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Die Seele des Bösen - Stumme Schreie

Sadie Scott 7

von Dania Dicken (Autor:in)
270 Seiten
Reihe: Sadie Scott, Band 7

Zusammenfassung

Die junge Polizistin Nicky Sheridan bittet FBI-Profilerin Sadie um Mithilfe in einem fast zwanzig Jahre alten Mordfall. Nickys kleiner Bruder Billy wurde als Sechsjähriger auf dem Heimweg von der Schule entführt und Wochen später ermordet und verbrannt aufgefunden. Der Täter konnte nie gefunden werden, weshalb Sadie beschließt, der von Schuldgefühlen geplagten Nicky zu helfen. Gemeinsam fahren sie in Nickys Heimatort am Fuße der südlichen Sierra Nevada und rollen den alten Fall neu auf. Bei ihren Ermittlungen finden sie schnell heraus, dass in der Region über Jahre hinweg immer wieder Menschen getötet und ihre Leichen verbrannt wurden. Nicky und Sadie stoßen auf eine beispiellose Mordserie …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Bear Valley Springs, Kalifornien, 1998

 

 

Beim Anblick ihres Vaters vor dem Schultor wusste Nicky, dass etwas passiert sein musste.

Für einen winzigen Moment blieb sie stehen, atmete tief durch und zog an den Schulterriemen ihres Rucksacks. Sie hielt die Daumen darunter geklemmt, während sie aufrecht und gleichzeitig wahnsinnig nervös auf ihren Vater zuging. Mit vor der Brust verschränkten Armen stand er an seinen Wagen gelehnt da und ging auf Nicky zu, während sie den Schulhof verließ.

„Hallo, Dad“, sagte sie und blickte zu ihm auf. Sie kniff die Augen zusammen, wie sie es sonst nur tat, wenn sie in die Sonne blinzelte. Doch an diesen Tag schien keine Sonne. Es war bewölkt, der Himmel grau in grau.

„Hey, mein Kleines“, sagte er und ging vor ihr in die Hocke, um sie wortlos zu umarmen. Nicky stand wie angewurzelt da, ließ die Arme hängen und starrte über die Schulter ihres Vaters ins Nichts.

„Ist Billy tot?“, fragte sie mechanisch. Die Frage ließ ihren Vater zusammenzucken, weshalb Nicky wusste, dass sie Recht hatte. Jetzt war das passiert, was sie alle seit Wochen befürchteten.

Ihr Vater antwortete nicht. Er ließ sie auch nicht los. Es dauerte einen Augenblick, bis Nicky merkte, dass er weinte. Ausdruckslos starrte sie auf das Schaufenster des kleinen Drugstores gegenüber.

Langsam stand ihr Vater auf und strich ihr über den Kopf. Seine Augen glänzten feucht, eine Tränenspur zog sich über seine Wange.

„Steig ein“, sagte er. „Komm mit nach vorn.“

Nicky tat, was er gesagt hatte, öffnete die Beifahrertür des Chevy Caprice und streifte ihren Rucksack ab. Sie nahm ihn zwischen die Beine, nachdem sie sich gesetzt hatte und weiter auf die Straße starrte. Ihr Vater nahm auf dem Fahrersitz Platz und schlug die Tür zu. Nicky zuckte zusammen.

Sie hatte es gewusst. Schon die ganze Zeit, aber dass ihr Vater nun kam, um sie von der Schule abzuholen, verriet ihr alles. In den vergangenen fünf Wochen hatte er sie jeden Morgen zur Schule gefahren, aber er hatte sie nicht abholen können, weil er da noch arbeitete. Ihre Mutter hatte es nicht getan. So war Nicky jeden Tag nach Hause gelaufen – so wie immer.

Nur, dass Billy jetzt nicht mehr dabei war.

In den letzten Wochen war die Stimmung im Haus wie aus Eis gewesen, die Streits ihrer Eltern immer lauter. Nicky wusste, dass nur ihr Vater ihr nicht die Schuld gab.

Und jetzt war er plötzlich doch hier, stand von der Schule und holte sie ab.

Zwei Mädchen liefen lachend neben dem Caprice vorüber. Nickys Finger krallten sich in ihre Jeans.

„Die Polizei hat angerufen“, brach ihr Vater das Schweigen. Die Pause, die er dann machte, erschien Nicky endlos lang.

„Sie glauben, dass sie Billy gefunden haben.“

Sie glauben? Nickys Kopf flog zur Seite und sie bedachte ihren Vater mit einem Blick, der mehr verständnislos als fragend war.

„Ist er tot?“, stellte Nicky ihre Frage erneut.

„Sie wissen es noch nicht“, sagte Mr. Sheridan ausweichend. „Sie müssen erst noch einige Untersuchungen machen, bevor sie ...“

„Dad!“, schrie Nicky und begann zu schluchzen. „Wurde Billy umgebracht?“

Mit Tränen in den Augen erwiderte Nickys Vater den flammenden Blick seiner Tochter und nickte dann. Nicky stieß einen Schrei aus, der ihren Vater zusammenzucken ließ. Sie schrie und weinte und merkte erst gar nicht, wie Mr. Sheridan sich über die Handbremse zu seiner Tochter beugte und sie geradezu unnachgiebig in seine Arme zog. Er drückte den Kopf des zitternden Mädchens an seine Brust, küsste sie aufs Haar und wiegte sie in seinen Armen.

„Jetzt wird Mum mich für immer hassen“, stieß Nicky atemlos und unter Tränen hervor.

„Mum meint das nicht so“, sagte Mr. Sheridan.

„Doch, tut sie! Sie sagt, dass es meine Schuld war und sie hat Recht ...“

„Nein, Liebes, das hat sie nicht. Sie meint es nicht so!“

„Doch, natürlich! Und ich habe Billy ja auch allein gelassen. Ich habe ihm gesagt, er soll das letzte Stück allein laufen.“

„Es war nicht weit, das konntest du nicht wissen. Nicky, ich bin so froh, dass du noch da bist.“

Aber der Satz hatte nicht den gewünschten Effekt bei Nicky. Sie hatte ein Gefühl, als reiße ihr jemand das Herz heraus. Vor ihren Augen verschwamm alles, sie empfand nur noch Schmerz.

„Ich bin bei dir, mein Liebes“, sagte Mr. Sheridan und ließ Nicky langsam wieder los. Zitternd wischte sie sich die Tränen ab.

„Wie wurde er umgebracht?“, fragte sie.

Bestürzt sah ihr Vater sie an. „Das wissen sie nicht.“

„Warum nicht?“, erwiderte Nicky verständnislos.

„Das können sie jetzt nicht mehr sagen.“

„Aber es sind doch bestimmt nicht nur die Knochen übrig.“

„Ja, sicher ...“ Mr. Sheridan sah ein, dass er Nickys Fragen nicht entkommen konnte. „Man hat ihn verbrannt. Deshalb ist es auch so schwer, festzustellen, ob er es ist.“

Sie nickte gefasst. Das war doch immerhin eine Erklärung, mit der sie etwas anfangen konnte.

„Also weiß man nicht, ob dieser Mörder ihm weh getan hat. Ob er gelitten hat“, sagte sie und es war nicht ganz klar, ob das eine Frage oder eine Feststellung war.

„Nein“, sagte Mr. Sheridan kopfschüttelnd.

„Warum bist du jetzt hier?“

„Ich wollte dich selbst abholen und es dir sagen.“

„Also glaubst du auch, dass er es ist.“

„Sie sind sich da ziemlich sicher.“

Nicky verzog die Lippen und nickte nachdenklich. „Das ist wirklich meine Schuld.“

„Nein“, wiederholte Mr. Sheridan.

„Ich hätte ihn nicht allein gehen lassen dürfen. Es tut mir leid, Dad.“

„Das muss es nicht. Du bist nicht schuld daran.“

Nicky schniefte und wischte sich mit den Handrücken über die Wangen. „Was hat Mum gesagt?“

Mr. Sheridan atmete tief durch. „Ich war noch nicht zu Hause.“

Das zu hören, erstaunte und entsetzte Nicky gleichermaßen. „Nicht?“

„Nein ... die Polizei ist gerade dort. Ich sagte, dass ich herkommen und dich holen will.“

In diesem Moment stürzte Nickys Welt ein. Ihr kleiner Bruder war tot. Billy würde nie wieder nach Hause kommen und das war ihre Schuld. Aber in diesem Moment begriff sie auch, dass ihre Familie daran kaputt gehen würde.

Sie spürte einen dicken Kloß im Hals, aber sie versuchte, ihn herunterzuschlucken. In den letzten Wochen war nichts und doch so vieles passiert. Sie hatte gehört, wie ihr Vater in einem Streit mit ihrer Mutter gesagt hatte, dass Nicky altklug geworden war. Erst hatte sie das Wort nicht verstanden, aber jetzt glaubte sie zu wissen, was es bedeutete.

Sie hatte ein Gefühl, als verhärte sich in ihrer Brust etwas. Der Schmerz hörte auf, er quälte sie nicht mehr so furchtbar. Immerhin nahmen jetzt die ständigen Hoffnungen und Zweifel ein Ende. Anfangs hatte sie sich gewünscht, dass Billy nach Hause kam, aber irgendwann war diese zermürbende Hoffnung dem Wunsch gewichen, einfach nur zu wissen, was mit ihm geschehen war. Das konnte auch seinen Tod bedeuten, inzwischen war das Nicky gleich.

Doch jetzt, als es so gekommen war, war der Schmerz so groß, dass Nicky ihn wegschieben musste, um ihn überhaupt noch ertragen zu können.

„Fahren wir nach Hause“, sagte Mr. Sheridan. Nicky reagierte überhaupt nicht, weshalb er schließlich einfach den Motor startete und losfuhr. Nickys Blick lief ins Leere, während ihr Vater das kurze Stück nach Hause antrat.

Billy war eines Nachmittags vor fünf Wochen auf ihrem kurzen Heimweg verschwunden – auf dem letzten kleinen Stück zum Haus, das durch die Wiesen führte, in Sichtweite und zum Greifen nah. Nicky hatte ihren zwei Jahre jüngeren Bruder allein laufen lassen, weil sie sich mit Freunden vor Marty’s Store unterhalten hatte. Sie hatte sich nichts dabei gedacht, denn der Weg war ja nicht mehr weit.

Aber als sie zu Hause eingetroffen war, war Billy nicht dort gewesen. Einfach weg. Sie war mit ihrer Mutter losgegangen und hatte Billy gesucht, hatte in den Wiesen nach ihm gerufen, auch als ihre Mutter schon längst mit der Polizei gesprochen hatte. Als sie damit fertig war, war das Weinen ihrer Mutter in Geschrei umgeschlagen und sie hatte Nicky mit bloßen Worten ein Messer ins Herz gestoßen.

„Wie konntest du Billy nur allein lassen? Es ist deine Schuld, wenn ihm etwas passiert!“

Ihre Eltern hatten Streit gehabt. Sie hatten sich angebrüllt, während Nicky weinend im Bett gelegen und an Billy gedacht hatte. Ihren lustigen kleinen Bruder, der gar nicht so frech war wie viele andere kleine Brüder.

Jeden Tag auf dem Heimweg war es am schlimmsten gewesen, hatte Nicky am meisten an Billy gedacht. Jeder Schritt war ihr schwer gefallen, während sie nun allein nach Hause lief. Auch darüber hatte ihre Mutter immer wieder Streit mit ihrem Vater gehabt, der das unverantwortlich fand und nicht verstehen konnte, aber auch nicht die Möglichkeit hatte, sich selbst darum zu kümmern.

Es war, als sei es Nickys Mutter egal, ob Nicky auch noch verschwand. Sie hatte auch so manches Mal überlegt, ob sie einfach weglaufen, sich verstecken und nicht nach Hause kommen sollte – immer in der Hoffnung, dass ihre Mutter sich vielleicht besann und aufhörte, ihre Tochter abzustrafen.

Aber es war nicht passiert.

Wie in Trance streifte ihr Blick Marty’s Store. Als ihr Vater auf den kleinen Feldweg abbog, der zu ihrem Haus führte, krampfte Nickys Herz sich zusammen. Irgendwo hier war Billy verschwunden. Irgendwo hier hatte ihm der Mensch aufgelauert, der ihn entführt und getötet hatte.

Nicky verstand das. Ihre Eltern hatten sie ja immer wieder gewarnt, nicht mit Fremden zu reden, weil es Menschen gab, die Kindern Böses wollten. Zwar konnte sie nicht begreifen, warum das so war – aber sie wusste, dass es so war.

Jetzt erst recht.

Ein Streifenwagen des Bear Valley Springs PD stand vor ihrem Haus, als Mr. Sheridan den Caprice auf den Vorplatz lenkte. Er parkte neben dem Polizeiwagen, holte tief Luft und stieg schließlich aus. Nicky blieb sitzen und starrte auf die Haustür. Sie hatte Angst, ins Haus zu gehen. Ihr Mutter würde weinen und schreien und toben und ihr schon wieder die Schuld geben.

Mr. Sheridan ging um die Motorhaube des Wagens herum und öffnete die Beifahrertür. Er sagte kein Wort, denn er wusste, warum seine Tochter nicht ausstieg.

Erneut blinzelte Nicky zu ihm hoch. „Wenn ich groß bin, gehe ich zur Polizei.“

Die Überraschung ihres Vaters war echt. Er hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit einer solchen Äußerung.

„Wie kommst du darauf?“, fragte er.

„Ich will nicht, dass böse Menschen Kinder umbringen“, sagte Nicky. „Es soll keinem anderen Kind je wieder so gehen wie Billy.“

„Nicky, du ...“ Mr. Sheridan unterbrach sich selbst und seufzte.

„Ich meine es ernst“, sagte Nicky und stieg entschlossen aus. Sie griff nach ihrem Rucksack und atmete tief durch, während sie ihrem Vater zur Haustür folgte und nun schon das Schluchzen ihrer Mutter bis nach draußen hörte.

 

 

Thanksgiving, Waterford: heute

 

Einnehmend thronte der goldbraune Truthahn mitten auf dem Tisch und verströmte einen appetitlichen, würzigen Duft. Mit dem Tranchiermesser bewaffnet stand Norman vor dem imposanten Braten und begann, ihn in mundgerechte Stücke zu zerlegen. Wann immer die anderen ihm dabei helfen wollten, verscheuchte er sie und fuhr allein fort, seine Arbeit zu machen. Nacheinander füllte er die Teller der Gäste mit dem zarten Fleisch.

„Gut, dass kein Vegetarier hier ist“, scherzte Gary.

Norman reagierte überhaupt nicht darauf, sondern fuhr fort, eine besonders große Portion auf den Teller zu laden, den er schließlich seiner Tochter hinschob.

„Dad!“, protestierte Joanna. „Wer soll das alles essen?“

„Na, du und mein Enkel“, erwiderte Norman unbeeindruckt.

„Ich werde auch noch dick und rund, ohne dass du mich mästest!“

„Jetzt hab dich nicht so, das schaffst du schon.“ Norman fuhr fort, den nächsten Teller zu bestücken und reichte ihn Sandra. Auch diese Portion war besonders groß.

„War ja klar“, sagte Sandra und lachte.

„Ich sorge eben gut für meine Enkel“, sagte Norman.

„Für mich bitte eine normale Portion“, bat Sadie ihn mit einem zuckersüßen Grinsen.

„Ist genehmigt ... oder weiß ich da etwas nicht?“, scherzte ihr Onkel.

„Nein, jetzt ist Schluss mit Enkeln“, kam Matt Sadie zu Hilfe. Als Norman ihm Augenblicke später eine riesige Portion Fleisch hinstellte, blickte er kritisch zu ihm hoch.

„Und für welches Kind ist das?“, fragte Matt.

„Das ist für die Versehrten“, sagte Norman trocken.

„Jetzt hör aber auf. Das ist Monate her!“

„Dass du deine Reha beendet hast, nicht“, erinnerte Sadie ihren Mann. Matt seufzte ergeben.

Reihum nahmen sie sich Gemüse, Kartoffeln und Soße und begannen, zu essen. Für einen Moment war es fast totenstill. Sadie blickte zu den anderen und fühlte sich heimisch. In diesem Jahr war die Runde etwas kleiner als im vorigen, Phil war in Los Angeles geblieben und Tessa feierte Thanksgiving mit der Familie ihrer Freundin. Aber Norman hatte wieder Matts Familie nach Waterford eingeladen und so war es eine fröhliche Runde. Tammy grinste ihren Bruder quer über den Tisch hinweg an und Matt überlegte, ob er sie mit einer Erbse bewerfen sollte, entschied sich dann aber dagegen.

Gary schob abwechselnd sich und seinem Sohn Ben eine Gabel in den Mund. Es war noch gar nicht lang her, dass Gary und Sandra die neue Schwangerschaft verkündet hatten. Entsprechend war Sadie wenig überrascht, Sandra und Joanna mit zusammengesteckten Köpfen zu sehen. Joanna war inzwischen fast im fünften Monat und man konnte auch schon eine kleine Bauchrundung erkennen. So weit war Sandra zwar noch lange nicht, aber mit Ben hatte sie immerhin schon Erfahrung.

Sadie beschloss, sich nicht außen vor zu fühlen und unterhielt sich stattdessen mit Matts Schwester. Zu ihrem Bedauern sahen sie sich ohnehin viel zu selten, aber Tammy arbeitete unverändert in New York.

„Matt sagte mir, dass du jemanden kennengelernt hast“, begann Sadie.

Tammys Wangen röteten sich prompt. „Ja ... er heißt Danny. Bisher waren wir nur ein paar Mal zusammen aus. Wir sind noch nicht soweit, dass wir von einer Beziehung sprechen würden.“

Matt, der bislang schweigend zugehört hatte, grinste in die Richtung seines Vaters. „Sorry, Dad. Was Enkel betrifft, kannst du dich nicht auf uns verlassen!“

„Das macht nichts“, behauptete Mr. Whitman großmütig. „Ihr sollt ja auch nicht meinetwegen Kinder haben.“

„Ich hätte ja schon gern welche“, sagte Tammy verträumt und linste hinüber zu Ben.

„Wer weiß, was sich mit Danny ergibt!“, sagte Matt.

„Mir reicht es völlig, dass mein Sohn wieder wohlauf ist“, sagte Mr. Whitman und klopfte Matt auf die Schulter. „Seit wann arbeitest du jetzt wieder?“

„Seit fast vier Wochen“, sagte Matt. „Ich hätte nicht gedacht, wie lang eine solche Operation einen außer Gefecht setzen kann, aber das FBI ist da auch rigoros. Wenn du nicht absolut fit bist, kommst du nicht wieder in den Dienst.“

„Das ist ja auch richtig so“, sagte Mr. Whitman. „Und was ist jetzt deine Aufgabe?“

„Diesmal geht es um Wirtschaftskriminalität“, sagte Matt. „Mein Chef hat darauf geachtet, mich nicht wieder an irgendein mexikanisches Kartell zu verfüttern. Diesmal können mir eigentlich nur Zahlen gefährlich werden.“

„Das ist gut“, fand Mr. Whitman. „Dann muss ich mir ja keine Sorgen machen! Eigentlich muss ich das ja ohnehin nicht, schließlich hat deine Frau ja ein Auge auf dich, nicht wahr?“

Sadie lachte verlegen. „Ich gebe mein Bestes.“

„Das weiß ich, Kind. Deinetwegen habe ich noch einen Sohn.“ 

„Ich hätte zu gern gesehen, wie du die Mexikaner zerlegst“, sagte Gary, der das Gespräch mitgehört hatte. „Aber mit dir sollte man es sich nicht verscherzen, Sadie. Das weiß ich.“

„Wie das klingt“, erwiderte Sadie.

„Das hättet ihr aber auch sehen sollen. Der Kerl hat auf mich geschossen und das hat mir irgendwie die Beine weggerissen, obwohl er mir ja nun in die Brust geschossen hat. Ich lag dann am Boden und habe nur gehofft, dass Sadie noch nicht in der Dusche ist und mit der Waffe runterkommt. Und da kam sie dann auch schon. Das sah aus wie im Film. Ich habe erst nur ihre Füße gesehen und bevor sie ganz in meinem Blickfeld war, hat sie auch schon auf den Kerl geschossen. Den anderen hätte sie danach ja beinahe auch noch zerlegt“, erzählte Matt.

„Wahnsinn“, sagte Tammy anerkennend. „Dass du das kannst.“

„Ich habe gar nicht darüber nachgedacht“, sagte Sadie. „Aber bei der Ausbildung an der Waffe lernt man das. Da gibt es ja auch eine psychologische Unterweisung.“

„Ich habe auch keine Skrupel, wenn ich eine Waffe in der Hand habe ... aber schießen kann ich trotzdem nicht!“ Matt liebte es, sich selbst aufs Korn zu nehmen.

„So schlimm ist es doch nun auch nicht“, sagte Sadie.

„Wann hast du mich denn mal sinnvoll auf jemanden schießen sehen?“, fragte Matt stirnrunzelnd. Sadie überlegte, aber dann zuckte sie mit den Schultern. Im ersten Moment fiel ihr wirklich nichts ein, bis sie sich erinnerte, dass er auf ihren Vater geschossen hatte. Aber das hatte sie selbst gar nicht gesehen und sie wollte es auch überhaupt nicht ansprechen. Das hatte in dieser Runde nichts zu suchen.

Inzwischen hatte Norman sich daran gewöhnt, dass Fanny nicht mehr da war. Sadie wusste, dass er regelmäßig Spritztouren mit dem alten Mustang unternahm, den sie ihm geschenkt hatte. Jetzt im Winter stand er sicher verwahrt in der Garage, aber Sadie wusste, dass sie ihm damit eine riesige Freude bereitet hatte. Sie bereute nichts.

Es war eine wundervolle, gesellige Runde. Irgendwann hatten auch Ben und Gary aufgegessen und Ben verlangte danach, durchs Wohnzimmer rennen und mit seinen Spielsachen spielen zu dürfen. Joanna und Sandra saßen auf dem Sofa zusammen und tauschten sich über Schwangerschaftsthemen aus – ein Anblick, den Sadie noch vor Monaten nie für möglich gehalten hätte.

Aber Joanna war nun geerdeter. Trotz aller anfänglichen Schwierigkeiten wirkte sie glücklich. Sie strahlte, sah sehr gesund aus, war bester Laune. Sadie entging nicht, dass das auch Norman sehr glücklich machte. Erfreut saß er im Kreis seiner Lieben und machte einen gelösten Eindruck. Als er schließlich das Dessert aus der Küche holen wollte, ging Sadie ihm zur Hand, auch wenn er sie verscheuchen wollte.

„Du bist hier zu Gast“, mahnte er mit liebevoller Strenge.

„Ach komm, es bringt mich schon nicht um, wenn ich dir helfe“, sagte sie. „Gefühlt bin ich eine der letzten Frauen auf der Welt, die nicht schwanger sind, also lass mich.“

Norman stellte die Dessertschälchen auf der Arbeitsfläche ab und legte einen Arm um Sadies Rücken. „Das klingt so, als würde dir das etwas ausmachen.“

Unbekümmert schüttelte sie den Kopf. „Gar nicht. Aber du musst zugeben, dass Babys hier gerade ziemlich allgegenwärtig sind.“

„Ja, und das ist wundervoll! Ich habe Matts Vater gegenüber schon fast ein schlechtes Gewissen.“

„Nein, er freut sich, hier zu sein. So wie wir.“

Norman lächelte und seufzte. „Ich bin auch froh, dass ihr hier seid. Im Frühjahr komme ich noch mal mit dem Mustang runter zu euch nach Los Angeles.“

„Das wäre toll“, sagte Sadie erfreut.

„Ich fahre wirklich viel damit. Selbst jetzt im Winter kann man das bei gutem Wetter machen. So gesehen kam der Wagen mir ja gelegen ... Der Pickup hat nun wirklich Alterserscheinungen.“

„Solange der Mustang dir Freude macht.“

„Und wie.“ Norman umarmte seine Nichte. „Danke. Das hat mir wirklich auch Lebensfreude geschenkt, weißt du?“

Sadie nickte verstehend. „Schon das zweite Thanksgiving ohne Fanny.“

„Ja, das ist traurig. Sie hätte sicher gern gesehen, wie glücklich Jo jetzt ist. Oder du.“

„Hauptsache, du bist wieder glücklich“, sagte Sadie.

„Ich habe mich daran gewöhnt. Muss ich ja. Ich ziehe Freude daraus, zu wissen, dass es meinen Kindern gut geht. Und meinen Enkeln. Das gibt mir viel.“

Sadie lächelte und brachte mit ihm den Nachtisch ins Wohnzimmer. Es beruhigte sie, zu wissen, dass bei Norman alles in Ordnung war.

Im Moment galt das eigentlich für jeden, wie sie wenig später im Gespräch mit Joanna feststellen durfte. Gary brachte Sandra und Ben nach Hause, Matt saß mit seiner Familie zusammen und so blieben Jo und Sadie übrig, als Norman in die Küche ging.

„Ich habe mich noch gar nicht bei dir bedankt“, sagte Joanna zu ihrer Kusine.

„Bedankt? Wofür?“ fragte Sadie.

„Dafür, dass du mir Mut zugesprochen hast. Dadurch konnte ich die richtige Entscheidung treffen.“

„Das freut mich“, sagte Sadie.

„Es war richtig, sich für das Kind und gegen den Vater zu entscheiden. Ich hätte mir nie vorstellen können, was für ein Erlebnis schon die Schwangerschaft ist. Das ist etwas ganz Besonderes“, schwärmte Joanna.

Sadie lachte. „Du bist ein vollkommen anderer Mensch.“

„Ich weiß! Ich merke das ja selbst. Aber es ist schön, ich mag das. Ich meine ... du arbeitest auch gern und viel, du verstehst das. Aber es gibt auch andere schöne Dinge!“

„Ich weiß“, sagte Sadie.

„Das ist etwas ganz anderes!“

„Glaube ich dir“, sagte Sadie. „Aber ich habe da keine Bedürfnisse.“

„Kommt noch ...“ prophezeite Joanna. Sadie erwiderte nichts, sondern floh schließlich zu Matt, seiner Schwester und seinem Vater. Bald war auch Gary zurück und sie setzten sich alle vor dem prasselnden Kaminfeuer auf dem Sofa zusammen.

Bis zu diesem Moment hatte es Sadie kalt gelassen, dass Jo schwanger war und nun auch Sandra ein weiteres Mal. Es hatte sie nicht gestört. Es hatte sie sogar gefreut, aber es nervte sie, dass gleich alle in ihre Richtung schielten und behauptete, dass es sie auch noch ereilen würde.

Da war nichts. Sie war glücklich mit Matt, sie machte ihren Job gern - es fehlte ihr nichts. Eine Familie ... wozu hätte sie sich das antun sollen?

Später im Bett war sie Matt dankbar, dass er nichts dazu sagte. Er hatte ein Gespür dafür, wie ihr zumute war und dass sie keine Lust hatte, darüber zu sprechen. Zwischen ihnen war es auch üblicherweise kein Thema, aber nun durch die direkte Konfrontation sahen die Dinge natürlich anders aus.

„Bin ganz erstaunt über deine Cousine“, sagte Matt. „Jo kann ja richtig nett sein!“

„Ob du es glaubst oder nicht, aber das ist auch für mich neu“, sagte Sadie amüsiert. Sie bettete den Kopf auf seine Brust und schmiegte sich an ihn – ganz so, wie sie es in ihrer ersten Nacht getan hatte. Damit war sie glücklich und zufrieden. Mehr hätte sie nicht gebraucht.

„Ich mag deine Familie“, sagte Matt.

Sadie lächelte. „Ich deine auch.“

Er setzte schon an, um noch etwas zu sagen, aber dann tat er es doch nicht. Überrascht blickte Sadie zu ihm auf.

„Was ist los?“

„Ich bin nicht sicher, ob das, was ich sagen wollte, so schlau ist.“

„Probier’s aus“, schlug sie unbefangen vor.

„Ich hätte gern deine richtige Familie kennengelernt. Deine Mutter und deine Geschwister.“

Sadie seufzte nachdenklich. „Ich stelle mir auch manchmal vor, was aus Kristy und Toby geworden wäre. Kristy wäre jetzt schon dreißig ... du hättest die beiden bestimmt gemocht.“

„So, wie du sie beschreibst, bestimmt.“

„Ich schaue morgen mal, ob Norman nicht noch Fotos hat, auf denen wir alle zu sehen sind. Eigene Familienfotos habe ich ja nicht.“

„Das würde mich interessieren“, sagte Matt. „Irgendwie traurig, dass ich von deiner Familie nur deinen Vater kenne.“

„Ja ... auch wenn das zusammengenommen keine zehn Minuten waren.“

Matt lachte kurz. „Mehr hätte ich auch nicht gebraucht. Lag wahrscheinlich daran, dass ich schon so viel über ihn wusste, aber als er da vor uns stand ...“ Er schüttelte den Kopf. „Ich hatte wirklich Respekt vor ihm.“

„Angst?“

Matt nickte. „Schon irgendwie, ja. Angst um dich, Angst davor, dass er mich umbringt ... ich wusste ja, dass ihm das keine schlaflosen Nächte bereitet.“

„Nein, kein bisschen.“

„Ich hätte auch eigentlich erwartet, dass er mich umbringt. Nicht, dass er sich mit einem gescheiterten Versuch zufriedengibt.“

„Ich auch“, murmelte Sadie leise.

„Du hast die Situation genau richtig eingeschätzt.“

„So gut kannte ich ihn.“

„Ich weiß ... ein Glück.“ Matt küsste sie auf die Stirn. „Du hast wirklich so gar nichts von ihm.“

„Auch das ist ein Glück“, murmelte Sadie.

 

Sonntag

 

„Ich will noch gar nicht zurück“, stellte Sadie seufzend fest.

„Ich auch nicht ... aber wir sind ja Weihnachten wieder hier.“

Sadie nickte bloß, während sie weiter aus dem Fenster starrte und das trübe Wetter zur Kenntnis nahm. Geregnet hatte es trotzdem seit Wochen nicht. Es war novemberlich grau und auf der Interstate 5 war vergleichsweise viel Verkehr. Rückreiseverkehr an einem Sonntagnachmittag. Von Patterson aus konnten sie über diese Straße nach Los Angeles fahren, was ihnen entgegen kam.

Inzwischen waren sie kurz vor Bakersfield. Die Fahrt führte immer nur durch Felder, an Städten vorbei, rechts lagen die Berge. Im Radio dudelte irgendwas, was Sadie nicht kannte.

„Du willst wirklich nicht fahren?“, fragte Matt.

„Nur, wenn du keine Lust mehr hast.“

Er grinste. „Ich habe immer Lust.“

„Ich weiß ... du und dein Challenger.“

„Wie sich das anhört. Seit wann hast du was gegen mein Auto?“

„Ich habe gar nichts gegen dein Auto. Im Gegenteil“, sagte Sadie.

„Ich weiß. Ich ärgere dich doch nur.“

„Das liebst du.“

„Stimmt“, sagte Matt und nickte. Er hatte es sich auf dem Fahrersitz gemütlich gemacht, den Tempomat auf 70 Meilen pro Stunde eingestellt und musste nicht viel mehr tun als zu lenken.

„Bist du glücklich?“ fragte Sadie unvermittelt.

Überrascht sah Matt sie an. „Sicher, wieso fragst du?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Einfach so. Wir sind gerade etwas über ein Jahr zusammen ... und verheiratet ... und jetzt wohnen wir zusammen in Los Angeles.“

„Stimmt“, stellte Matt trocken fest.

„Es ist nur ... es ist so viel passiert. Erst jetzt, seit wir in L.A. sind, wird es etwas ruhiger.“

„So war es zumindest nicht langweilig.“

Sadie lachte. „Nein, bestimmt nicht ... dabei war es in L.A. eigentlich auch kaum ruhiger, wenn ich es mir recht überlege.“

„Doch, wenn du meine Reha mit einbeziehst, war es ruhig“, widersprach er.

„Aber das meine ich ja gerade. Du wurdest angeschossen.“

„Ja, und ich weiß noch, wer mir den Arsch gerettet hat“, sagte Matt unverblümt und zwinkerte ihr zu.

Aber Sadie ging nicht darauf ein. „Das ist doch alles nicht normal.“

Fragend zog Matt eine Augenbraue hoch. „Na ja, wir sind beide beim FBI. Dein Job ist es, Serienmörder zu jagen und mein Job ist es, Verbrecher dingfest zu machen, ohne dass sie es merken. Dafür ist doch alles ziemlich normal.“

Sie erwiderte nichts. Es war nur ein unbestimmtes Gefühl, das sie beschäftigte. Matt wirkte nicht, als sei er unglücklich und sie war es auch nicht. Aber es war jedes Mal eigenartig, zu ihrer Familie nach Hause zu fahren und zu sehen, wie ihre Verwandten lebten. Joanna arbeitete im Marketing, Sandra war eine glückliche Mutter, Gary hatte Waterford nur selten verlassen. Am Wochenende schaute er sich mit Arbeitskollegen Football an.

Sadie konnte sich nicht einmal vorstellen, so leben zu wollen. Sie war aufgewachsen wie die meisten anderen amerikanischen Kinder auch, aber schon nach dem College war alles anders geworden. Und sie liebte es.

Aber sie war auch besessen.

„Mit dir ist alles in Ordnung“, sagte Matt.

„Kannst du Gedanken lesen?“, fragte Sadie irritiert und lachte.

Er griff über die Mittelkonsole hinweg nach ihrer Hand und schenkte ihr ein Lächeln. „Bei dir kann ich das, Sadie.“

„Du bist unheimlich.“

„Wieso? Du bist meine Frau. Wär doch schlimm, wenn ich nicht wüsste, was dich beschäftigt.“

„Es ist so verrückt, wenn ich nach Hause komme und dann Jo und Sandra höre und sehe, wie meine Familie lebt – und wie wir leben. Wir haben bloß die Katzen, kommen spät nach Hause und machen einen Job, der sich mit dem schlimmsten beschäftigt, was der Mensch so hervorbringen kann.“

„Na und? Irgendeiner muss das doch tun“, sagte Matt trocken.

„Ja, aber wir könnten jetzt auch ein Häuschen in einer Kleinstadt haben, du könntest am Wochenende zum Football gehen und ich mit den Kindern am Spielfeldrand stehen und dich anfeuern. Das machen amerikanische Familien doch normalerweise.“

Matt lachte laut. „Ja, die gibt es natürlich. Um ehrlich zu sein, war das bei uns früher so.“

„Bei uns auch“, sagte Sadie. „Gary war am Wochenende immer beim Football.“

„Ich habe auch mal gespielt. Aber dann bin ich eben Polizist geworden und jetzt bin ich beim FBI. Und wir haben keine Kinder. Na und?“

„Ich finde es nur so seltsam, dass ich das nicht mal vermisse.“

Matt seufzte mitfühlend. „Manchmal möchte ich dich einfach in den Arm nehmen. Du bist fast Ende zwanzig und immer noch damit beschäftigt, deinen Platz in der Welt zu suchen, oder?“

„Manchmal“, sagte Sadie. „Ich dachte erst, ich hätte ihn gefunden, aber jetzt bekommen alle in meiner Familie Kinder und ich stehe daneben und kann nichts damit anfangen. Das macht mir schon wieder bewusst, dass ich anders bin.“

„Ja, bist du. Schon vergessen, dass ich dich deshalb liebe?“

„Nein, gar nicht...“ Sadie senkte wortlos den Kopf.

„Aber was ist dann das Problem?“

Sie blickte wieder auf und holte tief Luft. „Ich habe einfach Angst, dass dir das eines Tages fehlt. Dass du dir eines Tages auch wünschst, deine Frau und deine Kinder am Spielfeldrand zu sehen und ...“

„Jetzt hör doch mal auf damit“, sagte Matt und drückte ergeben ihre Hand. „Glaub mir, ich weiß, was ich an dir habe und auch, was ich nicht habe. Ich war schon mit anderen Frauen zusammen und glaube mir, ich war nie so glücklich wie mit dir.“

„Versteh ich nicht“, sagte Sadie resigniert.

„Aber du weißt, wie Frauen sind“, sagte Matt. „Kommst du zu spät, wollen sie wissen, wo du warst. Redest du mit einer anderen Frau, wollen sie wissen, wer das ist. Willst du kochen, jagen sie dich raus. Vergisst du im Bad ein T-Shirt, ist das der Weltuntergang. Regelmäßige Frauenabende müssen sein, aber willst du mal was mit Freunden machen, musst du dir anhören, du würdest sie allein lassen.“

„Ob du es glaubst oder nicht, aber davon habe ich keine Ahnung“, sagte sie. „Die einzige Freundin, die mir davon hätte erzählen können, ist lesbisch.“

Matt grinste. „Das ist auch gut so. Tessa ist total in Ordnung. Trotzdem ist das manchmal merkwürdig bei dir. Einerseits klammerst du überhaupt nicht, du verhältst dich anders als meine Freundinnen vorher. Aber trotzdem hast du wahnsinnige Verlustängste.“

Sadie biss sich auf die Lippen. „Die mache ich mit mir selber aus. Das habe ich irgendwann gelernt.“

„Als deine Familie tot war?“

Sadie nickte. „Mit meiner Schwester war das anders. Aber danach ... wem hätte ich es erzählen sollen? Jo? Vergiss es. Fanny gegenüber hatte ich immer ein schlechtes Gewissen, also blieb nur Norman. Aber mit Männern redet man anders.“

„Stimmt“, gab Matt zu.

„Weißt du, damals in Klamath Falls war alles anders. Mein Vater hat das alles nicht gemacht. Wenn er am Wochenende zu Hause war, dann maximal mit einem Bier auf dem Sofa. Zu Hause hatte meine Mutter zu arbeiten, da hat er sich nicht beteiligt. Es hat auch nur selten Ausflüge gegeben. Wir waren nie viel unterwegs. Meiner Mutter hat das gefehlt, sie kam ja nicht raus. Aber sie hatte Angst vor ihm. Angst, dass er sie schlägt. Das hat er auch oft genug getan. Wenn ich was erleben wollte, dann höchstens mit meinem Fahrrad in der Nachbarschaft. Ich kannte jede Straße und jede Gasse in Klamath Falls. Kristy war immer mit dabei. Wir waren Freundinnen ... aber ganz ehrlich, wenn ich heute darüber nachdenke, wird mir klar, dass ich das gar nicht vermissen sollte. Wir hatten nie viel Geld. Das Haus war verwohnt. An der Wand in unserem Zimmer hing alte Tapete. Wir hatten ja nie Hunger oder so ... aber weil meine Mutter nie gearbeitet hat, fehlte uns Geld.“

Matt nickte. „Ich kann es mir vorstellen.“

„Wäre mein Vater damals nicht ausgerastet ... ich wäre heute nicht hier“, sagte Sadie und schüttelte den Kopf. „Ich hätte dich nicht.“

„Zum Glück ist es anders“, sagte Matt. „Und wie gesagt, ich bin froh, dass du anders bist. Ich liebe dich so, wie du bist.“

„Ich dich auch, Matt.“

Er lächelte. „Du verlierst mich nicht. Wie könnte ich denn eine andere Frau lieben? Was könnte mir eine Andere geben, was du nicht kannst? Du bist klug und ehrgeizig und ich weiß, dass du mich aufrichtig liebst. Du hast mir schon das Leben gerettet ...“

„Du mir auch“, erinnerte Sadie ihn.

„Ja, und das tue ich auch gern noch tausendmal, wenn es sein muss“, sagte Matt. „Ich mag unser Leben. Ich bin jetzt auch beim FBI, habe geheiratet und mein eigenes Haus. Worüber soll ich mich beklagen?“

Es klang so logisch für Sadie, als er das sagte. Manchmal tat es ihr einfach gut, seine Sicht der Dinge zu hören. Und sie glaubte ihm jedes Wort. Sie musste wirklich lernen, Dinge einfach anzunehmen, nicht alles zu hinterfragen und nicht überall etwas Schlechtes zu erwarten.

Schließlich erreichten sie die letzten Hügel vor der Stadt. Der Verkehr wurde dichter und es dauerte noch überraschend lang, bis sie zu Hause in Culver City eintrafen. Dort angekommen, fanden sie Mittens und Figaro schlafend auf dem Sofa vor. Phil hatte sich um sie gekümmert. Matt bedachte die Tiere mit einem skeptischen Blick, als sie sich überhaupt nicht für die beiden interessierten.

Er brachte die Reisetasche nach oben und stöberte im Schrank nach einer Trainingshose. Als er eine gefunden hatte, zog er auch noch einen Pullover heraus und beschloss, sich komplett umzuziehen. Sadie holte gerade ihre Sachen aus der Reisetasche und hielt inne, als sie Matt mit nacktem Oberkörper neben dem Bett stehen sah.

Sie hatte sich noch immer nicht an die Narben auf seiner Brust gewöhnt. Wäre es nur die Narbe der Schussverletzung gewesen, es hätte ihr nichts ausgemacht. Aber der lange Schnitt, der fast von seinem Hals bis knapp über den Bauchnabel reichte, ließ sie noch manchmal zusammenzucken. Er machte ihr bewusst, dass sie Matt um ein Haar verloren hätte.

Wortlos stand sie auf, ging zu ihm hinüber und blieb vor ihm stehen. Den Pullover in der Hand, hielt er inne und lächelte.

„Meine süße Sadie“, sagte er, legte einen Arm um sie und küßte sie zärtlich. Sadie umarmte ihn und seufzte.

„Wenn ich mir vorstelle, dass du jetzt tot sein könntest ...“

Sehr zu ihrer Überraschung lachte Matt.

„Was ist so lustig daran?“, fragte sie entrüstet.

„Du hast eine morbide Vorliebe dafür, den Teufel an die Wand zu malen“, neckte er sie.

„Ja, entschuldige ...“

„Nein, ist doch alles gut“, sagte er und drückte ihr wie immer einen Kuss auf die Stirn. Sie liebte das, das wusste er. Es war eine beinahe väterliche Geste und damit fühlte sie sich sehr wohl. In manchen Momenten spürte er deutlich, dass sie eben doch acht Jahre jünger war als er. Zwar hatte sie in mancher Hinsicht eine Reife, die seine noch bei weitem überstieg. Manchmal erinnerte sie ihn aber auch an ein verunsichertes, kleines Kind, das nichts weiter wollte als geliebt zu werden.

Etwas, was ihm nicht schwer fiel. Nachdenklich blickte er ihr hinterher, als sie sich von ihm löste und ins Bad ging. Dann streifte er seinen Pullover über und folgte ihr.

Zwar machte die Feststellung ihm manchmal Angst, aber er war froh, dass ihr Vater damals so ausgerastet war. Sie hatte recht: Wäre das nicht passiert, sie wären sich vermutlich nie begegnet. Und diese Vorstellung machte ihn traurig. Denn er war glücklich mit Sadie. Glücklicher, als er je zuvor gewesen war. Daran hatte auch der Versuch ihres Bruders, sie zu zerstören, nichts geändert. Sie war stark genug, damit zurechtzukommen.

 

 

 

Montag

 

Müde betrat Sadie das Büro. In der Nacht hatte sie nicht sehr gut geschlafen, sie hatte sich über zu viele Dinge Gedanken machen müssen. Zwar hatte sie versucht, das Gedankenkarussell abzustellen, aber es war ihr nicht gelungen. Sie hatte neben Matt gelegen, den Kopf wieder auf seine Brust gebettet, und auf seine ruhigen Atemzüge gelauscht. Sie wünschte, sie hätte die Dinge so auf die leichte Schulter nehmen können wie er. Er ließ sich gar nicht weiter davon beeindrucken, dass man auf ihn geschossen hatte. War eben passiert. Er lebte noch und alles andere war unwichtig für ihn. Sadie musste sich seine Unbekümmertheit wirklich als Beispiel nehmen.

In der Kaffeeküche begrüßte sie die Kollegen, plauderte kurz über den Thanksgiving-Truthahn und setzte sich dann mit einer Tasse Tee an ihren Schreibtisch.

Berichte. Sie hasste Berichte. Im Augenblick hatte sie keinen Fall auf dem Tisch, bei dem sie hätte helfen können. Es waren immer Kapitalverbrechen, bei denen sie um Unterstützung gebeten wurde. Sie hatte schon in einer Handvoll Fällen ihre Expertise einbringen können und sie machte das auch sehr gern.

Auf dem Flur lachten die Kollegen. Inzwischen wurde sie in der Abteilung sehr geschätzt, es hatte sich herumgesprochen, was ihre Aufgaben waren und wie gut sie darin war. Außerdem wusste man inzwischen, dass sie ihren Mann, der ebenfalls Agent war, vor Filmhaus’ Kartell gerettet hatte. Trotzdem war niemand dabei, mit dem sie sich auch privat hätte treffen wollen. Sie kam zum FBI, machte ihre Arbeit und ging wieder nach Hause. Wenigstens hatte sie sich inzwischen zu einem Aikidokurs angemeldet, um sich fit zu halten und mal rauszukommen.

Das Textdokument war schon offen, aber rechte Lust hatte Sadie nicht. Sie blickte auf, als eine junge Frau, etwa in ihrem Alter, vor ihrem Schreibtisch stehen blieb und sie verlegen anlächelte. Sie trug ihr blondes Haar zu einem Zopf gebunden. An ihrer Bluse heftete ein Besucherausweis.

„Agent Whitman?“, fragte sie zögerlich.

Sadie nickte. „Genau richtig. Wie kann ich helfen?“

„Officer Nicole Sheridan, LAPD. Ich bin gekommen, weil ich gehört habe, dass Sie Profilerin sind.“

„Stimmt“, sagte Sadie. „Setzen Sie sich. Ich bin Sadie.“

„Nicky“, sagte ihre Kollegin und blickte sich kurz um. „Genau genommen bin ich privat hier.“

„Okay. Worum geht es?“, fragte Sadie interessiert.

Nicky schluckte und holte tief Luft. „Es geht um meinen Bruder.“

Sadie lehnte sich zurück und musterte Nicky interessiert. „Okay.“

Ihr entging nicht, dass Nicky immer nervöser wurde. Sie setzte mehrmals mit einer Erklärung an, sagte dann aber nichts.

„Hat er etwas ausgefressen?“, fragte Sadie vorsichtig, um ihr auf die Sprünge zu helfen.

Die Polizistin schüttelte den Kopf. „Er ist tot.“

Damit hatte Sadie nicht gerechnet. Erst wusste sie nicht, wie sie reagieren sollte, aber dann entschied sie sich für eine neutrale Nachfrage. „Wie kann ich dabei helfen?“

„Das ist achtzehn Jahre her“, begann Nicky und hob den Kopf. Sie kämpfte sichtlich mit den Tränen. „Er hieß Billy. Er wurde ermordet.“

Sadie nickte langsam. „Und der Mord wurde nie aufgeklärt?“, mutmaßte sie.

„Nein ... nie. Und ich kann nicht damit abschließen.“

Das konnte Sadie verstehen. Während Nicky eine Träne wegblinzelte, fragte sie: „Was ist passiert?“

Nicky atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen. „Ich komme aus Bear Valley Springs, das liegt am Fuße der Sierra Nevada. Ein kleines, verschlafenes Nest, in dem die Leute ihre Häuser nicht abschließen. Ringsum sind nur Berge und Wälder. Es ist eine schöne Gegend. Ich war acht, als mein Bruder eingeschult wurde. Ich sollte auf ihn aufpassen und ihm alles zeigen, mit ihm zur Schule gehen. Das habe ich auch immer gemacht. Es war ja nicht so weit bis zur Schule. Vielleicht eine Meile oder so. Wir sind immer zusammen gegangen, morgens und nachmittags. Und an diesem einen Tag …“ Nicky unterbrach sich kurz selbst. „Auf dem Weg liegt ein kleiner Laden. Dort waren zwei Freunde von mir und haben sich etwas Süßes gekauft. Ich wollte auch noch etwas haben, aber Billy musste wahnsinnig dringend pinkeln. Ich habe dann überlegt – es war nicht mehr weit bis nach Hause. Bloß noch zwei Straßen. Ich habe ihm gesagt, er soll schon mal allein vorgehen. Und das war der Fehler meines Lebens …“ Plötzlich verschwanden Nickys Augen hinter einem Meer von Tränen.

„Du warst ein Kind“, sagte Sadie beherzt. Nicky holte tief Luft und versuchte, sich wieder zu beruhigen.

„Ich habe mir eine Tüte mit Süßigkeiten gekauft und noch ein bißchen mit meinen Freunden geredet, bevor ich auch nach Hause gegangen bin. Ich habe mich nicht beeilt. Warum auch? Aber als ich ankam … da war Billy nicht zu Hause. Er war einfach nicht da. Meine Mum hat mich gefragt, wo er ist. Ich habe ihr gesagt, dass ich ihn vorgeschickt habe. Aber er war nicht da.“ Zitternd wischte Nicky sich die Tränen von den Wangen. „Wir haben ihn dann gesucht. Überall. Die Nachbarn haben uns geholfen. Aber er war weg. Spurlos verschwunden. Und niemand hat etwas gesehen. Er muss auf dem letzten einsamen Stück zum Haus verschwunden sein.“ Sie zog die Schultern hoch und atmete durch. Sadie sagte nichts, sie wartete einfach nur ab.

„Fünf Wochen später wurden seine verkohlten Überreste dreißig Meilen entfernt in einem Wald gefunden. Und diese fünf Wochen … die waren die Hölle. Meine Eltern haben überall nach ihm gesucht, mit Freunden und Verwandten. Die Polizei hat gesucht. Sie haben mich immer wieder befragt, aber ich wusste doch nichts! Ich wusste nur: Ich bin schuld. Ich habe ihn allein gehen lassen und deshalb konnte er entführt werden. Jemand hat ihn mitgenommen. Ich weiß nicht mal, ob er noch lang gelebt hat. Aber seine Leiche ist verbrannt worden. Es gab keine Spuren. Die Polizei hat gut ermittelt, aber es gab einfach nichts für sie. Irgendwann haben sie aufgegeben. Der Mord an meinem kleinen Bruder blieb ungeklärt.“

Sadie nickte langsam. „Ist der Fall wieder aufgerollt worden?“

Das bejahte Nicky. „Mehrmals sogar. Mich hat das nie losgelassen. Ich bin deshalb Polizistin geworden ... immer wieder habe ich mich damit beschäftigt. Ich habe die Akten gewälzt, aber ich finde auch nicht mehr als die Polizei damals.“

„Vielleicht ist das was für die BAU in Quantico“, sagte Sadie.

„Das habe ich mir auch gedacht. Vor ein paar Wochen habe ich eine Anfrage hingeschickt - ich dachte, unter Kollegen hilft man sich vielleicht. Ich habe ja auch eine nette Antwort bekommen, aber die Kollegen haben einfach keine Kapazitäten frei. Nicht für so einen alten Fall.“

„Verstehe“, sagte Sadie. Sie konnte sich auch nicht erinnern, wann die BAU zuletzt einen Cold Case angefasst hatte.

„Letzte Woche habe ich gehört, wie ein paar Kollegen sich über dich unterhalten haben. Sie sagten, wie gut es ist, dass es jetzt hier auch eine Profilerin gibt. Da habe ich mal ein bisschen genauer zugehört und mich schlau gemacht. Ich dachte ...“ Nicky zögerte. „Ich hoffe, du kannst mir helfen. Ich will doch nur verstehen, was mit meinem Bruder passiert ist ...“

Seufzend sah Sadie sie an. „Das kann ich wirklich verstehen, Nicky. Ich kann mir das ja mal ansehen.“

Sofort hellte Nickys Miene sich auf. „Wirklich? Das würdest du tun?“

Sadie nickte. „Sicher. Im Moment habe ich auch Zeit dafür.“

Erneut schossen Nicky die Tränen in die Augen, aber diesmal vor Freude. „Das ist toll. Ich wollte ja gar nicht wirklich hoffen, dass das klappt ...“

„Ich nehme die Fälle, wie sie kommen“, sagte Sadie. „Alles, was ich hier noch auf dem Tisch habe, ist nicht dringend. Das klingt nach einem sehr verfahrenen Fall und vielleicht finde ich ja etwas.“

„Das hoffe ich so sehr! Du bist wirklich meine letzte Hoffnung.“

Sadie lächelte ermutigend in ihre Richtung. „Bist du von der Polizei in Santa Monica oder in Pasadena?“

„In Pasadena“, sagte Nicky. „Ich habe davon gehört, dass du ein Profil für den Pasadena Stalker angefertigt hast. Sein Prozess beginnt jetzt bald. Ich habe mich dann erkundigt ... und hier bin ich.“

„Sehen wir uns das mal an“, schlug Sadie vor. „Hast du etwas, was du mir zeigen kannst?“

„Ja“, antwortete Nicky mit einem Nicken. Sie hatte eine Tasche dabei und holte einen großen Umschlag voller Unterlagen heraus. Das hätte auch einen Aktenordner füllen können. Dann reichte Nicky Sadie den Umschlag.

„Das ist alles, was ich bisher zusammengetragen habe. Alle Ermittlungsergebnisse, Akten, einfach alles.“

„Also dann“, sagte Sadie und zog die Unterlagen heraus. Ganz oben lag ein Foto des kleinen Billy Sheridan. Es zeigte ihn bei seiner Einschulung, nur Wochen vor seinem Tod. Eine Zahnlücke blitzte ihr frech entgegen. Billy war so blond wie seine Schwester und hatte unzählige Sommersprossen gehabt. Er sah aus wie ein kleiner Lausbub. Frech, aber sympathisch. Er trug einen Pullover mit breiten bunten Querstreifen und lehnte stolz auf seinem Schulrucksack. Sadie nahm das Foto und legte es mitten auf den Schreibtisch. Sie musste Billy vor sich sehen. Sehen, wofür sie arbeitete. Sie hatte bereits eine Ahnung, welches Drama die Familie Sheridan ereilt hatte.

Billy war an einem Tag Ende September verschwunden. Der Zeitpunkt seines Todes war vollkommen unklar. Sein Leichnam war an einem siebten November in einem Waldstück gefunden worden – zumindest das, was davon übrig gewesen war. Mehr als verkohlte Überreste waren es nicht mehr gewesen, er hatte auch nur mittels DNA-Analyse identifiziert werden können. Entsprechend dürftig waren die Ergebnisse der Obduktion ausgefallen. Todeszeitpunkt nicht feststellbar, Todesursache ebensowenig. Verwertbare Spuren gleich null.

Sadie blätterte weiter, während Nicky schweigend zusah. Über viele Seiten erstreckte sich ein Protokoll der großangelegen Suche nach dem Jungen. Die Polizei war mit Hundertschaften, Suchhunden und Helikoptern mit Wärmebildkameras ausgerückt und hatte die südlichen Ausläufer der Sierra Nevada tagelang auf den Kopf gestellt. Zahllose Anwohner waren befragt worden, aber niemand, wirklich niemand hatte irgendetwas gesehen.

Der Ausschnitt eines Stadtplans mit Maßstab lag dabei. Sadie konnte verstehen, dass die damals achtjährige Nicky sich nichts dabei gedacht hatte, ihren Bruder noch um die nächste Ecke bis nach Hause zu schicken. Es war nicht weit gewesen. Aber das Haus, in dem Familie Sheridan gewohnt hatte, lag etwas außerhalb. Ein Stück von etwa hundertfünfzig Metern führte nur zwischen Wiesen hindurch. Genau dieses Stück war eingekreist worden, die Polizei hatte vermutet, dass Billy dort verschwunden war. Entführt worden war. Weggelaufen war er wohl kaum, darauf hatten die Hunde keinerlei Hinweise gefunden und irgendjemand hatte ihn ja schließlich auch umgebracht.

Die Suchhunde waren seiner Fährte von der Schule bis zu einem Stück auf diesen hundertfünfzig Metern gefolgt. Dort hatte seine Spur sich verloren. Hinweise hatte es überhaupt keine gegeben, niemand hatte einen Wagen oder eine verdächtige Person bemerkt. Billys Rucksack war nie gefunden worden, auch bei seiner verkohlten Leiche nicht.

Ob der Fundort der Leiche auch der Ort gewesen war, an dem Billy ermordet worden war, konnte nicht geklärt werden. Aber er war dort verbrannt worden. Niemand hatte bemerkt, wann das passiert war. Die Forensiker hatten anhand der Brandspuren und der zurückkehrenden Vegetation vermutet, dass das Feuer etwa vier Wochen zuvor gebrannt haben musste. Es war heiß geworden und Spuren von Brandbeschleuniger waren gefunden worden, was erklärte, warum von der Leiche nicht mehr viel übrig gewesen war.

Das war ein Horror-Fall für jeden Polizisten. Es gab überhaupt nichts, woran ein Ermittler anknüpfen konnte. Absolut überhaupt nichts. Das war ja für einen Profiler schon nicht besonders leicht. Aber je weiter Sadie durch die Akte blätterte, desto stärker wurde ihre Gewissheit: Sie hatten es mit einem erfahrenen Täter zu tun. Der machte das nicht zum ersten Mal. Er war nicht gesehen worden, hinterließ keinerlei verwertbare Spuren – das war kein Anfänger. Insofern stand für Sadie fest, dass sie nach ähnlichen Fällen suchen musste. Sie war nur nicht sicher, wonach sie suchen sollte. Tote Kinder, speziell Jungen? Verbrannte Leichen?

„Sagt dir das irgendwas?“, riss Nicky sie aus ihren Überlegungen.

„Ich habe schon erste Ideen“, erwiderte Sadie.

„Im Ernst? Was denn?“

„In Billys Fall gibt es absolut nichts, womit wir arbeiten könnten. Aber genau diese Tatsache hilft uns. Warum wissen wir nichts? Weil er ein Profi ist. Der hat das schon mal gemacht.“

Die Polizistin nickte langsam. „Ja, das macht Sinn …“

„Das war kein Glückstreffer. Der hat Erfahrung. Er ist ein Wiederholungstäter und wir müssen jetzt die anderen Fälle finden. Irgendwann, irgendwo wird er einen Fehler gemacht und eine Spur hinterlassen haben. Die müssen wir finden.“

„Okay ...“ murmelte Nicole. „Das Foto war zum Zeitpunkt seines Verschwindens sieben Wochen alt. Er war noch so klein, verstehst du? Und ich habe ihn allein gelassen. Irgendjemand hat ihn auf diesem kleinen Stück entführt und ich weiß bis heute nicht, was danach mit ihm passiert ist. Das macht mich vollkommen verrückt!“

„Das kann ich verstehen“, sagte Sadie. „Kann ich wirklich.“

„Ich bin so froh ... danke, Sadie.“

„Deshalb bin ich hier. Deshalb bin ich zum FBI gegangen. Solche Fälle sind es, die mich interessieren.“

„Danke ...“ Nicky stand auf. „Ich muss zum Dienst.“

„Kein Problem. Lass mir deine Karte hier und ich rufe dich an, wenn ich weiß, was wir jetzt tun können.“

Nicole nickte und legte Sadie ihre Karte auf den Tisch. „Dafür werde ich dir ewig dankbar sein.“

Sadie grinste. Sie wusste nicht, zum wievielten Male Nicky sich jetzt bedankt hatte. Schließlich verabschiedete sie sich und ging. Nachdenklich blickte Sadie ihr hinterher. Wahrscheinlich ahnte Nicky nicht, dass Sadie genau wusste, wie es sich anfühlte, wenn die eigenen Geschwister ermordet wurden. Das hätte sie mit Sicherheit angesprochen.

Aber genau das war auch der Grund, weshalb Sadie ihr helfen wollte. Sie hatte auch einen kleinen Bruder gehabt, der ermordet worden war. Das Gefühl kannte sie viel zu gut und deshalb musste sie Nicky einfach helfen.

Sie wühlte weiter in den Unterlagen herum, bis sie eine Telefonnummer der zuständigen Polizei fand. Auf gut Glück klemmte sich das Telefon zwischen Kinn und Schulter und wählte die Nummer.

„Watson“, meldete sich eine gestresst klingende Männerstimme nach dreimaligem Klingeln.

„Special Agent Whitman vom FBI in Los Angeles. Ist Inspector Barber zu sprechen?“

„Barber?“ Der Mann lachte. „Der ist schon seit vier Jahren in Rente. Worum geht es denn?“

„Es geht um einen achtzehn Jahre alten Mordfall, dessen Ermittlungen er geleitet hat.“

„Haben Sie einen Namen für mich?“

„Billy Sheridan, ein fünf Jahre alter Junge.“

„Ja, sagt mir was. Und was wollen Sie wissen?“, erkundigte Watson sich.

„Ich bin Profilerin und will den Fall noch einmal durchleuchten.“

„Ach was.“ Plötzlich klang der Polizist interessierter. „Ein achtzehn Jahre alter Mord? Müssen Sie ja wissen, was Sie mit Ihrer Zeit anstellen! Ich bin Ihnen gern behilflich, so ich denn kann.“

„Ich hoffe es. Wissen Sie irgendetwas über den Fall?“

„Ich bin noch nicht so lange hier, alles was ich weiß, kommt vom Hörensagen.“

„Ich glaube, das war keine Einzeltat.“

Watson atmete tief durch. „Ein Serientäter?“

„Das halte ich für möglich.“

„Sie glauben also, es gab noch ähnliche Taten?“

„Ich bin ziemlich sicher“, fragte Sadie.

„Ich kann mich mal für Sie schlau machen. Wie kann ich Sie erreichen?“

Sadie diktierte ihm ihre Nummer und nahm sein Versprechen entgegen, dass er sich melden würde. Dann verabschiedete sie sich von ihm und verzog nachdenklich die Lippen.

Sie hoffte so sehr, etwas zu finden. Wenn sie sich vorstellte, jemand hätte ihre Geschwister umgebracht und wäre unerkannt davongekommen ... das war ein furchtbarer Gedanke. Was ihr Vater getan hatte, war schlimm genug, aber Nicky lebte seit achtzehn Jahren mit einer quälenden Ungewissheit. Das musste entsetzlich sein.

Jetzt war es wieder soweit. Sadie hatte das Bedürfnis, mit einem Profilerkollegen über diesen Fall zu sprechen. Manchmal, wenn die Fälle etwas vertrackter waren, blieb ihr keine Wahl. Sie wählte Nicks Büronummer, doch dort hob niemand ab. Also versuchte sie es auf seinem Handy.

„Ja“, meldete er sich.

„Ich bin es, Sadie.“

„Wie geht es dir?“, fragte er erfreut.

„Bestens“, sagte sie. „Störe ich?“

„Nein, ich bin gerade im Auto. Was gibt es?“

„Ich habe gerade einen neuen Fall übernommen, einen Cold Case. Ein kleiner Junge, sechs Jahre alt, auf dem Heimweg verschwunden. Ein kleines, einsames Stück Weg, niemand hat etwas gesehen, nach fünf Wochen ist seine verbrannte Leiche aufgetaucht. Es gibt keine Anhaltspunkte.“

„Okay“, sagte Nick. „Warum willst du das aufwärmen?“

„Seine Schwester war gerade hier. Sie hätte damals eigentlich auf ihn aufpassen sollen. Ich hatte den Eindruck, sie ist nie darüber hinweggekommen und gibt sich die Schuld.“

„Nachvollziehbar. Aber hast du Kapazitäten dafür?“

„Ja, im Moment ist es ziemlich ruhig. Mich beschäftigt eine Sache an dem Fall.“

„Und die wäre?“

„Ich glaube, dass das ein Serientäter war.“

Nick lachte. „Ich sehe, du hast Pläne.“

„Ich habe mir das vorhin angesehen. Das Stück Weg, auf dem der Junge verschwunden ist, war wirklich kurz. Das Dorf liegt am Fuße der Sierra Nevada. Klein, aber nicht völlig einsam. Wenn du mich fragst, wusste der Täter, was er tut. Er hat die Kinder beobachtet, den Jungen unbemerkt geschnappt und er wusste auch, dass er die Leiche verbrennen muss, wenn er alle Spuren beseitigen will. Die Polizei hatte wirklich nichts, keinerlei Anhaltspunkte.“

„Das würde mich auch interessieren, ich gebe es zu.“

„Hast du schon je von so etwas gehört? Ich vermute ja, der Täter hat vorher schon gemordet ... und hinterher sicher auch noch. Der modus operandi dürfte immer ziemlich ähnlich sein.“

„Also unbemerkte Entführungen und Brandleichen“, sagte Nick und überlegte. „Hm. Auf Anhieb fällt mir nichts ein. Hast du VICAP schon durchsucht?“

„Nein, ich wollte erst deine Meinung hören.“

„Schau mal, was du findest. Klingt interessant. Wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid.“

„Danke. Du kannst mal mit Alex sprechen. Der Fall ist ihr vor ein paar Wochen vorgestellt worden.“

„Ach was“, sagte Nick überrascht.

„Ja, aber sie hat es als Cold Case abgewiesen.“

„Okay, erzähl mal.“

„Der Junge heißt Billy Sheridan. Vorhin hat seine Schwester Nicole mit mir gesprochen, sie ist Polizistin“, gab Sadie Auskunft.

„Ja, schaue ich mir mal an. Wir bleiben in Kontakt!“

Sadie stimmte zu und verabschiedete sich von ihm. Sie wollte schon VICAP suchen, als Hank McNamara, ihr direkter Vorgesetzter, auf sie zusteuerte.

„Frohes Thanksgiving gehabt?“, fragte er.

Sadie nickte. „Und selbst?“

„Ja, war sehr schön. Ich bräuchte den Bericht im Fall Mead bis heute Nachmittag, geht das?“

„Kein Problem“, sagte sie, auch wenn sie es am liebsten vermieden hätte, sich um diesen Bericht zu kümmern.

„Danke, Sadie.“ Damit drehte er sich um und verschwand wieder. Sadie schloss VICAP wieder und widmete sich dem Bericht. Billy Sheridan musste leider warten. Das ärgerte sie maßlos, weil dieser Fall sie aus ganz persönlichen Gründen berührte. Sie hatte auch einen kleinen Bruder im gleichen Alter wie Billy gehabt und sie wusste, wie gern man seinen kleinen Bruder haben konnte.

Sie hatte damals in ihrer ersten Therapie viel Zeit darauf verwendet, ihre Selbstvorwürfe bezüglich der Tatsache zu überwinden, dass sie gar nicht versucht hatte, Toby vor ihrem Vater zu beschützen. Es hatte sie lang verfolgt, wie sie Tobys ängstliches Geschrei gehört hatte, das abrupt durch den Knall eines Schusses ein Ende gefunden hatte. Sie hatte sich immer wieder vorgestellt, wie sie losgelaufen wäre, um ihn zu schnappen und mit ihm davonzulaufen, aber sie wusste, dass sie das nicht geschafft hätte. Sie hatte nichts tun können, als Toby sich mit seinem Teddy aus seinem Zimmer geschlichen und alles beobachtet hatte. Sadie hatte nie vergessen, wie sie seine Leiche im Augenwinkel am Boden gesehen hatte, als sie vor ihrem Vater geflohen war. Das hatte sich bei ihr eingebrannt und deshalb wusste sie, wie Nicky sich fühlen musste.

 

Zufrieden verließ Sadie McNamaras Büro und kehrte an ihren Schreibtisch zurück. Sie hatte den Bericht pünktlich bis Feierabend geschafft, hatte sogar noch etwas Zeit. Die wollte sie nutzen, um noch einmal mit Nicole Sheridan zu sprechen.

Sie griff zu Nicoles Visitenkarte und tippte die Nummer ins Telefon. Tatsächlich erreichte sie jemanden.

„Officer Sheridan“, meldete Nicky sich.

„Ich bin es, Sadie. Ich ...“

„Was gibt es?“, fragte Nicky aufgeregt.

„Ich hatte überlegt, ob wir zusammen in die Datenbank schauen wollen. Vier Augen sehen mehr als zwei. Außerdem bist du vertrauter mit dem Fall als ich.“

„Ja, sehr gern! Tolle Idee.“

„Wann hast du Zeit?“

„Ich habe morgen frei, da könnte ich vorbeikommen.“  

„Prima“, sagte Sadie. „Ich bin gespannt, was wir finden.“

„Ich auch ... ich hoffe so sehr, dass da etwas ist.“

„Bestimmt“, sagte Sadie. „Also dann, bis morgen.“

Nicky verabschiedete sich von ihr, dann legte Sadie auf, brachte ihre Tasse in die Küche und fuhr ihren Computer herunter. Dieser Job gefiel ihr, er war sehr abwechslungsreich. Außeneinsätze und Büroarbeit ergänzten sich, wirklich langweilig wurde es nie. Sie war auch nicht ernsthaft überrascht, dass sich inzwischen herumgesprochen hatte, was sie machte. Immer mehr Ermittler in der Stadt hatten von ihr gehört oder schon mit ihr zusammengearbeitet. Sie machte ihre Sache gut.

Sadie zog ihre Jacke über, schulterte ihre Tasche und machte sich auf den Weg zu ihrem Auto. Für den Heimweg brauchte sie eine Weile, aber in der Vorweihnachtszeit überraschte sie das nicht. Es war auch egal, für welche Route sie sich entschied, die Straßen waren alle verstopft.

Entsprechend froh war sie, als sie endlich zu Hause ankam. Sie hatte gerade die Haustür aufgeschlossen, als sie das Vibrieren ihres Handys bemerkte. Es war eine Nachricht von Phil.

Schon zuhause? Mir ist langweilig. Habt ihr Zeit?

Sadie ging ins Haus, bevor sie antwortete. Klar, komm doch vorbei. Wir bestellen uns was.

Sie steckte das Handy wieder weg und ging auf die Suche nach ihren Katzen, fand jedoch keine. Achselzuckend legte sie ihre Sachen ab und sah die Post durch, bevor sie die Näpfe füllte und auf die Suche nach der Speisekarte von Gino’s Pizza ging. Kaum dass sie die Karte gefunden hatte, vernahm sie ein Schmatzen aus der Küche. Mittens hatte sich vor ihren Napf gehockt und machte sich über das Katzenfutter her.

„Na, meine Süße“, sagte Sadie, doch die Katze ignorierte sie.

„Von mir aus.“ Sadie achtete nicht weiter darauf, sondern wollte nach oben gehen. Sie hatte gerade erst einen Fuß auf die Treppe gesetzt, als die Haustür geöffnet wurde und Matt darin erschien. Es war nicht völlig ungewohnt für Sadie, ihn mit Anzug und Krawatte zu sehen, aber im Augenblick trug er das jeden Tag.

„Hey“, sagte sie erfreut und lachte, als ein schwarzer Blitz an Matt vorbei ins Haus schoss und in Richtung Küche verschwand.

„Oh, hi Figaro“, sagte Matt überrascht und grinste seine Frau an. „Wusste gar nicht, dass ich ihn im Schlepptau habe.“

„Die Katzen sind immer für eine Überraschung gut.“ Sadie umarmte Matt und küsste ihn. „Wir bekommen heute Besuch.“

„Tun wir das?“

„Phil hat Langeweile.“

„Hervorragend“, fand Matt.

„Wir bestellen uns was bei Gino’s.“

Matt nickte zufrieden. „Guter Plan.“

„Und, guten Tag gehabt?“, erkundigte Sadie sich.

Während er seine Schuhe auszog, nickte Matt. „War ganz okay. Bin da heute auf ein beeindruckendes Geflecht von Briefkastenfirmen gestoßen.“

„Dass du dich damit auskennst“, sagte Sadie.

„Ja, so ein bisschen Ahnung habe ich dann doch. Aber das Meiste leite ich ja sowieso an Kollegen weiter.“

„Und du kannst wirklich den ganzen Tag so tun, als wär das dein Job? Ich meine ...“

„Na ja, ich gebe vor, ein einfacher Sachbearbeiter zu sein. Die Grundlagen haben meine Kollegen mir erklärt. Das geht schon. Außerdem ist es gut, wenn ich mich dumm stelle, denn so zeigt man mir eine Menge und ich bekomme viele Einblicke.“

„Hätte nicht gedacht, dass du sowas mal machst“, gab Sadie zu.

„Ich auch nicht, aber Warner will mich aus der Schusslinie haben. Der Einsatz auf der Straße liegt mir mehr, aber der ist eben auch gefährlicher.“

„Wem sagst du das“, erwiderte Sadie. Sie begleitete Matt nach oben und zog sich ebenfalls um. Ein wildes Fauchen in der Küche ließ sie aufhorchen.

„Futterneider“, sagte Matt grinsend. Sadie verdrehte die Augen und lief wieder nach unten. In der Küche stand Figaro mit Buckel und gesträubtem Fell und taxierte Mittens, die ihn wiederholt anfauchte.

„Ich weiß nicht, wer angefangen hat, aber ihr könnt gern wieder damit aufhören“, sagte Sadie. Sie stellte sich zwischen die Streithähne, nahm dann die Näpfe weg und stellte sie erst wieder hin, als die Katzen sich beruhigt hatten. Diesmal stellte sie die Näpfe weiter auseinander und tatsächlich waren die Katzen nun friedlich.

„Zicken“, sagte sie kopfschüttelnd. In diesem Augenblick erschien Matt in der Küche.

„Alles wieder gut?“, fragte er.

„Ich hoffe.“

„Wie war eigentlich dein Tag?“

„Hm“, machte Sadie unschlüssig. „Ich habe einen Bericht geschrieben. Und ich glaube, ich habe einen neuen Fall.“

„Toll! Worum geht es denn?“, erkundigte Matt sich interessiert.

„Heute Morgen kam eine Polizistin zu mir. Vor achtzehn Jahren wurde ihr kleiner Bruder entführt und ermordet.“

Betroffen verzog Matt das Gesicht. „Ist ja furchtbar.“

„Ich glaube, das war ein Serienmörder und ich glaube auch, da sind noch weitere unentdeckte Fälle.“

„Dann wirst du sie finden“, sagte Matt zuversichtlich.

„Ich hoffe es. Sie hat Klarheit verdient.“

„Da ist sie ja bei dir an der richtigen Adresse.“

„Ich habe auch schon an Toby gedacht“, gab Sadie zu.

„Ach so, sicher ... aber das meinte ich gar nicht“, sagte Matt. „Ich meine einfach, dass du für solche Fälle zuständig bist.“

„Stimmt“, sagte Sadie. „Ich glaube auch nicht, dass sie zu mir gekommen ist, weil sie weiß, wer ich bin. Darüber hat sie nichts gesagt. Sie hat nur einfach davon gehört, was ich mache und hofft auf Unterstützung.“

„Dann ist ja gut“, sagte Matt.

„Ja, das soll es wohl auch noch geben. Dabei muss ich ja sagen, dass ich hier in der Stadt noch nicht so viel damit zu tun hatte.“

„Das macht auch nichts.“

Sie wurden unterbrochen, weil es an der Tür klingelte. Sadie ging hin und öffnete Phil.

„Hey“, sagte sie und umarmte ihn zur Begrüßung. „Komm rein. Und danke für die Katzenpflege!“

„Kein Problem“, sagte er. „Bin ja schnell hier.“

„Heute bist du eingeladen.“

„Ach Quatsch.“

„Nein, wir bestehen darauf“, sagte Matt aus dem Hintergrund. Phil ging zu ihm und begrüßte ihn per Handschlag.

„Suchen wir uns was aus, ich habe Hunger“, sagte Matt augenzwinkernd. Gemeinsam gingen sie die Speisekarte durch und gaben ihre Bestellung auf.

„Schön, dass du gekommen bist“, sagte Sadie.

„Irgendwie war mir danach“, erwiderte Phil.

„Wann haben wir uns zuletzt gesehen?“, überlegte Matt. Die anderen zuckten mit den Schultern.

„Ist schon viel zu lange her“, sagte Phil.

„Was gibt es denn Neues?“, erkundigte Sadie sich.

Phil grinste. „Ich habe am Wochenende jemanden kennengelernt.“

„Ach was“, sagte Matt interessiert.

„Wie heißt sie?“, fragte Sadie.

„Amelia.“

„Wo hast du sie denn kennengelernt?“, erkundigte Matt sich.

Phil lachte. „Im Supermarkt. In der Getränkeabteilung war ein Betrunkener unterwegs und hat eine ganze Palette mit Bier umgestoßen. Sie stand daneben und auf einmal gab es eine regelrechte Bierdusche. Ich war gerade weit genug entfernt, um nichts abzukriegen und wollte ihr helfen.“

„Der Retter in der Not“, unkte Matt.

„Mach dich nur lustig! Sie hat gestunken wie eine Kneipe. Ich hab dann die Decke aus meinem Auto geholt und sie nach Hause gebracht. Natürlich hat sie sich tausendmal bedankt und mich auch zum Essen eingeladen ... und dann sind wir ins Gespräch gekommen.“

Matt pfiff anerkennend durch die Zähne, während Sadie bloß lächelte. „Ist doch toll.“

„Ich weiß jetzt noch nicht, was draus wird. Wir sind für Freitag zum Kino verabredet, da habe ich frei.“

„Glückwunsch! Wird auch Zeit“, sagte Sadie.

„Ja, ist jetzt über ein Jahr her, dass Jessy gegangen ist“, sagte Phil. „Unfassbar, wie schnell das ging.“

„Da sagst du was“, stimmte Matt zu. „Gibt es ein Foto von ihr?“

„Gibt es“, sagte Phil. Er kramte sein Handy heraus und zeigte Sadie und Matt ein Bild von Amelia. Sie hatte langes dunkles Haar, tiefbraune Augen und ein sehr freundliches Gesicht.

„Hübsch“, sagte Sadie.

„Allerdings“, stimmte Matt zu. „Glückwunsch, Phil. Das ist klasse.“

Phil grinste. „Im Supermarkt. Wer hätte das gedacht.“

„So kann’s gehen“, sagte Matt mit Blick zu seiner Frau. „Bei uns war es das klassische Ding zwischen Kollegen. Und was hat Sadie mich schmoren lassen!“

„Du liebst es ja, mich damit aufzuziehen“, brummte sie und zog eine Augenbraue in die Höhe.

„Ich liebe es generell, dich aufzuziehen.“

Phil lachte, als er den beiden bei ihren Neckereien zuschaute.

„Ich bin schon so gespannt, sie kennenzulernen“, sagte Sadie zu Phil.

„Neugierig bist du ja gar nicht“, ärgerte Matt sie.

„Doch, warum?“

„Wir können ja bei Gelegenheit mal etwas zusammen unternehmen“, sagte Phil versöhnlich.

„Sehr gern“, erwiderte Sadie.

„Dagegen hätte ich auch nichts einzuwenden“, sagte Matt.

Wenig später klingelte der Pizzabote und sie setzten sich zum Schmausen an den Tisch. Plötzlich hielt Phil inne und spähte darunter, als ein leidvolles Maunzen ertönte.

„Na, Figaro? Du willst auch was, oder?“

„Er ist verrückt nach Thunfisch“, sagte Sadie. Stirnrunzelnd blickte Phil auf seine Thunfischpizza.

„Er kriegt aber nix.“

„Nein, muss er auch nicht“, sagte Sadie. Figaro war trotzdem der Meinung, er müsse jammernd um Phils Beine streichen und sich bettelnd neben ihn setzen. Phil ließ das ganz kalt. Mittens war vollkommen unbeeindruckt, sie schlief auf dem Sofa.

„Schon cool, dass wir jetzt hier sind“, sagte Phil. „Ich habe es nicht bereut, die Ausbildung zum Sniper zu machen.“

„Ich habe die Ausbildung beim FBI auch nicht bereut“, sagte Matt. „Wobei ich die nicht noch mal machen müsste.“

Sadie lachte. „Du Armer. So schlimm?“

„Du weißt doch, wovon ich rede!“, erwiderte er mit hochgezogener Augenbraue.

„Weiß ich. Trotzdem ist Phil ärmer dran gewesen.“

„Find ich auch“, stimmte Phil eifrig zwischen zwei Bissen zu.

„Aber es ist wirklich schön, dass wir zusammen hier sind“, sagte Sadie.

„Auf jeden Fall. Ich wollte ja immer aus Waterford raus, aber es macht mehr Spaß, wenn man nicht allein ist!“

Die Pizza hatte keine Chance. Schon bald war alles bis auf den letzten Krümel verputzt und sie siedelten aufs Sofa um, wo es bequemer war. Sadie setzte sich neben Mittens und kraulte die halb schlafende Katze.

„Was gibt es Neues in Waterford?“, erkundigte Phil sich. Sadie und Matt erzählten von den Feiertagen und Phil amüsierte sich köstlich, als er hörte, wie glücklich Joanna als werdende Mutter war.

„Das hätte ich der alten Giftspritze nie zugetraut“, sagte er trocken.

„Ich auch nicht“, stimmte Sadie zu. „Das war jetzt aber trotzdem gemein.“

„Ich kenne nicht viel von ihr, aber ich weiß, dass sie eigen ist. Das ist ja ganz schön anstrengend.“

„Du hast gefehlt“, sagte Sadie. „Du und Tessa.“

„Ich fand es auch ziemlich langweilig allein hier in der Stadt. Natürlich kam auch kein Einsatz. Ich habe mir schlechte Comedyshows angeschaut und zwischendurch die Katzen besucht. War sehr aufregend“, erzählte Phil seufzend.

„Aber ein Einsatz hätte doch auch nicht sein müssen“, wandte Matt ein.

„Nein, schon klar ... aber ich bin überrascht, wieviel man doch wirklich zu tun hat. Wir werden öfter gerufen, als ich vermutet hätte.“ Phil blickte zu Matt. „Und du bist wieder fit?“

„Würde ich sagen“, erwiderte Matt. „Sofern ich denn fit sein muss. Im Augenblick sitze ich ja nur am Schreibtisch.“

„Unterrockes am Schreibtisch. Klasse!“ Phil zwinkerte ihm zu.

Sie unterhielten sich über die verschiedensten Dinge. Sadie erzählte von Nicky, auch wenn sie da noch gar nicht viel zu berichten hatte. Sie genoss es, dass Matt und Phil nicht nur ihre Freunde waren, sondern auch Kollegen. Sie verstanden sich auf ganzer Ebene.

„Bin mal pinkeln“, sagte sie schließlich und ließ die beiden auf dem Sofa allein. Figaro hatte sich auf Matt zusammengerollt und schlief. Die beiden verstanden sich gut, Figaro hatte inzwischen vollstes Vertrauen zu Matt und hielt sich gern bei ihm auf.

„Sie ist okay, oder?“, fragte Phil in die Stille hinein.

„Sadie?“, erwiderte Matt und blickte auf.

Phil nickte. „Ich werde noch manchmal davon wach, wenn ich im Traum sehe, wie ich geschossen habe.“

„Schleicht dir das so sehr nach?“

„Weiß nicht ...“ Unschlüssig zuckte Phil mit den Schultern. „Nicht unbedingt deshalb. Aber ich habe es nicht vergessen. Und bei ihr sieht es so aus, als wäre nie was gewesen.“

„Zum Glück ist das auch so“, sagte Matt. „Alles ist ganz normal.“

Phil lächelte. „Freut mich für euch, ehrlich. Dafür habe ich es umso lieber getan.“

„Mich ärgert es, dass du das warst und nicht ich“, brummte Matt.

„Schon klar, aber du weißt, du wärst nicht damit durchgekommen.“

Ein stummes Nicken war Matts einzige Antwort.

„Alles gut“, sagte Phil. „Wir sind doch Freunde.“

„Das sind wir wirklich“, sagte Matt und lächelte. „Irgendwann zahle ich dir das zurück.“

„Jetzt hör schon auf“, sagte Phil und machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Das ist mein Ernst. Ich schulde dir was, Phil. Wirklich. Du kannst auf mich zählen.“

Wortlos sahen die beiden einander an und waren sich einig. Augenblicke später kehrte Sadie zurück.

„Nanu, Schweigen wie auf dem Friedhof?“, wunderte sie sich.

„Wir wollen ja die Fellmonster nicht stören, nicht wahr?“, sagte Matt ausweichend und kraulte Figaro hingebungsvoll.

 

 

Dienstag

 

Sie hatten einen gemütlichen Abend mit Phil verbracht und waren trotzdem zeitig schlafen gegangen. Am nächsten Morgen verließ Sadie vor Matt das Haus und machte sich in der allmorgendlichen Rush Hour auf den Weg zur Arbeit. Es freute sie, mit der Suche nach dem Mörder von Billy Sheridan nun wieder einen neuen Fall auf dem Tisch zu haben – und zwar einen, der ihr ganz persönlich am Herzen lag.

Nicky hatte sich für halb zehn angekündigt, so hatte Sadie noch ein wenig Zeit. Sie checkte ihre Mails und bereitete alles vor, holte für Nicky schon einmal etwas zu trinken und war nicht überrascht über das pünktliche Eintreffen der Polizistin. Es war genau halb, als Nicky mit einem schüchternen Lächeln im Büro erschien.

„Guten Morgen“, begrüßte Sadie sie freundlich

„Guten Morgen.“ Mit einem verhaltenen Lächeln nahm Nicky neben Sadie Platz. „Ich kann es kaum glauben.“

„Was denn?“  

„Dass sich jetzt ein Profiler der Sache annimmt. Daran habe ich nicht mehr geglaubt. Billy ist jetzt schon so lange tot und ich habe mir doch immer Vorwürfe gemacht. Ich habe jahrelang Antworten gesucht! Hast du Geschwister?“

Sadie blickte auf und nickte. Ihre Geschwister waren vielleicht tot, aber sie betrachtete auch Jo und Gary durchaus als Geschwister.

„Einen Bruder und eine Schwester“, sagte sie, was so oder so stimmte.

„Ich habe gehört, dass du total lieb bist“, sagte Nicky unvermittelt. „Detektive Winter hat erzählt, wie du ihre Zeugin geknackt hast.“

„Ich habe gar nichts gemacht“, sagte Sadie lachend.

„Oh, das glaube ich aber doch!“ Nicky grinste.

„Wie bist du nach Los Angeles gekommen?“, erkundigte Sadie sich.

„Hier war gerade schlicht und ergreifend ein Job frei. Zur Police Academy bin ich in Bakersfield gegangen und es war mir nicht wichtig, wo ich arbeite. Aber um ehrlich zu sein, wollte ich auch mal raus.“

„Und trotzdem bist du wegen deines Bruders Polizistin geworden.“

„Ja, das schon. Aber Akteneinsicht erhalte ich ja überall.“

„Stimmt“, sagte Sadie. „Gefällt es dir in Los Angeles?“

„Es ist ganz anders als alles, was ich kenne. Aber langweilig wird es hier nicht.“

„Das glaube ich. Streifendienst in L.A. ist nicht ohne.“

„Warst du auch mal bei der Polizei?“, erkundigte Nicky sich.

„Ja, aber in einer Kleinstadt im Central Valley. Ich weiß also, wie es dort ist.“

Nicole machte ein wissendes Gesicht. „Dann muss ich dir nichts erklären.“

„Nein.“ Sadie lächelte.

„Was hast du jetzt vor?“

„Ich habe gestern mit Officer Watson von der Polizei in Bear Valley Springs gesprochen“, begann Sadie und berichtete von ihrem Telefonat. Nicky reagierte mit unverhohlener Aufregung.

„Unglaublich“, sagte sie. „Endlich tut sich mal was!“

„Ich habe auch mit meinem ehemaligen Chef gesprochen, SSA Dormer von der BAU“, sagte Sadie. „Er hat auch Hilfe angeboten.“

„Tatsächlich?“

Sadie nickte. „Aber wir werden sehen. Schauen wir mal in VICAP, ob wir nicht Fälle mit ähnlichen Merkmalen finden. Ich hätte gar nichts dagegen, landesweit zu suchen.“

„Und an welche Merkmale denkst du?“, fragte Nicky.

„In der Hauptsache daran, dass dein Bruder noch ein sehr kleines Kind war. Ein Junge. Ich will nach toten Jungen suchen – und nach verbrannten Leichen. Die Frage ist, warum hat der Täter die Leiche verbrannt? War das notwendig? Welche Spuren wollte der Täter vielleicht beseitigen und warum? Uns macht es die Arbeit schwer, weil wir jetzt kaum Rückschlüsse auf die Motivlage ziehen können.“

„Aber warum werden Kinder in dem Alter getötet?“, überlegte Nicky laut. „Oft sind es die eigenen Eltern, die kleine Kinder töten.“

„Richtig“, stimmte Sadie zu. „Erweiterter Suizid, Rache am Partner, Eifersucht, Belastung, Bestrafung, Missbrauch – all das sind Motive. Aber ich denke, das fällt in diesem Fall aus.“

Nicole nickte heftig. „Meine Eltern haben entsetzlich gelitten. Es ist ausgeschlossen, dass sie etwas damit zu tun haben. Ich wüsste auch keinen Grund. Sie standen nie unter Verdacht, soweit ich mich erinnern kann.“

„Ja, darauf würde ich überhaupt keine Energien verschwenden, das ist eine garantierte Sackgasse. Es liegt eine Entführung zugrunde, das würde ich nicht in Frage stellen. Aber offensichtlich war es ja keine Entführung, die zu einer Lösegeldforderung geführt hätte.“

„Nein, auch wenn wir anfangs darauf spekuliert hatten. Die Polizei hatte eine ganze Weile eine Fangschaltung an unserem Telefonanschluss installiert und ich durfte anfangs keinen Fuß allein vor die Tür setzen. Aber es sind nie Forderungen eingegangen“, erzählte Nicole.

Sadie nickte nachdenklich. „Zehn Prozent aller Mordopfer sind Kinder. Wenn sie nicht durch die eigenen Eltern sterben, dann immer wieder durch Menschen aus dem näheren Umfeld, zuletzt eben auch Fremde. Ich glaube aber, bei Kindern ist der Anteil völlig fremder Täter höher als bei Erwachsenen. Und leider werden Kinder sehr häufig Opfer von Sexualdelikten.“

„Ja“, sagte Nicky seufzend. „Auf diese Vermutung lief es letztlich hinaus. Aber das konnte ja nie nachgewiesen werden.“

„Solche Täter sind in ihrer Präferenz sehr festgelegt. Vor allem aber ist davon auszugehen, dass ein Täter, der sich an einem Kind vergeht und es tötet, nur ein sehr geringes Selbstvertrauen hat. An andere Opfer wagt er sich oft nicht heran.“ Sadie überlegte kurz. „Letztlich müssen wir sehen, ob wir ähnliche Fälle finden. Vielleicht können wir dann unsere Vermutungen weiter eingrenzen.“

Nicole nickte zustimmend und Sadie begann, VICAP mit Daten zu füttern. Sie versuchte es erst einmal über Jungen im frühen schulpflichtigen Alter und startete eine landesweite Suche ohne zeitliche Begrenzung. Langsam rutschte Nicky neben sie und sie warteten gemeinsam, bis die Datenbank Ergebnisse ausspuckte.

Es folgte eine erschreckend lange Liste. Einige Jungen etwa in Billys Alter hatten einen gewaltsamen Tod gefunden – und das waren nur die Fälle, die seit Einführung von VICAP eingepflegt oder nachträglich eingetragen worden waren.

„Schön“, sagte Nicky trocken. „Man will es ja nicht glauben.“

„Nein, wirklich nicht“, stimmte Sadie zu. Gemeinsam begannen sie zu sondieren, überflogen jeden Fall kurz und markierten manche. Diejenigen, die in der Umgebung ermordet worden waren oder zu einem ähnlichen Zeitpunkt wie Billy, erregten das besondere Interesse der beiden. Viele kamen für sie einfach nicht in Frage, weil deutlich sichtbar war, dass es sich um eine ganz andere Vorgehensweise handelte. Manche Kinder waren erwürgt worden, keines verbrannt, viele Fälle waren auch längst aufgeklärt.

Doch bei einem fünfzehn Jahre alten Mordfall stockte zuerst Nicky der Atem. Der neunjährige Colin Myer aus Glendale war auf dem Heimweg von der Schule verschwunden, genau wie Billy. Drei Wochen später hatte man seine verkohlte Leiche mitten im Nirgendwo in der Sierra Nevada gefunden – bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.

Sadie gab einen Druckbefehl aus und stand wortlos auf, um zum Drucker zu gehen. Nicky blieb sitzen, griff nach der Maus und klickte sich weiter durch die Akte. Etwa zwei Minuten später kehrte Sadie mit einer Handvoll Blätter zurück und die beiden steckten über der Akte die Köpfe zusammen.

Der Junge war verschwunden, ohne dass jemand etwas bemerkt hätte. Es hatte keinerlei Anhaltspunkte gegeben, bis Wochen später die verkohlte Leiche in einem Waldstück aufgetaucht war. Die Spurenlage war insgesamt ähnlich dünn wie bei Billy.

„Sag, was du willst, aber das hängt zusammen“, sagte Sadie.

Nicole nickte nur. Der Zusammenhang war überdeutlich.

„Warum haben die das nie gemerkt?“, fragte Nicky leise. „Das ist so ähnlich, nur drei Jahre später und gar nicht so weit weg.“

„Aber damals war das alles noch nicht so gut vernetzt wie heute. Und man muss ja erst mal auf die Idee kommen, nach ähnlichen Fällen zu suchen. In dem Fall wären ja die neuen Ermittler gefragt gewesen. Es ist anscheinend nicht passiert – oder wir wissen es nur noch nicht.“

Sie sahen noch den Rest der Ergebnisliste durch, bevor Sadie die Suche veränderte. Sie begann, landesweit in allen Zeiträumen nach verbrannten Leichen zu suchen. Die Ergebnisse waren weit weniger zahlreich als die der vorangegangenen Suche, allerdings entdeckten sie zu ihrer Überraschung einige in der Region der Sierra Nevada.

„Da“, sagte Nicky und deutete auf den Fall eines erwachsenen Mannes, dreiunddreißig Jahre alt.

„Mike Harper“, las Sadie vor. „Wurde vor zwanzig Jahren ermordet und verbrannt. Er stammte aus Mojave.“

„Druck das aus“, sagte Nicky.

„Aber ein erwachsener Mann?“

„Ist doch egal. Wir nehmen alles mit.“

Sadie wollte erst widersprechen, aber dann tat sie es nicht. Vielleicht passte der Mann trotzdem ins Raster, auch wenn er eigentlich viel zu alt war. Man konnte nie wissen. Es war noch zu früh, um etwas auszuschließen.

Einige Zeilen später entdeckten sie den Fall eines jungen Pärchens, das vor zehn Jahren gefunden wurde. Ermordet und verbrannt. Angela Lambert, achtzehn, und ihr älterer Freund Martin Cook waren am Abend nach einer Party verschwunden und zehn Tage später verbrannt im Wald gefunden worden. Beide stammten aus Bakersfield.

„Sag mir, was du willst, aber das kann doch kein Zufall sein“, murmelte Nicky.

Sadie runzelte nachdenklich die Stirn. Es ging dabei um einen Zeitraum von mindestens zehn Jahren in der Region um die Sierra Nevada, aber mit völlig unterschiedlichen Opfern.

„Ist es wirklich egal, dass wir hier zwei Kinder, ein Pärchen und einen erwachsenen Mann haben?“, überlegte auch Nicky dann laut.

„Und hier ... noch ein Mädchen“, sagte Sadie. „Tina Collins, dreizehn Jahre alt. Auf dem Heimweg von einem Jugendzentrum in Wheeler Ridge verschwunden, wurde drei Wochen später verbrannt aufgefunden. Ich kann nicht glauben, dass das keiner gemerkt hat!“

„Und du glaubst an einen Zusammenhang?“, fragte Nicky.

„Im Ernst, was glaubst du denn, wieviele Mörder dort herumlaufen und ihre Opfer verbrennen? Ich glaube nicht, dass das allzu viele sind! Aber wir müssen vor Ort sehen, ob es noch weitere Fälle gibt, von denen VICAP gar nichts weiß.“

„Ist ja Wahnsinn.“

„Das wäre ein Bedarfsmörder“, sagte Sadie. „Die Frage ist nur, welches Bedürfnis er hat.“

„Gute Frage.“

„Mich erinnert das an Son of Sam“, sagte Sadie. „Da läuft jemand herum und tötet, wer ihm in die Quere kommt. Zur Sicherheit können wir ja noch die anderen Fälle landesweit auf Ähnlichkeiten prüfen.“

Nicole nickte und sie fingen gleich damit an. Irgendwie erinnerte dieser Fall Sadie tatsächlich an David Berkowitz, der als Son of Sam im Jahr 1976 begonnen hatte, New York City zu terrorisieren. Er hatte wiederholt auf Menschen geschossen, was zumindest anfangs recht wahllos gewirkt hatte. Mal hatte es zwei Frauen in einem Auto getroffen, dann wieder ein Pärchen, manchmal eine Frau allein. Auch bei Berkowitz hatte es gedauert, bis man ihm auf die Schliche kam und letztlich hatte bei ihm, wie so oft, ein Zufall zum Erfolg geführt.

Vielleicht ging es ihnen hier nun ähnlich.

Landesweit gab es im Zeitraum der letzten zwanzig Jahre ganz verschiedene Mordopfer, deren Leichen verbrannt worden waren. Die Datenlage in diesen Fällen war meist eine völlig andere. Bei den Opfern handelte es sich in zwei Fällen um Gangmitglieder, viele Fälle waren auch aufgeklärt worden.

Aber die Fälle, die die beiden zuerst entdeckt hatten, waren vollständig unaufgeklärt.

„Das ist kein Zufall“, sagte Nicky. „Da läuft jemand in der Sierra Nevada herum, tötet wahllos und verbrennt seine Opfer.“

„Was für ein Profil soll das sein?“, fragte Sadie lachend.

„Ich weiß nicht. Aber wir sollten die Fälle alle im Hinterkopf behalten, mitnehmen und mit der Polizei sprechen.“

„Wenn das alles derselbe Täter war, dann war er lang aktiv. Ist es vielleicht immer noch. Er muss mindestens zwischen …“ Sadie rechnete nach. „Zwischen vierzig und fünfzig sein. Wir sollten sehen, dass wir diese Fälle durchgesehen haben, bevor wir hinfahren. Wir müssen wissen, auf welche Fälle wir achten müssen und auf welche nicht. Wenn sich Gemeinsamkeiten herauskristallisieren, können wir auch vor Ort weitere Fälle finden.“

„Wir haben ja jetzt schon sechs Opfer, ich meine … wo soll das noch hinführen?“, fragte Nicky.

„Ja, das frage ich mich auch. Vor allem frage ich mich, ob wir das wissen wollen.“

Wortlos sahen die beiden einander an.

„Wir sollten mit der Polizei vor Ort sprechen“, sagte Sadie. „Und am besten hinfahren.“

„Ich muss sehen, ob ich das hinkriege ... bin ich nicht befangen oder so?“

„Ich kann ja mal mit deinem Vorgesetzten sprechen“, bot Sadie an.

„Das wäre vielleicht ganz gut.“

Doch zuerst rief Sadie erneut bei Officer Watson in Bear Valley Springs an. Diesmal musste sie sich erst zu ihm verbinden lassen.

„Ich bin noch nicht dazu gekommen, mich darum zu kümmern“, sagte er gleich, denn er erinnerte sich sofort an sie.  

„Das macht nichts, ich sitze hier mit meiner Kollegin von der Polizei und wir haben VICAP durchsucht. Es scheint einige ähnliche, unaufgeklärte Fälle in der Region der Sierra Nevada zu geben und nun frage ich mich, was die Aktenbestände noch zu bieten haben. Es sind ja nicht alle Fälle ins System eingespielt worden, aber ich wette mit Ihnen, der Täter ist seit dreißig Jahren aktiv.“ Sadie erläuterte ihm, wie sie durch ihre Datenbanksuche zu diesem Schluss gekommen war.

Watson lachte. „Sie waren ja richtig fleißig.“

„Ist jemandem bei Ihnen mal der Gedanke gekommen, dass das kein Einzelfall war?“, fragte Sadie.

„Wie kommen Sie denn darauf?“

„Aufgrund der Tatsache, dass es eben kaum Hinweise gab. Es erscheint mir sehr unwahrscheinlich, dass das nur Glück war. Ich glaube eher, der Täter hatte bereits Erfahrung.“

„Interessanter Gedanke“, sagte Watson. „Doch ich kann Ihnen versichern, es gibt hier keinen kindermordenden Serientäter.“

„Aber vielleicht einen, der seine Opfer hinterher immer verbrannt hat. Irgendeine Gemeinsamkeit gibt es sicherlich. Wir werden uns das ansehen, wenn wir vorbeikommen. Es gibt bestimmt Fälle, die uns weiterhelfen könnten.“

„Scheint so. Wie kann ich Ihnen jetzt helfen?“

„Wir würden gern nach Bear Valley Springs kommen, um uns selbst ein Bild zu machen. Ich denke, Sie haben da einen Serienmörder.“

„Aber ziehen Sie sich warm an, zum Ende der Woche hin ist ein Wintereinbruch angekündigt“, warnte Watson sie.

„Danke für den Hinweis“, sagte Sadie.

„Ich unterstütze Sie gern. Vielleicht gibt es auch Fälle im Archiv in Tehachapi.“

„Das sollten wir uns alles ansehen. Wenn wir es schaffen, kommen wir morgen vorbei.“

„Prima. Sie können auf mich zählen!“

Das freute Sadie zu hören. Sie legte auf und lächelte Nicole zu.

„Wir fahren hin“, sagte sie. „Und dann sehen wir, was es mit diesem Täter auf sich hat.“

„Darauf habe ich so unendlich lange gewartet“, sagte Nicky. „Danke, dass du mir hilfst.“

„Ist doch klar“, sagte Sadie.

„Nein, so klar ist das nicht. Ich hatte so auf die BAU gehofft ... aber da kam ja nichts.“

„Die meisten Fälle lehnen sie ab“, erklärte Sadie. „Akute Fälle haben immer Vorrang.“

„Verstehe.“

„Ich war selbst lang genug Teil des Teams, um zu wissen, was da los ist. Und das ist eine Menge.“

„Das glaube ich dir.“

„Also dann ... wollen mal sehen, dass wir die Reise auf die Beine stellen können!“

Zuerst wollten sie sich darum kümmern, dass Nicky offiziell dort ermitteln durfte. Ein unangenehm frischer Wind wehte, als sie das FBI-Gebäude verließen und zu dem Streifenwagen gingen, den Nicky auf dem Besucherparkplatz abgestellt hatte.

„Ich hoffe so, dass wir ihn finden“, sagte sie, während sie sich auf den Weg nach Pasadena machten. Nicky fuhr dafür auf den Freeway.

„Das schaffen wir schon“, sagte Sadie. „Es wird nur eine staubige Wühlerei in den Akten.“

„Das macht mir nichts. Solange es etwas bringt.“

„Hast du noch andere Geschwister?“, fragte Sadie.

Nicky schüttelte den Kopf. „Ich habe auch nur noch Kontakt zu meinem Vater. Er lebt immer noch in Tehachapi.“

„Was ist passiert?“, fragte Sadie.

„Billys Tod hat unsere Familie zerstört. Meine Mutter hat immer mir die Schuld gegeben.“

„Das bildest du dir ein.“ Sadie wollte etwas Nettes sagen.

„Nein“, begehrte Nicky auf. „Sie hat es wirklich getan. Verstehst du? Sie hat es gesagt. Sie hat immer wieder gesagt: Nicky, warum musstest du dir diese Süßigkeiten kaufen? Hättest du das nicht getan, würde er noch leben!“

„Wirklich?“, fragte Sadie ehrlich betroffen.

„Ja, wirklich. Sie hat es gemeint. Sie hat mir die Schuld gegeben. Schon vor dem Fund seiner Leiche. Von Anfang an hat sie das getan.“

„Aber du warst acht! Man kann doch nicht erwarten, dass eine Achtjährige immer ein Auge auf ihren Bruder hat!“

„Doch, meine Mum hat es erwartet. Ich war schuld. Das hat sie kaputt gemacht. Sie ist mit Billys Tod nicht zurechtgekommen, hat sich von meinem Dad und mir abgekapselt.“ Nicky zog die Schultern hoch. „Drei Jahre später waren meine Eltern geschieden. Mein Vater hat durchgesetzt, dass ich bei ihm leben konnte. Das war kein Problem, meine Mutter … sie wollte mich gar nicht.“

Sadie war entsetzt, versuchte aber, es sich nicht anmerken zu lassen. Nicky bemerkte es auch tatsächlich nicht.

„Ich fasse es nicht“, sprach Sadie laut ihre Gedanken aus. „Deine Mutter hat dich regelrecht verstoßen!“

„Ja.“ Nicole nickte sofort. „Sie hat das getan, was man sonst manchmal von Vätern kennt. Ich bin mit meinem Vater weggezogen und meine Mutter wollte mich gar nicht sehen. Sie hat sich auch nie um meine Belange gekümmert. Sie …“ Auch ein tiefer Atemzug konnte nicht verhindern, dass Nicky wieder die Tränen kamen. „Ich habe sie seit elf Jahren nicht gesehen.“

„Ich fasse es wirklich nicht“, sagte Sadie konsterniert.

„Das ist meine Geschichte“, sagte Nicky ernst. „Ich bin schuld am Tod meines Bruders und meine Mutter hasst mich dafür.“

Zu gern hätte Sadie widersprochen, aber das konnte sie kaum. Zwar konnte sie Nickys Mutter nicht verstehen, aber sie wusste, dass so etwas möglich war.

Leider.

„Und dein Vater?“, fragte Sadie.

„Er hat nicht mir die Schuld gegeben, sondern Billys Mörder. Als ich sagte, dass ich Polizistin werden will, hat er das nicht ernst genommen. Nicht, bis es soweit war und ich meine Dienstmarke in der Hand hielt.“

„Aber das ist auch kein Wunder“, sagte Sadie. „Du willst den Mörder deines Bruders finden.“

„Das alles hat mich meine ganze Kindheit und Jugend hindurch verfolgt. Ich habe mich immer gefragt, bei jedem Fremden: Ist das Billys Mörder? Und ich habe die Nachrichten verfolgt. Ich wollte wissen, ob es ähnliche Fälle gibt. Darüber habe ich auch von vielen anderen schlimmen Verbrechen erfahren. Ich weiß, wieviele Menschen hierzulande vermisst werden. Das darf alles nicht sein! Darunter sind viele Kinder wie mein Bruder. Diese Fälle will ich aufklären – nicht nur den Mord an Billy.“

„Davor ziehe ich den Hut“, sagte Sadie ehrlich.

„Es stand für mich nie zur Diskussion“, sagte Nicky. „Es hat sich auch richtig angefühlt.“

„Das ist es auch. Ich kann dich gut verstehen.“

„Danke.“ Nicky lächelte.

Schließlich hatten sie die Polizeistation erreicht, in der Nicky arbeitete. Sie führte Sadie zu ihrem Vorgesetzten, der gerade telefonierte, als die beiden vor seinem Büro standen. Er war jedoch ziemlich schnell fertig und wandte sich ihnen zu. Er war ein Endvierziger mit penibel gebügeltem Hemd und sauber frisiertem Haar.

„Nicky“, sagte er, als die beiden vor seinem Schreibtisch stehenblieben. „Wen hast du mitgebracht?“

„Special Agent Sadie Whitman“, sagte Sadie und reichte dem Chief beherzt die Hand. „Ich müsste mir Officer Sheridan mal ausleihen.“

„FBI?“, fragte der Chief überrascht. „Worum geht es?“

„Nicole ist da auf etwas gestoßen, das ich mir mal näher ansehen möchte. Seit einigen Monaten arbeite ich hier in der Stadt als Profilerin und Nicole hat mir von einem Fall in ihrer Heimat berichtet, von dem ich glaube, dass er aufs Konto eines Serienmörders geht.“

„Ich würde Agent Whitman gern begleiten“, sagte Nicky, die Sadies Taktik sofort durchschaute.

„Von mir aus“, sagte der Chief gleich. „Was haben Sie vor?“

„Wir würden uns vor Ort mal die Akten ansehen wollen, vermutlich in Bear Valley Springs und Tehachapi. Möglicherweise finden wir etwas und weil Officer Sheridan vertraut mit dem Fall ist, wäre sie mir eine große Hilfe.“

„Meinetwegen. Diese Woche ist da kein Problem. Sollte es länger dauern, müssen wir Rücksprache halten.“

„Selbstverständlich“, sagte Sadie, der nicht entging, wie erleichtert Nicky war. Sie sprachen nicht mehr lang mit dem Chief, denn Sadie wollte sich an die Arbeit machen.

„Ich muss hier auch noch etwas vorbereiten“, sagte Nicky. „Soll ich dich wieder zurück zum FBI bringen?“

„Nicht nötig“, sagte Sadie. „Ich nehme mir ein Taxi oder fahre mit der Metro.“

„Ich kann wirklich ...“

„Nein, schon gut. Ich spreche gleich noch mal mit Officer Watson und vielleicht mit meinem Team und morgen sollten wir uns irgendwo treffen, um uns auf den Weg zu machen. Dafür können wir auch einen FBI-Dienstwagen nehmen, wenn ich jetzt offizielle Ermittlungen anmelde.“

„Okay“, sagte Nicky. Sie umarmte Sadie impulsiv und lächelte. „Du rettest mich!“

„Das mache ich wirklich gern“, sagte Sadie. Sie konnte verstehen, warum das Nicky so wichtig war. Sie wusste ja nur allzu gut, wie es sich anfühlte, die eigenen Geschwister zu verlieren. Auf gewisse Weise ähnelte Nickys Geschichte ihrer eigenen auf erschreckende Weise, zumal auch sie lange nicht in der Lage gewesen war, mit der Vergangenheit abzuschließen. Deshalb hatte sie sich immer gewünscht, dass die Todesstrafe ihres Vaters vollstreckt wurde – nicht nur, weil er sie verdiente, sondern auch, weil er damit aus ihrem Leben verschwand.

Es ging ihr besser, seit er tot war. Die Begegnung mit Sean Taylor hatte sie zwar noch einmal gewaltig zurückgeworfen, aber inzwischen hatte sie das überwunden. Alpträume waren fast kein Thema mehr für sie und zwischen ihr und Matt war auch alles in Ordnung.

Gedankenversunken schlenderte sie zur Metro. Los Angeles erschien ihr nicht sehr freundlich, wenn das Wetter wie an diesem Tag grau in grau war. An solchen Tagen fühlte sie sich wieder fremd.

Die Metro brachte sie schnell zurück zum Wilshire Boulevard. Je näher der Feierabend rückte, desto voller wurde die Bahn. Sadie gegenüber saß ein schwarzer Teenager in Baggypants, der über Kopfhörer Musik hörte und rhythmisch mit dem Kopf im Takt nickte. Gleich daneben las eine ältere Dame Zeitung, flankiert von einem Anzugträger mit Aktentasche.

Wenn sie zu Hause war, musste sie ein paar Sachen einpacken. Besondere Sehnsucht hatte sie nicht danach, wegzufahren, aber so war das nun einmal. Sie würde schon ohne Matt überleben. Es war ja nicht für lang – und es war für einen guten Zweck. An Nickys Stelle hätte sie sich auch über Hilfe gefreut.

Nicky war etwa so alt wie sie, vielleicht etwas jünger. Das bedeutete, dass auch Billy und Sadies eigener Bruder Toby etwa gleich alt gewesen wären. Junge Männer Anfang zwanzig, die ihr Leben noch vor sich hatten. Natürlich wollte Nicky den Tod ihres Bruders aufklären und mit diesem traurigen Kapitel ihres Lebens abschließen.

 

 

Bear Valley Springs, 1998

 

Er hatte den Wagen hinter der Kreuzung auf der gegenüberliegenden Straßenseite geparkt. Bisher war er den Kindern nie aufgefallen.

Zum Glück. Dabei versuchte er sein Glück nun seit Wochen. Er hätte natürlich auch den Jungen und seine Schwester entführen können, aber sie wollte er ja nicht. Er wollte nur den Jungen. Kleine Mädchen standen diesmal nicht auf seinem Plan.

Da kamen sie, so wie jeden Mittag. Jeden Mittag stand er hier und beobachtete sie. Meist waren auch zahlreiche andere Kinder in der Nähe. Kinder oder andere Menschen. Zeugen. Die konnte er nicht brauchen.

Die beiden blieben neben anderen Kindern vor Marty’s Sweet Shop stehen. Sie redeten. Lachten. Er beobachtete sie aufmerksam und hoffte, dass endlich seine Chance kam.

Es war das erste Mal, dass er in seinem eigenen Wohnort aktiv wurde. Bisher hatte er sich immer auswärts irgendwelche Opfer gesucht, aber diesmal war es anders. Der Kleine war ihm zufällig aufgefallen und er war besessen von seinen lebhaften Augen. Wie würden sie aussehen, wenn der Junge Schmerzen hatte?

Die Kinder standen immer noch zusammen. Der Junge hielt sich an seine Schwester, die plötzlich mit ihm sprach. Er nickte, sie legte ihre Hand auf seine Schulter und dann geschah es.

Der Junge ging allein weiter.

Das war der Moment. Seit Wochen hatte er darauf gewartet. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren. Seelenruhig blieb er im Wagen sitzen und beobachtete den Jungen. Langsam und verträumt trottete er die Straße entlang und bog schließlich ab. Er achtete nicht auf den Wagen, der den Motor anließ und hinter ihm her rollte.

Der Mann ließ sich Zeit damit, zu Billy aufzuschließen. Er wollte ihn noch nicht auf sich aufmerksam machen. Noch konnte er ihn nicht schnappen. Das letzte Stück bis zum Haus des Jungen, wo niemand ihn mehr bemerken würde, kam erst noch. Es war ein von Büschen und Bäumen umstandener Weg, der schlecht einsehbar war. Das war ein Segen.

Der Junge schaute sich nicht um. Mit hüpfendem Gang und federnden Schritten lief er seinem Zuhause entgegen. Nach wenigen Schritten hatte er den Pfad erreicht und der Mann beschleunigte den Wagen etwas. Als er hinter dem Jungen auf den Weg fuhr, drehte dieser sich um und blieb schließlich sogar stehen. Er ging ein wenig zur Seite, weil er dachte, dass der Wagen passieren wollte.

Das war perfekt.

Der Wagen rollte langsam weiter und blieb schließlich genau neben dem Jungen stehen. Der Mann öffnete die Fahrertür und stieg aus.

„Hey, mein Kleiner. Sind deine Eltern zu Hause?“

Der Junge nickte und blickte erwartungsvoll zu dem Mann auf. Er hatte keine Angst.

Er sah auch nicht kommen, was geschah.

Der Mann packte ihn, drückte ihm ein großes Tuch ins Gesicht und nahm ihn so in den Schwitzkasten, dass kein Schrei mehr zu hören war. In Windeseile packte er die Hände des Jungen, ließ die mitgebrachten Handschellen um die kleinen Handgelenke zuschnappen und knebelte ihn. Als er damit fertig war, trug er ihn hastig zum Kofferraum und legte ihn hinein. Rasch kehrte er nach vorn zurück, stieg ein und setzte den Wagen zurück. Keine dreißig Sekunden später verließ er den unbefestigten Weg und fuhr denselben Weg zurück, über den er auch gekommen war. Dabei passierte er die Straßeneinmündung, an der er auch zuvor geparkt hatte und warf einen Blick die Straße hinab.

Da kam die Schwester des Jungen. Sie schien den Laden gerade verlassen zu haben und blickte auf etwas, das sie in ihren Händen hielt. Sie merkte überhaupt nicht, wie der Wagen vorüberfuhr. Weder sie noch irgendjemand sonst.

Wieder einmal hatten sich Geduld und langfristige Vorbereitung ausgezahlt. In den letzten zehn Jahren hatte niemand je beobachtet, wie er eins seiner Opfer entführt hatte. Bisher hatte er unbehelligt gemordet. Es hatte auch niemand die Taten miteinander in Verbindung gebracht. Aber auch das hatte er ja alles beabsichtigt und geplant.

Er lauschte darauf, ob aus dem Kofferraum Geräusche zu vernehmen waren, doch der Junge war still. Er hörte ihn nicht weinen.

Am helllichten Tag entführt. Es war nicht das erste Mal, dass das geklappt hatte, aber es war immer schwierig. Er würde jetzt die Berichterstattung verfolgen und sehen, ob ihn auch wirklich niemand bemerkt hatte, aber das hatte mit Sicherheit funktioniert. Das tat es immer, so viel Erfahrung hatte er ja jetzt.

Keine fünf Minuten später war er am Ziel. Er fuhr die Straße hinauf, rollte langsam mit dem Wagen in die Garage und stellte den Motor ab. Er stieg aus, schloß das Garagentor und öffnete erst dann den Kofferraum.

Der Junge lag wimmernd und heulend darin, unter sich den Schulrucksack. Ohne Mühe zog er das Kind aus dem Kofferraum und störte sich nicht daran, ob der Junge weinte oder strampelte. Er schenkte dem Ganzen keine Aufmerksamkeit, als er die Tür zum Keller öffnete und auf den Lichtschalter drückte. Wie immer dauerte es, bis das Licht unten aufflammte und solange klaffte vor ihm nur ein pechschwarzes, tiefes Loch. Der Junge gebärdete sich vor Angst wie wild, aber er hatte keine Chance.

Nie gehabt.

 

 

Figaro knackte geräuschvoll an seinen Crackern herum, während Matt und Sadie sich zusammen an den Tisch setzten. Matt war an diesem Tag vor Sadie zuhause gewesen und hatte Spaghetti Carbonara gezaubert. Zufrieden schmausend grinste Sadie ihn an.

„Gut hinbekommen“, sagte sie zwischen zwei Bissen.

„Danke“, erwiderte er. „Vielleicht werde ich ja doch noch der Koch im Haus!“

„Du kannst gut kochen“, beruhigte Sadie ihn.

„Für einen Amerikaner? Für einen Mann? Für einen männlichen Amerikaner?“

Sie lachte. „Was soll das denn heißen?“

Er grinste breit. „Ich mache doch nur Spaß.“

„Machst du doch immer.“ Sadie ließ die Gabel sinken und wechselte das Thema. „Du musst jetzt leider ein paar Tage ohne mich auskommen.“

„Ach was“, sagte Matt. „Dein neuer Fall? Wohin geht es?“

„Nach Bear Valley Springs, Sierra Nevada. Und es geht um die Polizistin, deren Bruder ermordet wurde.“

Matt nickte und sagte nichts, denn er hatte den Mund voll.

„Wir fahren morgen“, sagte Sadie. „Ich glaube, wir sind da an einer großen Sache dran. Heute haben wir zusammen die Datenbank durchsucht und noch einige ähnliche Fälle entdeckt, die vielleicht in Zusammenhang damit stehen.“

„Wow“, sagte Matt. „Ein Serienmörder?“

„Mit Sicherheit. Jede Wette, dass Nickys Bruder nicht sein erstes Opfer war und ich bin ziemlich sicher, dass es Zusammenhänge mit anderen Fällen gibt. Wir haben da so einiges gefunden.“

„Und jetzt wollt ihr das vor Ort genauer ergründen?“

Sadie nickte. „Das Problem ist, dass schon der Mord an Nickys Bruder achtzehn Jahre her ist. Das kann gar nicht der erste sein. Weiß denn jemand, ob nicht noch irgendwelche Akten in den Archiven schlummern, an die niemand denkt? Irgendwas, was nicht in der Datenbank ist?“

„Verstehe“, sagte Matt. „Das ist natürlich möglich.“

„Eben. Vielleicht ist es auch nichts ... aber wenn doch, dann muss ich das wissen.“

„Du hast ein feines Näschen für so etwas.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Das ist nur logisch kombiniert. Dieser Täter ist so geschickt vorgegangen, der muss einfach schon Erfahrung gehabt haben. Das haben wir doch in Waterford damals auch gleich vermutet.“

„Falsch“, sagte Matt. „Du hast das vermutet. Sonst niemand.“

Sadie lachte. „Ja, schon. Aber du weißt, was ich meine.“

„Schon klar. Ich verstehe das alles inzwischen ja auch besser. Du hättest ... nein, vergiss es.“ Er schüttelte den Kopf.

„Was denn?“, fragte Sadie.

Matt seufzte. „Als wir auf der Suche nach dir und Sean waren ... ich weiß gar nicht mehr, was ich da gesagt habe. Aber Nick sagte zu mir, ich hätte mir einiges bei dir abgeschaut.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739356068
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (September)
Schlagworte
Rache Profiling Kalifornien Thriller Serienmord Spannung Sadismus FBI Polizei Ermittlungen Psychothriller Krimi Ermittler

Autor

  • Dania Dicken (Autor:in)

Dania Dicken, Jahrgang 1985, schreibt seit ihrer Kindheit. Die in Krefeld lebende Autorin hat in Duisburg Psychologie und Informatik studiert und als Online-Redakteurin gearbeitet. Mit den Grundlagen aus dem Psychologiestudium setzte sie ein langgehegtes Vorhaben in die Tat um und schreibt seitdem Psychothriller mit Profiling als zentralem Thema.
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Titel: Die Seele des Bösen - Stumme Schreie