ihn erzählt hast. Worin hat der seine Finger?“

„Eigentlich in allem, was zum organisierten Verbrechen passt. Er handelt mit Drogen, Waffen, betreibt Geldwäsche,  Menschenhandel und Prostitution. Er hat auch ein eigenes Casino und ist vermutlich in Autohehlerei verwickelt. Aber ja, ich weiß nicht, was er seinen Prostituierten alles zumutet. Soweit bin ich noch nicht. Ich muss sehen, dass ich Kontakt zu den Frauen herstellen kann, um herauszufinden, ob sie zur Prostitution gezwungen werden. Denkbar wäre es.“

„Das ist widerlich. Du musst den Kerl aus dem Verkehr ziehen!“

Matt wollte schon etwas erwidern, als es an der Tür klopfte. Es war Jason. „Wie sieht es mit Futteraufnahme aus?“

„Gute Idee“, sagte Matt.

 

„Wenn ich mir das nur vorstelle - meine Frau beim FBI ...“ Jones schüttelte heftig den Kopf. „Nein. Das wäre gar nicht gut!“

„Wir haben vorher sogar schon bei der Polizei zusammengearbeitet“, erwiderte Matt unbeeindruckt. Sadie saß neben ihm und gab vor, vollkommen in ihr Essen vertieft zu sein.

„Tatsächlich? Das hast du uns alles gar nicht erzählt. Du hast uns auch nicht erzählt, was für eine Schönheit deine Frau eigentlich ist!“

„Warum auch? Sie ist ja schon mit mir verheiratet“, sagte Matt schlagfertig. Seine Kollegen lachten und selbst Sadie musste ein wenig grinsen.

„Und wie lang kennt ihr euch schon?“, erkundigte Jason sich interessiert.

„Wir kennen uns schon seit einer ganzen Weile, aber wir sind seit ungefähr einem Jahr ein Paar“, gab Matt zur Auskunft.

„Da habt ihr aber schnell geheiratet“, fand Jones.

„Wenn es passt.“ Matt nahm noch einen Bissen. Er war vollkommen gelassen – anders als Sadie. Sie war nicht gut in Smalltalk, noch nie gewesen. Deshalb überließ sie Matt das Reden. Er erzählte davon, dass Sadie ihn eigentlich erst zum FBI gebracht hatte. Damit waren die anderen zufrieden, bis Jones neugierig wurde.

„Und, schon mit richtigen Serienmördern zu tun gehabt?“ ,fragte er in Sadies Richtung.

Sie überlegte kurz und nickte. „Fünf.“

„Was, wirklich? Wer denn zum Beispiel?“

„David Blackwood“, sagte sie. „Ein Serienmörder, der letztes Jahr in Utah seine Opfer erst wochenlang eingesperrt und dann in der Wüste buchstäblich Jagd auf sie gemacht hat.“

„Uh“, machte Jason. „Klingt übel.“

„War es auch“, sagte Matt. „Ich habe neben Sadie im Auto gesessen, als der Kerl begonnen hat, wie verrückt auf uns zu schießen. Nur gut, dass Sadie weiß, wie man mit Waffen umgeht.“

„Von dem habe ich gar nicht gehört“, sagte Jones. „Was ist passiert?“

„Ich habe ihn erschossen“, sagte Sadie. „Das war ganz einfach: Er oder wir.“

„Und da warst du auch mit von der Partie?“, fragte Warner in Matts Richtung. „Nicht schlecht.“

„Ja, wir arbeiten gut zusammen. Davon abgesehen können wir ihre Hilfe gerade aber auch wirklich brauchen.“

„Schon gut“, sagte Jones. „Ich glaube, deine Süße hat ganz schön was auf dem Kasten! Aber dummerweise ist sie ja schon vom Markt.“

Fast unmerklich legte Matt einen Arm um Sadie. An dieser Art Scherze störte sie sich jedoch nicht.

„Ich habe noch nie jemanden erschossen“, merkte Jason an. „Ist bestimmt krass. Aber es hat auch noch nie jemand auf mich geschossen.“

„Muss man auch nicht unbedingt haben“, sagte Matt.

„Ach, das hast du uns wieder voraus? Wo hat es dich denn erwischt?“

Matt deutete auf seine Schulter. „War zum Glück schlecht gezielt.“

„Wann war das?“

„Ist jetzt ungefähr ein Jahr her.“

„Da warst du noch nicht mal beim FBI“, kombinierte Jones richtig.

„Nein, das hatte damit auch nichts zu tun.“

„Womit hatte es denn zu tun?“

„Müssen wir das hier beim Essen erörtern?“, fragte Matt ausweichend und lachte. Nur Sadie merkte, dass er darauf absichtlich nicht eingehen wollte.

„Du kannst dich ja anstellen“, sagte Jones.

„Das war blutig und ziemlich schmerzhaft. Kein schönes Thema“, sagte Matt.

„Schon klar“, sagte Jones und blickte wieder zu Sadie. „Irgendwie kommst du mir ja bekannt vor. Hattest du sie wirklich noch nie mit, Matt?“

„Das hättest du gemerkt“, sagte Matt.

„Ja, aber woher kenne ich denn ihr hübsches Gesicht?“

Sadie spürte, wie Matt seine Finger sanft in ihren Oberarm grub. Sie war ruhig, denn sie wusste, er war da. Solange das der Fall war, hatte sie vor gar nichts Angst.

„Weiß ich doch nicht“, sagte Matt, ohne sich etwas anmerken zu lassen. „Vielleicht hast du sie auf dem Parkplatz schon mal gesehen.“

„Ja, kann sein ... ich weiß es nicht.“

Sadie war erleichtert, als sie aufgegessen hatten und ins Büro zurückkehrten. Nur mit Matt begab sie sich wieder in den kleinen Besprechungsraum und war froh, dass das Mittagessen ausgestanden war. In ihrer eigenen Abteilung gab sie sich unnahbar, wenn auch freundlich. Das war einfach. Aber diese Mittagspause war einem Spießrutenlauf gleichgekommen.

„Dann wollen wir mal“, sagte Matt, doch bevor er sich setzte, sagte er: „Ich gehe noch mal kurz pinkeln und auf dem Rückweg bringe ich uns Kaffee mit. Wie hört sich das an?“

„Sehr gut“, sagte Sadie und vertiefte sich in die Obduktionsberichte. Sie wollte die grausamen Details kennen, die den jungen Frauen nicht erspart geblieben waren. Tatsächlich waren sie alle ausnahmslos erdrosselt worden – ziemlich direkt nach der Geburt. Sadie wusste nicht, was sie am grausamsten finden sollte. Das war alles furchtbar.

„Jetzt weiß ich, woher dein Gesicht mir so bekannt vorkam.“

Jones stand im Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt, und grinste Sadie wissend an. Erschrocken blickte sie auf und wusste nicht, was sie erwidern sollte.

„Ich habe kombiniert. Bevor du Matt geheiratet hast, war dein Name Scott. Stand so zumindest unter deinem Foto im Blackwood-Fall.“

Sadie schluckte hart. „Ja, das stimmt.“

„Tatsächlich! Wusste ich’s doch. Ich würde damit ja auch nicht hausieren gehen, das verstehe ich schon. Aber Rick Foster war doch schon eine ganz andere Hausnummer als dieser Blackwood.“

Sadie schluckte. Sie war sprachlos. In diesem Moment fühlte sie sich auf unangenehme Weise ertappt.

„Matt wurde angeschossen, als Foster dich entführt hat, oder? Muss schlimm gewesen sein. Ich könnte mir vorstellen, dass er dir große Angst eingejagt hat.“

In diesem Moment erschien Matt neben Jones. Er hatte zwei Kaffeetassen in der Hand. „Machst du bitte mal Platz?“

„Du hättest ja auch ruhig mal was sagen können“, meinte Jones, während er zur Seite trat.

„Wozu?“

„Na, dass Rick Foster dich angeschossen hat. Das ist ja krass!“

Beinahe hätte Matt die Tassen fallen gelassen, aber er fing sich wieder und stellte sie rasch auf dem Tisch ab. „Manchmal bist du wirklich eine Nervensäge, Jones. Ja, Rick Foster hat auf mich geschossen. Das war ein ziemlich beschissener Moment, wie du dir denken kannst. Im Übrigen hat er später auch noch auf Sadie geschossen. Wir waren zwei hübsche Invaliden letztes Jahr, das kann ich dir sagen!“

Jones lachte. „Ist ja nicht zu fassen. Der Kerl ist einer der schlimmsten Serienmörder in unserer Geschichte!“

„Ich weiß“, sagte Matt. „Tu mir einen Gefallen und richte deine Aufmerksamkeit wieder auf Filhos, ja? Das werden wir jetzt jedenfalls wieder tun.“

„Schon gut“, sagte Jones, der die Abfuhr verstand. Kaum dass er verschwunden war, verpasste Matt der Tür einen Tritt und eilte zu Sadie, die inzwischen aufgestanden war und mit vor der Brust verschränkten Armen neben dem Tisch stand. Sie hatte sich abgewandt. Als Matt die Arme um sie legte, spürte er, wie sie zitterte.

„Vergiss den Kerl“, sagte er. „Er ist wahnsinnig neugierig, aber er meint es nicht böse.“

„Aber das hatte ich befürchtet, verstehst du? Dass irgendwann jemand auftaucht, mich sieht und überlegt, woher er mein Gesicht kennt. Ich verstehe ja schon nicht, dass er nicht auf den Pittsburgh Strangler gestoßen ist ...“ Plötzlich wurde Sadies Stimme von ihren Tränen erstickt. Sie drehte sich zu Matt um und floh in seine Umarmung.

„Ich werde ihm Beine machen, wenn er seine Nase noch tiefer da reinsteckt“, sagte Matt, während er Sadie beruhigend an sich drückte und ihr über den Rücken strich. „Es ist alles gut.“

„Nichts ist gut!“, begehrte sie unter Tränen auf. „Ich dachte, dass es mir hilft, jetzt einen neuen Nachnamen zu tragen. Aber nein, es verfolgt mich einfach weiter ...“

„Nicht doch“, sagte Matt und wischte zärtlich die Tränen von ihren Wangen. Sadie verstand und wischte hastig die Tränen ab. Sie wollte nicht im Büro weinen. Das würde man sehen und das wollte sie noch viel weniger.

„Okay, vergiss es einfach“, sagte sie und atmete tief durch.

Matt lächelte und nahm ebenfalls Platz, nachdem Sadie sich gesetzt hatte und ihre Nase wieder in die Fallakten steckte. Sie griff nach einer Tasse Kaffee und wärmte ihre Hände daran, die plötzlich eiskalt waren. Dann beschloss sie, wieder ihre Arbeit zu machen.

„Ich glaube, dass nur zwei der Opfer uns wirklich weiterbringen können“, sagte sie. „Eva, das erste Opfer, und Frida, die Studentin. Ich sehe zu, dass ich oder jemand anderes sich darum kümmert, mehr über die beiden herauszufinden. Die beiden Frauen, die nicht einmal identifiziert wurden, können wir vergessen, da werden wir nichts herausfinden. Aber wir brauchen einen Hinweis darauf, wie die Mädchen verschwunden sind. Vielleicht wurden sie nicht einfach verschleppt, vielleicht hat jemand sie angesprochen, der vertrauenswürdig wirkte. Als Illegale nimmt man doch gern Hilfe an.“

„Vielleicht war es ein Landsmann“, sagte Matt. „Er hat ihnen Versprechungen gemacht und dann ist die Falle zugeschnappt.“

„Ja, so könnte ich mir das auch vorstellen. Wir sollten auch herausfinden, ob es weitere vermisste Frauen gibt. Wahrscheinlich werden wir da nicht fündig, aber wir sollten es zumindest versuchen.“

„Ich sehe gleich mal nach“, sagte Matt und klinkte sich in die Vermisstendatei ein. Er suchte nach jungen Frauen mexikanischer Abstammung, die Anfang zwanzig waren und im Großraum Los Angeles vermisst wurden. In der Datenbank fand er tatsächlich einige Treffer und zwei der jungen Frauen waren sogar als illegale Einwanderinnen vermerkt.

„Erstaunlich, dass die jemand gemeldet hat“, sagte Sadie. „Seit wann werden sie vermisst?“

„Seit neun und sieben Monaten“, sagte Matt.

„Könnte passen. Schwer zu sagen. Vielleicht brauchen wir auch Amtshilfe aus Mexiko, mal sehen.“

„Was sollen die Mexikaner denn wissen?“

„Wir müssen herausfinden, mit wem die Opfer Kontakt hatten. Vielleicht hilft das. Und wir müssen die Babys ausfindig machen“, sagte Sadie. „Wäre doch möglich, dass die Kinder wirklich im System aufgetaucht sind, falls sie adoptiert wurden. Die Geburtsdaten wissen wir.“

„Die können auch gefälscht worden sein.“

„Ja, aber zumindest werden auch die gefälschten Daten in der Nähe liegen. Was ich mich noch frage: Wie sollen wir überhaupt bestimmen, ob es sich um die betreffenden Kinder handelt? Weiße Kinder, denen man die lateinamerikanische Abstammung nicht ansieht, bringen mit Sicherheit mehr Geld.“

„Klar, aber die Mütter sind Mexikanerinnen.“

Sadie nickte, sagte dann jedoch: „Sicher, aber die Frage ist jetzt: Sind die Mütter auch die genetischen Mütter? Wie wurden die Kinder gezeugt? Durch eine Vergewaltigung? Wer ist der Vater? Oder sind die Kinder Produkt einer künstlichen Befruchtung und die genetischen Eltern sind die Auftraggeber? Das ist doch alles möglich. In dem Fall wurden die Mädchen vielleicht wirklich nur als eine Art Brutmaschine gebraucht.“

Matt atmete tief durch. „Das ist ehrlich krank.“

„Ziemlich“, stimmte Sadie zu. „Diese Optionen sehe ich jetzt. Wir müssen versuchen, mehr über die Opfer herauszufinden und wir können versuchen, auf umgekehrtem Weg über die Babys an die Hintermänner heranzukommen.“

„Das schaffen wir aber nur, wenn die Kinder im System sind.“

Sadie nickte. „Mit Pech sind sie es nicht. Ich stelle es mir auch nicht zu leicht vor, an Adoptionsunterlagen heranzukommen.“

„Wir haben eine findige IT“, sagte Matt. „Da sollten wir um Unterstützung bitten.“

„Hoffentlich finden wir wirklich etwas.“

„Das hoffe ich auch. Aber ja, wenn wir nur ein einziges Kind finden, haben wir eine Chance, diese finsteren Kanäle aufzudecken.“

„Ich mache mir auch Hoffnungen bei Frida. Dass sie keine Illegale war, hat die Sache doch unnötig verkompliziert. Wahrscheinlich ist er erst durch sie auf die Idee gekommen, zukünftig Illegale zu entführen, weil die seltener vermisst werden.“

„Vermutlich“, stimmte Matt zu. „Vielleicht finde ich auch über Diego etwas heraus. Ich weiß bloss nicht, wie ich fragen soll.“

„Du gehst morgen mit ihm in den Club?“, fragte Sadie. Er antwortete mit einem Nicken.

„Vielleicht ergibt sich etwas. Wie zart besaitet kannst du dich geben?“

„Gar nicht“, erwiderte Matt und lachte.

„Gut, also darf es dir nichts ausmachen, dass die Leiche gefunden wurde. Aber ich denke, dass sich das ergeben wird. Vielleicht weiß er wirklich irgendwas.“

„Wenn Filhos wirklich etwas damit zu tun hat“, sagte Matt.

„Ja, aber ich bin da ganz bei Woodberg – mir fällt auch nichts anderes ein. Ich sehe da keinen Gary Heidnik. Was soll jemand mit den ganzen Kindern anstellen? Nein, das müssen mehrere Täter sein. Das ist alles viel zu komplex. Und selbst wenn es nicht Filhos ist, vielleicht findest du trotzdem auf diesem Weg etwas darüber heraus.“

„Ich wette, dass er es ist. Filhos macht alles, womit sich Geld verdienen lässt. Moral interessiert ihn dabei herzlich wenig.“

„Filhos könnte aber auch einfach Frauen aus Mexiko einschleusen.“

„Ja, vielleicht ist auch nicht Filhos selbst darin involviert, sondern irgendeiner seiner Handlanger. Ich könnte mir einiges vorstellen“, sagte Matt.

„Bist du ihm eigentlich schon mal begegnet?“

Er schüttelte den Kopf. „Nicht direkt. Ich habe ihn von weitem gesehen. Im Moment bin ich immer noch dabei, mich da reinzuarbeiten. Ich muss ihr Vertrauen gewinnen und mich unentbehrlich machen. Mal sehen, wie das morgen wird. Ich habe irgendwie die Befürchtung, das Diego mich zu den Mädchen schleppt.“

Grinsend sah Sadie ihn an. „Blöde Situation, Mr. Whitman.“

„Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich da mit einem Mädchen ins Bett gehen würde?“ Er schüttelte heftig den Kopf. „Niemals. So weit geht mein Berufsethos nicht.“

Sadie lachte. „Nein, das glaube ich nicht, Matt. So gut kenne ich dich.“

Matt gab ihr einen Kuss und vertiefte sich wieder mit ihr in die Fallakten. Sie waren nicht sicher, ob sie etwas übersehen hatten, und sie mussten überlegen, wie sie die Ermittlungen fortführen wollten. Sadie brauchte nun Hilfe von anderen Stellen und Matt war am nächsten Tag ohnehin nicht mehr dabei, weil er wieder undercover unterwegs war. Aber er wollte die Ohren spitzen.

Sadie war froh, als sie endlich Feierabend machen und nach Hause fahren konnten. Als sie den Besprechungsraum verließen, war keiner von Matts Kollegen im Großraumbüro zu sehen. Das kam ihnen allerdings gelegen, denn so konnten sie sich ungesehen davonstehlen und machten sich auf den Weg zum Parkplatz. Als sie das Gebäude verließen, schlug ihnen die Hitze wie eine Wand entgegen. Im Auto angekommen, stellte Matt erst einmal die Klimaanlage an und machte sich auf den Weg zum Freeway.

Als sie an der nächsten Ampel standen, blickte Matt zu Sadie. „Ich hätte nicht gedacht, dass Jones so zielstrebig den Finger in die Wunde legt.“

Sadie winkte ab. „Jones ist nicht das Problem. Meine Reaktion ist das Problem. Soll das ewig so weitergehen? Soll ich jedes Mal zusammenzucken, wenn jemand meinen Vater oder meinen Bruder erwähnt?“

„Ich kann es jedenfalls verstehen“, sagte Matt.

„Ja, aber ich bin es leid, verstehst du? Ich war auch eigentlich schon mal weiter. Nach der Begegnung mit meinem Vater habe ich noch ein paar Gespräche gebraucht, aber dann war es in Ordnung. Er war tot und es tat nicht mehr weh. Und dann ist Sean aufgetaucht.“ Sadie biss sich auf die Lippen und zog die Schultern hoch. „Das hat alles kaputt gemacht.“

„Aber du bist nicht allein damit“, sagte Matt, während er auf den Freeway fuhr. „Du musst das nicht mit dir selbst ausmachen, Sadie. Du hast mich. Und ich verstehe, dass du verletzt bist. Das verstehe ich jedenfalls besser als deine scheinbare Gleichgültigkeit dem Problem gegenüber. Für mich sieht das wie Verdrängung aus.“

„Du kannst es nennen, wie du willst, aber den Fehler macht ihr alle“, begehrte sie auf. „Ihr glaubt alle, zu wissen, wie ich reagieren müsste. Aber du hast gesehen, was passiert, wenn ich mich mit Sean auseinandersetze. Das endet mit einer Klinge in meinem Arm.“

Matts Finger krampften sich ums Lenkrad. Er wusste nicht, was er erwidern sollte.

„Ihr wisst alle nicht, wovon ihr sprecht“, fuhr Sadie fort. „Du weißt längst nicht alles, was Sean getan hat, und glaub mir, das ist auch besser so. Das willst du überhaupt nicht wissen. Aber ich sehe keinen Nutzen darin, mich damit zu beschäftigen. Ich habe mich mein halbes Leben lang mit dem beschäftigt, was mein Vater getan hat, und das hat mich fast kaputt gemacht. Was Sean getan hat, war eigentlich noch viel schlimmer, denn er hat es mir angetan und nicht irgendwem. Es war furchtbar. Zwischendurch hätte ich fast aufgegeben, verstehst du? Darüber kann ich nicht nachdenken, das macht mich kaputt. Ich muss einfach weitermachen. Und dazu gehört auch mein neuer Name ... und dazu gehört, dass du mich unterstützt, was du ja tust.“

„Natürlich tue ich das“, sagte Matt. Er achtete nur mit halbem Auge auf den Verkehr, ließ sich einfach so treiben. „Ich kritisiere dich ja auch nicht. Das steht mir überhaupt nicht zu. Ich versuche nur, zu verstehen, wie du dich verhältst. Nur so kann ich dir doch helfen.“

„Du hilfst mir, Matt“, sagte Sadie. „Du hast ja keine Ahnung, wie sehr. Was du tust, ist eigentlich immer richtig. Auch heute hast du mir sehr geholfen, du hast so viel von Jones abgefangen. Das war toll.“

Matt lächelte. „Wenn das schon alles ist ... das kriege ich hin.“

„Nein, das ist natürlich nicht alles. Da ist so vieles, was du tust ... du und Phil. Ihr beiden seid eine wahnsinnige Hilfe.“

„Dann ist es gut, dass wir in deiner Nähe sind.“

„Ja, das ist es. Was denkst du, warum ich nur Phil noch erzählt habe, dass ich mich fast umbringen wollte? Er versteht das. Ich könnte es Norman nicht antun, ihm das zu sagen. Oder Tessa. Sie würde das gar nicht verstehen. Aber du und Phil ... ihr habt gesehen, warum ich das fast getan hätte. Euch muss ich nichts erklären. Ihr habt mich gerettet, und das tut ihr noch.“

„Und das, obwohl ich immer noch der Meinung bin, dass Seans Tod auf mein Konto hätte gehen sollen“, murmelte Matt.

„Ach, Unsinn ... ist doch egal, wer ihn umgebracht hat“, sagte Sadie. „Hauptsache, er ist tot.“

Matt erwiderte nichts während des letzten Stücks ihres Heimweges. Zuhause angekommen, parkte er den Challenger vor der Garage und ging mit Sadie ins Haus. Sie hatten kaum die Tür hinter sich geschlossen, als Sadie ihn umarmte und ihren Kopf an seine Brust drückte.

„Danke“, sagte sie leise und wollte ihn gar nicht mehr loslassen.

„Wofür?“, fragte Matt irritiert.

„Für alles. Ich wüsste nicht, wie ich das ohne dich machen sollte.“

Matt seufzte leise, wiegte Sadie zärtlich in den Armen und küsste sie auf die Stirn. „Ich bin immer da, das weißt du. Und eigentlich will ich doch nur, dass du glücklich bist.“

„Du machst mich glücklich, Matt“, sagte Sadie und schenkte ihm einen liebevollen Kuss.

 

 

 

Dienstag

 

In der Ferne heulten Polizeisirenen vorbei. Diego drehte sich kurz um, aber dann achtete er nicht weiter darauf. Matt tat völlig unbeteiligt. Seit dem Mittag war er nun schon wieder mit Diego unterwegs, hatte ihn in einen Imbiss begleitet, wo er mit einigen Landsleuten gesprochen hatte. Matt hatte sich Diegos Interesse erschlichen, indem er behauptet hatte, an Autoteile und Waffen zu kommen. Im Moment war Diego damit beschäftigt, das allgemeine Interesse an diesen Dingen auszuloten. Filhos brauchte wohl noch einen neuen Geldwäscher, aber noch hatte Matt nicht genug Vertrauen gewonnen, um für eine solche Aufgabe in Betracht gezogen zu werden. Diego war ziemlich dicke mit einem von Filhos’ direkten Handlangern, deshalb beschloss Matt einfach, zur Stelle zu sein, sein Vertrauen zu gewinnen und zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.

Sie waren unterwegs zu einem der Clubs, in denen viele von Filhos’ Geschäften stattfanden. Er lag in einer Seitenstraße unweit der Strandpromenade von Santa Monica. Hier direkt am Pazifik war es so windig, dass sie die Hitze des Tages kaum spürten. Trotzdem hatte Matt es vorgezogen, in Shorts und Muskelshirt aufzutauchen. Passte sowieso besser ins Bild.

Sie betraten die Seitenstraße und Diego ging voraus zum Club. Die Sonne war bereits im Untergang begriffen, die Schatten wurden länger. Matt hoffte, dass er an diesem Abend etwas erreichen konnte, das zum Fortgang der Ermittlungen beitrug.

Diego wechselte ein paar Worte mit dem Türsteher, dann wurden sie eingelassen. Matt fand sein Auftreten immer noch idiotisch, aber er verkörperte glaubhaft denjenigen, der er zu sein vorgab.

Hämmernde Bässe begrüßten sie, während sie sich auf den Weg zur Bar machten. Ohne Umschweife bestellte Diego ihnen zwei Cocktails und suchte sich dann einen Tisch unweit der Bühne, auf der zwei äußerst leicht bekleidete Mädchen tanzten und sich an den Stangen räkelten. Matt war nicht zum ersten Mal hier, aber trotzdem fiel es ihm vergleichsweise schwer, ein unbeeindrucktes Gesicht zu machen. Irgendwie fehlte ihm da etwas, er konnte die Mädchen nicht einfach ansehen und genießen, was sie taten. Auch wenn sie damit ihr Geld verdienten, fand er das ziemlich unwürdig.

Breitbeinig saß Diego in dem kleinen Sessel neben ihm und beobachtete das rechte der beiden Mädchen interessiert. Es dauerte nicht lang, bis ihm auffiel, dass Matt sich dafür nicht so recht begeistern konnte.

„Was denn, heute keine Lust auf schöne Frauen?“, fragte er.

Matt zuckte mit den Schultern. „Nicht wirklich.“

„Ach, komm schon. Ein bisschen gucken wird doch wohl auch bei dir erlaubt sein!“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739348988
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Juli)
Schlagworte
SWAT Profiling Profiler Kalifornien Serienvergewaltiger Thriller Spannung Undercover FBI Mordserie Krimi Ermittler

Autor

  • Dania Dicken (Autor:in)

Dania Dicken, Jahrgang 1985, schreibt seit ihrer Kindheit. Die in Krefeld lebende Autorin hat in Duisburg Psychologie und Informatik studiert und als Online-Redakteurin gearbeitet. Mit den Grundlagen aus dem Psychologiestudium setzte sie ein langgehegtes Vorhaben in die Tat um und schreibt seitdem Psychothriller mit Profiling als zentralem Thema.
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Titel: Die Seele des Bösen - Undercover