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Die Seele des Bösen - Rettung unter Freunden

Sadie Scott 8

von Dania Dicken (Autor:in)
298 Seiten
Reihe: Sadie Scott, Band 8

Zusammenfassung

Aus dem fernen Los Angeles versucht Profilerin Sadie, ihrer früheren FBI-Kollegin Cassandra in einem Fall verschwundener Frauen im Großraum Washington, D.C. zu helfen. Als das erste Opfer brutal ermordet aufgefunden wird, ahnen beide, dass sie es mit einem skrupellosen Serientäter zu tun haben. Doch Sadie kann sich kaum auf den Fall konzentrieren, denn auch in nächster Nähe wird sie gebraucht. Weil ihr alter Freund und SWAT-Scharfschütze Phil bei einer Razzia in Notwehr den Bruder eines Drogenbosses erschossen hat, ist er ins Visier der Gangster gerückt, die nun Jagd auf ihn machen. Sadie versucht an beiden Fronten zu helfen, doch dann überschlagen sich die Ereignisse …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Bei Manassas, Virginia

 

Sie hätte einfach still sein sollen. Immer diese Auflehnung, diese Rebellion ... darin war sie gut gewesen. Aber nein, sie hatte die anderen noch aufgestachelt. Diese ständigen Fluchtversuche ... immer hatte sie sich gewehrt. Eigentlich hatte es ihm ja gefallen, sie hatte Charakter gehabt.

Aber auf Dauer wäre das nicht gut gegangen.

Er blickte in den Rückspiegel. Weil es dunkel war, konnte er den Kofferraum, in dem ihre Leiche lag, nicht sehen. Er sah auch niemanden im Rückspiegel. Im Augenblick war er ganz allein auf den Straßen unterwegs, aber es war auch schon spät in der Nacht.

Die beste Zeit, um eine Leiche loszuwerden.

Er hatte gezögert. Er hatte sie nicht wirklich töten wollen, aber es war das Beste gewesen. Um die anderen abzuschrecken, hatte er sich dafür entschieden, es auf eine blutige, eine brutale Art zu tun. Leid tat es ihm nicht, auch wenn er ihren Verlust bedauerte. Er hatte sie gemocht, ihren weichen Körper wertgeschätzt.

Während er weiter Richtung Fluss fuhr, bedauerte er vor allem den Verlust seines Kindes. Sie hatte es lang genug geheimgehalten, aber irgendwann war es doch aufgefallen. Es war nicht gleich klar gewesen, was jetzt zu tun war. Das Kind hätte kein Problem sein müssen. Er hätte sich sogar darum gekümmert.

Aber nun war es ebenfalls tot. Es hätte ihn interessiert, ob es ein Junge oder ein Mädchen geworden wäre. Ob es etwas von ihm gehabt hätte, irgendeine Ähnlichkeit.

Doch das würde er nun nicht mehr erfahren.

Er sah sie immer noch vor sich, ihren flehenden Blick, ihre Tränen. Aber dann hatte er das Messer angesetzt und es getan, ihr die Kehle durchgeschnitten. Sie hatte nach Luft geschnappt, gehustet und war dann schnell verblutet. So leicht war es, ein Leben auszulöschen.

Genaugenommen zwei.

Darum war es eigentlich nie gegangen. Die Frauen hatten nie sterben sollen. Aber Laurie hatte immer nur Probleme bereitet. Sie hatte sich immer gewehrt, sie hatte Nahrung verweigert, war nie fügsam gewesen. Niemals. Eigentlich hatte er sie genau deshalb geschätzt. Das hatte ihn herausgefordert, ihm Spaß bereitet. So musste es doch sein!

Aber er hatte eingesehen, dass es so nicht ging. Und jetzt war sie tot.

Er bog vom Highway ab und folgte einem schmalen Weg bis ans Wasser. Das war wohl die beste Art, um Laurie loszuwerden. Er fragte sich, ob jemand sie vermisst hatte. Bestimmt war das so. Nun würde ans Licht kommen, was mit ihr passiert war. Dass sie tot war.

Er fühlte sich fast ein bisschen stolz. Es gab allen Grund, ihn zu fürchten. Er war ein Entführer. Ein Vergewaltiger. Und jetzt war er auch ein Mörder.

Er fuhr bis ans Ufer des Potomac und parkte den Wagen oberhalb der Böschung, dann stieg er aus und ging zum Kofferraum. Laurie war immer noch nackt und voller Blut, das inzwischen getrocknet war. Er fasste unter ihren leblosen Körper, zerrte ihn hoch und zog ihn aus dem Kofferraum. Es hatte ihn schon Mühe gekostet, ihn überhaupt hineinzubekommen, aber ihn wieder herauszuwuchten war auch nicht leichter. Mit zusammengebissenen Zähnen mühte er sich ab und schleifte den Leichnam zum Wasser. Wenigstens leuchtete ein Viertelmond vom Himmel und erhellte die Umgebung ein wenig, so dass er etwas sehen konnte. Das Mondlicht spiegelte sich auf den Wellen, die am Ufer leise plätscherten.

Er blickte Laurie noch einmal ins Gesicht, in ihre starren, kalten Augen, bevor er sie losließ und den Fluten des Potomac übergab. Was für ein Verlust. Das hätte nicht passieren sollen.

Aber jetzt würde es besser laufen, dessen war er sich sicher. Die anderen waren eingeschüchtert, denen würde er schon zeigen, wo es langging. Er würde sich beweisen – er würde es ihnen beweisen. Er hatte das Zeug dazu.

Er setzte sich wieder in den Wagen, wendete und fuhr davon. Er konnte stolz auf sich sein.

 

 

Donnerstag

 

Der Pazifik lag bleiern und grau da, hin und wieder aufgepeitscht von einzelnen Windböen. Gedankenversunken starrte Sadie aus dem Fenster aufs Meer. Es war Mitte März und irgendwie war sie den Winter leid. Es wurde Zeit für den Osterurlaub.

Es war ein Donnerstag und Sadie sehnte das Wochenende herbei. Es war noch nicht ganz klar, ob Matt zu Hause sein würde – seine Undercoverermittlungen hatten ihn nun doch wieder in den Untergrund geführt. Diesmal ging es um einen Drogenboss.

Und Sadie saß gelangweilt am Schreibtisch. Sie erwischte sich immer wieder dabei, wie ihr die Ermittlungen der Behavioral Analysis Unit fehlten. Selbst das Reisen fehlte ihr irgendwie – aber sie wollte nicht zurück. Nicht nach Quantico.

Das Klingeln ihres Telefons riss sie aus ihren trüben Gedanken. Als hätte sie es geahnt: Es war die Vorwahl von Quantico.

„Special Agent Whitman“, meldete sie sich nichtsdestotrotz förmlich.

„Sadie, ich bin es, Cassandra.“

„Das ist ja eine Überraschung“, sagte Sadie erfreut. „Wie geht es dir?“

„Ziemlich gestresst“, sagte Cassandra. „Und bei dir?“

„Es geht. Hast du nicht bald schon Feierabend?“

„Schön wär’s. Ich habe jetzt den ganzen Tag überlegt, ob ich dich anrufen soll oder nicht, aber Nick meinte, ich soll es tun.“

„Was ist denn los?“

„Wir haben einen Fall ganz hier in der Nähe. Da ist ein Kerl, der blonde Frauen aus ihren Wohnungen entführt – und die tauchen einfach nicht wieder auf. Gerade vor ein paar Tagen wurde die erste Leiche gefunden, mit Fesselspuren und allem, was dazugehört. Sie wurde gefangengehalten, gefoltert und ermordet.“

„Verstehe“, sagte Sadie.

„Ich komme mir so mies dabei vor.“

„Musst du nicht. Liegt doch auf der Hand, mich zu fragen.“

Cassandra atmete hörbar aus. „Du bist echt unglaublich.“

„Nick hat recht. Du kannst mich ruhig um Rat fragen.“

„Okay ... wenn du das sagst.“

„Schieß los. Wie kann ich dir helfen?“, fragte Sadie.

„Mit allem, um ehrlich zu sein ... Die Polizei hat nicht viel. Bisher sind vier Frauen verschwunden, die erste wurde jetzt tot aufgefunden. Bei keiner gab es Einbruchsspuren an Türen oder Fenstern, so dass die Polizei davon ausgeht, dass der Täter hereingelassen wurde.“

„Gibt es denn Kampfspuren?“, fragte Sadie.

„Nicht wirklich.“

„Und woher dann die Theorie mit der Entführung?“

„Im Moment ist das wirklich eher eine Theorie, das stimmt. Bislang ging es nur um verschwundene Frauen, die irgendwann von ihren Arbeitgebern oder ihren Putzfrauen vermisst wurden. Die Frauen sind alle Singles und beim Betreten der Wohnungen hat die Polizei festgestellt, dass sie ungeplant verlassen wurden. Alles war noch da: Schlüssel, Kreditkarte ... in einer Wohnung haben sie einen halb verhungerten Hund gefunden.“

„Und niemand hat etwas gesehen?“

„Nein. Als jetzt die Leiche der ersten Vermissten aufgetaucht ist, hat die Polizei uns eingeschaltet. Aber ehrlich gesagt stapeln sich hier gerade die Fälle und bei dem, was der Frau passiert ist, musste ich gleich an dich denken.“

„Schon gut“, sagte Sadie. „Ich schaue mir das gern an. Schick mir einfach, was du hast.“

Cassandra atmete erleichtert auf. „Danke, Sadie. Das ist so lieb von dir.“

„Kein Problem. Das mache ich gern.“

„Gern?“ Cassandra lachte. „Und das soll ich dir glauben?“

„Na ja, es ist mein Job. Wenn ich dir helfen kann, tue ich das.“

„Nick hat uns im Winter erzählt, dass es dir gut geht. Das war schön zu hören.“

„Ja, es ist alles okay. Der Umzug war eine gute Idee.“

„Das glaube ich dir. Wir haben ja seitdem nie wieder wirklich gesprochen ... du bist ja nicht mehr zur BAU zurückgekommen.“

„Nein, aber das hatte ja nichts mit euch zu tun.“

„Ich weiß“, sagte Cassandra.

„Es war nur sehr schwer. Es war schwer, weiter in dieser Wohnung zu leben. Nach Kalifornien zu gehen, hat vieles besser gemacht.“

„Das glaube ich dir. Ich bin froh, dass du so stark bist. Ich fand das immer schrecklich.“

„Inzwischen macht es mir nichts mehr aus“, sagte Sadie. „Es ist jetzt fast ein Jahr her. Irgendwie verrückt. Inzwischen denke ich kaum noch daran.“

„Das ist auch besser so. Wie geht es Matt?“

„Alles bestens. Er ist da an einer Sache mit einem Drogenboss dran.“

„Undercover ermitteln ... das klingt spannend!“

„Als ob wir als Profiler jemals Langeweile gehabt hätten.“

Cassandra lachte. „Das stimmt. Langweilig war es nie. Nick hat uns ein bisschen davon erzählt, dass du das hinten in L.A. auch machst.“

„Klar ... das kann ich eben am besten.“

„Toll, Sadie. Wirklich. Ich habe Menschen an weniger zerbrechen sehen.“

„Ich auch“, stimmte Sadie unbeeindruckt zu. „Wenn ich sarkastisch bin, sage ich immer: Übung macht den Meister.“

„Das ist aber wirklich sarkastisch.“

„Ich weiß. Das ist meine Art, damit umzugehen. Und Matt ist eine große Hilfe.“

„Ach, wenn ich das höre ... ich hätte auch gern wieder einen Freund!“

„Keiner in Aussicht?“

„Hm ... vielleicht“, sagte Cassandra uneindeutig.

„Hast du jemanden kennengelernt?“

„Ich habe ihn noch nicht persönlich getroffen, aber ja ... ich habe jemanden im Internet kennengelernt.“

„Ist doch toll“, sagte Sadie.

„Er heißt Lucas und kommt aus DC“, sagte Cassandra. „Wir wollen uns bald wieder treffen.“

„Glückwunsch! Seit wir uns kennen, warst du Single.“

„Ich hatte schon immer mal wieder Dates mit Männern, aber der Richtige war nicht dabei. Nicht so wie bei dir – der erste entpuppt sich gleich als Traumprinz!“

„Dafür hat er aber auch lang auf sich warten lassen“, erinnerte Sadie sie.

„Das stimmt. Aber kanntest du Matt nicht schon länger?“

„Sicher, aber anfangs war er noch in einer Beziehung.“

„Ja, so ist das immer. Man trifft den Prinzen und er ist vergeben ...“

„Damals war er noch nicht mein Traumprinz. Damals hat er mich immer mit geschmacklosen Kommentaren an Tatorten vergrault.“

„Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen!“ Cassandra lachte.

„Oh, glaub mir, das war grenzwertig. Er hat mich auch schon neben einer Leiche nach einem Date gefragt.“

Cassandra kam aus dem Lachen nicht mehr heraus. „Dein Mann?“

„Ja ... mein Mann. Wen habe ich mir da nur angelacht?“

„Matt ist toll“, sagte Cassandra. „Vielleicht habe ich jetzt mit Lucas auch Glück.“

„Ich würde es dir so wünschen“, sagte Sadie.

„Wäre mal eine tolle Abwechslung. So, aber jetzt genug getratscht. Ich schicke dir die Fallakte und du sagst mir, was du davon hältst, ja?“

„Mache ich“, versprach Sadie. „Ich halte dich auf dem Laufenden mit meiner unmaßgeblichen Meinung.“

„Die ist nicht unmaßgeblich. Irgendwas sagt mir, dass dieser Kerl Strangler-Format hat.“

„Dann sollte er sich besser warm anziehen!“, verkündete Sadie entschlossen. Cassandra bedankte sich noch einmal und legte auf. Weil ihre Mail Augenblicke später eintraf, ging Sadie davon aus, dass Cassandra alles schon vorbereitet hatte. So kannte sie ihre Kollegin. Cassandra hatte die Anhänge in der richtigen Reihenfolge angefügt und Sadie begann, sich durchzuarbeiten.

Das erste Opfer war Laurie Cooper, achtundzwanzig, Anwältin aus Bethesda. Sie war noch im Sommer des letzten Jahres nachts spurlos aus ihrer Wohnung verschwunden. In der Kanzlei hatte man sie am nächsten Tag vermisst und bei der Polizei eine Vermisstenmeldung aufgegeben. Laurie hatte keinen Freund, kein Haustier, sie war nicht krank gewesen oder hatte eine Reise geplant. In ihrer Wohnung war ersichtlich, dass sie sie ungeplant verlassen hatte. Die Nachbarn hatten sie noch am Vorabend nach Hause kommen sehen. Das war das letzte Lebenszeichen der Frau. Einbruchsspuren gab es nicht.

Ähnlich war es zwei Monate später Suzanne Holden ergangen, einer selbstständigen Fotografin Anfang Dreißig. Ihre Putzfrau hatte festgestellt, dass sie verschwunden war und sich bei der Polizei gemeldet. Suzanne kam aus Manassas, was gar nicht so weit von Bethesda entfernt war – und von Dale City, wie Sadie feststellen musste. Dort hatte sie doch mit Matt gewohnt.

Das dritte Opfer, Clara Belmont, war kurz vor Weihnachten in Rockville verschwunden. Sie war selbstständige Maklerin und ihre Nachbarn waren auf den tagelang winselnden Hund aufmerksam geworden. Da hatte die Polizei alle Fälle schon miteinander in Verbindung gebracht, aber das hatte ihr auch nicht geholfen. Gemeinsam hatten die Frauen nur, dass sie allein lebten, alle blond und etwa im selben Alter waren.

Opfer Nummer vier war Allison Michaels, eine Psychotherapeutin aus Arlington. Sie war vor etwa sechs Wochen spurlos verschwunden. Bisher war nur das Schicksal von Laurie Cooper geklärt, sie war Anfang der Woche von einem Jogger am Ufer des Potomac gefunden worden. Sadie öffnete das Dokument mit den Fundortfotos. Obwohl sie damit gerechnet hatte, etwas Schlimmes zu finden, hatte sie nicht mit dem gerechnet, was sie auf den Bildern zu sehen bekam. Sie sah eine ziemlich abgemagerte Frau, die rein äußerlich nicht mehr viel mit der Laurie Cooper vom Vermisstenfoto gemein hatte. Ihr Haar war verfilzt, sie hatte Blutergüsse am ganzen Körper, Schnittwunden, Hautabschürfungen an Hand- und Fußgelenken. Sie sah aus, als hätte man sie monatelang gefoltert.

Der dazu angehängte Obduktionsbericht legte es nahe. Sie war immer wieder vergewaltigt worden – und sie war zum Zeitpunkt ihres Todes schwanger gewesen, schon im dritten Monat. Sie war blutig ermordet worden, man hatte ihr die Kehle aufgeschnitten und sie einfach verbluten lassen. Sadie las aus den wenigen Informationen eine bodenlosen Hass auf Frauen und eine enorme Brutalität.

Aber sie verstand, warum Cassandra ihre Hilfe brauchte. Mit sadistischen Serienmördern, die Frauen entführten, kannte sie sich nun einmal am besten aus. Ihr hätten auch die Fakten über das Verschwinden der Frauen gereicht, um zu ahnen, dass sie es mit einem skrupellosen Serientäter zu tun hatten. Die erste Frage, die sich ihr stellte, war, wie er es geschafft hatte, die Frauen unbemerkt aus ihren Wohnungen zu entführen. Das war dreist und erforderte ein bestimmtes Maß an Planung. Sadie vermutete, dass die Frauen ihn hereingelassen hatten - also kannten sie ihn. Sie konnte der Polizei nicht mal übel nehmen, dass sie darüber noch nichts wusste, denn erst seit dem Fund der ersten Toten hatte der Fall eine bestimmte Tragweite erreicht. Sadie war sicher, dass man in den Wohnungen der Toten einen Hinweis auf den Täter finden konnte – vielleicht in ihrem Computer. Vielleicht gab es Mails vom Täter oder Hinweise in Datingportalen. Das hatten sie doch alles schon erlebt.

Oder er tarnte sich als Handwerker. Kaum hatte Sadie die Idee gehabt, verwarf sie sie wieder. Die Frauen waren alle nachts verschwunden. Wer machte abends einem Handwerker die Tür auf?

Sie musste das unbedingt herausfinden. Und sie fragte sich, warum er Laurie nach Monaten die Kehle aufgeschnitten hatte. Scheinbar liebte er es ja, Frauen zu entführen, gefangenzuhalten und zu foltern. Das machte ihm wohl über die Dauer Spaß. Sie kannte es von anderen Tätern, dass sie es als lohnend empfanden, ein Opfer möglichst lang gefangenzuhalten und es nicht gleich zu töten.

Dabei musste sie sofort an ihren Vater denken. Er hatte es so gemacht. Er hatte gesagt, dass das Versteck selten leer gewesen war. Irgendeine Frau hatte er dort immer eingesperrt. Nur die erste hatte er gleich in der ersten Nacht getötet.

Cassandra hatte recht. Sadie war sofort im Fall, sie kannte solche Typen. Sie wusste, worauf es ihnen ankam, was sie motivierte, wie sie dachten und handelten. Und der hier war wie die meisten – und doch irgendwie anders. Laurie Cooper war erst einen Tag tot gewesen, als man sie gefunden hatte. Das bedeutete, dass er sie die ganze Zeit über gehabt hatte, zusammen mit den anderen.

Mehrere Opfer auf einmal ... das war wirklich neu. Sadie studierte erneut die Wunden der Toten und überlegte. Die Frauen hatten ihn hereingelassen. Sie hatten ihm vertraut. Er war vielleicht gutaussehend – auf jeden Fall nicht hässlich. Vielleicht hatte er sich auch als Polizist ausgegeben.

Sie musste es wissen. Sofort suchte sie die Nummer der zuständigen Polizeidienststelle heraus und ließ sich mit dem ermittelnden Detective verbinden.

„Detective Morgan“, meldete sich eine tiefe, aber vertrauenerweckende Männerstimme.

„Special Agent Sadie Whitman vom FBI“, sagte sie. „Meine Kollegin Cassandra Williams hat mir die Akten im Fall Laurie Cooper und der anderen Frauen weitergeleitet.“

„Freut mich, dass Sie sich um den Fall kümmern. Wie kann ich dabei helfen?“

„Ich suche die Verbindung zwischen allen Fällen. Wer ist der Kerl? Warum haben die Frauen ihm alle die Tür geöffnet?“

„Fragen Sie mich was Leichteres. Wir wissen es nicht.“

„Haben Sie die Computer der Frauen überprüft?“

„Ein Techniker sitzt gerade dran. Er hat aber noch kein Ergebnis, soweit ich weiß.“

„Ich halte verschiedene Szenarien für denkbar. Sie könnten in Datingportalen aktiv gewesen sein, dort hat der Täter sie vielleicht gefunden. Oder er hat sich als Handwerker, Polizist oder anderweitig vertrauenswürdiger Mensch ausgegeben. Hatten die Frauen noch weitere Gemeinsamkeiten?“

„Nein. Keine Überschneidungen in jeglicher Hinsicht. Keine gemeinsamen Supermärkte, Arbeitswege oder Vereine. Das haben wir schon überprüft.“

„Okay. Wissen Sie, wann mit Ergebnissen vom Techniker zu rechnen ist?“

„Ich hoffe, er schafft das bis morgen, aber ich weiß es nicht.“

„Können Sie mir Bescheid geben, wenn Sie mehr wissen?“

„Kann ich machen. Wo erreiche ich Sie?“

Sadie diktierte ihm die Nummer, woraufhin der Mann stutzte. „Wo sitzen Sie, wenn ich fragen darf?“

„In Los Angeles. Ich war bis letztes Jahr aber auch bei der BAU. Meine Kollegen haben mich um Rat gebeten.“

„Also nehmen sie das ernst.“

„Das tun sie. Sehr sogar.“

„Was vermuten Sie denn?“

Sadie zögerte kurz. „Meine Kollegen zweifeln nicht daran, dass immer derselbe Täter dahintersteckt. Ich nehme an, bis zum ersten Leichenfund haben Sie das immer als Vermisstensache behandelt?“

„So ist es. Natürlich ist uns das irgendwann seltsam vorgekommen, aber wir hatten keine Anhaltspunkte. Wir können ja schlecht die schweren Geschütze auffahren, wenn wir keinerlei Hinweise auf ein Gewaltverbrechen haben.“

„Sicher“, sagte Sadie. „Deshalb hatten sie die Computer auch noch nicht untersucht, nehme ich an?“

„Nein, bisher sahen wir dazu keine Veranlassung. Ehrlich gesagt tappen wir im Dunkeln. Nur kam mir jetzt die Idee, dass das nicht nur ein Serientäter sein könnte, sondern sogar ein Serienmörder.“

„Die Vermutung liegt nahe“, sagte Sadie vage.

„Was denken Sie? Womit haben wir es zu tun?“

„Ich denke, dass dieser Täter ein machtbesessener Sadist ist, der die übrigen Frauen noch in seiner Gewalt hat. Er hat sie ausgekundschaftet, denn nur so konnte es ihm gelingen, sie so unbemerkt zu entführen. Ich halte es durchaus für möglich, dass er zuvor Kontakt mit ihnen aufgenommen hat. Er wusste ganz genau Bescheid und ihm ist noch kein Fehler unterlaufen.“

„Und dann glauben Sie, dass wir in den Computern etwas finden?“

„Sie würden sich wundern, welche Fehler ich schon bei ansonsten hochintelligenten Tätern erlebt habe.“

Er lachte. „Da haben Sie auch wieder recht. Ich halte Sie auf dem Laufenden.“

„Und Sie erfahren von mir oder meinen Kollegen, wenn wir ein Profil vorzuweisen haben.“

Der Detective bedankte sich und legte auf. Sadie überlegte, ob der Täter sich wirklich auf diesem Wege ertappen lassen würde – ob er tatsächlich auf einem nachvollziehbaren Weg Kontakt mit den Frauen aufgenommen hatte?

Sadie hatte dem Detective schon einiges gesagt, was sie bislang eigentlich als Vermutung bezeichnet hätte. Aber es konnte nicht anders sein. Er musste machtbesessen sein und er war auch ein Sadist. Er musste auch viel über seine Opfer wissen, sonst hätte er das alles nicht so geschickt anstellen können. Er hatte sie gestalkt. Er wusste, wer seine Opfer waren. Ihr war noch nicht ganz klar, warum er so viele Frauen auf einmal entführte und was er mit ihnen vor hatte, aber sie kannte solche Typen. Manche bekamen einfach den Hals nicht voll.

Sie konnte nicht viel tun, solange sie nicht wusste, ob der Täter mit seinen Opfern im Internet Kontakt aufgenommen hatte oder nicht. Klar war nur: Blonde Frauen zu verletzen war sein Ding.

Sadie versuchte, das alles nicht zu sehr an sich heran zu lassen. Es machte sie nervös, sich vorzustellen, dass dieser Typ ungestraft tun und lassen konnte, was er wollte. Dass er Frauen in seiner Gewalt hatte, denen er weh tun und Angst machen konnte. Das war eine Hölle, die man niemandem wünschten durfte.

Aber Sadie wusste auch, dass sie nicht jeden retten konnte. Sie konnte es nur versuchen.

Sie kniete sich tiefer in alle Unterlagen und versuchte, mehr über den Täter herauszufinden. Man hatte noch DNA-Spuren an Laurie sichern können und bereits einen Abgleich mit der Datenbank gemacht – ohne Erfolg. Sadie fiel es schwer, sich vorzustellen, dass dieser Kerl nicht vorbestraft war. Solche Typen legten doch eine bestimmte Karriere hin. Spannerei, sexuelle Belästigungen, irgendwann erste Übergriffe, dann Mord. Das steigerte sich.

Aber er wählte auch untypisch alte Frauen. Die meisten Serienmörder begannen in ihren frühen Zwanzigern mit dem Morden, aber diese Opfer hier waren älter. War der Täter es auch?

Sadie zerbrach sich den Kopf. Irgendwas passte da nicht. Sie fragte sich, ob vielleicht Lauries Schwangerschaft zu ihrem Tod geführt hatte. Vielleicht hatte das nicht in seinen Plan gepasst.

Aber für das, was er da tat, brauchte er Platz. Er brauchte ein gutes Versteck, wenn er mehrere Frauen so lang gefangenhielt. Was war das für ein Verrückter?

Sadie machte sich Stichpunkte. Sie fand es schwierig, das Alter des Täters einzugrenzen und sie fragte sich, wo und warum er die Frauen gefangenhielt. Wie stieß er auf sie? Wie brachte er sie dazu, ihm die Tür zu öffnen?

Sie machte sich Sorgen, dass er seine Spuren gut verwischt haben würde. Bisher war man ihm nicht auf die Schliche gekommen – konnte sich das so plötzlich ändern? Hatte er wirklich einen so dummen Fehler begangen?

Dabei hatte sie selbst schon erlebt, dass auch die klügsten Serienmörder Fehler machten. Ihr Vater hatte damals seine Flucht mit ihr minutiös geplant. Er hatte sie beobachtet und gewusst, dass sie kaum allein anzutreffen sein würde – aber auch, dass Matt ihr Schwachpunkt war. Dort hatte er sie getroffen. Er hatte gewusst, dass er verschiedene Fluchtwagen brauchte und war lange unter dem Radar geblieben, aber dann hatte er einen Wagen gestohlen, der GPS hatte.

Und Seans kapitaler Fehler, ihr Handy zu vergessen, hatte Sadie das Leben gerettet. Oder vielmehr seine Unachtsamkeit mit seinem eigenen Handy. Wenn sie es nicht geschafft hätte, es zu erreichen ...

Sie wollte es sich gar nicht vorstellen. Sean hatte ihr prophezeit, dass er sich Zeit für sie nehmen würde. Er hätte sie qualvoll in seinem Keller dahinsiechen lassen. Sie war so froh, dass sie es riskiert hatte, mit seinem Handy Hilfe zu rufen.

Und auch dieser Täter hier würde Fehler machen. Sadie musste ihn nur dabei ertappen. Ein Mörder konnte nicht alles wissen. Vielleicht führten digitale Spuren zu ihm und seinen Opfern. Sie hoffte es so sehr.

 

Besonders konzentriert war Sadie an diesem Tag wirklich nicht. Sie machte pünktlich Feierabend und begab sich auf den Heimweg. In diesem Augenblick war die Erinnerung an Sean zu allgegenwärtig. Das war nicht wirklich Cassandras Schuld, aber sie hatte den Gedanken noch verstärkt. Es war, wie Sadie gesagt hatte: Ihre Entführung durch Sean jährte sich in zwei Tagen. Das konnte sie nicht ignorieren, so sehr sie das auch versuchte. Und ausgerechnet jetzt bat Cassandra sie in einem ähnlichen Fall um Hilfe.

Manchmal war Sadie die ganze Welt leid – so auch an diesem trübgrauen Tag auf dem Heimweg. Es ernüchterte sie, zu sehen, dass es noch andere Kerle wie Sean gab und andere Opfer, die das durchmachen mussten, was sie erlebt hatte. Sie konnte damit umgehen, aber auch wenn es eine ferne Erinnerung war, war sie immer noch schmerzhaft, wenn sie erwachte.

Während sie hinter einem anderen Wagen vor der roten Ampel stand und auf Grün wartete, drehte sie den rechten Arm ein wenig zur Seite, so dass sie ihren Unterarm sehen konnte. Im Büro versteckte sie die Narben immer noch. Bislang war es ihr gelungen, sie zu verbergen.

Sie sah immer noch, wie Sean mit dem Messer über ihren Unterarm ritzte und beobachtete, wie das Blut über ihr Haut lief. Erst das Hupen des Wagens hinter ihr riss sie aus ihren Gedanken. Sie trat aufs Gas und rief sich zur Ordnung. Sie hatte keine Lust, auf dem Heimweg auch noch einen Unfall zu bauen.

Schließlich traf sie zu Hause ein und seufzte, als sie sah, dass noch niemand dort war. Matts Challenger stand zwar sowieso immer in der Garage, aber es war noch dunkel im Haus. Sadie schloss die Haustür auf und machte ein Lockgeräusch für die Katzen. Aus der Küche kam eine gemaunzte Antwort von Figaro.

„Da bist du ja“, sagte sie und ging in die Knie, als der Kater auf sie zulief. Sie wartete auf ihn und hob ihn auf den Arm, als er bei ihr war. Er begann sofort zu schnurren.

„Ich hab dich lieb, Kater“, sagte sie und vergrub die Nase in seinem Fell. Figaro rieb seinen Kopf an ihrem. Sadie trug ihn zum Sofa und setzte sich mit ihm. Sie lehnte sich hinterrücks an, so dass der Kater quer auf ihrem Oberkörper liegen konnte, und kraulte ihn hingebungsvoll. Figaro schloss genüsslich die Augen.

Sadie war so froh, die Katzen zu haben. Sie hätte sich ein Leben ohne die beiden nicht vorstellen können.

Ihr Blick fiel auf ihr Hochzeitsfoto, das an der gegenüberliegenden Wand hing, und fror auf ihrem Gipsarm fest. Unwillkürlich krallte sie ihre Finger in Figaros Fell. Der Kater nahm es ihr nicht übel.

Sie schloss die Augen und erinnerte sich daran, dass Sean tot war. Er hatte bekommen, was er verdiente.

Er hatte es ja auch nicht geschafft, sie zu vernichten. Er hatte es versucht, aber es war ihm nicht gelungen. Trotzdem hatte er sie verändert. Unbeschwert war sie nie gewesen, aber inzwischen gab sie sich nach außen abgeklärt und regelrecht kühl. Anders ging es nicht.

Sie zuckte zusammen, als die Haustür geöffnet wurde. Figaro hob den Kopf und sah Sadie fragend an, aber er hörte, dass es Matt war und interessierte sich deshalb nicht weiter für seine Ankunft.

Augenblicke später hörte Sadie Matt näherkommen. Er ging um das Sofa herum und setzte sich neben sie. Figaro beobachtete ihn durch seine Schlitzaugen und räkelte sich genüsslich, als Matt ihn ebenfalls zu kraulen begann.

„Was ist denn hier los? Flirtest du etwa mit einem anderen Mann?“, fragte er leise.

Sadie grinste. „Du bezeichnest Figaro als Mann?“

„Ist er etwa keiner?“

„Ein Kater.“

„Okay. Der Punkt geht an dich.“ Matt beugte sich vor. „Es ist so still und dunkel hier.“

„Ich musste eben mit Figaro flirten“, sagte Sadie.

„Du siehst traurig aus“, legte Matt gezielt den Finger in die Wunde.

Sadie seufzte unwillig. „Es ist nichts.“

„Ach komm. Dafür kenne ich dich zu gut.“

„Hast du mal auf den Kalender geguckt?“, erwiderte sie gereizt.

„Natürlich“, erwiderte er gelassen. „Hätte mich gewundert, wenn du es vergessen hättest.“

„Halt mich fest“, sagte Sadie und hielt die Luft an, um nicht losheulen zu müssen. Matt verstand und legte seine Arme um sie. Figaro fühlte sich gestört und rollte sich nun neben Sadie zusammen, so dass sie Matts Umarmung erwidern konnte.

Er küsste sie aufs Haar. „Das wird nie wieder passieren, Sadie. Nur über meine Leiche.“

„Ich weiß ... aber es tut einfach immer noch weh.“

„Denkst du, mir nicht?“, erwiderte er.

„Ja, schon klar ... das hat dich auch betroffen.“

Matt nickte bloß und krallte seine Finger in ihre Oberarme.

„Au“, sagte Sadie und er ließ sofort wieder los.

„Sorry.“

„Du bist ein Held. Du bist geblieben.“

Er nickte. „Natürlich. Ich wusste, dass ich trotzdem glücklich mit dir sein würde.“

Das war zuviel für Sadie. Sie begann, zu schluchzen und vergrub das Gesicht an Matts Brust.

„Mau?“, machte Figaro fragend.

„Ach, Kater“, sagte Matt und seufzte, während er Sadie beruhigend über den Rücken strich.

„Ich liebe dich“, sagte Sadie unter Tränen.

„Ich liebe dich auch“, sagte Matt. „Das weißt du, oder?“

„Und wie ich das weiß ...“

„Hey, alles gut. Denk nicht dran. Sean ist tot.“

„Ich weiß ... zum Glück. Das vergesse ich Phil nie.“

„Ich auch nicht. Aber du weißt, sonst hätte ich es getan.“

„Ich bin froh, dass du es nicht getan hast“, murmelte Sadie. „Das hätte dir den Hals gebrochen.“

„Du weißt, ich tue alles für dich“, sagte Matt.

Sie zuckte fast zusammen. „Sag sowas nicht.“

„Warum nicht?“, erwiderte er unbekümmert.

„Dann habe ich ein schlechtes Gewissen.“

„Musst du nicht. Ich liebe dich eben.“ Matt gab ihr wieder einen Kuss und stand auf. „Ich habe Hunger.“

„Ich auch“, erwiderte Sadie zaghaft.

Er ging in die Küche, spähte in den Kühlschrank und sagte: „Morgen steht eine Razzia an. Soweit ich weiß, wird Phil vor Ort sein.“

„Und du bist nicht dabei?“

„Nein, das ist was für die SWAT-Leute.“

Sadie wischte sich scheu über die Augen, holte tief Luft und stand auf. Sie ging hinüber zu Matt, legte einen Arm um ihn und warf ebenfalls einen Blick in den Kühlschrank.

„Wie wäre es mit Hot Dogs?“, schlug sie vor.

„Gute Idee. Das wäre jetzt genau meine Kragenweite“, sagte Matt und nahm die Würstchen aus dem Kühlschrank. Sadie ging auf die Suche nach Hot Dog-Brötchen und im Handumdrehen hatten sie einen leckeren Snack gezaubert.

„Es beruhigt mich ja irgendwie, dass du bei der Razzia morgen nicht dabei bist“, gab Sadie zu, während sie nebeneinander auf dem Sofa saßen und ihre Hot Dogs verspeisten.

„Hast du Angst, man könnte wieder auf mich schießen?“

„Klar“, sagte Sadie geradeheraus. „Das bräuchte ich nicht noch mal.“

„Ich übrigens auch nicht.“ Matt grinste. „Dabei findest du meine Narben doch sexy, oder?“

Sadie lachte. „Du bist so eigennützig, Matt.“

„Ist doch so. Nur Narben machen aus einem Mann einen echten Kerl.“

Sie prustete erstickt. „Und albern bist du auch.“

„Deshalb liebst du mich doch.“

„Deshalb?“, fragte Sadie skeptisch. „Na, ich weiß nicht.“

„Zumindest schmälert es deine Zuneigung nicht.“

Sie knuffte ihn in die Seite. „Manchmal bist du eine echte Nervensäge.“

„Ich weiß. Das macht eben zuviel Spaß! Und ich liebe es, wenn du über mich lachst.“

„Auch eine Sichtweise.“

Aber sie musste zugeben, dass er irgendwie recht hatte. Es war wirklich gerade seine unbekümmerte und alberne Art, die Sadie so mochte – und trotzdem nahm er sie immer ernst. Er hatte eine sehr gesunde Sichtweise auf die Welt – gesünder als ihre, das stand außer Frage. Seine bodenständige Art kam ihm auch bei seiner Arbeit zugute. Seit kurzem war er nun wieder draußen auf der Straße unterwegs, angesetzt mit einigen anderen Agents auf einen neuen Großdealer in South Central. Joey Baker wurde der neue Meth-König von Los Angeles genannt, er hatte in kurzer Zeit ein beachtliches Imperium auf die Beine gestellt und dealte darüber hinaus mit allen anderen Drogen, die er in die Finger kriegen konnte. Matt versuchte gerade noch, sich in das Imperium einzuschleusen, doch anscheinend hatten die Vorgesetzten bereits beschlossen, es Joey Baker mal ziemlich ungemütlich zu machen. Sadie wusste immer, woran Matt arbeitete, auch wenn er es ihr genaugenommen nicht hätte erzählen dürfen. Er beschloss, es zu ignorieren, weil sie nicht nur seine Frau, sondern selbst beim FBI war. So blieb es in der Familie.

„Wie war dein Tag?“, fragte Matt schließlich.

Sadie zuckte unschlüssig mit den Schultern. „Weiß nicht, ich war nicht besonders auf der Höhe. Cassandra hat mich heute Mittag angerufen und um Hilfe in einem Fall gebeten.“

„Wirklich? Ist ja lustig. Als hätte die BAU keine Profiler!“ Matt grinste.

„Die BAU hat genug Profiler, aber es geht um einen Sadisten, der Frauen entführt. Sie hat überlegt, ob sie mich fragen soll, aber Nick sagte ihr, sie soll es tun.“

„Verstehe“, sagte Matt ohne erkennbaren Unterton.

„Ich warte noch auf Infos von der Polizei.“

„Das kam dir heute bestimmt sehr gelegen.“

Sadie seufzte. „So etwas kommt mir nie gelegen. Aber ich helfe ihr natürlich.“

„Kann ich verstehen.“ Matt wischte sich die Finger ab und legte einen Arm um sie. „Sollen wir uns nachher einen Film ansehen?“

„Gern“, sagte Sadie. „Ich glaube, ich nehme jetzt erst mal ein Bad.“

„Gute Idee“, fand Matt. „Ich bin solange am Computer und blamiere mich noch ein bisschen vor Phil.“

„Du Armer“, neckte Sadie ihn. Sie gingen gemeinsam nach oben und während Sadie sich Wasser in die Badewanne einließ, ging sie ins Schlafzimmer, um sich bequemere Sachen zu holen. Dabei stellte sie fest, dass Mittens auf ihrer Bettdecke schlief.

„Hier bist du“, sagte Sadie, aber die Katze ignorierte sie. Als Sadie ins Bad zurückkehrte, warf sie einen Blick ins Nachbarzimmer und beobachtete Matt kurz beim Spielen. Er hatte sich Kopfhörer aufgesetzt und war ganz konzentriert in das Geschehen auf dem Bildschirm vertieft. Sadie konnte sich erinnern, dass sie in ihrer Jugendzeit auch immer wieder Computerspiele mit Gary gespielt hatte, aber das war lange her. Inzwischen konnte sie sich nicht mehr so sehr dafür begeistern, aber es störte sie nicht, wenn Matt es tat.

Schließlich legte sie sich in die Wanne und schloss die Augen. Vielleicht konnte sie so die Welt vergessen – die Welt und alle schrecklichen Dinge darin. Sie hätte nicht erwartet, wie sehr die bloße Tatsache, dass ihre Entführung sich jetzt jährte, sie aus dem Konzept bringen würde. Wenigstens hatte sie inzwischen einen guten Umgang damit gefunden – meistens zumindest. Momente der Schwäche waren wohl ganz normal.

Sadie hielt die Luft an und tauchte in der Wanne unter. Sie versuchte, sich treiben zu lassen und abzuschalten. Vielleicht half es auch, sich für das Wochenende etwas vorzunehmen. Ablenkung war gut.

Schließlich stieg sie wieder aus der Wanne, trocknete sich ab und band sich ein Handtuch um den Kopf. Sie hatte sich gerade angezogen, als sie das Klingeln des Telefons hörte. Sie lief nach nebenan und griff nach dem Telefon. Matt war zu vertieft in sein Spiel, er hatte das Telefon zwar gehört, konnte die Spielrunde aber nur schlecht unterbrechen.

„Whitman“, meldete sie sich.

„Hier ist Jo“, sagte ihre Cousine. „Immer noch seltsam, dass du jetzt einen anderen Namen hast.“

„Um ehrlich zu sein, gefällt es mir.“

„Das kann ich mir vorstellen. Weißt du, was mir gar nicht gefällt?“

Sadie grinste. „Lass mich raten: Dein dicker Bauch?“

Joanna lachte selbstironisch. „Allerdings. Ich weiß nicht, wie ich das noch fünf Wochen lang aushalten soll.“

„Das weiß ich auch nicht ... aber ich fürchte, du hast keine Wahl!“ Grinsend schlenderte Sadie mit dem Telefon am Ohr durch den Flur.

„Stör ich dich bei irgendwas?“

„Nein, du hast Glück, ich war vorhin in der Badewanne und jetzt sehe ich mit dem Handtuch auf dem Kopf aus wie ein persischer Sultan!“

Joanna amüsierte sich prächtig. „Ja, das kenne ich. Auch wenn mir die Geduld fehlen würde, mein Haar so lang zu tragen wie du.“

„Du weißt, eigentlich sind meine Haare pflegeleicht.“

„Und schön sind sie auch. Du wirst es nicht glauben, aber ich habe dich immer beneidet!“

Sadie lachte. „Das glaube ich wirklich nicht. Ich habe die Farbe früher gehasst.“

„Ich weiß. Damit konnte man dich prima hänseln.“

„Erinnere mich bloß nicht daran. Wie geht es dir?“

„Sagte ich doch eben. Ich hasse meinen Bauch!“

Während sie gemeinsam lachten, staunte Sadie darüber, dass sie es taten. Noch vor einem Jahr hätte sie sich nicht vorstellen können, dass es jemals dazu kam. Sie hatte immer mit Jo auf Kriegsfuß gestanden. Etwas anders verhalten hatte Joanna sich an Ostern, als Sadie mit Gipsarm und Ehering in Waterford aufgetaucht war. Joanna hatte kaum gewusst, wie sie Sadie begegnen sollte, denn sie hatte ja auch gewusst, was Sadie Wochen zuvor zugestoßen war. Aber das alles hatte sich aufgelöst, als Sadie versucht hatte, ihr hinsichtlich der ungewollten Schwangerschaft einen Rat zu geben. Da hatte Joanna gemerkt, dass sie mit Sadie sprechen konnte.

„Freust du dich denn?“, fragte Sadie ihre Cousine.

„Ja, schon irgendwie. Bestimmt manipulieren mich meine eigenen Hormone, aber ja, ich freue mich auf die Kleine.“

„Ich bin schon so gespannt. Hast du jetzt einen Namen?“

„Ja ... ich dachte an Michelle.“

„Verstehe“, sagte Sadie. „Das ist eine schöne Idee.“

„Ich weiß, Gary wollte den Namen auch nehmen, aber er bekommt ja ständig Jungs!“

„Das ist dann sein Pech“, sagte Sadie trocken. „Weiß Dad schon davon?“

„Ja, er mag die Idee. Immerhin war das ja auch Mums echter Name.“

„Ja ... ach, Mum. Sie hätte ihre Enkel so gern kennengelernt.“

„Sie hätte sie auch sehr geliebt. Sie fehlt mir.“

„Mir auch ... Ach, lass uns davon aufhören. Das macht mich nur traurig“, sagte Sadie.

„Ja, da hast du recht. Im Moment bist du bestimmt sowieso gestresst, oder?“

„Du meinst, weil es jetzt ein Jahr her ist?“, fragte Sadie unpräzise.

„Genau ... ich wusste nicht, wie ich es sagen soll.“

„Mehr, als mir lieb ist“, gab Sadie zu. „Aber du kannst es ruhig sagen. Du kannst ihn auch beim Namen nennen.“

„Ich finde es großartig, wie du damit umgehst.“

„Geht auch nicht anders. Sonst könnte ich mich ja erschießen.“

„Da hast du recht ... ich hätte mich auch erschießen können, als der Schwangerschaftstest positiv war. Und jetzt bin ich trotzdem glücklich!“

„So klingst du auch.“

„Schöner wäre es mit dem Vater dazu ... aber es geht schon. Ich freue mich riesig auf die Kleine! Nur vor der Geburt habe ich Angst.“

„Wer begleitet dich?“

„Weiß ich noch nicht ... ich hatte an Sandra gedacht, aber sie wohnt ja nicht gerade um die Ecke.“

„Und wenn du dich bei Dad einquartierst?“, schlug Sadie vor.

„Das ist eine gute Idee, weißt du das? Ich habe sowieso schon Urlaub gehortet bis zum Gehtnichtmehr und im Büro vereinbart, dass ich eine Woche vor dem Termin nicht mehr komme. Dann könnte ich zu Dad fahren.“

„Aber dann würde sie in Modesto geboren.“

„Kann sie ja. Das ist mir völlig egal.“

Sadie und Joanna unterhielten sich über zahlreiche Fragen rund um die Geburt. Sadie freute sich, dass sie inzwischen ein gutes Verhältnis zu ihrer Cousine hatte, denn so lebte es sich deutlich angenehmer. Sie freute sich auch, dass es Joanna mittlerweile so gut mit der Schwangerschaft ging. Anfangs war sie so unglücklich gewesen, was Sadie gut verstehen konnte. Aber jetzt war Jo zufrieden. Ihre gute Laune färbte auf Sadie ab, so dass sie besserer Stimmung war, als sie schließlich auflegte und ins Bad zurückkehrte, um ihr Haar zu bürsten und zu fönen.

Sie war noch gar nicht ganz fertig, als Matt in der Tür erschien und sie von hinten umarmte. Sie bemühte sich, ihn nicht mit dem Fön zu treffen, legte ihn schließlich beiseite und lächelte Matt an.

„Du bist irgendwie süß, weißt du das?“, sagte sie.

„Ich gebe mir Mühe. War das eben Jo?“

Sadie nickte. „Sie sagte, sie kann sich kaum noch bewegen.“

„So schlimm? Aber wir haben sie ja auch seit Weihnachten nicht gesehen.“

„Sie ist total glücklich. Das freut mich für sie.“

„Mich freut es, dass ihr endlich miteinander reden könnt, ohne euch die Augen auszukratzen“, sagte Matt.

„Ja, damit hätte ich nie gerechnet. Sie kann echt nett sein!“ Sadie bürstete sich die Haare und lächelte.

„Hab keine Lust mehr“, sagte Matt. „Phil hat mich wieder abgezogen. Jetzt wäre mir nach einem sinnlosen Actionfilm!“

„Gute Idee“, sagte Sadie. Danach stand ihr jetzt der Sinn.

 

 

Freitag

 

Sadie wollte gerade einen Schluck Wasser nehmen, als ihr Telefon klingelte. Sie stellte das Glas wieder ab und griff nach dem Hörer.

„Special Agent Sadie Whitman.“

„Guten Morgen, Agent Whitman, Officer Madden vom LAPD. Man sagte mir, dass Sie spezialisiert auf die Vernehmung traumatisierter Verbrechensopfer sind.“

„So in der Art“, erwiderte Sadie. „Worum geht es?“

„Letzte Nacht wurde ich zu einem Einsatz gerufen – ein prügelnder Ehemann hat seine Frau fast in ihre Einzelteile zerlegt. Sie liegt im Krankenhaus und ist ansprechbar, aber sie verweigert jede Aussage. Ich vermute, sie hat Angst.“

„Gibt es keine anderen Zeugenaussagen?“

„Doch, die Nachbarn haben eine Menge gehört. Aber sie verweigert nicht nur die Aussage, sie will ihn nicht mal anzeigen. So etwas habe ich schon gesehen. Wenn man da nicht aktiv wird ... der bringt seine Frau noch um.“

„Kann ich mir vorstellen“, sagte Sadie. „Und jetzt hoffen Sie, dass ich helfen kann.“

„Ja, das hoffe ich in der Tat ... Ich will diesen Kerl nicht davonkommen lassen, verstehen Sie?“

„Das verstehe ich gut. Ich kann mein Glück gern mal versuchen.“

„Perfekt. Ich hole Sie gern ab. Sie sind am Wilshire Boulevard?“

„Richtig. Ich kann unten auf Sie warten.“

„Ich denke, ich bin in zwanzig Minuten da. Wie finden wir uns?“

„Halten Sie Ausschau nach roten Haaren. Das dürfte nicht allzu schwer sein“, sagte Sadie grinsend.

„Okay. Bis gleich.“

Die Polizistin legte auf und Sadie tat es ihr gleich. Jetzt blieb ihr gar nicht mehr viel Zeit. Sie trank noch etwas, gab kurz ihrem Vorgesetzten Bescheid und fuhr mit dem Aufzug nach unten. Sie stand noch keine fünf Minuten unten, als eine junge Frau in Uniform von LAPD auf sie zuhielt und ihr die Hand reichte.

„Officer Shirley Madden“, sagte sie. „Sie hatten recht, man erkennt Sie ziemlich gut!“

Sadie lachte. „Die Haarfarbe kann auch ein Vorteil sein.“

Officer Madden grinste. Sie war brünett und trug ihr schulterlanges Haar zum Pferdeschwanz gebunden. Eine hübsche Frau, die eigentlich zu zerbrechlich für eine Polizistin wirkte. Gemeinsam verließen die beiden das Gebäude und setzten sich in den Streifenwagen, mit dem Officer Madden gekommen war. Sadie nahm auf dem Beifahrersitz Platz und gähnte verstohlen. Die Polizistin merkte es nicht. Sie fuhr los und konzentrierte sich anfänglich aufs Fahren.

„Ich hoffe, Sie können die Frau überzeugen“, sagte sie dann. „Ich war schon mehrmals dort, der Kerl ist ein prügelnder Säufer. Aber sie schafft es trotzdem nicht, ihn zu verlassen. Meist haben die Nachbarn uns gerufen. Wenn wir dann da sind, gibt er sich lammfromm und sie hat ihn auch noch nie angezeigt. Aber gestern ... er hätte sie auch totgeschlagen, wenn wir nicht gekommen wären.“

„Okay“, sagte Sadie. „Wie ist ihr Name?“

„Sie heißt Ava Hamill. Langsam muss da etwas passieren. Ich fürchte wirklich, dass er sie noch umbringt, wenn sie dort bleibt.“

„Wenn er sie so schwer verletzt hat, muss ich nicht unbedingt ihre Aussage darüber haben. Aber anzeigen sollte sie ihn.“

„Wir müssen sie davon überzeugen, zu handeln. Sie kann nicht bleiben und untätig zusehen, wie er sie zugrunde richtet. Das kann ich mir nicht ansehen – und ich habe gehört, dass Sie richtig gut sind in dem, was Sie machen.“

„Wer hat Ihnen das gesagt?“, fragte Sadie.

Madden zuckte mit den Schultern. „Das hat schon so die Runde gemacht. Kann ich Ihnen nicht mehr sagen. Es hieß nur immer, dass wir uns an Agent Whitman vom FBI wenden sollen, wenn wir mal irgendwie nicht weitergkommen – sei es mit einer Aussage oder überhaupt mit Ermittlungen. Als ich vorhin Ihre Nummer gesucht habe, war ich erst irritiert und wusste nur, dass ich richtig bin, weil Sie eine Frau sind.“

„Verstehe“, sagte Sadie. „Sie sind noch über Matt Whitman gestolpert.“

„Richtig. Aber er konnte es nicht sein.“

„Nein, das ist mein Mann.“

„Oh!“ Madden lachte. „Dann hätte er mir ja auch sagen können, wer mir helfen kann.“

„Ja, das hätte er. Aber er arbeitet in einer ganz anderen Abteilung.“

„Haben Sie sich beim FBI kennengelernt?“, fragte die Polizistin.

„Nein, wir kannten uns vorher schon. Wir waren vorher beide bei der Polizei. Er ist mir zum FBI gefolgt.“

Die Polizistin pfiff durch die Zähne. „Nicht schlecht. Dann habe ich es ja wirklich mit einer Kollegin zu tun. Wie lang waren Sie bei der Polizei?“

„Ein paar Jahre“, sagte Sadie und wusste, jetzt hatte sie den Respekt der Polizistin sicher.

„Toll. War das auch hier?“

„Nein, das war oben in Waterford, in der Nähe von Modesto.“

„Ja, das kenne ich. Kleinstadt, was?“

„Ja, das ist nicht ganz wie hier.“

„Man lebt vermutlich sicherer!“

Sadie grinste. „Schon, ja. Es ist ruhiger.“

„Keine prügelnden Ehemänner?“

„Selten“, sagte Sadie. „Kommt aber auch vor.“

„Das Böse ist überall“, orakelte Madden. Sadie sagte nichts dazu. Sie überlegte, ob sie noch weitere Infos über Ava Hamill brauchte, aber sie glaubte, dass sie auch ohne zurechtkam. Sie wusste aus eigener Erfahrung, wozu prügelnde Ehemänner in der Lage waren – und dass die betroffenen Frauen voller Furcht waren. Das hatte sie an ihrer Mutter gesehen.

Sie erreichten das Krankenhaus und Sadie folgte Officer Madden bis zu dem Zimmer, in dem die Frau lag. Auf der Station duftete es nach Kaffee, eine Schwester lief hastig an ihnen vorbei. Dann betraten sie Avas Zimmer.

Sie war allein dort. Sadie schluckte kurz, als sie die Frau sah. Sie war gerade dreißig, zumindest vermutete sie das. Die Schätzung fiel ihr schwer, denn schon ihr Gesicht war grün und blau geschlagen. Beide Augen waren dick angeschwollen, eine Augenbraue und die Lippe aufgeplatzt, die Nase gebrochen. Darüber hinaus waren Verbände an ihren Armen und ein zusätzlicher Gips sichtbar. Sadie hatte eine ungefähre Ahnung, wie ihr Mann gewütet haben musste.

„Guten Morgen, Ava“, sagte Officer Madden. „Geht es Ihnen besser? Haben Sie noch Schmerzen?“

Ava nickte nur. Der Fernseher war ausgeschaltet, deshalb war es still auf dem Zimmer.

„Ich habe jemanden mitgebracht, Agent Whitman vom FBI“, sagte die Polizistin. „Sie kennt sich mit Fällen wie Ihrem aus.“

Sadie nickte, auch wenn das nicht so ganz stimmte. Allerdings wollte sie Ava nicht erschrecken. Sie musste nicht wissen, dass sie normalerweise Serienmörder jagte.

Sadie und die Polizistin setzten sich neben das Bett. Shirley hielt sich zurück und überließ Sadie das Wort.

„Ich habe gehört, was gestern passiert ist“, sagte Sadie. „Es tut mir sehr leid, dass es dazu gekommen ist.“

„Ist ja nicht Ihre Schuld“, sagte Ava heiser.

„Es tut mir trotzdem leid. Ich kann mir vorstellen, dass das alles sehr weh tut.“

Unentschlossen zuckte Ava mit den Schultern. „Geht schon. Muss ja. Aber warum ist das FBI hier?“

„Dass ich vom FBI bin, ist gar nicht weiter wichtig“, sagte Sadie. „Aber ich habe schon mit Frauen gesprochen, denen Ähnliches zugestoßen ist wie Ihnen.“

„Dann wissen Sie ja, was passiert ist.“

Sadie schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, was Ihnen passiert ist. Aber ich würde es gern wissen.“

„Ich will nicht darüber reden.“ Ava mauerte sofort wieder.

„Wie heißt Ihr Mann?“

„Mason“, erwiderte Ava knapp.

„Wie lang kennen Sie sich?“

„Schon eine Weile.“

„Hat er Ihnen schon einmal gesagt, dass er Sie liebt?“, fragte Sadie. Irritiert kniff Ava die Augen zusammen.

„Sie stellen ja komische Fragen.“

„Ja, weil ich Sie kennenlernen will.“

„Mich kennenlernen?“

Sadie beugte sich vor und sah Ava für einen Moment nur an. „Können Sie sich daran erinnern, dass er es Ihnen gesagt hat?“

Ava holte tief Luft und dachte nach. „Keine Ahnung. Ist bestimmt schon eine Weile her.“

„Finden Sie das gut?“

Die Frau zuckte zaghaft mit den Schultern. „Nein, irgendwie nicht. Aber so ist er eben.“

„Warum nehmen Sie ihn in Schutz?“ fragte Sadie.

„Er ist kein schlechter Mensch.“

„Das vielleicht nicht ... aber er ist der Mensch, der Ihnen gestern den Arm und die Nase gebrochen hat. Das tut weh, das weiß ich. Und ich meine nicht nur den Schmerz, wenn ein Knochen bricht. Das verletzt auch die Seele.“

Ihr entging nicht, wie Officer Madden hinter ihr zusammenzuckte, wohingegen Ava ganz ruhig blieb.

„Und woher wollen Sie das wissen?“

„Ich hatte auch schon den Arm in Gips. Und ich kann mich erinnern, dass mein Vater meine Mutter ins Krankenhaus gefahren hat, nachdem er ihr auch den Arm gebrochen hat.“

„Tatsächlich?“, fragte Ava skeptisch.

Sadie nickte. „Mein Vater war kein Trinker, aber er war herrisch und brutal. Meine Mutter hat sich nie getraut, ihn zu verlassen, auch wenn er uns Kinder geschlagen hat.“

„Das sagen Sie doch jetzt nur.“

„Nein. Das ist wirklich passiert.“

„Hm“, machte Ava. „Was ist aus ihm geworden?“

„Er ist ins Gefängnis gekommen“, sagte Sadie.

Ava schluckte. „Hat Ihre Mutter ihn angezeigt?“

„Dazu ist sie nicht mehr gekommen.“

„Was ... was hat er gemacht?“ fragte Ava.

„Er hat sie erschossen.“ Sadie straffte die Schultern und sah Ava geradeheraus an.

„Ich glaube Ihnen nicht.“

„Das können Sie aber. Ich war damals elf. Ich wünschte, meine Mutter wäre viel früher zur Polizei gegangen. Er wurde bestraft, aber für sie kam es zu spät.“

„Und was wurde dann aus Ihnen?“, fragte Ava.

„Ich bin bei Verwandten aufgewachsen. Sie haben keine Kinder, oder?“

Ava schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Ansonsten würde ich Ihnen jetzt auch befehlen, zu handeln. Aber auch, wenn Sie keine Kinder haben – Sie müssen etwas tun. Wollen Sie riskieren, dass er irgendwann nicht mehr weiß, wann er aufhören muss?“

„Er ist kein böser Mensch ...“

„Ava, er hat Ihnen den Arm gebrochen. Er hat sie verprügelt. Ich weiß, wie das vonstatten geht. Wahrscheinlich hat er Sie noch getreten, als Sie am Boden lagen, oder?“

Sadie merkte, dass Shirley dazwischengehen wollte, aber sie achtete nicht auf sie. Was sie da tat, war gewagt, aber bei Gewaltopfern wie Ava Hamill waren Samthandschuhe am falschen Platz. Sie würde ihren Mann noch schützen, wenn er ihr eine Waffe an den Kopf hielt. Das ging nicht.

Eine Träne löste sich aus Avas Auge. „Sie haben das wirklich erlebt, oder?“ fragte sie.

Sadie nickte. „Ich habe Sie nicht angelogen. Ich bin Polizistin und FBI-Agentin geworden, um Menschen vor dem zu schützen, was mir passiert ist. Lassen Sie mich Ihnen helfen, Ava.“

„Aber ich liebe ihn ...“

„Er verdient Ihre Liebe nicht, Ava. Männer, die ihre Frauen lieben, schlagen sie nicht. Sie brüllen sie nicht an. Sie beschimpfen sie nicht. Nein, sie ...“ Sadie suchte nach Worten. „Sie sagen Ihnen, dass sie sie lieben, sie helfen ihnen, sie hören ihnen zu und trösten sie, wenn es ihnen schlecht geht. Sie nehmen sich zurück und sie lassen ihre Frauen spüren, dass sie ihnen wichtig sind. Sie trampeln nicht darauf herum, verstehen Sie? Jeder Mann muss sich die Liebe einer Frau verdienen und er darf sie nicht schlagen. Nicht auch nur ein einziges Mal. Das hat keine Frau verdient.“

„Aber er hat gesagt, dass ich es verdiene ...“

Sadie schüttelte den Kopf. „Nein, Ava. Nichts, was sie getan haben, rechtfertigt, dass er sie zusammenschlägt. Das darf er einfach nicht.“

„Aber was wird er tun, wenn ich ihn verlasse?“, fragte Ava mit zitternder Stimme.

„Ich werde Ihnen sagen, was Sie tun müssen.“ Sadie holte tief Luft. „Sie zeigen ihn an. Hier und jetzt. Sie sagen uns, was er getan hat. Wir brauchen Ihre Aussage. Ich nehme an, er sitzt in Untersuchungshaft?“ Sie drehte sich um zu der Polizistin.

„Ja, bis heute Nacht“, sagte Madden.

Sadie blickte wieder zu Ava. „Er wird im Gefängnis bleiben, wenn Sie jetzt mit uns reden. Er wird bestraft und Ihnen kann nichts mehr passieren.“

„Aber er kommt irgendwann wieder raus ...“

„Wir können Sie beschützen, Ava. Es gibt richterliche Anordnungen und wenn es sein muss, gibt es auch Zeugenschutzprogramme. Sie müssen sich nie wieder schlagen lassen. Nicht ein einziges Mal. Sie sind ein liebenswerter Mensch und Sie verdienen das nicht.“

Plötzlich begann Ava zu schluchzen. „Ich habe solche Angst ...“

„Ich weiß. Die hatte meine Mutter auch. Ich wünschte, sie hätte keine Angst gehabt, dann wäre sie jetzt noch am Leben.“

„Ist Ihr Vater noch im Gefängnis?“

Sadie schüttelte den Kopf. „Er ist tot. Er tat mir nicht eine Sekunde lang leid.“

„Wie konnte er das tun? Seine eigenen Kinder ...“

„Es ist egal, ob es die Frau oder die Kinder trifft. Kein Mann darf so etwas tun. Eine Familie verdient man sich ... und man muss sich um sie kümmern. Sie verdienen auch einen Mann, der sich um Sie kümmert.“

Ava schniefte, dann liefen ihr die Tränen über die Wangen. „Aber ich habe ihn immer geliebt ... ich kann nicht ohne ihn leben!“

„Sie können“, sagte Sadie. „Meine Mutter hatte auch immer Angst davor, mit drei Kindern allein dazustehen. Aber alles, wirklich alles wäre besser gewesen als das, was passiert ist. Und ich habe Angst, dass Ihnen das auch irgendwann passiert, Ava.“

„Er würde nicht ...“

„Er würde was nicht?“, unterbrach Sadie sie. „Ihnen weh tun? Sie töten? Doch, er würde. Das sehen Sie doch. Er hat sie schon oft geschlagen, das weiß ich. Und es wurde langsam immer schlimmer. Er weiß nicht, wann Schluss ist. Sie müssen jetzt den Schlussstrich ziehen.“

Ava schluchzte laut. „Ich kann nicht ...“

„Doch, Sie können. Sie sind stärker, als Sie glauben. Das haben Sie nur vergessen.“

Zitternd wischte Ava sich über die Wangen. „Er ist doch mein Mann.“

„Wer seine Frau schlägt, hat sie nicht verdient. Kommen Sie. Sie können uns vertrauen. Sagen Sie uns, was passiert ist und zeigen Sie ihn an.“

„Bitte“, fügte Shirley hinzu.

Ava schniefte und nickte schließlich. „Also schön ...“

 

„Puh“, machte Shirley Madden. „Sie sind aber wirklich hart rangegangen. Damit hatte ich nicht gerechnet ...“

„Ich mache das anders als die meisten“, sagte Sadie, während sie neben Shirley zurück zum Ausgang des Krankenhauses ging. „Man muss zwar Verständnis zeigen, aber in solchen Fällen braucht es auch ein wenig konfrontative Härte. Wenn man der Frau nicht klar macht, womit sie es zu tun hat und dass er sie vielleicht irgendwann umbringt, dann passiert das wirklich.“

„Ja ... ich meine, ich habe ja gesehen, dass es funktioniert, auch wenn ich das nicht geglaubt hätte. Zwischendurch dachte ich ein paar Mal, Sie gehen zu weit ...“

Sadie lächelte. „Man ist es nicht gewöhnt. Er hat sie beinahe totgeschlagen und der natürliche Reflex ist, sie mit Samthandschuhen anzufassen. Aber wir mussten ihr die Konsequenzen klar machen, wenn sie selbst keine zieht.“

„Es hat geklappt. Jetzt bleibt er in U-Haft.“

„Und das ist auch gut so.“

Die Schiebetüren öffneten sich, als die beiden näher kamen und das Krankenhaus verließen. Sadie war vollkommen entspannt und zufrieden. Das hatte gut funktioniert.

„Was Sie da gesagt haben ... stimmte das wirklich? Das mit Ihrem Vater, meine ich“, fragte Madden zaghaft.

„Ja, das stimmte wirklich“, sagte Sadie. „Mein Vater hat meine Mutter geschlagen und er hat sie irgendwann erschossen. Sie und meine Geschwister und mich auch beinahe.“

„Oh Gott ...“

„Hm“, machte Sadie achselzuckend. „Er kann niemandem mehr etwas tun. Aber ich habe ihn gern bemüht, um Ava zu zeigen, worum es hier geht. Scheinbar hat es geholfen.“

„Das war wirklich krass. Aber die Kollegen hatten recht, Sie können das.“

„Danke“, sagte Sadie und spürte, wie sie errötete.

„Ist das damals in Waterford passiert?“, fragte Shirley.

Sadie schüttelte den Kopf. „Nein, das war in Oregon. Es ist lange her.“

„Und Sie sind wirklich deshalb Polizistin geworden?“

„Ja. Irgendeinen Grund hat doch jeder von uns.“

„Stimmt ... aber nicht so einen.“

„Nein, das hoffe ich doch.“ Sadie öffnete die Beifahrertür und setzte sich. Shirley schnallte sich an, startete den Motor und fuhr los.

„Ist bestimmt nicht leicht, die eigene Geschichte als Türöffner zu verwenden.“

„Ich mache das auch eigentlich nicht gern, aber besonders in solchen Fällen hilft es. Opfer häuslicher Gewalt fühlen sich ja unverstanden. Alle Welt sagt ihnen, sie sollen sich trennen, dabei sind sie dazu nicht in der Lage. Ich konnte so offen mit ihr sprechen und ihr die Konsequenzen vor Augen führen, weil ich weiß, wovon ich rede. Das macht mich glaubwürdig.“

„Stimmt. Wenn ich ihr dasselbe gesagt hätte, hätte das vermutlich nicht funktioniert.“

„Nein“, sagte Sadie. „Und wie Sie gesehen haben, dauert es nicht einmal lang, jemanden zu knacken. Man muss nur wissen, wie.“

„Sie haben Psychologie studiert, oder?“

Sadie nickte. „Ich war ja ursprünglich bei der Behavioral Analysis Unit.“

„Was, die Einheit, die nach Serienmördern sucht?“, fragte Madden überrascht.

„Richtig. Deshalb bin ich so einiges gewöhnt ...“

„Das glaube ich Ihnen. Aber egal, mir ist bloß wichtig, dass dieser Mann in den Knast geht. Ich werde ja nie verstehen, warum verprügelte Ehefrauen ihre Männer decken.“

Sadie seufzte. „Das ist mangelndes Selbstwertgefühl. Sie glauben, das irgendwie verdient zu haben oder selbst schuld zu sein. Ich kann mich erinnern, dass meine ältere Schwester meine Mutter irgendwann gefragt hat, warum sie nicht geht. Meine Mutter hatte einfach Angst. Sie fühlte sich abhängig von meinem Vater. Er beherrschte auch dieses Wechselspiel, das die meisten Haustyrannen beherrschen: Schläge und anschließender Trost. Hat er sie an einem Abend geschlagen, hat er ihr am nächsten Blumen mitgebracht. Meine Mutter konnte sich nie von ihm lösen.“

„Aber dass er dann einfach seine ganze Familie tötet ...“

„Er war ein Bilderbuchsoziopath“, sagte Sadie.

„Dafür können Sie anderen jetzt wirklich helfen.“

„Das hoffe ich doch“, sagte Sadie.

Wenig später hatten sie das FBI-Gebäude erreicht und Shirley setzte Sadie dort ab, nachdem sie sich noch einmal bedankt hatte. Sadie winkte ihr zum Abschied und ging ins Gebäude.

Ja, sie hatte Ava ziemlich hart rangenommen, aber das war auch ihre Strategie gewesen. Als jemand, der selbst betroffen gewesen war, durfte man so sprechen. Und in solchen Fällen war es wichtig, den Frauen aufzuzeigen, dass ihr Mann sich niemals ändern würde. Darauf hofften die Frauen ja. Sie glaubten den immer wiederkehrenden Versprechungen ihrer prügelnden Männer und lieferten sich ihnen aus. Sadie hatte Ava erst sagen müssen, dass sie etwas Besseres verdient hatte. Das war Ava selbst nicht klar.

Die junge Frau hatte lang mit ihnen gesprochen. Sadie drehte nur noch eine kurze Runde durch die Kantine und holte sich ein Sandwich, denn die Essensausgabe war fast geschlossen. Als sie ins Büro kam, hatten sich einige ihrer Kollegen um einen Tisch geschart und schienen Kriegsrat zu halten.

„Was ist denn hier los?“, fragte Sadie.

„Die Kollegen vom SWAT sind unterwegs zu ihrer Razzia“, sagte McNamara. „In die Ermittlungen sind ja mehrere Abteilungen involviert.“

„Ich weiß“, sagte Sadie.

„Haben Sie nicht selbst einen Bekannten beim SWAT?“

Sie nickte. „Vermutlich ist er jetzt dort.“

„Ich hoffe, die Sache ist von Erfolg gekrönt. Wie ist es vorhin gelaufen?“

„Ich habe eine verprügelte Ehefrau dazu gebracht, ihren Mann endlich anzuzeigen“, sagte Sadie.

„Ah, sehr gut. Ich werde immer wieder auf Sie angesprochen, wussten Sie das?“

Überrascht sah sie ihn an. „Nein, das wusste ich nicht.“

„Sie werden hier als Geheimwaffe für die harten Fälle gehandelt“, sagte er. „Das dürfen Sie als Kompliment verstehen.“

„Danke“, sagte sie und errötete.

„Gehen Sie heute ruhig früher nach Hause, wenn Sie wollen. Das haben Sie auch mal verdient!“

Sadie fühlte sich immer unbehaglicher und stahl sich schließlich zu ihrem Schreibtisch davon. Sie hoffte, dass sie noch etwas für Cassandra auf die Beine stellen konnte. Sie nahm sich noch einmal alle Unterlagen vor und begann, kreuz und quer zu überlegen. Ein Sadist, der seine Opfer stalkte, sie ausspionierte und dann entführte, um sie gefangenzuhalten.

Sie war ziemlich sicher, dass die übrigen Opfer noch lebten und sie vermutete auch, dass der Täter aus dem Großraum Washington, D.C. kam. Alle Opfer stammten daher. Er agierte in seiner Wohlfühlzone – und er hatte Möglichkeiten.

Vielleicht war er im gleichen Alter wie seine Opfer. Dafür sprach, dass er Platz und Gelegenheit haben musste, die Frauen irgendwo einzusperren. Mehrere Frauen gleichzeitig über Monate gefangenzuhalten, war nicht unkompliziert.

Aber was bezweckte er damit?

Sie fühlte sich unwillkürlich an die Mexikanerinnen erinnert, die auch über Monate gefangengehalten worden waren, um Kinder zur Welt zu bringen. Das konnte sie hier ausschließen, denn Laurie war schwanger gewesen und trotzdem – oder gerade deshalb – ermordet worden.

Sie stellte sich einen Täter wie Gary Heidnik vor – mit einem ausreichend großen Selbstbewusstsein, um mehrere Frauen gleichzeitig gefangenzuhalten und die Gewalt über sie zu haben. Das gab ihm etwas. Er war gerade erst auf den Geschmack gekommen.

Sadie überlegte, ob man ihn anderweitig finden konnte. Wer mehrere Menschen gefangenhielt, brauchte auch Dinge. Sie begann, die Fallakten erneut durchzusehen, um herauszufinden, ob eine der Frauen eine Krankheit hatte. Vielleicht musste er Medikamente besorgen.

Doch Fehlanzeige. Auf diesem Wege kam sie nicht weiter. Seine Handschrift war eigentlich eindeutig. Sie griff noch einmal nach Lauries Obduktionsbericht und überflog, was der Gerichtsmediziner festgestellt hatte. Sie war vergewaltigt worden und ihr Körper wies die Folterspuren auf, die man erwartet hätte.

Sadie kannte das alles. Das hatte sie schon gesehen. Und trotzdem fiel es ihr schwer, sich zu überlegen, mit wem sie es zu tun hatten. Er war selbstbewusst und hatte alle Möglichkeiten, die er brauchte. Das sprach für ein bestimmtes Alter – und eine gewisse Vorerfahrung. Sadie schrieb auf, dass alle einschlägig Vorbestraften in der Gegend überprüft werden mussten. Sie verstand nur noch nicht, warum man per DNA-Abgleich noch niemanden gefunden hatte. Wenn er vorbestraft war, hatte man doch die DNA. Zumindest, wenn es um Vergewaltigungen ging.

Irgendetwas verstand sie an dem Fall noch nicht.

Der Täter musste intelligent und organisiert sein, zumindest machte er es den Ermittlern ausreichend schwer, ihm auf die Spur zu kommen.

Es fiel Sadie jedoch ausnehmend schwer, mehr als das zu formulieren. Trotzdem beschloss sie, sich damit zu begnügen, bis sie mehr von der Polizei hörte, und schickte Cassandra eine Mail mit allen Vermutungen, die sie bisher hatte.

Ich weiß, das ist noch nicht viel und außerdem nichts, worauf du nicht auch selbst gekommen wärst. Aber ich warte noch auf Rückmeldung von der Polizei, die Computer der Opfer werden noch überprüft, schrieb sie Cassandra.

Als sie damit fertig war, überlegte sie, ihren Chef beim Wort zu nehmen und nach Hause zu gehen. Sie war froh, dass er zufrieden mit ihrer Arbeit war – und erleichtert, dass er immer noch nicht wusste, wen er da eigentlich vor der Nase hatte. Das hätte sie nicht gewollt. Zumindest hatte er sich nie etwas anmerken lassen und das war genauso gut.

Sie begann mit ihrem kurzen Bericht über ihren Amtshilfebesuch an diesem Tag und war noch nicht ganz fertig, als es laut hinter ihr wurde. Weil sie sowieso gerade in die Teeküche gehen wollte, stahl sie sich betont unauffällig an den Kollegen vorbei.

„Was ist passiert?“, fragte sie.

„Die Razzia ist fast in die Hose gegangen. Ein Toter und der Hauptverdächtige ist nicht mal dort.“

„Wurden wenigstens Beweise sichergestellt?“

„Genügend. Trotzdem ist das seltsam, jetzt haben so viele Abteilungen daran mitgearbeitet und die Information lautete, Joey Baker wäre vor Ort. Aber er war es nicht.“

„Und der Tote ist wer?“, fragte Sadie. „Einer von uns?“

„Nein, das nicht. Ach, verflixt. Das hätte anders laufen sollen.“

Sadie machte ein betroffenes Gesicht und ging weiter in die Teeküche. Wenig später fuhr sie ihren Computer herunter und machte sich auf den Heimweg. Sie nahm sich vor, Phil anzurufen und ihn nach der Razzia zu fragen.

Zuerst ging sie auf dem Heimweg jedoch noch einkaufen. Sie hatte gerade Zeit und die wollte sie nutzen. Sie hatten einen netten Supermarkt in ihrem Viertel, in dem zu diesem Zeitpunkt auch nicht besonders viel los war. Manchmal liebte sie es, dort entspannt durch die Gänge zu schlendern und in Ruhe einzukaufen.

Alles, was normal war, war ihr recht. So war sie immer gewesen. Was andere Menschen langweilig fanden, war für sie eine Wohltat. Adrenalin hatte sie bei der Arbeit genug. Darin unterschied sie sich auch nicht wirklich von Phil.

Sie brachte ihre Einkäufe in den Wagen, fuhr nach Hause und räumte alles ein. Es war erst kurz vor fünf und es würde noch dauern, bis Matt kam, deshalb schrieb sie Phil eine Nachricht. Vielleicht hatte er ja auch schon frei. Nach einem Einsatz war das gar nicht so unwahrscheinlich.

Sie freute sich für ihn, dass er nun tun konnte, wovon er immer geträumt hatte. Sicherlich machte er seine Sache als Scharfschütze sehr gut , schließlich hatte sie ihn dabei auch schon beobachtet.

Das Klingeln ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken. Sie grinste, als sie Phils Foto sah und ging dran.

„Schon Feierabend?“, fragte sie.

„Ja, bin gerade zu Hause reingekommen. Störe ich?“

„Nein, gar nicht. Die Razzia war großes Thema bei uns.“

„Kann ich mir denken. Masterson meinte vorhin, ich sei tödlich.“

Sadie stutzte kurz. „Hast du jemanden erschossen?“

„Ja. Ich dachte, das wusstest du schon.“

„Nein, ich hatte keine Ahnung, dass du das warst. Du bist aber wirklich tödlich, Phil.“

Er lachte. „Stimmt schon irgendwie. Aber ja, es läuft gut. Ich bin zufrieden.“

„Das ist gut zu hören. Wirklich. Ich bin froh, dass du mit hergekommen bist.“

„Ich auch. Wenn ich mir jetzt vorstelle, ich säße immer noch in Waterford ...“ Er lachte.

„Dort war es auch immer schön. Aber anders.“

„Stimmt. Damals hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich irgendwann Sniper beim FBI bin.“

„Und jetzt bist du es. Wen hast du heute erschossen?“

„Mick Baker, das ist Joey Bakers Bruder. Der war natürlich überhaupt nicht da. Jetzt sind wir noch keinen Schritt weiter!“

Sadie lachte. „So ist das doch immer irgendwie. Aber den werdet ihr auch noch finden.“

„Bestimmt. Die Frage ist nur, wann! Aber das ist nicht mein Problem. Ich freue mich jetzt erst mal wieder auf den Papierkrieg wegen Mick Baker ...“

„Was ist passiert?“, fragte Sadie.

„Er ist mit einem Baseballschläger auf Miller los, deshalb habe ich geschossen.“

„Klarer Fall.“

„Ja, sicher. Aber Papierkram ist das trotzdem immer.“

„Ja, ich weiß. Ich hatte die Ehre ja auch schon.“

„Sehen wir uns am Wochenende?“, fragte Phil.

„Hast du frei?“

„Ja, Amelia hatte vorgeschlagen, dass wir gemeinsam etwas unternehmen.“

„Sicher. Ich spreche mit Matt und sage Bescheid.“

„Okay. Viele Grüße, ja?“

„Richte ich aus. Schönen Abend, Phil.“

„Danke, dir auch.“

Sie legte auf und holte tief Luft. Da hatte Phil also schon wieder jemanden erschossen. Sie fand das unproblematisch, solange es ihm nichts ausmachte. Und das schien nicht der Fall zu sein. Er konnte damit umgehen, seit er den ersten Menschen erschossen hatte.

Sie begann, ein wenig aufzuräumen und war gerade fertig, als sie eine Nachricht von Matt erhielt. Sind noch dran. Warte nicht auf mich, aber ich sehe zu, dass ich so bald wie möglich komme.

Darüber wunderte Sadie sich nicht. Vermutlich berieten Matt und seine Kollegen sich noch, weil die Razzia nicht so funktioniert hatte wie geplant. Das war auch mehr als ärgerlich.

Plötzlich musste Sadie wieder an den Fall denken, in dem Cassandra sie um Hilfe gebeten hatte. Bis jetzt gab es keinerlei neue Informationen. Sadie hoffte, dass sich das zu Beginn der Folgewoche änderte.

Weil ihr ein vollwertiges Mittagessen gefehlt hatte, hatte sie jetzt Hunger und begann, zu kochen. Sie hatte ohnehin nichts Besseres zu tun. Während sie beschäftigt war, schlich Mittens sich von hinten an sie heran und setzte sich mitten in die Küche, um Sadie zu beobachten. Dass sie dabei im Weg war, war ihr naturgemäß vollkommen egal.

„Katze!“, rief Sadie irgendwann und schnappte sich Mittens, um sie woanders abzusetzen. Tatsächlich blieb Mittens neben dem Türrahmen sitzen und beobachtete Sadie weiter.

Sadie war gerade fertig, als die Haustür geöffnet wurde und Matt darin erschien. Er schnupperte kurz und grinste dann.

„Das brauche ich jetzt“, sagte er. „Sind das etwa Spaghetti mit Fleischklößchen?“

„Und extra Kräutern in der Soße“, sagte Sadie. „Alles selbstgemacht.“

Matt zog bloß noch seine Schuhe aus, umarmte Sadie und ließ sich dann auf seinen Stuhl fallen. Sadie füllte seinen Teller und beobachtete lächelnd, wie er ausgehungert über das Essen herfiel.

„Ihr habt noch Kriegsrat gehalten, nehme ich an?“, fragte Sadie.

Matt nickte und sagte zwischen zwei Bissen: „Hast du gehört, was passiert ist?“

„Ich habe vorhin schon mit Phil telefoniert.“

„Dann weißt du also schon, dass Baker ausgeflogen war und Phil stattdessen seinen Bruder erschossen hat.“

Sadie nickte. „Gibt es wegen Phil ein Problem?“

„Nein, überhaupt nicht. Wir verstehen nur nicht, warum Baker nicht dort war. Wir haben die Halle observiert. Man hat ihn reingehen sehen, aber er ist nicht wieder rausgekommen. Und dort war er auch nicht. Es ist, als wäre er vom Erdboden verschluckt. Und ich bin ziemlich sicher, dass er nicht sonderlich erfreut über den Tod seines Bruders sein wird.“

„Davon ist ja auszugehen.“

„Die Nachbesprechung hat sich vorhin noch etwas hingezogen. Wir haben ja heute einige Dealer festnehmen können, insofern war das gut – aber keiner weiß, wo Baker steckt. Das ist schlecht. Insofern kann man jetzt nicht sagen, dass die Aktion erfolgreich war. Eigentlich wollten wir nicht nur Beweise sammeln, sondern ihn auch gleich festnehmen. Jetzt müssen wir wieder von vorn anfangen.“

„Aber der Haftbefehl bleibt doch bestehen?“

„Klar, nur hat der Kerl ein Talent dazu, unterzutauchen. Und die Frage ist auch, wie nah wir jetzt wieder rankommen, denn jetzt weiß er ja, dass wir hinter ihm her sind.“

„Das ist schlecht“, musste Sadie zugeben.

„Richtig. Damit muss ich mich gerade so herumschlagen. Und du?“

„Ich habe heute eine ziemlich übel zusammengeschlagene Frau dazu gebracht, ihren Mann endlich anzuzeigen.“

„Oh“, machte Matt beeindruckt. „Das musste sie sich noch sagen lassen?“

„Du weißt doch, wie verprügelte Ehefrauen sind. Die glauben noch, ihr Mann wäre sanftmütig und würde sie lieben, wenn er ihnen eine Waffe an den Kopf hält.“

„Hm“, machte Matt und wollte etwas sagen, aber dann biss er sich auf die Zunge.

„Was?“, fragte Sadie.

„Vergiss es.“

„Sag ruhig. Du wolltest bestimmt darauf hinaus, dass ich das kenne, oder?“

„Ich will nicht immer davon anfangen.“

„Aber so ist es. Das war gar nicht so unpraktisch heute. Ich weiß ja nicht, was meine Mutter damals geglaubt hat ... sie hat meinen Vater aber auch nie angezeigt. Er hat sie verdammt oft geschlagen, aber sie hat auch nie Konsequenzen gezogen.“

Matt seufzte. „Jedes Mal, wenn ich an deine verkorkste Kindheit denken muss, bin ich froh, dass dich das nicht kaputt gemacht hat.“

„Dazu hat es kein Recht“, sagte Sadie. „Ich lasse es einfach nicht.“

Er griff nach ihrer Hand und drückte sie fest. „Und ich helfe dir dabei.“

„Ich weiß.“ Sadie nahm noch einen Bissen und sagte schließlich: „Phil wollte wissen, ob wir uns am Wochenende sehen.“

„Klar. Wir haben ja nichts vor.“

Sie lächelte. „Dann sage ich ihm gleich noch Bescheid.“

 

 

 

 

Zwei Stunden zuvor

 

Genervt versuchte Phil, mit seinem Finger unter den Helm zu kommen und den kleinen Ohrlautsprecher richtig zu fixieren. Das Ding rutschte einfach immer aus seinem Ohr. Er hasste das.

An diesem Tag war er als Scharfschütze nicht gefragt. Das kam öfter vor und störte ihn nicht, denn seine Aufgabe auszuführen bedeutete auch immer, möglicherweise einen Menschen zu töten. Seine Fähigkeiten waren daher ein zweischneidiges Schwert für ihn. Er liebte es, zu schießen und er war gut darin. Sehr gut. Aber er tötete nicht gern.

Er hatte sein Präzisionsgewehr umgehängt, ohne die Waffe zog er ungern los. In der Hand hielt er jedoch seine Handfeuerwaffe. Damit schoss er nicht weniger gut.

Ruckartig fuhr der Mannschaftsbus wieder an. Phil spähte nach vorn und blickte durch die Windschutzscheibe hinaus auf die Straße. Es konnte nicht mehr weit sein. Dann wurde es ernst.

Aber er hatte inzwischen Übung darin – und wenn er ehrlich war, liebte er den Adrenalinkick, wenn Masterson eine Tür gewaltsam mit Candice bearbeitete. Candice war der Kosename des handlichen kleinen Mauerbrechers, der ihnen im Handumdrehen jede Tür öffnete.

„Aufgewacht, meine Herren, gleich geht es los“, vernahm Phil Jacobsons Stimme im Funk. Er war bis in die letzte Faser seines Körpers angespannt. Augenblicke später fuhr der Mannschaftsbus mit quietschenden Reifen auf einen Hof und blieb stehen. Masterson öffnete die hinteren Türen, dann sprangen sie alle nacheinander aus dem Bus und rannten über den Hof. Sie hatten im Vorfeld abgesprochen, wer welchen Eingang nehmen würde, und so rannten einige zu dem weit offenen Tor, während Phil sich mit einigen anderen auf den Weg zum Hintereingang machte. Er war meistens einer der letzten, schließlich war er auch nur dazu da, im Notfall zu schießen.

Es war wieder soweit. Adrenalin schoss ihm ins Blut, während er hinter Miller durch die Tür rannte und von der Dunkelheit im Inneren des Gebäudes verschluckt wurde. Sofort leuchtete einer von ihnen mit einer Lampe voraus. Es war eine Lagerhalle, in deren geheimem Keller das FBI inzwischen ein Methlabor wusste.

Phil hörte erschrockene Schreie. Das war eine Frau. Der Flur gabelte sich vor ihnen und es wurde wieder hell.

„FBI!“, gellte es irgendwo durch die Halle. Im Funk rauschte es. Phil achtete nicht darauf, er spähte erst vorsichtig um die Ecke und zielte mit der Waffe, bevor er ganz in den benachbarten Gang trat. Niemand zu sehen. Ein paar Meter weiter mündete der Gang in den zentralen Raum der Lagerhalle. In seinem Blickfeld stand eine riesige Palette voller Geld, ganz wie in einem schlechten Film. Leise setzte Phil einen Fuß vor den anderen, bis in die letzte Faser seines Körpers angespannt und in höchster Alarmbereitschaft.

Jetzt konnte er sehen, dass seine Kollegen schon zahlreiche Personen unter Kontrolle hatten. Junge Männer, zum größten Teil Mexikaner, die mit hinter dem Kopf verschränkten Armen am Boden knieten und keinen Widerstand zu leisten schienen. Dazu hätte Phil ihnen auch nicht geraten.

Miller gab ihm einen Wink. Gemeinsam huschten sie an der Hallenwand vorbei zu einer Tür. Sie ließ sich problemlos öffnen. Als Phil sich umdrehte, stellte er fest, dass sie allein waren. Er tippte Miller auf die Schulter und machte eine kreisende Bewegung mit seinem Finger, um Miller auf die Lage aufmerksam zu machen. Der Kollege deutete hinter Phil, um ihm zu zeigen, dass sich zwei weitere Kollegen näherten. Noch bevor sie dort waren, schlich Miller durch die Tür. Phil folgte ihm angespannt. Vor ihnen öffnete sich ein schmaler Gang mit einer steilen Treppe in den Keller. So leise wie möglich versuchten sie, die Treppe hinter sich zu bringen und betraten den Gang unten. Zwei Seitentüren gingen davon ab, mit einer weiteren Tür endete der Gang ein paar Meter weiter. Tatsächlich war ein Warnschild an der Tür angebracht, das auf den Gebrauch von Gasmasken hinwies. Phil vermutete die Methküche dahinter.

Miller gab ihm einen Wink. Die linke Tür stand offen, in dem Raum war Licht. Miller wollte vorausgehen, doch bevor sie reagieren konnten, sauste ein Gegenstand von der Seite auf ihn nieder und traf ihn irgendwo zwischen Hals und Brust. Röchelnd ging Miller in die Knie, während Phil erkannte, dass sein Kollege mit einem Baseballschläger angegriffen worden war.

Er reagierte sofort, riss die Waffe empor und drückte ab, als der Angreifer mit gutturalem Gebrüll auf ihn zuhielt und drohte, ihm den Schädel einzuschlagen. Phil drückte einfach ab und traf den Mann erst in die Brust und dann in den Hals.

„Nicht schießen!“, rief jemand mit mexikanischem Akzent. Phil hatte noch keine Ahnung, wer das war und wo er sich befand. Er starrte keuchend auf den Mann, der röchelnd vor ihm in die Knie ging. Er umklammerte seinen Hals, aus dem das Blut mit jedem Herzschlag pulsierend in Phils Richtung schoss. Die Blutflecken auf seiner Brust wurden größer. Dann sackte er tot neben Miller, der immer noch halb ohnmächtig am Boden lag.

„Nicht schießen ...“

Langsam spähte Phil um die Ecke und entdeckte an der linken Wand einen zitternden Mexikaner mit hoch erhobenen Händen.

„Runter!“, bemühte Phil sich, laut und einschüchternd zu klingen, auch wenn ihm gerade gar nicht danach zumute war. Der Mexikaner tat, wie ihm geheißen und kniete sich hin. Er kam sogar selbst auf die Idee, sich umzudrehen, so dass Phil nach einem Paar Handschellen griff und sie dem Mexikaner anlegte. Als er ihn unschädlich gemacht hatte, lief er zu Miller und beugte sich über ihn.

„Alles okay?“

Miller hustete und nickte. „Ist er tot?“

Phil tastete nach dem Puls des Mannes, der neben Miller lag und sich nicht mehr rührte. Er fand keinen, deshalb nickte er.

„Klasse. Weißt du, wer das war?“

Phil schüttelte den Kopf.

„Das war Mick Baker.“

Nachdenklich runzelte Phil die Stirn. „Wer ist das? Sein Bruder?“

Miller nickte, während er sich langsam wieder aufrichtete. „Richtig erkannt. Komm, bringen wir den Kerl hier weg.“

Phil nickte und half dem Mexikaner auf die Beine. Miller griff wieder nach seiner Waffe und ging voraus. Phil hielt den Mexikaner gepackt, dann brachten sie das letzte Stück Weg bis zum Methlabor hinter sich. Miller spähte durch die Scheibe in der Tür, kam dann aber zu dem Schluss, dass er das Labor nicht betreten würde. So traten sie wieder den Rückweg an und begaben sich nach oben, wo ein lautes Stimmengewirr herrschte. Phil nickte den Kollegen von der DEA zu, die sich mit Gasmasken auf den Weg in den Keller machten. Die Halle war voller Menschen – Mexikaner und andere Landsleute in Handschellen, SWAT-Kollegen, andere Kollegen vom FBI, DEA und Polizei. Die ganze Aktion hatte keine fünf Minuten gedauert, aber das war im Close Quarter Battle meistens so. Tage-, vielleicht wochenlange Vorbereitung und der Einsatz selbst war innerhalb eines Wimpernschlags vorbei. Aber Phil genoss die Anspannung und das Adrenalin. Alles musste sitzen und reibungslos funktionieren. Jemanden erschießen zu müssen war nie gut, aber Phil hatte sich nichts vorzuwerfen. Er hatte schnell reagiert, Miller beschützt und den Angreifer außer Gefecht gesetzt. Eigentlich war daran nichts auszusetzen.

„Bringt ihn rüber“, rief Masterson ihnen zu. Phil verstand und brachte den Mexikaner zu den anderen Festgenommenen.

„Unten liegt ein Toter“, sagte Miller derweil. Nachdem Phil den Mexikaner bei seinen Landsleuten abgeliefert hatte, drehte er sich um.

„Was ist passiert?“, fragte Masterson.

„Mick Baker hatte einen Baseballschläger in der Hand“, sagte Miller. „Mich hat er erwischt. Dafür hat Phil ihn erwischt.“

„Sie sind immer tödlich, Richardson“, sagte Masterson und grinste Phil breit an.

„Musste sein“, sagte Phil achselzuckend. „Ich hab nicht lang gefragt.“

„Nein, sollen Sie auch nicht. Gut gemacht. Joey Baker ist ja blöderweise ausgeflogen ...“ Masterson klopfte ihm auf die Schulter und nickte ihm zu, bevor er sich wieder abwand. Drei weitere Minuten später rückten sie wieder ab. Den ganzen Rest übernahmen jetzt die Kollegen, Phil und die übrigen Männer vom SWAT-Team hatten ihre Pflicht getan.

Trotzdem ging es nicht spurlos an ihm vorüber, dass er wieder einen Menschen erschossen hatte. Als er im Bus neben den Kollegen saß, nahm er seinen Helm ab und fuhr sich durchs kurzgeschnittene Haar.

Er hatte nicht nachgedacht. Das tat er eigentlich nie. Damals beim Familienmörder Martin Grimes hatte er es noch getan, denn da hatte er zum ersten Mal auf einen Menschen geschossen und die ganze Zeit, während er mit dem Gewehr auf Grimes im Nachbarhaus gezielt hatte, darüber nachgedacht, dass er gleich jemanden töten würde.

Das hatte aber auch nur angedauert, bis er es tatsächlich getan hatte. Eigentlich hatte sich ja die Frage nicht gestellt, ob er es wirklich tun würde. Die Entscheidung hatte gelautet: Grimes oder Matt. Natürlich hatte Phil Matt retten wollen – und er war bis heute froh, dass er es getan hatte.

Er hatte ja schon an der Polizeischule gelernt, nicht zu sehr nachzudenken. Wenn es darum ging, zu schießen, dann musste man schießen. Auch, wenn das hieß, dass man jemanden tötete.

Aber Phil hatte noch nie einen Unschuldigen erschossen. Er sah sich selbst als Staatsdiener, der für Recht und Ordnung sorgte. Deshalb war er auch Polizist geworden. Recht und Gerechtigkeit waren immer sein Steckenpferd gewesen.

Und deshalb hatte er auch nicht gezögert, als es darum gegangen war, Sean Taylor zu erschießen. Irgendetwas hatte ihm gesagt, dass er es tun musste. Dass es gerecht war. Innerhalb weniger Sekunden war seine Entscheidung gefallen und er hatte es getan, auch wenn das für ihn bedeutete, beim HRT rauszufliegen. Damit konnte er immer noch leben.

Und es war ihm auch egal, dass er jetzt Mick Baker erschossen hatte. Baker hatte jemanden mit einer Waffe angegriffen, das rechtfertigte Phils Reaktion.

Trotzdem war er nicht undankbar über den baldigen Feierabend. Wie so oft fuhr er mit der Metro nach Hause und war froh, als er sein Apartment betrat. Er warf seinen Rucksack in die Ecke und zog seine Stiefel aus. Er streckte sich und ging in die Küche, wo er den Kühlschrank öffnete und einen Schluck aus dem Orangensaftpaket nahm.

Das Handy in seiner Tasche vibrierte, er hatte eine Nachricht von Sadie erhalten. Er lächelte und las, was sie ihm geschrieben hatte.

Hab gehört, du hast wieder wen hochgenommen. Bin froh, dass es hier gut für dich läuft.

Phil beschloss, nicht zurückzuschreiben, sondern sie anzurufen. Sie war auch gleich in der Leitung, hatte ebenfalls bereits Feierabend. Sie unterhielten sich ungezwungen und vereinbarten locker eine Verabredung fürs Wochenende. Das gefiel Phil.

Schließlich legte er auf und seufzte. Jetzt stand ihm wirklich ein Papierkrieg bevor. Er kannte das schon. Aber solange man ihn nicht mehr so filzte wie damals bei Taylor ...

Es grenzte immer noch an ein Wunder, dass er nicht nur nicht beim FBI rausgeflogen, sondern auch nicht im Knast gelandet war. Er wusste, dass er das Matt und gewissermaßen auch Sadie zu verdanken hatte, denn auch sie hatte ja irgendwann eine Aussage gemacht.

Aber er hatte sie einfach rächen müssen. Wenn er sich vorstellte, das wäre Amelia zugestoßen ... und es hatte ihn schon bei Sadie nicht losgelassen. Wenigstens schien sie es überwunden zu haben, was auch an ein Wunder grenzte. Er erzählte es ihr nicht, aber er hatte bis heute, ein knappes Jahr später, Alpträume davon. Weniger davon, wie er Taylor erschoss als vielmehr davon, was er und Matt dort vorgefunden hatten. In seinen Träumen hörte er Sadie schreien, er sah, wie Taylor sie gefesselt die Treppe hinunterstieß, wie er sie an die Decke band und schlug. Das hatte er zwar fast alles nie selbst gesehen, aber seine Vorstellung spielte ihm da einen Streich. Er hatte genug gehört, um sich den Rest vorstellen zu können. Und Sadie war eine gute Freundin, deshalb machte ihm das etwas aus. Er konnte das nicht einfach ignorieren und so tun, als hätte er sie nicht nackt mit nichts als Blut am Körper gesehen.

Er war froh, dass sie damit zurechtkam. Sie und Matt – er konnte sich vorstellen, dass es nicht leicht war, damit umzugehen. Aber Matt war der Richtige für Sadie. Phil war froh, mit den beiden befreundet zu sein und er wusste auch, wofür er täglich zur Arbeit ging. Er brannte genauso wie Sadie darauf, Verbrecher zu stoppen.

Der Blick auf die Uhr verriet ihm, dass Amelia in einer halben Stunde zu Hause sein würde. Er überlegte, ob sie sich freuen würde, wenn er etwas beim Takeaway bei ihr um die Ecke holen und dann auf sie warten würde. Sie war wirklich lieb und es machte ihm Freude, sie zu überraschen. Dass sie sich auch Sorgen um ihn machte, konnte er ihr kaum verübeln. Manchmal nervte es ihn aber, denn er würde nicht ihretwegen seinen Beruf aufgeben. Er war gut als Sniper und machte es gern. Da bereiteten Leute wie Mick Baker ihm auch kein Kopfzerbrechen.

 

 

 

 

 

 

Samstag

 

„Schön, dass wir uns wiedersehen“, sagte Amelia und umarmte Sadie und Matt nacheinander. Phil tat es ihr gleich. Sadie setzte sich Amelia gegenüber und lächelte, als Matt einen Arm um sie legte. Sie hatten sich einen gemütlichen Tisch in einer Ecke der Bar ausgesucht, die mitten in Culver City lag. Sadie und Matt hatten sie zu Fuß erreichen können. Für einen Samstag Abend war es ziemlich ruhig dort, die Musik spielte nicht zu laut und es waren nicht zu viele Menschen dort.

„Wie geht es euch?“, fragte Sadie.

„Bestens“, sagte Amelia. „Und ihr? Wie geht es euch?“

„Ich bin gerade froh, dass Wochenende ist“, gab Matt unverhohlen zu. „Das war eine anstrengende Woche.“

„Phil hat mir erzählt, dass ihr zusammen arbeitet“, sagte Amelia. „Viel mehr weiß ich aber nicht ...“

„Nein, er darf dir ja eigentlich gar nichts erzählen.“

„Weißt du denn, woran Matt arbeitet?“, fragte Amelia Sadie.

„Schon“, gab Sadie zu. „Aber ich bin ja selbst beim FBI. An der Ermittlung der beiden waren Kollegen aus meiner Abteilung involviert.“

„Verstehe“, sagte Amelia. „Ich weiß nur, dass gestern eine Razzia anstand ... und dass Phil jemanden erschossen hat.“

„Soll vorkommen“, sagte Phil trocken.

„Du siehst, das macht ihm wirklich nichts aus“, sagte Matt.

„Hast du schon jemanden erschossen?“

Matt schüttelte den Kopf. „Seltsamerweise nicht. Wo Phil sich doch so gern über meine Schießkünste lustig macht ... Erstaunlich, dass ich noch nie einen Unfall gebaut habe.“

„Allerdings!“ Phil grinste breit in seine Richtung.

„Scheusal“, sagte Matt.

„Ihr müsst euch immer ärgern, oder?“, fragte Sadie.

„Klar“, sagte Phil. „Genau so, wie wir auch unsere Liebsten immer ärgern. Das ist ein Zeichen von Zuneigung.“

„Das ist Männerlogik“, sagte Amelia.

„Ist das etwa nicht logisch?“, fragte Phil. Als der Kellner kam und sich nach ihrer Bestellung erkundigte, entschieden sie sich schnell für ihre Drinks. Matt warf Sadie einen fragenden Blick zu, als sie ein Pint Guinness bestellte.

„Du und Bier?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Guinness vertrage ich wenigstens.“

„Nichts gegen irisches Bier“, sagte Phil. Sadie grinste in seine Richtung.

„Du hast aber nicht mit den beiden ermittelt?“, fragte Amelia Sadie.

„Nein“, sagte Sadie kopfschüttelnd. „Ich helfe im Augenblick einer früheren Kollegin und habe gestern ein Gewaltopfer dazu bewegt, nun doch eine Aussage zu machen.“

„Das würde mir Alpträume bereiten“, gab Amelia zu.

„Du hast auch ein ganz großes und weiches Herz“, sagte Phil.

„Ist doch gut“, fand Matt.

„Ist es“, sagte Phil. „Ich habe eine Schwäche für nette Mädels!“

Amelia errötete.

„Wollt ihr zusammenziehen?“, erkundigte Sadie sich.

„Wir haben schon drüber gesprochen“, sagte Phil. „Wir würden gern ... aber sowohl ihre als auch meine Wohnung ist zu klein für zwei. Wir bräuchten eine gemeinsame neue.“

„Das ist gar nicht so leicht“, tat Amelia seufzend kund.

„Aber ihr habt das vor?“, fragte Matt.

Phil nickte. „Warum nicht? Ist eine Weile her, dass ich zuletzt mit einer Frau zusammengelebt habe ... aber ich bin nicht abgeneigt.“

„Uh, es wird ernst“, feixte Matt.

„Das sagt der Richtige, du bist doch schon verheiratet“, schoss Phil zurück.

„Und ich habe es auch nie bereut.“

Während Amelia grinste, blieben die anderen ernst. Matt merkte, dass er etwas uneindeutiges gesagt hatte. Eigentlich hatte er das durchaus lustig gemeint, aber sowohl Sadie als auch Phil wussten um die ernste Komponente.

„Habt ihr übers Heiraten gesprochen?“, schob Matt schnell hinterher.

„Noch nicht“, sagte Phil. „So lang kennen wir uns doch noch nicht.“

„War bei uns auch kein Grund“, erwiderte Matt grinsend.

„Ja, bei euch ... ihr seid sowieso ein Sonderfall.“ Phil erwiderte Matts Grinsen frech, woraufhin Matt lachte.

„Du bist aber wirklich übermütig. Hattest du gestern zuviel Adrenalin im Blut?“

Phil zuckte mit den Schultern. In diesem Moment wurden die Getränke gebracht und Sadie probierte gleich von ihrem Guinness.

„Wir sollten hier überhaupt nicht über die Arbeit reden“, sagte Phil.

„Hört doch keiner zu“, erwiderte Matt.

„Ja, trotzdem. Ist mir klar, dass du das anders handhabst, deine Frau ist auch beim FBI.“

„Aber ich finde es so spannend, euch zuzuhören“, mischte Amelia sich ein.

„Das sagt meine Familie auch immer“, tat Sadie kund.

Sie sprachen über die verschiedensten Dinge. Amelia schlug vor, demnächst gemeinsam ins Kino zu gehen. Die Idee stieß bei den anderen durchaus auf Gegenliebe. Wenig später verschwand Amelia zur Toilette.

„Sie liebt es, euch auszuquetschen“, sagte Phil. „Von mir erfährt sie ja nicht so viel, wie sie gern würde.“

„Immerhin hast du ihr von Baker erzählt“, sagte Matt.

„Ja, das ist jetzt passiert, das ist kein großes Geheimnis. Wir haben uns gestern noch gesehen, da hat sie gemerkt, dass ich irgendwie anders war. Ich selbst merke das gar nicht.“

„Das kenne ich“, sagte Sadie. „Man schaltet für die Arbeit in einen ganz bestimmten Modus. Das fällt anderen leichter auf.“

„Wenigstens sind wir jetzt zur Ablenkung von fiesen Erinnerungen hier, was?“, sagte Phil.

Sadie erwiderte seinen Blick stumm. „Mir war nicht klar, dass du das Datum so genau im Kopf hast.“

Phil lachte kurz. „Doch, hab ich. Ich habe gestern noch dran gedacht. Es gibt Dinge, die vergisst man nicht so leicht.“

„Wem sagst du das“, stimmte Matt zu. Sadie zog die Schultern noch und seufzte.

„Könnten wir jetzt bitte nicht von Sean anfangen?“

„Klar. Sorry“, sagte Phil.

„Aber du redest ja bestimmt auch nicht lieber darüber, was gestern war“, mutmaßte Matt in Phils Richtung.

„Ach, das ist mir egal. Mich nervt vielmehr, dass Joey Baker nicht dort war. Ich versteh das nicht.“

„Darüber haben wir gestern in der Nachbesprechung auch geredet. Das versteht niemand.“

„Sag mir, was du willst ... aber der wusste, das wir kommen“, murmelte Phil.

„Hattest du heute Dienst?“

Phil nickte. „Noch keine Spur von Baker. Wir gehen davon aus, dass er von seinem Bruder weiß, aber er ist abgetaucht.“

„Na wunderbar. Und alle müssen sich neu koordinieren.“

„Ja, aber es wäre ein Fehler, wenn ihr jetzt auf neue Leute setzt. Das merkt er doch viel eher.“

„Zu dem Schluss sind wir auch gekommen.“

Sie kamen nicht mehr dazu, das zu vertiefen, weil Amelia zurückkehrte.

„Ich brauche noch ein Bier“, sagte Phil und machte Anstalten, nach vorn zur Bar zu gehen. Matt leerte sein Bier schnell und folgte ihm.

„Männergeheimnisse?“, fragte Amelia und blickte den beiden hinterher.

„Vielleicht“, sagte Sadie.

„Macht es dir eigentlich nichts aus, mit Menschen zu sprechen, die Schlimmes erlebt haben?“

Sadie schüttelte den Kopf. „Nein, ich lasse das nicht an mich herankommen. Aber das kennst du doch bestimmt auch, wenn du kranke Menschen beim Arzt siehst. Du versuchst doch auch, zu helfen und dich nicht davon runterziehen zu lassen.“

„Stimmt“, sagte Amelia. „Wenn man das so sieht ...“

Sadie lächelte. „Das geht schon. Ja, ich mache einen ungewöhnlichen Job, aber ich mache ihn gern. Es stört mich nicht.“

Amelia erwiderte ihr Lächeln und sah so aus, als wolle sie etwas sagen, aber dann tat sie es nicht. Sie straffte die Schultern und holte tief Luft.

„Ich bin froh, dass ich Phil getroffen habe. Er macht mich richtig glücklich! Und ich fühle mich sicher bei ihm.“ Amelia setzte einen verträumten Blick auf.

„Das kannst du auch. Phil ist in Ordnung, aber das sagte ich ja schon.“

„Das seid ihr auch. Ich bin froh, dass er so nette Freunde hat. Aber es stimmt schon ... ihr seid ein tolles Paar.“

„Danke“, sagte Sadie und lächelte.

„Ihr habt Glück. So ein schönes Haus und gute Jobs ...“

„Stimmt. Ich bin froh darüber“, sagte Sadie.

„Und Familie?“

Sadie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie diese Frage hasste.

„Da ist nichts geplant“, sagte sie knapp.

„Oh. Ich bin zu neugierig, tut mir leid.“

„Ich höre die Frage in letzter Zeit viel zu oft“, sagte Sadie. „Scheinbar glaubt jeder, dass auf eine Hochzeit auch gleich die Familiengründung folgt.“

„Phil hat mir erzählt, dass ihr ziemlich schnell geheiratet habt. Das finde ich süß.“

Sadie versuchte, zu lächeln. „Ja, es ist ein bisschen anders bei uns.“

„Das macht doch nichts.“

„Willst du mal Kinder?“, spielte Sadie den Ball zurück.

„Schon. Ich meine, es ist noch sehr früh ... aber ich fühle mich wirklich wohl bei Phil. Das hatte ich so noch nie.“

„Freut mich“, sagte Sadie und meinte es ehrlich. Sie beobachtete Matt und Phil dabei, wie sie am Tresen standen und sich unterhielten. Sie hatten beide längst ein neues Bier, aber sie machten keinerlei Anstalten, zurückzukommen.

„Ich hoffe, ich bin Sadie vorhin nicht zu nahe getreten“, sagte Phil.

„Sie ist schon seit Tagen seltsam gelaunt. Es belastet sie mehr, als sie wahrhaben will.“

„Wie könnte man ihr das verdenken?“

Matt nickte. „Dass es dir überhaupt nichts ausmacht, Sniper zu sein.“

Phil schüttelte den Kopf. „Gar nicht. Ich habe heute gehört, mein Kollege hat eine leichte Gehirnerschütterung von dem Schlag mit dem Baseballschläger. Da habe ich kein Mitleid. Soweit ich weiß, steckte Mick Baker fast so tief drin wie sein Bruder.“

„Ja, das glaube ich auch“, sagte Matt und nickte. Er warf einen Blick über die Schulter zu den Frauen.

„Deine Freundin ist wirklich süß.“

„Ja, oder?“ Phil grinste stolz. „Sie ist ein bisschen ... wie soll ich sagen? Naiv, aber das gefällt mir. Sie staunt über alles, was ich mache.“

„Hauptsache ihr seid glücklich.“

„Durchaus“, sagte Phil. „Wir lernen uns immer besser kennen. Vielleicht wird noch was Ernstes draus.“

„Solange sie dich nicht so nervt wie Jessy.“

„Nein, nicht wirklich. Sie macht sich Sorgen, aber sie nervt mich nicht damit.“ Phil blickte ebenfalls über seine Schulter. „Sadie macht ja ein Gesicht. Sollen wir sie retten?“

„Gute Idee“, sagte Matt. „Im Augenblick reagiert sie auf alles Mögliche ziemlich empfindlich. Das ärgert sie selbst am meisten.“

„Wollte sie nicht mitkommen?“

„Doch, aber du kennst das ja ... die Gedanken nimmt man mit.“

„Na ja, aber sie hat dich“, sagte Phil und schlenderte voran zum Tisch. Matt folgte ihm schweigsam. Er kannte Sadie gut genug, um zu wissen, dass sie nicht gut in Smalltalk war. Er spürte auch, dass sie froh über seine und Phils Rückkehr war.

Trotzdem verlebten sie noch einen vergnügten Abend und erheiterten die Runde mit Anekdoten aus der Polizeischule oder der FBI Academy. Sadie entging nicht, wie Amelia ständig an Phils Lippen hing. Sie war wirklich schwer verliebt.

Schließlich verabschiedeten sie sich voneinander und Sadie und Matt schlenderten nach Hause zurück.

„Als wir an der Bar standen, hast du ein ziemlich frustriertes Gesicht gemacht“, stellte Matt fest.

„Ach, sie wollte sich bloß unterhalten. Dass sie nicht Bescheid weiß, macht die Dinge aber nicht unbedingt einfacher.“

„Sie stellt die falschen Fragen, oder?“

Sadie nickte. „Das ist nicht ihre Schuld. Im Augenblick stellt mir sowieso jeder die falschen Fragen.“

„Ich hoffentlich nicht.“

„Nein, bei dir ist das was anderes. Bei dir weiß ich, dass du mich nicht verletzen willst. Und du kennst auch all meine schmutzigen kleinen Geheimnisse – aber du bist noch da. Das reicht mir.“

„Klar bin ich da. Habe ich mich je beschwert?“

„Nein, aber du könntest.“

Matt schüttelte den Kopf. Sadie lächelte und griff nach seiner Hand, dann drückte sie sie fest. Sie hatten es nicht mehr weit bis nach Hause. Es war fast Mitternacht und zu Sadies Überraschung war bei ihrer Rückkehr nicht eine Katze im Haus.

„Was, gehört das Bett heute etwa uns allein?“, feixte Matt.

Sadie grinste. „Gib’s zu, du magst die Katzen.“

„Ja, aber nur, wenn sie nicht auf mir liegen.“

Als Sadie ihre Schuhe ausgezogen hatte, umarmte sie Matt plötzlich fest und impulsiv. Er verstand und hielt sie einfach fest. Sie war froh, in diesem Moment Geborgenheit in seinen Armen zu finden und nicht wieder das durchleben zu müssen, was vor einem Jahr passiert war.

 

 

Montag

 

Sadie setzte sich an ihren Schreibtisch und schaute ihre Mails durch. Sie fand viel Unwichtiges und nur wenig, was von Interesse war – darunter jedoch eine Mail von Cassandra.

 

Hi Sadie,

 

danke für deine Anhaltspunkte. Du hast recht, vieles habe ich mir auch selbst schon erschlossen, aber es ist immer gut, deine Meinung dazu zu hören. Ich hätte nicht vermutet, dass der Täter schon um die dreißig ist. Aber du hast recht, irgendetwas passt an der Sache noch nicht. Ich glaube auch, dass er bereits Erfahrung hat und verstehe nicht, warum wir seine DNA nicht haben. Wie kann das sein?

Wir bleiben in Kontakt.

 

Cassie

 

Sadie verstand das Ganze immer noch nicht. Sie hatte das Gefühl, dass sie vielleicht um die Ecke denken musste. Vielleicht war der Täter ja kein US-Bürger und hatte seine früheren Erfahrungen woanders gesammelt. Oder er hatte früher Kondome benutzt.

Aber er hatte Erfahrung, dessen war Sadie sich sicher. Und er verfolgte ein bestimmtes Ziel. Er wusste, was er tat. Und er würde es ihnen nicht leicht machen, ihn zu schnappen.

Sie nahm sich noch einmal alle Unterlagen vor. In allen Fällen war die Polizei in den Wohnungen der Opfer gewesen und hatte sich umgesehen. Sadie überflog die Berichte und sah die Fotos durch. Es hatte nie Einbruchsspuren gegeben, kein einziges Mal. Augenscheinlich hatte auch nichts gefehlt. Sadie sah sich die wenigen beigefügten Fotos an – alles war normal.

Sie hielt die Fotos aus Clara Belmonts Wohnung neben die von Suzanne Holden und betrachtete alles. Das eine zeigte die Küche, das andere Bild das Schlafzimmer. Schließlich verglich Sadie die Wohnzimmer von Suzanne Holden und Allison Michaels. Die Frauen hatten einen recht ähnlichen Einrichtungsstil.

Plötzlich fiel ihr Blick auf ein schlichtes Glas auf dem Couchtisch. Darin stand ein kleines Sträußchen mit Mohnblumen. Sadie konnte nicht erkennen, ob sie frisch oder getrocknet waren, aber sie hatte das dumpfe Gefühl, das gerade schon einmal gesehen zu haben. Sie holte die anderen Fotos wieder hervor und sah, dass auch bei Suzanne Holden ein Strauß mit Mohnblumen in einem Glas stand.

Sofort begann sie, alle Fotos zu untersuchen, die sie hatte. Bei Clara Belmont konnte sie auf Anhieb auf den Fotos keine Mohnblumen sehen, aber bei Laurie Cooper gab es welche.

Wie elektrisiert beugte sie sich vor. Das konnte kein Zufall sein. Sie musste mal nachfragen, ob es bei Clara Belmont Mohn gegeben hatte, aber sie wäre jede Wette eingegangen. Mohn ... mit dieser Blume wurde auch nichts Gutes assoziiert.

Ein Täter, der Symbolik liebte. Sadie konnte der Polizei nicht mal verübeln, dass das nicht aufgefallen war. Es hatte natürlich auch gedauert, bis man darin eine gewisse Regelmäßigkeit erkennen konnte. Aber das war ein Indiz.

Sie zuckte zusammen, als in diesem Moment unerwartet das Telefon klingelte.

„Special Agent Sadie Whitman“, meldete sie sich.

„Detective Morgan hier. Ich habe etwas für Sie, das Sie interessieren dürfte.“

Das kam wie gerufen. Sadie setzte sich aufrecht und sagte: „Ich bin ganz Ohr.“

„Der Techniker ist in den Computern fündig geworden. Die Frauen hatten Kontakt mit jemandem – ich vermute, es war immer derselbe Mann.“

„Haben Sie ihn?“

„Moment, nicht so schnell. Er war leider nicht dumm, er hat seine IP verschlüsselt. Der Techniker versucht noch, ihm auf die Schliche zu kommen, aber er hat immerhin alle Nachrichten für uns isoliert. Ich schicke Ihnen das jetzt per Mail. Vielleicht finden Sie etwas darin, das uns auf seine Spur bringt.“

„Ich hoffe“, sagte Sadie.

„Ich bin noch nicht dazu gekommen, mir das genau anzusehen, aber ich hoffe, wir finden Hinweise auf seine Identität.“

„Schicken Sie mir, was Sie haben. Ich schaue es mir sofort an“, versprach Sadie. „Sagen Sie, haben Sie alle Fotos vom Clara Belmonts Wohnung?“

„Müsste, warum fragen Sie?“

„Können Sie irgendwo auf den Fotos einen Strauß Mohnblumen sehen?“

„Mohnblumen? Wie kommen Sie darauf?“

„Weil in allen anderen Wohnungen Mohnblumen standen.“

Morgan atmete schwer. „Das ist noch niemandem aufgefallen.“

„Nein, das hätte ich auch nicht erwartet. Ich habe das gerade zufällig gesehen. Vielleicht lässt der Täter sie zurück.“

„Warten Sie, ich gehe gerade die Fotos durch. Wo waren die Blumen?“

„Immer auf einem Tisch.“

„Okay ... warten Sie ... tatsächlich. Auf dem Couchtisch stehen Mohnblumen in einem Glas.“

„Dann war das der Täter“, sagte Sadie. „Das ist seine Signatur.“

„Wahnsinn. Das ist ja total verrückt!“

„Da sagen Sie was“, stimmte Sadie ihm zu. „Danke für die Hilfe. Ich werde dann jetzt mit meiner Kollegin die Unterlagen durchgehen, die Sie mir geschickt haben.“

„Ich bin gespannt.“

„Ich melde mich“, versprach Sadie und beendete das Gespräch. Sie suchte sofort Cassandras Büronummer heraus und rief bei ihrer Kollegin an.

„Sadie“, sagte Cassandra direkt, weil sie ihre Nummer am Telefon erkannt hatte. „Hast du was für mich?“

„Allerdings“, sagte Sadie. „Der ermittelnde Detective hat mich gerade angerufen. Der Techniker hat eine Verbindung in den Computern der Opfer gefunden. Ich schicke sie dir.“

„Ja, unbedingt“, sagte Cassandra, deshalb klemmte Sadie den Hörer zwischen Kinn und Schulter und tippte etwas am Computer, um die Nachricht an Cassandra weiterzuleiten.

„Wollen wir das zusammen durchgehen?“, fragte Cassandra.

„Das können wir gern machen. Ist alles unterwegs zu dir. Übrigens ist mir aufgefallen, dass er eine Signatur an den Tatorten hinterlassen hat.“

„Tatsächlich?“

„Er stellt einen Strauß Mohnblumen auf einem Tisch in ein Glas.“

„Mohnblumen? Das ist ja makaber.“

„Finde ich auch“, sagte Sadie.

„Da ist deine Mail. Lass mal sehen.“

Die beiden begannen, alles durchzusehen, was der Techniker isoliert hatte. Bei Laurie Cooper waren es Nachrichtenverläufe aus einer Datingbörse. Der Techniker hatte Screenshots gesammelt, die – sehr zur Überraschung der Frauen – auch Fotos enthielten.

„Ob er wirklich so aussieht?“, überlegte Cassandra.

„Er sieht jung aus“, sagte Sadie. „Jünger, als ich dachte.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass er das wirklich ist. Warum sollte er so fahrlässig sein und sein echtes Foto zeigen?“

„Ich sehe mal alle Nachrichten durch“, sagte Sadie. „Vielleicht gibt es noch andere Fotos.“

„Okay ... ich lese mal, was sie sich so geschrieben haben.“

„Mach das.“ Sadie hielt immer noch den Telefonhörer zwischen Kopf und Schulter geklemmt und überflog alles, was der Techniker isoliert hatte. Nur bei Laurie waren es Screenshots aus einer Datingbörse, bei den anderen Frauen waren es E-Mails. Als Sadie jedoch die ersten Nachrichten überflog, merkte sie, dass der Kontakt sich jeweils auch in einer Datingbörse angebahnt hatte. Sie hatten anschließend nur ihre Mailadressen ausgetauscht und sich per Mail geschrieben.

Sie musste gar nicht lang suchen, bis sie bei Suzanne Holden ebenfalls ein Foto eines Mannes fand. Sie musste auch nicht erst aktiv vergleichen, um zu sehen, dass es sich tatsächlich um denselben Mann zu handeln schien. Er war höchstens Anfang oder Mitte zwanzig.

Das frustrierte sie fast ein wenig, denn sie war sicher gewesen, dass er älter war. Hatte sie wirklich so daneben gelegen?

Sadie studierte auch die anderen Nachrichten und war nicht wirklich überrascht, überall dasselbe Bild zu finden. Allerdings fragte sie sich, ob das Bild auch tatsächlich den Täter zeigte.

„Er hat ihnen immer dieses Foto geschickt“, sagte sie zu Cassandra. „Ich verstehe nur nicht, warum.“

„Oh, da habe ich eine Idee ...“

„Welche denn?“

„Er ist ganz schön rangegangen bei Laurie. Er hat mit ihr geflirtet. Sie haben sich verabredet ... und dann hat er ihr eines Abends geschrieben, er sei in der Stadt. Er fragt sie, ob er vorbeikommen kann. Sie würde ihn erkennen, wenn er vor der Tür steht, denn sein Foto kenne sie bereits.“

Sadie stutzte. „Das kann unmöglich dein Ernst sein. Er hat ihnen ein echtes Foto geschickt und ist zu ihnen nach Hause gefahren?“

„Konnte der Techniker die IP zurückverfolgen?“

„Bisher nicht. Die war wohl verschlüsselt. Ich verstehe das nicht ... Ich habe ihn für älter und intelligenter gehalten.“

„Mach dir nichts draus, manchmal liegen wir einfach total daneben“, sagte Cassandra.

Aber es machte Sadie etwas aus. Cassandra hatte sie um Hilfe gebeten, weil sie sich kompetenten Rat erhofft hatte. Sadie hatte nicht das Gefühl, ihr bisher irgendwie geholfen zu haben. Auf das alles wäre Cassandra auch allein gekommen.

„Er hat das aber geschickt gemacht“, sagte Cassandra. „Er macht ihnen Komplimente. Er erschleicht sich ihr Vertrauen. Oh Mann ... wenn ich Lucas zum ersten Mal treffe, nehme ich aber meine Waffe mit! Und ich sage ihm nicht, wo ich wohne.“

Sadie lachte. „Klingt ganz schön paranoid.“

„Ja, ich meine, sieh dir das doch mal an! Der Kerl ist der absolute Psychopath. Der hat sich so schlau an die Frauen herangemacht ...“

Sadie stimmte ihr zu, denn das sah sie ähnlich. Die beiden begutachteten die Texte weiter oberflächlich, bis Cassandra sagte: „Das müsste doch reichen, um ihn zu schnappen. Wir können sein Alter schätzen, wir haben ein Foto. Wir wissen, dass er irgendwo hier aus der Gegend kommt.“

„Gib es an die Medien“, sagte Sadie. „Wahrscheinlich sieht er wirklich so aus. Ich weiß zwar nicht, warum ich mit meinem Profil so daneben lag, aber scheinbar ist das so ...“

„Ist doch egal. Wirklich. Wir können die Mails ja noch weiter durchgehen, aber ich gebe alle Infos, die wichtig sind, an Alex und sie soll es an die Presse schicken. Hauptsache, wir kriegen den Kerl.“

„Ja, das hoffe ich doch. Ich habe dir zwar nicht wirklich dabei geholfen, aber solang er aus dem Verkehr gezogen wird ...“

„Dafür sorge ich“, sagte Cassandra. „Danke, Sadie.“

„Ich schaue auch noch mal, ob ich etwas finde.“

„Okay. Und wirklich, danke.“

Sadie wusste, Cassandra meinte es so, aber sie war trotzdem wütend. Sie hatte noch nie mit einem Profil so derartig daneben gelegen. Aber er war nicht so intelligent wie gedacht und er war viel jünger. Wie war es dazu gekommen?

Missmutig stützte Sadie den Kopf in die Hände. Profiling war eben doch nur ein Spiel mit Wahrscheinlichkeiten und Annahmen. Ein Serienmörder, der zu entsprechender Brutalität neigte, verfügte eben meist über Vorerfahrung und es war auch eher selten, dass Täter ältere Opfer wählten. Und er hatte so intelligent gewirkt – verriet sich dann aber über ein Foto?

Sadie war gespannt, ob er jetzt gefasst wurde und ob er tatsächlich so aussah. Wenn sie ihn tatsächlich aufgrund der Nachrichten fanden, die der Techniker isoliert hatte, suchte sie sich besser einen neuen Beruf.

Sie nahm sich die Zeit, alle Nachrichten in Ruhe durchzugehen, um weitere Rückschlüsse auf den Täter ziehen zu können. Er war wirklich nicht dumm, sondern überzeugte die Frauen mit Charme und Komplimenten. Aber warum schickte er ihnen ein Foto? Er verschlüsselte die Herkunft der Nachrichten, zeigte sich aber. Wenn er es wirklich war.

Welchen Sinn hatte das?

Sadie zerbrach sich den Kopf, aber sie gelangte zu keiner Erkenntnis. Schließlich rang sie sich dazu durch, Detective Morgan anzurufen und ihm die aktuellen Erkenntnisse durchzugeben. Er war völlig arglos und bedankte sich bei Sadie für die Mithilfe, aber sie war trotzdem genervt und frustriert zugleich. Natürlich hoffte sie trotzdem, dass der Täter gefunden wurde, aber sie zweifelte nichtsdestotrotz an ihren Fähigkeiten.

Hatten ihre eigenen Erfahrungen ihr viel zu sehr die Sinne vernebelt? Oder ging sie zu sehr nach Lehrbuch vor, weil sie schon länger nicht mehr mit einem solchen Fall konfrontiert worden war?

Dabei stimmte das überhaupt nicht, sie hatte auch vor wenigen Monaten noch mit Carson zu tun gehabt. Der hatte auch ermordet, wen er konnte – aber er hatte in jeder Hinsicht sämtliche Kategorien gesprengt.

Was war hier los?

Sie verabschiedete sich erst einmal in die Mittagspause und schrieb Matt eine Nachricht, während sie mit dem Aufzug nach unten fuhr. Ich hab noch nie so sehr mit einen Profil daneben gelegen. Beschissenes Gefühl.

In der Kantine entschied sie sich für einen Salat, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Die Portionen waren immer so groß, dass sie auch satt wurde. Sie wurde unterbrochen, als sie eine Antwort von Matt erhielt und zog ihr Handy aus der Tasche.

Du liegst daneben? Kann ich mir kaum vorstellen. Wie kommst du darauf?

Sadie antwortete ihm. Ich bin noch nicht sicher ... aber wenn unsere neuen Hinweise alle stimmen, ist er nichts von dem, was ich vermutet hatte.

Matt brauchte nicht lang für seine Antwort. Kopf hoch, nicht jeder macht immer alles richtig.

Da hatte er recht, aber es nervte Sadie trotzdem. In diesem Bereich konnte und wollte sie sich keine Fehler erlauben. Von ihrer Arbeit hingen Menschenleben ab.

Als sie wenig später wieder an ihrem Schreibtisch saß, hatte sie eine Mail von Cassandra. Pressenachricht ist raus. Jetzt heißt es abwarten. Ich hoffe, wir finden ihn.

Das hoffte Sadie auch, ganz unabhängig davon, dass sie frustriert war und sich selbst misstraute. Sie machte doch sonst keine Fehler beim Profiling. Was war jetzt bloß passiert?

Es fiel ihr schwer, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, doch schließlich gelang es ihr. Sie schielte nur noch gelegentlich auf ihre Mails und dachte nicht mehr pausenlos an Cassandras Fall. Sie vertiefte sich in ein Essay vom britischen Profiler-Team und vergaß darüber schließlich völlig die Zeit. In dem Essay ging es um die Häufigkeit psychischer Erkrankungen bei Straftätern. Sadie hatte schon gewusst, dass zwar viele Serienmörder und auch andere Verbrecher eine psychopathische Persönlichkeit hatten, aber noch längst nicht alle Serienmörder waren psychisch krank. Viele waren sich dessen ganz klar bewusst, was sie taten.

Als Sadie damit fertig war, erinnerte sie sich daran, dass Andrea damals auch einen Artikel mit dem Titel Sexueller Sadismus und Serienmord geschrieben hatte. Den hatte Sadie während der Ausbildung beim FBI gelesen, aber nun kramte sie ihn wieder heraus. Hatte sie etwas übersehen?

Doch das Essay gab ihr auch keine Antwort. Im Gegenteil – laut Essay hatte sie sich an allen gängigen Kriterien und Klassifikationen orientiert. Sie hatte nichts falsch gemacht. Aber hatte sie etwas übersehen?

Sie war noch vollkommen in den Artikel vertieft, als ihr Telefon klingelte. Sadie wandte den Blick nicht vom Bildschirm ab, während sie den Hörer abhob.

„Special Agent Sadie Whitman“, sagte sie.

„Sadie, ich bin gerade auf dem Weg zur Polizei“, sagte eine Stimme, die Sadie sofort als Cassandras identifizierte. „Sie haben jemanden festgenommen.“

„Was, jetzt schon?“, sagte Sadie erstaunt.

„Ja, er heißt Jeffrey Cook und er ist wohl der Kerl von dem Foto. Ich bin auf dem Weg zu ihm und wollte, dass du Bescheid weißt.“

„Danke ... hoffentlich ist er es auch.“

„Ich sag dir Bescheid. Bis später.“

Sadie verabschiedete sich und legte auf. Sie las den Artikel von Andrea noch zuende, dann schnappte sie sich ihre Jacke und machte sich auf den Heimweg. Jetzt blieb abzuwarten, ob Jeffrey Cook wirklich ihr Mann war. Jedenfalls musste er eine gute Erklärung dafür haben, dass sein Foto in allen Fällen aufgetaucht war.

Sadie arbeitete sich durch den wie üblich mörderischen Feierabendverkehr nach Hause vor und wurde dort bereits sehnsüchtig von ihren Katzen erwartet. Beide umgarnten sie wie wild, so dass Sadie ihre Näpfe füllte und erst dann nach oben ging, um sich umzuziehen. Sie setzte sich an den Computer und checkte ihre privaten Mails, doch es gab nichts Spannendes.

Sie war gerade wieder unten angekommen, als die Haustür geöffnet wurde. Sadie wollte zu Matt gehen, um ihn zu begrüßen und sah, dass er zwei kleine Pappschachteln vom Chinesen drei Straßen weiter in der Hand hatte.

„Was hast du denn da mitgebracht?“, fragte sie überrascht, während sie ihm die Schachteln abnahm. Matt balancierte sie kunstvoll in der Hand, konnte sich aber kaum noch bewegen.

„Ich dachte vorhin, ich sterbe, wenn ich nichts vom Chinesen bekomme“, sagte er. „Ich hoffe, das war in Ordnung.“

„Immer“, sagte Sadie und ging mit den Pappschachteln zum Tisch. Sie holte Besteck und Stäbchen und setzte sich erwartungsvoll an den Tisch. Matt zog nur schnell seine Schuhe aus und gesellte sich dann dazu. Wie selbstverständlich griff er nach den Stäbchen und Sadie tat es ihm gleich, als sie sah, dass er gebratene Nudeln mitgebracht hatte.

„Gut?“, fragte er zwischen zwei Bissen.

„Sehr gut“, sagte sie.

„Ich dachte, du brauchst vielleicht eine kleine Aufmunterung. Du klangst sehr frustriert heute Mittag.“

„Bin ich auch“, sagte Sadie. „Ich verstehe wirklich nicht, was ich falsch gemacht habe. Ich habe noch den halben Nachmittag damit zugebracht, die gängigen Erkenntnisse zum Thema zu überprüfen und komme einfach nicht dahinter.“

„Es geht um Cassandras Ermittlung?“, fragte Matt.

„Ja. Es trifft immer Frauen um die dreißig und ich hatte vermutet, dass der Täter ziemlich intelligent sein muss. Allerdings war es nicht schwer, ein Foto von ihm zu finden – wenn er es wirklich ist – und er ist auch bedeutend jünger.“

„Wie war das – die Täter sind immer in einem ähnlichen Alter und halten sich an ihre ethnische Gruppe, oder?“

Sadie nickte zwischen zwei Bissen und sagte dann: „Es ist verdammt selten, dass Serienmörder ältere Opfer wählen. Aber hier ist es scheinbar so. Und dass er uns so leicht ins Netz geht ...“

„Warte doch mal ab, ob er es überhaupt ist.“

„Und wenn? Ich habe noch nie so danebengelegen, Matt. Ich verstehe einfach nicht, was passiert ist.“

„So etwas passiert. Du bist keine Hellseherin, du orientierst dich nur an der Wissenschaft. Gibt es denn nie Ausnahmen?“

„Doch, klar gibt es die. Trotzdem nervt mich das. Er hat sich so dumm angestellt ... er hat Kontakt mit allen Opfern aufgenommen und ihnen sein Foto geschickt. Warum würde er das tun?“

„Vielleicht überseht ihr auch nur etwas“, sagte Matt. „Vielleicht ist es ja eine falsche Spur.“

Sadie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Jedenfalls wurde schon jemand festgenommen und Cassandra ist unterwegs. Sie wird mir sagen, ob er es wirklich ist.“

„Gut, dann warte einfach ab“, sagte Matt.

„Und wie war es bei dir?“

„Hm“, machte er unentschlossen. „Es sind immer noch alle auf der Suche nach Joey Baker. Der Kerl ist untergetaucht. Wir kommen da gerade nicht wirklich weiter.“

„Also auch kein allzu erfolgreicher Tag.“

„Es geht so“, sagte Matt. „Wie wär’s, wenn wir das alles bei einem Serienabend vergessen?“

Sadie grinste. „Von mir aus. Hast du an etwas Bestimmtes gedacht?“

Matt nickte. „Ich würde mir gern mal The Man in the High Castle ansehen.“

„Ist das nicht die Serie, in der es darum geht, dass die Nazis den Zweiten Weltkrieg gewonnen haben?“, überlegte Sadie.

„Genau. Hört sich irgendwie verrückt an.“

„Und interessant.“

So hatten sie sich schnell geeinigt und machten es sich vor dem Fernseher gemütlich. Inzwischen war es dunkel und sie versanken bei einer Dose Erdnüsse in einer alternativen Realität, die es ganz schön in sich hatte. Sie hatten gerade die zweite Folge gestartet, als Sadies Handy auf dem Couchtisch klingelte. Es war Cassandra. Matt drückte schnell auf Pause.

„Hey“, sagte Sadie.

„Ich glaube, er ist es.“

„Was heißt, du glaubst?“

„Wir testen seine DNA, das Ergebnis sollte bis morgen da sein. Das hat Priorität, denn der Kerl mauert und wenn seine DNA ihn überführt, muss er gar nicht gestehen und wir behalten ihn trotzdem in Untersuchungshaft.“

„Hat er denn schon was gesagt?“

„Nicht viel ... außer, dass er unschuldig ist und einen Anwalt will. Die Techniker sitzen noch an seinem Laptop und überprüfen, ob er die Nachrichten geschrieben hat. Ich habe ihn vorhin mit Detective Morgan mit den Fotos konfrontiert – er ist auf jeden Fall der Kerl von den Bildern. Bisher versucht er noch, uns zu erklären, dass die wohl gestohlen sein müssen, aber die Techniker haben schon Verschlüsselungssoftware auf seinem Laptop gefunden.“

„Glaubst du, dass er es ist?“

„Ja. Es ist die Art, wie er mich ansieht. Ich sehe genauso aus wie die Frauen und deshalb hatte ich mich auch mit dem Detective darauf geeinigt, auf jeden Fall bei dem Verhör dabei zu sein. Wir versuchen es gleich auch noch mal, aber wir machen uns da wenig Hoffnung. Wir setzen eher auf die DNA.“

„Bei euch ist es doch auch schon spät.“

„Ziemlich, ja“, stimmte Cassandra zu. „Aber trotzdem glaube ich, dass wir ihn haben. Er ist zwar nicht vorbestraft, aber er kann uns keinerlei schlüssige Erklärungen liefern. Wir filzen ihn noch weiter, vielleicht finden wir weitere Beweise oder Hinweise darauf, wo die Frauen sind. Die müssen wir ja noch finden.“

„Ich hoffe, ihr könnt ihn bald zum Reden bringen.“

„Das hoffe ich auch“, sagte Cassandra und brummte mürrisch. „Er hat so ein selbstgefälliges Grinsen. Er weiß etwas, soviel steht fest. Ich kriege es nur noch nicht aus ihm raus.“

„Das schaffst du.“

„Ich hoffe. Mit Morgan redet er noch weniger.“

„Halt mich auf dem Laufenden, ja?“

„Klar“, versprach Cassandra. „Ich hoffe, die DNA nimmt mir einiges ab. Wenn wir das Ergebnis erst haben, wird er liefern müssen. Aber der Anwalt, den er vorhin hinzugezogen hat, macht die Sache nicht leichter. Er hat ihm geraten, den Mund zu halten.“

„War doch klar“, sagte Sadie.

„Na ja, wir kriegen das schon hin. Ich melde mich.“

„Viel Erfolg.“ Sadie legte auf und schob das Handy wieder auf den Tisch.

„Und?“, fragte Matt.

„Cassandra grillt den Kerl, aber er mauert. Jetzt hofft sie, dass DNA-Beweise sie weiterbringen.“

„Ich drücke die Daumen.“

Sadie lächelte. „Sie sagt mir weiterhin Bescheid.“

„Das dachte ich mir. Sollen wir weitergucken?“

„Okay.“ Sadie versuchte, sich wieder auf die Serie zu konzentrieren, musste aber auch immer wieder an Cassandra denken – und daran, dass sie jetzt gern dabei gewesen wäre, um den Täter ein wenig zu grillen. Das hatte sie immer gern gemacht.

 

 

Gainesville, Virginia

 

Jetzt also doch. Der Idiot hatte sich tatsächlich erwischen lassen.

Aber hatten sie ahnen können, dass die Polizei dahinterkam?

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739363240
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Dezember)
Schlagworte
Mord SWAT USA Profiling Verfolgungsjagd Thriller Entführung Spannung Drogen FBI Psychothriller Krimi Ermittler

Autor

  • Dania Dicken (Autor:in)

Dania Dicken, Jahrgang 1985, schreibt seit ihrer Kindheit. Die in Krefeld lebende Autorin hat in Duisburg Psychologie und Informatik studiert und als Online-Redakteurin gearbeitet. Mit den Grundlagen aus dem Psychologiestudium setzte sie ein langgehegtes Vorhaben in die Tat um und schreibt seitdem Psychothriller mit Profiling als zentralem Thema.
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Titel: Die Seele des Bösen - Rettung unter Freunden