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Die Seele des Bösen - Anschlag auf die Freiheit

Sadie Scott 9

von Dania Dicken (Autor:in)
320 Seiten
Reihe: Sadie Scott, Band 9

Zusammenfassung

In Los Angeles erhält Profilerin Sadie seit kurzem tatkräftige Unterstützung von ihrer früheren FBI-Kollegin Cassandra. Die kann sie auch gut brauchen, denn sie ist gerade wegen einer Zeugenaussage im Gericht in Downtown Los Angeles, als ganz in der Nähe ein schrecklicher Anschlag stattfindet: In einer Metro-Station wurde das hochgiftige Saringas freigesetzt, es gibt viele Tote. Als Sadie und Cassandra zur Ermittlungseinheit des FBI stoßen, die den Giftgasanschlag auf die Metro untersuchen soll, kommt ihnen bald ein ungeheurer Verdacht: Ein noch viel schlimmerer Anschlag könnte bevorstehen, den sie mit allen Mitteln zu verhindern versuchen. Aber auch privat hat Sadie ein Problem, das sie vor Matt zu verheimlichen versucht …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Montag

 

Matt zerrte an seiner Krawatte herum und versuchte, eine möglichst unbeteiligte Miene zu machen. Sadie wusste, wie sehr es hasste, sich förmlich herausputzen zu müssen, um ein bestimmtes Bild zu erfüllen. Aber er war nun einmal Bundesagent und musste als solcher eben auch vor Gericht erscheinen. Schließlich war es seine Ermittlung, die hier verhandelt wurde.

Ihr selbst machte es nichts aus, sich in Schale zu werfen und vor Gericht eine Aussage zu machen. Sie liebte es nicht besonders, aber sie hatte nicht dieselbe Abneigung wie Matt.

„Das ist Zeitverschwendung“, raunte Matt ihr zu.

Sadie grinste unwillig. „Ist es nicht. Er wird einfahren und das ist dir zu verdanken. Deine Aussage trägt dazu bei.“

„Ich weiß, aber das ist trotzdem die absolute Zeitverschwendung. Die wissen doch längst alles!“

„Ja, aber wir haben ein paar Leute angeschossen oder sogar erschossen“, erinnerte Sadie ihn.

„Ich weiß ... war reine Theatralik meinerseits.“

Sadie griff nach seiner Hand und lächelte. Sie konnte ihn verstehen. Sie wäre jetzt auch lieber nicht im Gericht gewesen – es war nicht so, als hätte sie Gerichtssäle besonders gemocht. Damit verband sie nichts Gutes.

Schräg vor ihnen saß Baker und rührte sich nicht. Es war mehr Sicherheitspersonal im Saal, als Sadie das üblicherweise aus Gerichtsverhandlungen kannte, aber das wunderte sie nicht.

Außer bei ihrem Vater, da war immer viel Polizei vor Ort gewesen.

Baker und sein Anwalt steckten die Köpfe zusammen. Der Anwalt war ein gewiefter Hund, er hatte schon versucht, Matt wegen Polizeibrutalität anzuzeigen, war damit aber gegen eine Wand gerannt. Er kannte sich aus, war bereit, sämtliche Register zu ziehen. Aber so leicht würden sie es ihm nicht machen.

Amelia saß rechts von ihr. Sie war nervös, wackelte immer mit dem Fuß. Sadie warf ihr einen mitfühlenden Blick zu und lächelte. Im Augenblick saß Phil im Zeugenstand. Er hatte sich pingelig frisiert und trug ebenfalls einen Anzug, von dem Sadie schon amüsiert festgestellt hatte, dass er nicht mehr richtig saß. Durch das regelmäßige Training bekam Phil ein immer breiteres Kreuz.

Die Befragung durch den Staatsanwalt endete gerade und Bakers Anwalt stand auf, um Phil nun ins Kreuzverhör zu nehmen. Er begann, Phil einige Fragen zu stellen und unterbrach ihn immer wieder.

„Haben Sie sich von Ihrem Alleingang vielleicht auch Rache erhofft?“, bohrte der Anwalt schließlich nach. Er war ein gelackter junger Anzugträger aus einer der Top-Kanzleien der Stadt, bei dem Sadie sich immer noch fragte, wie Baker ihn sich leisten konnte. Die Antwort wollte sie vermutlich gar nicht wissen.

Phil ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Ich wollte keine Rache. Ich wollte nur signalisieren, dass ich keinen Ärger will.“

„Aber ich gehe richtig in der Annahme, dass Ihnen bewusst war, wie gefährlich Ihre eigenmächtige Handlungsweise der offiziellen Operation werden konnte?“

„Nein, das hat sie eben nicht getan. Ich wusste ja, was geplant war und habe beschlossen, der Operation nicht in die Quere zu kommen. Ich wollte nur einfach nicht dabei sein.“

„Wie mir zu Ohren gekommen ist, sind Sie für inoffizielles Handeln bekannt. Der Tod des Pittsburgh Stranglers Sean Taylor ... das waren auch Sie. Und Special Agent Matt Whitman“, fuhr der Anwalt fort und drehte sich zu Matt um, der keine Miene verzog.

„Was auch immer Sie damit andeuten wollen ... aber ja, Taylor geht auf mein Konto“, gab Phil unumwunden zu.

„Kommen Sie zum Punkt“, forderte der Richter Bakers Anwalt auf.

„Das ist der Punkt“, sagte der Anwalt. „Mein Mandant hatte es hier mit willkürlicher Staatsgewalt zu tun!“

„Haben Sie noch Fragen an den Zeugen?“ Der Richter war hörbar gelangweilt.

Der Anwalt schüttelte den Kopf, deshalb war Phil entlassen.

„Als Nächstes rufe ich Special Agent Sadie Whitman in den Zeugenstand.“

Erstaunt blickte Sadie zu den anderen, stand dann aber auf und ging nach vorn. Sie hatte damit gerechnet, dass zuerst Matt oder Amelia befragt wurden, aber offensichtlich war dem nicht so.

„Ihren vollständigen Namen, Geburtsdatum und Wohnort, bitte“, sagte der Richter ziemlich gelangweit. Sadie zählte alles auf, dann übernahm der Staatsanwalt. Schließlich war sie Zeugin der Anklage.

„Sie sind Special Agent beim FBI. In welcher Funktion?“, fragte er.

„Ich bin Profilerin“, sagte Sadie.

„Und Sie waren anwesend bei der Verhaftung von Baker am achtundzwanzigsten März dieses Jahres.“

„So ist es.“

„Wie ist es dazu gekommen? Sie gehören ja nicht zu der Abteilung, die ursprünglich gegen Baker ermittelt hat“, fragte der Staatsanwalt und ließ Sadie erzählen. Schließlich lenkte er die Unterhaltung auf die Ereignisse, die zu Bakers Verhaftung geführt hatten.

„Haben Sie Mr. Richardsons Alleingang kommen sehen?“

„Nicht direkt, nein. Aber es hat mich nicht gewundert, als es passiert ist, und ich wusste auch, dass er den Kontakt zu uns nicht abbrechen würde.“

„Wie haben Sie das eingeschätzt?“

„Ich wusste, es ging ihm nur um Amelia. Trotzdem hat er darauf gehofft, dass wir und seine Kollegen ihm den Rücken freihalten.“

„Hatten Sie Kontakt während der Aktion?“

„Ja, wir haben manchmal telefoniert.“

„War Ihr Handeln von offizieller Seite abgesegnet?“

„Ja, SSA Warner wusste Bescheid. Weil das SWAT-Team in diesem Moment angegriffen wurde, hat er uns gebeten, dranzubleiben.“

„Okay ... und dann sind sie auf dem Schrottplatz eingetroffen. Was haben Sie vorgefunden?“

Sadie begann, die Situation zu beschreiben. Zwar hatten sie das alles so ähnlich gerade schon von Phil gehört, aber das spielte keine Rolle.

„Wir sind dazugestoßen, als Baker Mr. Richardson vor die Wahl gestellt hat, entweder sich erschießen zu lassen oder Amelia zu opfern.“

„Haben Sie ihm das geglaubt?“

Sadie nickte. „Als ich am Vorabend mit ihm telefoniert habe, hat er klargemacht, dass er es zu Ende bringen würde. Das hat er genau so gesagt.“

„Bullshit“, zischte Baker von der Bank.

„Der Angeklagte möge sich bitte mäßigen“, sagte der Richter und seufzte. Baker hielt wieder den Mund.

Der Staatsanwalt wandte sich Sadie wieder zu. „Sie sind also davon ausgegangen, dass entweder Phil Richardson oder Amelia Graham sterben würden.“

„Ja“, sagte Sadie und nickte. „Daran hatte ich keinerlei Zweifel.“

„Hat Mr. Baker den Befehl gegeben, Miss Graham zu erschießen?“

„Ich habe gesehen, wie er seinem Komplizen zugenickt hat. Daraufhin hat mein Mann geschossen, um Miss Graham zu retten.“

„Soweit ich weiß, hat das FBI Ihr Handeln überprüft und keinerlei Grund zur Beanstandung gesehen.“

„So ist es“, sagte Sadie.

„Gut ... über die tödlichen Schüsse werde ich gleich mit Ihrem Mann sprechen, aber fürs Erste bin ich durch.“ Der Staatsanwalt nickte dem Richter zu, der Bakers Anwalt ansah.

„Möchte die Verteidigung die Zeugin befragen?“

„Selbstvertständlich“, sagte Bakers Anwalt und erhob sich. „Special Agent Whitman ... ich werde das Gefühl nicht los, dass Sie ziemlich inoffiziell vor Ort waren, als mein Mandant festgenommen wurde.“

„Nein“, erwiderte Sadie. „Wie ich bereits sagte, SSA Peter Warner wusste Bescheid. Er hat uns gebeten, abseits der offiziellen Operation des SWAT-Teams ein Auge auf Mr. Richardson zu haben.“

„Wer ist uns?“

Sadie ließ sich nicht anmerken, wie überflüssig sie die Frage fand. „Mein Mann und ich. Special Agent Matt Whitman.“

Der Anwalt drehte sich zu Matt um. Auch Baker wandte den Kopf und grinste frech in die Richtung der anderen. Sadie entging nicht, dass Phil düster zurückstarrte.

„Und wie Sie sagten, haben Sie dafür einen Privatwagen benutzt. War das autorisiert?“, fragte der Anwalt weiter.

„Ich kann wirklich nicht erkennen, wohin das führen soll“, unterbrach der Richter ihn. „Die Zeugin hat den Tathergang doch bereits ausführlich dargelegt.“

„Einverstanden ... ich habe noch eine andere Frage: Als Sie die Lagerhalle erreicht haben, in der mein Mandant sich mit den anderen Männern und Miss Graham aufgehalten hat, haben Sie und Mr. Whitman nicht auf Verstärkung gewartet, sondern sofort agiert, und das, obwohl Sie deutlich in der Unterzahl waren. Ist das nicht gegen die Vorschriften?“

Sadie versuchte, weder gereizt noch gelangweilt zu klingen. „Wie Sie vermutlich wissen, wurde Miss Graham in diesem Augenblick mit einer Waffe bedroht, ebenso wie Mr. Richardson, und wie Sie vermutlich ebenfalls nicht vergessen haben, war fast die gesamte Verstärkung durch einen Sprengsatz außer Gefecht gesetzt. Nun war es jedoch so, dass Ihr Mandant Mr. Richardson ein Ultimatum gestellt hat ...“

„Das muss Ihnen bedrohlich erschienen sein, jedoch hat er mir versichert, dass er niemandem geschadet hätte.“

Sadie sagte erst einmal nichts, sondern starrte den Anwalt einfach nur an. „Sie glauben auch noch an den Weihnachtsmann, oder?“

Während Gelächter im Saal laut wurde, klopfte der Richter auf sein Pult. „Ruhe! Ich muss doch sehr bitten, Agent Whitman. Mäßigen Sie sich.“

Er sagte das nicht ohne ein leichtes Grinsen im Mundwinkel, aber Sadie nickte trotzdem. „Entschuldigung, Euer Ehren.“

Der Richter nickte dem Anwalt wieder zu. Der Anzugträger war immer noch rot im Gesicht und versuchte, sich zu sammeln.

„Worauf ich hinaus will: Sie haben ohne Vorankündigung oder Warnung auf meinen Mandanten geschossen“, sagte er.

„Ja, weil mein Mann und ich, wie Sie ja bereits festgestellt haben, deutlich in der Unterzahl waren. Hätten wir uns erst noch offiziell angekündigt, hätte man vermutlich am Folgetag etwas über im Dienst erschossene FBI-Agenten in der Zeitung lesen müssen“, erwiderte sie trocken.

„Mein Mandant wurde ernsthaft verletzt“, entgegnete der Anwalt, ohne auf ihre Spitzen einzugehen.

„Nun, und seine Komplizen sind nun sogar teilweise tot, soweit ich gehört habe“, sagte Sadie.

„Was die Sache nicht besser macht.“

„Sie verteidigen doch Baker. Er lebt noch. Mr. Richardson und Miss Graham leben auch noch, genau wie mein Mann und ich. Das ist doch ein zufriedenstellendes Ergebnis.“

„Nun, über die tödlichen Schüsse werde ich gleich ebenfalls mit Ihrem Mann noch sprechen müssen ...“

„Aber nur, wenn Sie mir verraten, was das zur Sache tut“, unterbrach der Richter ihn. „Haben Sie noch Fragen an die Zeugin?“

Sadie konnte dem Anwalt ansehen, dass er überlegte. Eigentlich hatte er noch Fragen, aber dann schüttelte er den Kopf und entließ sie aus dem Zeugenstand. Sie stand auf, strich ihre Hose glatt und ging an Bakers Anwalt vorbei, ohne eine Miene zu verziehen. Er warf ihr einen Blick zu, der ziemlichen Frust verhieß.

„Als nächsten Zeugen rufe ich Special Agent Matthew Whitman auf“, sagte der Richter. Matt begegnete Sadie auf halbem Weg und ließ ebenfalls die ganze offizielle Prozedur über sich ergehen. Schließlich war es soweit, dass der Staatsanwalt loslegen konnte. Er befragte Matt ausführlich zu den Ermittlungen, seiner Undercoverarbeit und vor allem dem Moment, als Ernesto ihn gewarnt hatte, dass Baker jemanden auf Phil angesetzt hatte, um ihn zu liquidieren. Matt legte die Ereignisse aus seiner Sicht ausführlich dar und schilderte schließlich ebenfalls, wie er Phils Alleingang und Bakers Festnahme erlebt hatte.

„Sie haben zwei Männer erschossen“, sagte der Staatsanwalt. „Haben Sie das in Kauf genommen?“

Matt zögerte mit seiner Antwort. „Mehr oder weniger, ja. Ich hatte nicht viel Zeit. Wir beide hatten das nicht, meine Frau und ich. Sie hat auf Baker geschossen und ich habe sofort nachgelegt, ich wollte Druck machen und signalisieren, dass wir jetzt die Kontrolle übernehmen. Das war schwierig, denn Baker und seine Männer waren bewaffnet und in der Überzahl. So kam es, dass ich einen Mann verletzt und einen erschossen habe, bevor die anderen sich ergeben haben. Alle bis auf einen.“

„Das war Mr. Miles, der Amelia Graham weiterhin mit einer Waffe bedroht hat“, sagte der Staatsanwalt.

Matt nickte. „Genau. Ich habe ihn aufgefordert, Amelia gehen und die Waffe fallen zu lassen, was er nicht getan hat. Ich habe ebenfalls gesehen, wie Baker ihm zugenickt hat, so wie meine Frau es vorhin schon beschrieben hat.“

„Wie haben Sie diese Geste interpretiert?“

„Als Aufforderung, Miss Graham zu erschießen. Deshalb habe ich nicht lange gezögert und Mr. Miles erschossen.“

„Das FBI hatte diesbezüglich nichts zu beanstanden?“

Matt schüttelte den Kopf. „Das war eine angemessene Reaktion.“

„Sie haben Mr. Baker dann festgenommen?“

„Ja, auch wenn er sich gesträubt hat.“

„In Ordnung, das war es auch schon.“ Der Staatsanwalt trat zur Seite und der Richter rief Bakers Anwalt auf, der sich räusperte, als er aufstand. In diesem Moment huschte ein Gerichtsdiener nach vorn zum Richter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Richter nickte und schlug mit dem Hammer aufs Pult.

„Die Sitzung ist für einen Moment unterbrochen“, sagte er. Ein Raunen ging durch den Saal und Bakers Anwalt gestikulierte frustriert. Matt, der immer noch im Zeugenstand saß, warf den anderen einen irritierten Blick zu, doch Phil zuckte nur mit den Schultern. Sadie schaute sich um und versuchte, in den Gesichtern der anderen Anwesenden, besonders denen des Sicherheitspersonals, irgendeine Regung zu entdecken.

Der Richter und der Gerichtsdiener sprachen immer noch miteinander, doch das Sicherheitspersonal hatte noch keine Ahnung, worum es ging.

„Was ist denn los?“, fragte der Staatsanwalt schließlich.

„Ich muss Sie alle bitten, den Saal nicht zu verlassen“, ließ der Richter verlauten. Das Gemurmel schwoll wieder an.

„Ich habe nichts damit zu tun“, rief Baker. Niemand nahm Notiz von ihm.

„Was soll das alles?“, raunte Phil Sadie zu. Sie beobachtete, wie der Staatsanwalt mit dem Richter sprach, aber der schüttelte immer nur den Kopf.

„Wenn er die Sitzung unterbricht und niemand den Saal verlassen darf, ist etwas passiert“, sagte Sadie.

„Aber was?“

Sie überlegte konzentriert. Sie waren in Downtown, in der Nähe war so gut wie alles – die Union Station, das Dodger Stadium, zahllose öffentliche Parks und Gebäude. Und das Gericht selbst war natürlich auch kein uninteressantes Ziel.

„Vielleicht ist etwas hier im Gebäude passiert“, murmelte Phil. Sadie zuckte mit den Schultern und beobachtete weiter die anderen Anwesenden, aber das alles verriet ihr nichts. Kurzerhand stand sie auf und ging nach vorn.

Der Richter musterte sie fragend. „Special Agent?“

„Ist hier im Gebäude etwas passiert?“, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf.

„Was ist los?“, fragte sie weiter.

„Es ist noch zu früh.“

„Zu früh wofür?“ Sadie verstand kein Wort.

Der Richter seufzte. „Noch ist nicht klar, ob wir evakuieren sollten oder besser nicht.“

Sadie kniff die Augen zusammen. „Ein Anschlag, richtig?“

Der Staatsanwalt machte ein schockiertes Gesicht und der Richter rollte mit den Augen.

„Sie sind ja Profilerin“, erinnerte er sich.

„Was ist hier passiert?“

Er beugte sich vor und sagte mit gesenkter Stimme: „Noch ist nichts Genaues bekannt, aber nebenan in der Grand Park Station hat es Tote gegeben. Niemand weiß, was passiert ist, deshalb habe ich beschlossen, abzuwarten.“

„Okay, danke“, sagte Sadie. „Darf ich draußen vor der Tür telefonieren?“

„Von mir aus“, sagte der Richter. „Aber nicht weglaufen.“

Sadie nickte und ging an den Bänken vorbei zur Tür. Fragend blickten die anderen ihr hinterher. Als sie die Tür erreichte, wurde sie nicht gleich durchgelassen, aber der Richter gestattete es ihr noch einmal ausdrücklich und die Sicherheitsleute ließen sie raus.

Sie suchte Cassandras Nummer heraus und rief sie an. Tatsächlich war Cassandra gleich am Telefon.

„Bist du nicht in der Verhandlung?“, fragte sie überrascht.

„Doch, eigentlich schon. Hast du irgendwas von der Grand Park Station gehört?“

„Grand Park? Nein ... warte, das ist bei euch um die Ecke passiert?“

„Was denn?“, fragte Sadie angespannt.

„Ich habe vor ein paar Minuten mitbekommen, dass es in einer Metro-Station Tote gegeben haben soll. Ein Anschlag. Gerade stehen hier alle Kopf.“

„Ein Anschlag?“Also hatte Sadie recht gehabt.

„Ja ... warte, da kommt McNamara.“ Dem Rascheln entnahm Sadie, dass Cassandra das Telefon zur Seite hielt.

„Was ist los?“, hörte Sadie die Stimme ihres Chefs.

„Es ist Sadie. Sie ist doch im Gericht in Downtown.“

„Das Telefon.“ Augenblicke später richtete McNamara sich gleich an Sadie. „Kannst du mich verstehen, Sadie?“

„Ja, alles gut.“

„Wir haben gerade die Info bekommen, dass in der Metro ein Anschlag verübt wurde. Soweit ich das mitbekommen habe, ist es die Grand Park Station.“

„Der Richter hat gerade die Verhandlung unterbrochen und will niemanden vor die Tür lassen“, erklärte Sadie.

„Unsere Experten sind schon unterwegs. Nach allem, was wir wissen, liegen Tote am Bahnsteig. Sie sind erstickt, haben Schaum vor dem Mund.“

Sadie wurde eiskalt. „Was kann das sein?“

„Wir sind da noch nicht sicher, aber Anthrax kann es nicht sein, dafür ging das alles zu schnell. Wir vermuten Giftgas“, sagte Hank McNamara.

„Du liebe Güte.“ Für einen Moment hielt sie die Luft an.

„Tu dir selbst einen Gefallen und bleib, wo du bist. Dort solltet ihr relativ sicher sein.“

„Ja, aber ... Giftgas? Das ist hier um die Ecke!“

„Ich weiß noch nicht, was wirklich los ist. Bleibt drinnen. Ich melde mich bei dir, wenn ich mehr weiß.“

Schon war er wieder verschwunden und Cassandra war wieder am Apparat. „Alles okay bei euch?“

„Ja, schon ... das ist doch verrückt. Giftgas?“, wiederholte Sadie.

„Ich weiß auch nicht mehr. Kann ich irgendwas für dich tun?“

„Halt mich einfach auf dem Laufenden. Ich gehe wieder rein.“

„Okay, bis später.“

Sadie legte auf und steckte das Handy wieder weg, dann kehrte sie in den Gerichtssaal zurück und ging unter den neugierigen Blicken aller wieder nach vorn. Der Richter winkte sie heran und beugte sich vor.

„Mit wem haben Sie gesprochen?“, fragte er.

„SSA McNamara, Major Crimes Unit. Ich hatte gehofft, dass er weiß, was los ist.“

„Was hat er gesagt?“

So leise wie möglich sagte Sadie: „Die Kollegen vermuten Giftgas.“

Der Richter machte große Augen. „Hat er Ihnen etwas geraten?“

„Er sagte, wir sollen einfach bleiben, wo wir sind. Er meldet sich.“

„Geben Sie Bescheid“, bat der Richter. Sadie nickte und kehrte auf ihren Platz zurück.

„Der Zeuge darf den Zeugenstand verlassen“, sagte der Richter in Matts Richtung. Matt nahm ihn sofort beim Wort und kehrte zu den anderen zurück. Sadie beobachtete, wie der Richter, der Staatsanwalt und der Gerichtsdiener leise diskutierten.

„Was ist denn los?“, fragte Matt ebenso leise.

„Ich habe mit McNamara gesprochen“, sagte sie. „Es gab einen Anschlag auf die Metro, hier um die Ecke. Tote am Bahnsteig. Sie vermuten Giftgas.“

„Ach du Scheiße“, entfuhr es Phil. Sadie merkte, dass viele im Saal sie beobachteten und hofften, etwas aufzuschnappen, aber dafür sprachen sie zu leise.

„Und jetzt?“, fragte Matt.

„Wir sollen bleiben, wo wir sind. Hank meldet sich.“

In diesem Moment verließ der Gerichtsdiener den Saal.

„Was ist hier eigentlich los?“, fragte Bakers Anwalt.

„Es scheint einen Anschlag gegeben zu haben, nicht weit von hier entfernt“, sagte der Richter unpräzise.

„Einen Anschlag? Was soll das heißen?“

„Genaueres wissen wir noch nicht. Bewahren Sie einfach Ruhe und verlassen Sie nicht den Saal.“

„Also ist es gefährlich“, sagte der Anwalt.

„Ich werde es Ihnen sagen, sobald ich mehr weiß“, sagte der Richter.

„Jetzt bin ich noch nervöser als ohnehin schon“, murmelte Amelia gedämpft.

„Wer weiß, ob die Verhandlung überhaupt fortgesetzt wird“, sagte Matt.

„Hoffentlich ... sonst müsstest du noch ein zweites Mal hier antanzen!“, raunte Phil.

„Und wenn schon. Diese linke Bazille von Anwalt kann mich mal“, erwiderte Matt mit einem Blick in Richtung von Bakers Anwalt.

Sadie spürte das Vibrieren ihres Handys und zog es aus der Tasche. Sie hatte eine Nachricht von Cassandra erhalten. Die anderen steckten die Köpfe zusammen.

Sie haben einen Schnelltest gemacht. Es war Sarin. Geht bloß nicht raus ... die Umgebung wurde weiträumig abgesperrt.

Wortlos sahen die anderen einander an und Sadie ging mit ihrem Handy nach vorn zum Richter. Kommentarlos zeigte sie ihm Cassandras Nachricht und er nickte.

„Was ist los?“, fragte Bakers Anwalt.

Der Richter räusperte sich. „Scheinbar hat es einen Giftgasanschlag gegeben, deshalb bleiben wir alle, wo wir sind. Die Verhandlung wird vertagt.“

Ein Raunen ging durch den Saal. Baker sah alles andere als zufrieden aus, aber darauf achtete niemand. Phil legte einen Arm um Amelias Schultern und Matt stand auf, als Sadie zu ihnen zurückkehrte.

„Können wir nichts tun?“, fragte Matt.

Sadie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Da lassen sie uns doch jetzt sowieso nicht hin.“

„Wahrscheinlich nicht“, stimmte Phil zu. „Das ist ja großartig ...“

 

Etwa nach zwei Stunden sorgten Matt, Sadie und Phil dafür, dass sie als Angehörige des FBI das Gericht verlassen durften. Phil hatte Amelia unauffällig mit hinausgeschleust und als sie das Gerichtsgebäude endlich verließen, offenbarte sich erst das ganze Ausmaß des Anschlags.

Auf den Straßen fuhren außer Einsatzfahrzeugen von Polizei und Feuerwehr keine Autos, Sirenen hallten durch die Häuserschluchten, auch Fußgänger waren fast keine zu sehen. Den Freunden war es gleich, sie waren mit ihren Marken unterwegs und deshalb erwarteten sie keinen Ärger. Sie arbeiteten sich zum Auto vor und fuhren zum Wilshire Boulevard zurück. Unterwegs schaltete Matt das Radio ein, in dem sich die Meldungen überschlugen.

„Die Behörden haben soeben bestätigt, dass es um 10.18 Uhr Ortszeit in Los Angeles zu einem Giftgasanschlag gekommen ist. In der Grand Park Metro Station in Downtown Los Angeles haben Unbekannte eine tödliche Menge des Giftgases Sarin freigesetzt, wie ein Schnelltest ergeben hat. Bis jetzt ist von zahlreichen Todesopfern die Rede, die Behörden sprechen von mindestens zwanzig Toten. Zahlen über Verletzte liegen noch nicht vor, aber es könnten Hunderte sein, die gerade in umliegenden Krankenhäusern behandelt werden. Die Gegend wurde weiträumig abgesperrt, die Metro-Station wird zur Zeit untersucht und dekontaminiert. Bislang hat sich noch niemand zum Anschlag bekannt, die Ermittlungen laufen.“

Als Sadie einen Blick in den Rückspiegel warf, bemerkte sie bei Phil und Amelia betroffene Gesichter. Matt konzentrierte sich aufs Fahren und ließ sich nicht anmerken, was er dachte.

„Sarin?“, murmelte Phil schließlich. „Wer auch immer das war ... wo haben die das her?“

„Gute Frage“, sagte Matt.

„Das riecht doch schon förmlich nach Liebesgrüßen aus dem arabischen Raum. Syrien hat doch noch Sarin, wie wir jetzt wissen.“

„Und sie sind vermutlich nicht die einzigen. Wir müssen sehen, wer dahintersteckt und was das alles soll. Vielleicht können wir helfen.“ Matt blickte zu Sadie. „Vielleicht kannst du helfen.“

„Ich?“, fragte sie überrascht. „Hältst du das für eine Profiler-Sache?“

„Wer weiß. Ich dachte eigentlich, die Phase hätten wir hinter uns gelassen ... Scharmützel und Anschläge mit Bin Laden und seinen Gefolgsleuten.“

Sadie schüttelte den Kopf. „Das hört nicht mehr auf. Jedenfalls nicht so bald. Wir sind in der arabischen Golfregion einmarschiert, haben alles verwüstet, haben versucht, alle Despoten unschädlich zu machen ... und als Dank gab es den Elften September. Seitdem schieben sich doch alle gegenseitig den schwarzen Peter zu.“

„Gut gesagt“, murmelte Phil.

„Wir tragen auch eine gewisse Schuld daran. Das sieht nur keiner.“

„Ob das wirklich aus der Ecke kommt?“, überlegte Matt. „Es hätte ja auch niemand je mit einem Comeback der Russen gerechnet.“

„Vielleicht ist das überhaupt nicht politisch motiviert“, sagte Sadie.

„Wie kommst du darauf?“, fragte Phil.

„Ich bin zwar zu jung, um mich selbst daran zu erinnern, aber Mitte der neunziger Jahre hat eine japanische Sekte in der Tokioter U-Bahn einen ähnlichen Anschlag verübt“, sagte Sadie.

„Eine Sekte?“, fragte Phil. „Noch nie gehört.“

„Ich erinnere mich daran“, sagte Matt.

„Alter Mann“, ärgerte Phil ihn.

„Damals muss ich vierzehn oder fünfzehn gewesen sein“, sagte Matt, ohne auf die Stichelei einzugehen. „Das war eine ähnliche Geschichte.“

„Vielleicht gehört das hier in dieselbe Kategorie“, sagte Sadie.

„Wunderbar. Ein Comeback der Verrückten und Übergeschnappten“, brummte Matt und lenkte den Challenger auf den Parkplatz des FBI. Im Gebäude und davor ging es zu wie in einem Bienenstock. An der Sicherheitsschleuse kümmerte Phil sich darum, dass Amelia einen Besucherausweis bekam. Staunend schaute sie sich um, während sie zu viert zu den Aufzügen gingen und nach oben fuhren. Dort herrschte ebenfalls Hochbetrieb. Unverzagt folgten die anderen Sadie in ihr Büro, wo Cassandra gleich aufsprang, als sie ihre Freunde sah. Erleichtert umarmte sie Sadie und begrüßte auch die anderen.

„Da seid ihr ja“, sagte sie.

„Das ist Amelia“, stellte Phil seine Verlobte vor.

„Ah, jetzt lernen wir uns auch mal kennen! Ich bin Cassie“, sagte Cassandra und schüttelte Amelias Hand. „Ein Glück, dass euch nichts passiert ist! Ist ganz Downtown nicht immer noch abgesperrt?“

„Ja, man kommt nicht rein. Raus ist ein bisschen einfacher“, sagte Matt.

„Habt ihr denn irgendwas davon mitbekommen?“, fragte Cassandra.

„Nein, nichts“, sagte Sadie. „Man hat drinnen nichts gehört. Bis der Richter benachrichtigt wurde, hatten wir keine Ahnung.“

„Im Moment steht hier alles Kopf, das habt ihr sicher schon bemerkt ... Soweit ich weiß, sind im Moment alle da – Polizei, FBI, Homeland Security, einfach jeder. Sie hatten wohl gleich Sarin oder ähnliches vermutet und haben schnell darauf getestet. Meine letzte Info ist, dass es dreiundzwanzig Tote gibt, Tendenz steigend ... und keiner weiß, wieviele Verletzte.“

„Das ist Wahnsinn“, sagte Sadie.

„Allerdings. Alle drehen völlig durch. McNamara telefoniert dauernd, er sagte, dass niemand einen Hinweis auf einen derartigen Anschlag hatte. Es gibt auch noch kein Bekennerschreiben oder Ähnliches.“

„Gibt es denn eine Vermutung?“, fragte Matt.

„Ich glaube, die NSA kennt heute keinen Feierabend ... aber nein, bisher weiß niemand etwas.“

„Das ist doch verrückt“, sagte Phil. „Niemand kommt einfach so an Sarin! Und das bereitet man auch nicht unentdeckt vor.“

„Ja, das habe ich mir auch gedacht. Ich bin bloß froh, dass es euch nicht erwischt hat ...“

Matt nickte ernst. „Ich werde mal zu meiner Abteilung gehen.“

„Ich schaue auch mal beim SWAT vorbei“, sagte Phil und blickte zu seiner Freundin. „Kommst du mit?“

„Störe ich nicht?“, fragte Amelia.

„Werden wir sehen. Bis später.“

Sie verabschiedeten sich voneinander, dann war Sadie mit Cassandra allein. Die beiden gingen zu dem Fernseher, der kurz vor dem Ausgang an der Wand hing. Einige andere Kollegen waren ebenfalls dort, um sich die aktuellsten Berichte anzusehen.

Hubschrauber flogen über Downtown, um das Chaos von oben zu filmen. Es gab Aufnahmen der abgesperrten Metro-Station, dann wurde die Nachrichtensprecherin wieder eingeblendet. Lauftexte am unteren Bildschirmrand verkündeten die neuesten Informationen. Dann folgten Aufnahmen aus einem verwackelten, etwas unscharfen Handyvideo, das jemand in der Metro-Station gedreht hatte.

Der Bahnsteig war nicht mehr so voll wie zur morgendlichen Rush Hour, aber es waren immer noch zahlreiche Leute dort. An keinem der beiden Gleise stand ein Zug. Plötzlich brachen die ersten Menschen zusammen. Andere standen an die Wand gelehnt da und schnappten nach Luft. Sadie bemerkte, dass jemand direkt an den Gleisen stand und sich übergab. Die ersten Menschen, die am Boden lagen, krampften und hatten heftige Zuckungen. Als es immer mehr Menschen wurden, brach Panik aus.

„Zur Stunde überprüfen die Behörden die Überwachungsaufnahmen aus der Metro-Station“, sagte die Nachrichtensprecherin, die wieder eingeblendet wurde. „Bislang ist immer noch nicht bekannt, wer hinter diesem grauenvollen Anschlag steckt. Ermittler des FBI vermuten, dass das Sarin in den Abfalleimern auf dem Bahnsteig versteckt war. Vom ersten Kontakt mit dem Gift bis zum Tod dauert es etwa zehn Minuten. Glücklicherweise verflüchtigt sich das Gift in der Luft schnell, so dass die Metro-Station bald keine Gefahr mehr darstellen dürfte.“

„Ich kann mich noch an die Anschläge in Tokio erinnern“, sagte Cassandra.

„Da war ich noch zu klein“, sagte Sadie. „Ich glaube, in dem Jahr bin ich in die Schule gekommen.“

„Das war 1995. Wer tut denn sowas?“

„Gute Frage“, sagte Sadie und ging wieder zu ihrem Schreibtisch. Cassandra folgte ihr langsam und beobachtete, wie Sadie die FBI-Datenbank öffnete und die Kampfstoffdatei auswählte. Sie war überrascht, festzustellen, dass es etwas gab, das noch giftiger war als Sarin. VX-Giftgas wurde als hundertmal giftiger eingestuft als Sarin, wirkte aber nicht ganz so schnell und verflüchtigte sich auch langsamer. Sie kannte es bloß aus dem Fernsehen, aus dem Actionfilm The Rock, in dem sich jemand mit VX-bestückten Raketen auf Alcatraz verschanzt hatte.

Aber damit hielt sie sich nicht länger auf, sondern widmete sich der Beschreibung von Sarin. Cassandra schaute ihr über die Schulter, während sie las.

Sarin war ein hochwirksames Nervengift, bei dem schon das Einatmen winzigster Mengen tödlich wirken konnte. Zwar war die Substanz als Massenvernichtungswaffe geächtet und verboten, aber das hatte mutmaßlich die syrischen Machthaber zuletzt auch nicht davon abgehalten, es gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen. Das bloße Einatmen genügte, um innerhalb weniger Minuten Atemnot, Schweißausbrüche, Zuckungen und Krämpfe zu entwickeln und schließlich durch eine Atemlähmung zu ersticken.

Etwas weiter unten fand Sadie den Verweis auf andere Kampfeinsätze des Giftes. Der Irak hatte Sarin während des Golfkriegs gegen den Iran eingesetzt und ein längerer Absatz befasste sich mit dem Anschlag der japanischen Aum-Sekte in Tokio 1995. Die Sekte selbst hatte es nicht unbedingt als Anschlag verstanden – die verquere Idee dahinter war, dass die durch das Gas getöteten Menschen durch ihre Ermordung auf eine höhere spirituelle Stufe aufsteigen sollten.

Sadie vertiefte sich weiter in die Beschreibungen des Anschlags. Es konnte kein Zufall sein, dass auch jetzt Sarin in einer U-Bahn-Station freigesetzt worden war. Sie fragte sich, was das zu bedeuten hatte.

Die Aum-Sekte hatte das Sarin selbst hergestellt, viele gebildete Menschen waren darin Mitglied – bis heute. Allerdings war das Sarin von keiner guten Qualität gewesen, deshalb hatte es nicht sehr effektiv gewirkt. Nichtsdestotrotz waren damals dreizehn Menschen gestorben und über sechstausend verletzt worden. Sadie staunte angesichts dieser Zahl. Die Drahtzieher hinter den Anschlägen hatte man zum Tode verurteilt.

Sarin war im Dritten Reich in Deutschland erstmals synthetisiert worden und die Nazis hatten es massenhaft hergestellt, aber nicht eingesetzt. Später hatten Amerikaner und Russen während des Kalten Krieges Sarin eingelagert – nur für den Fall. Der chilenische Diktator Pinochet hatte ebenfalls Sarin herstellen lassen und gegen die Opposition eingesetzt. Das Nervengift sorgte dafür, dass Nervenzellen unter Dauerbeschuss standen – zumindest verstand Sadie den Absatz entsprechend, der die Funktionsweise des Giftes beschrieb. Sie musste tief in ihrem Wissen aus der allgemeinen Psychologie und dem Biologieunterricht kramen, um sich die Fachbegriffe vor Augen zu führen.

Als Gegenmittel konnte Atropin eingesetzt werden, das dieses Dauerfeuer in den Nervenbahnen unterbrach. Allerdings war Atropin selbst giftig und konnte in entsprechenden Dosen ebenfalls tödlich wirken. Sadie wusste, dass Soldaten früher mit Atropin ausgestattet worden waren, um sich im Notfall retten zu können.

„Wer soll das gewesen sein?“, überlegte Cassandra neben ihr. „Wenn man der Kriegswaffenkonvention folgt, dann müssten doch die Bestände hierzulande vernichtet worden sein.“

„Wahrscheinlich ... aber vielleicht ist es ja jemand wie diese japanische Sekte“, sagte Sadie.

„Glaubst du das? Vielleicht kommt es auch aus Syrien. Ist noch nicht so lang her, dass es dort benutzt wurde.“

„Meinst du?“

Cassandra zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Mal sehen, wer sich bekennt.“

„Ja, das interessiert mich auch ...“ Nachdenklich stand Sadie auf und ging auf die Suche nach ihrem Chef. Sie fand Hank McNamara in seinem Büro am Telefon und wollte schon wieder verschwinden, aber er hob die Hand und signalisierte ihr, zu bleiben, deshalb wartete Sadie im Türrahmen. Er winkte sie herbei und sie nahm vor seinem Schreibtisch Platz.

„Ja, ich verstehe. Kein Problem. Sie melden sich. Wiederhören.“ Er legte auf und lehnte sich seufzend zurück. „Gerade balgt Homeland sich mit uns um die Zuständigkeit in dem Fall.“

„Warum das?“, fragte Sadie.

„Sie beharren drauf, dass die NSA Hinweise auf einen islamistischen Hintergrund hatte. Attentäter aus dem Ausland. Ich sagte, dass es solange nicht ihr Fall ist, wie das nicht bewiesen ist ...“

„Eben“, sagte Sadie. „Seit wann reißen die sich so um einen Fall?“

McNamara zuckte mit den Schultern. „Hab ich mich auch gefragt. Und das, wo die NSA doch gerade Prügel bezieht, denn eigentlich wusste sie überhaupt nichts.“

„Doch nicht?“

„Nichts Handfestes. Nichts, das irgendwas beweisen oder einen Einsatz von Homeland rechtfertigen würde. Aber sei’s drum ... was kann ich für dich tun? Ich bin ja froh, dass euch nichts passiert ist und dass ihr es auch heil wieder aus Downtown herausgeschafft habt. Cassandra sagte mir zwischendurch, dass du dort bist. Ich hatte die Gerichtsverhandlung gar nicht mehr auf dem Schirm.“

„Wir haben ehrlich gesagt gar nichts mitbekommen, bis die Verhandlung unterbrochen wurde. Mein Mann wird nochmal hin müssen, Bakers Anwalt wollte ihn eigentlich gerade ins Kreuzverhör nehmen.“

McNamara lachte. „Na wunderbar. Aber du bist durch?“

„Ja, ich habe meine Aussage gemacht. Bakers Anwalt ist ein ... nein, das sage ich jetzt nicht. Ich bin gut erzogen.“

„Ich mag deinen Sarkasmus“, stellte er grinsend fest.

Sadie lachte. „Wie du dir denken kannst, wollte er darauf hinaus, dass wir inoffiziell unterwegs waren und die Männer ganz ohne Not erschossen haben.“

„Na, das wüsste ich aber ... aber du bist doch nicht hier, um das mit mir zu besprechen.“

„Nein, natürlich nicht. Eigentlich wollte ich fragen, ob es irgendetwas gibt, das ich in dem Sarin-Fall tun kann ... oder Cassandra und ich.“

„Hm“, machte McNamara und legte nachdenklich die Stirn in Falten. „Ich weiß es nicht, Sadie. Ich weiß deinen Einsatz zu schätzen, aber gerade sind andere Einsatzkräfte gefragt. Im Moment sehe ich da keinen Profiling-Fall.“

„Ich, ehrlich gesagt, auch nicht ... Ich wollte nur meine Hilfe anbieten. Wenn du sie brauchen kannst, sag Bescheid.“

„Natürlich. Ich bin übrigens froh, dass Cassandra jetzt in unserem Team ist. Sie macht ihre Sache gut, aber das hatte ich auch nicht anders erwartet.“

Sadie lächelte fröhlich. „Das ist schön zu hören. Ich habe mich schon drüben in Virginia immer gut mit ihr verstanden.“

„Ist Dormer es nicht eigentlich langsam leid, dass ihm dauernd die guten Kollegen durch irgendwelche Verrückten abhanden kommen?“

Sprachlos sah Sadie ihn an. Mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet.

McNamara lächelte und studierte die Maserung des Tisches. „Ich habe absichtlich nie etwas gesagt, aber wahrscheinlich hast du dir längst gedacht, dass ich es weiß.“

„Wenn sogar Warner es weiß ...“ erwiderte Sadie uneindeutig.

„Das ist hier kein großes Thema. Warum auch? Du hast auch nie eins draus gemacht.“

„Wusstest du es von Anfang an?“

Er nickte. „Schon als ich dein Foto gesehen habe. In deiner Akte steht ja auch dein Mädchenname, das war also nicht schwer herauszufinden.“

„Danke, dass du nie etwas gesagt hast“, murmelte Sadie leise. Sie spürte, wie die Röte in ihr aufstieg.

„Ich dachte mir, dass dir das nicht recht ist. Kann ich auch verstehen. Diese Schlammschlacht in den Medien letztes Jahr war unwürdig. Übrigens, wenn du es wissen willst, war es für mich eher ein Grund dafür als dagegen. Ich wusste, dass du gut bist.“

„Ich bin nicht gut darin, Verlegenheit zu verstecken“, gab Sadie zu.

McNamara lächelte. „Entschuldige, das wollte ich nicht. Ich wollte dir eigentlich nur ein Kompliment machen. Ich bin froh, dich und Cassandra zu haben.“

„Danke.“ Weil niemand mehr etwas sagte, stand Sadie schließlich auf und verließ McNamaras Büro wieder. Sie hatte ihren Schreibtisch noch gar nicht ganz erreicht, als Cassandra sie neugierig in Augenschein nahm.

„Du bist ja knallrot“, stellte sie grinsend fest.

„Hör bloß auf“, sagte Sadie und nahm wieder neben ihr Platz. „Er hat mir gerade gesagt, dass er von Anfang an wusste, wer ich bin.“

„War doch klar“, erwiderte Cassandra trocken.

„Ich war auch nicht wirklich überrascht ... aber er hat mich ziemlich gebauchpinselt. Uns beide. Er ist zufrieden mit uns.“

„Was wolltest du denn von ihm?“

„Ich habe ihm unsere Hilfe abgeboten, aber noch sieht er keinen Profiler-Fall darin.“

„Ich auch nicht, ehrlich gesagt ...“ Cassandra seufzte. „Ich kann mich wahnsinnig schwer konzentrieren.“

„Geht mir auch so.“

Es herrschte eine laute, unruhige Stimmung im Büro, niemand arbeitete wirklich konzentriert. Es wurde telefoniert, die Kollegen redeten durcheinander. Die Major Crimes Division, zu der Sadie und Cassandra gehörten, hätte zwar grundsätzlich in einem solchen Fall ermitteln können, aber im Moment waren noch Forensiker und Spurensicherung vor Ort. Experten für Massenvernichtungswaffen, Terrorismusexperten, Innere Sicherheit – noch waren die Experten für Schwerverbrechen nicht an der Reihe.

Sadie war froh, als die Zeit für den Feierabend gekommen war. Sie hatte gerade erst überlegt, ihren Rechner auszuschalten, als Matt in der Tür erschien, um sie abzuholen. Cassandra war ebenfalls damit beschäftigt, Feierabend zu machen.

Sadie winkte ihr zu und verabschiedete sich, bevor sie zu Matt ging und mit ihm den Aufzug betrat. Zu ihrer Überraschung waren sie allein.

„Sehen bei euch auch alle nur fern?“, fragte Matt.

„So ziemlich ... McNamara kann uns gerade sowieso nicht brauchen.“

„Ja, wir haben ehrlich gesagt auch nichts zu tun. Wir sind die falsche Abteilung für diese Angelegenheit. Ich habe vorhin geklärt, wann ich wieder im Gericht antanzen muss ... habe ich eine Lust.“

„Und?“, fragte Sadie.

„Nächste Woche. Diese Verhandlungen ziehen sich immer ewig.“

„McNamara sagte mir vorhin, dass er die ganze Zeit wusste, wer ich bin.“

Matt sah sie mit einem unbestimmten Gesichtsausdruck an. „Da hat er aber lange den Mund gehalten.“

„Er schätzt mich gerade deswegen.“

„Kann ich verstehen.“

„Das ist makaber“, sagte Sadie, während sie den Aufzug verließen.

„Ist es nicht. Du bist vom Fach. Wenn ich hier was zu sagen hätte, würde ich auch die Profilerin einstellen, die Serienmörder aus persönlicher Anschauung kennt.“

Sadie warf ihm einen schiefen Blick zu. „Na, danke.“

„Ach komm.“ Matt legte einen Arm um ihre Schultern. „Ist eben so. Sieh es als ... persönliche Expertise.“

„Klasse. Ich hätte lieber verzichtet.“

„Ja, ich weiß.“ Die Hitze traf sie wie immer heftig, als sie das klimatisierte Gebäude verließen. Auf den Straßen war noch nicht viel los und Matt riskierte, den Freeway zu nehmen, deshalb waren sie schnell zu Hause. Dort angekommen, beeilte er sich, nach oben zu kommen und sich den Anzug und die Krawatte vom Leib zu reißen. Als er nur noch in Shorts dastand, schmiegte Sadie sich von hinten an ihn. Auch sie sah zu, dass sie sich umziehen konnte und trug in diesem Moment nur noch eine Bluse, was Matt natürlich nicht verborgen blieb.

„Das ist jetzt aber schon ziemlich heiß“, sagte er und versuchte, hinterrücks nach ihr zu tasten. Sadie lehnte den Kopf an seine Schulter und seufzte. Als er die Hand in ihrem Slip verschwinden lassen wollte, hielt sie sie sanft fest.

„Nicht jetzt“, sagte sie.

„Okay.“ Matt zog die Hand zurück und drehte sich um. „Hätte ich jetzt gedacht.“

„Nein ... ich bin nicht in Stimmung. Allgemein nicht.“

„Nicht schlimm.“ Matt küsste sie auf die Stirn und verschwand im Bad. Sadie blickte ihm hinterher und zog dann auch ihre Bluse aus, um dann wie meist eine Trainingshose und ein Top überzuziehen.

Nein, sie war wirklich nicht in Stimmung. Ihr war nach Streicheleinheiten, aber nicht nach mehr. Glücklicherweise hatte Matt damit nie ein Problem. Inzwischen stand auch nicht mehr zwischen ihnen, was ein Jahr zuvor geschehen war, aber manchmal war Sadie eben auch ein wenig launisch – so wie Matt auch Tage hatte, an denen ihm der Sinn nach gar nichts stand.

Schließlich ging sie nach unten und fütterte die Katzen, die bereits hungrig in der Küche herumlungerten. Hunger hatte Sadie auch, aber sie hatte keine Lust, zu kochen. Sie fühlte sich wie verdreht und schielte in Richtung der Pinnwand, an der die Speisekarte von Gino’s Pizza hing. Matt betrat gerade die Küche und bemerkte, was ihr durch den Kopf ging.

„Gute Idee“, sagte er trocken.

„Ich will nicht kochen. Aber ich habe Hunger.“

„Pizza Capricciosa?“

Sadie nickte und hörte zu, wie Matt telefonisch bei Gino Pizza bestellte – Capricciosa und Thunfisch mit Zwiebeln. Das kannte Gino auch schon von ihnen, sie bestellten meistens dasselbe. Anschließend schaltete Matt die Nachrichten ein. Sie hatten beide das Bedürfnis, auf dem Laufenden zu bleiben.

Inzwischen wurde auch in den Medien munter darüber spekuliert, wer hinter dem Anschlag steckte. Als allererstes nannten alle Sprecher und Experten islamistische Terrorgruppierungen, nur selten wurden auch andere Möglichkeiten in Betracht gezogen. Schließlich wurden wieder Bilder aus der U-Bahn-Station und Downtown gezeigt. Tote, Verletzte, Chaos.

„Ich bin gespannt, wer es wirklich war“, sagte Matt.

„Bisher weiß ja niemand etwas.“

„Das habe ich schon mitbekommen. Aber Islamisten ... das glaube ich nicht. Das wäre zu einfach.“

„Ist das ein Kriterium für dich?“, fragte Sadie.

„Nein, so meine ich das nicht. Aber es gibt so viele Extremisten. Ich meine, damals in Japan war es eine Sekte und davon haben wir hier in den Staaten definitiv genug.“

„Das stimmt“, sagte Sadie zwischen zwei Bissen. Im Fernsehen kam gerade ein Sprecher der NSA zu Wort. Die ganze Überwachung hatte also nicht geholfen. Sogar im Fernsehen wurde darauf eingegangen, dass die Homeland Security und das FBI sich nicht einig waren, wer nun die Leitung der Ermittlungen übernehmen sollte. Es war ein einziges Chaos.

„Ich bin nur froh, dass es nicht noch schlimmer gekommen ist. Ganz schön verrückt, dass wir quasi um die Ecke waren, als es passiert ist.“

„Allerdings“, murmelte Matt und biss in sein Pizzastück.

 

 

Dienstag

 

Kaffeeduft lag in der Luft, als Sadie das Büro betrat. Es war ungewöhnlich still. Sadie ging zu ihrem Schreibtisch durch, fuhr den Computer hoch und warf einen Blick aus dem Fenster. Es war ein wundervoller, sonniger Junitag. Los Angeles stand trotzdem Kopf.

Cassandra erschien im Büro und steuerte gleich auf Sadie zu. Ihre Schreibtische standen gleich nebeneinander, insofern war Sadie nicht überrascht, doch Cassies Gesichtsausdruck war unerwartet ernst.

„Hey“, sagte Sadie und lächelte ihr zu. Cassandra blieb vor ihr stehen und zog einen geöffneten Briefumschlag aus ihrer Tasche. Sadie erkannte einen Stempel vom Gericht in Washington und hatte einen Verdacht. Sie zog den Brief heraus und überflog ihn rasch. Cassandra wurde zur Zeugenaussage geladen, in der Hauptsache gegen Lucas Whittaker. Das Datum war der zwanzigste Juli.

Sadie nickte. „Okay. Bin dabei.“

Cassandra setzte sich auf ihren Stuhl und beugte sich vor. „Das war gestern in der Post. Ich habe heute Nacht fast kein Auge zugemacht.“

Wortlos legte Sadie den Brief beiseite, griff nach Cassandras Hand und seufzte. „Wir können es vorher üben. Ich bin immer bei dir. Denk einfach daran, dass er mithilfe deiner Aussage bestraft werden kann.“

Sie war nicht überrascht, dass Cassandra mit den Tränen kämpfte. „Das ist die Hölle, Sadie. Ich stelle mir vor, wie ich im Zeugenstand stehe und schildern muss, was passiert ist ...“

„Wir beantragen den Ausschluss der Öffentlichkeit. Das ist doch klar.“

„Ja, aber ich will es überhaupt nicht erzählen. Er wird dort sein. Ich habe einfach nur Angst.“ Cassandra schloss die Augen und rang mühsam die Tränen nieder.

Sadie drückte ihre Hand. „Du schaffst das. Du bist stark.“

Cassandra schluckte. „Ich fühle mich nicht so ...“

Es war zum Glück niemand in der Nähe, der ihnen zugehört hätte. Trotzdem sagte Sadie mit gesenkter Stimme: „Ich weiß, wie das ist. Das Gefühl kenne ich nur zu gut, aber ich lebe damit. Dass ich mich beinahe umgebracht hätte, hat mir die Augen geöffnet. Seitdem mache ich einfach weiter.“

„Ja, aber du machst das gut ... du kannst das. Ich meine, du hast danach geheiratet! Ich bin fürs Erste durch mit Männern ...“

„Kann man dir nicht verübeln. Und wenn du glaubst, dass es zwischen Matt und mir einfach war, hast du dich aber auch geschnitten.“

Cassandra lächelte unwillig. „Ich bin froh, dass ich mit dir reden kann.“

„Kannst du immer. Ich bin froh, dass du hier bist.“

Die beiden tauschten einen kameradschaftlichen Blick, dann fuhr auch Cassandra ihren Rechner hoch und holte sich einen Kaffee. Sadie steckte die Vorladung wieder in den Umschlag und legte sie auf Cassandras Tisch. Es würde bestimmt nicht leicht für Cassandra sein, im Gerichtssaal gegen ihren Vergewaltiger aussagen zu müssen. Aber sie würde es schaffen und Sadie half ihr dabei. Das hatte sie ihr angeboten und dazu stand sie.

Schließlich nahm Cassandra wieder neben ihr Platz. Sadie wandte sich ihrem Rechner zu und überlegte, was sie nun tun sollte. Die Stadt stand Kopf wegen des Anschlags am Vortag und sie selbst saß nur herum und starrte Löcher in die Luft. Das fühlte sich falsch an.

Ihr Blick fiel auf das Dokumentensymbol des Fachartikels, den sie vor kurzem begonnen hatte. Da hatte sie sich von der britischen Profilerin Andrea Thornton inspirieren lassen, die auch regelmäßig wissenschaftliche Essays über ihre Arbeit veröffentlichte.

Nach langen Überlegungen hatte sie sich dazu entschlossen, tatsächlich über ihren Vater zu schreiben. Sie hatte sogar vor, ihn unter ihrem neuen, richtigen Namen zu veröffentlichen. Nicht sofort, aber irgendwann vielleicht. Allmählich machte es ihr nichts mehr aus, wenn andere Menschen über ihre Identität Bescheid wussten, seien es Kollegen oder jemand anders. Die schlimmen Folgen, die sie immer daraus befürchtet hatte, waren nie eingetreten. Zwar ging sie immer noch nicht damit hausieren, die Tochter des Oregon Stranglers zu sein, aber sie beschloss, dazu zu stehen. Und die Fachwelt freute sich vielleicht darüber, dass sie als Profilerin und Angehörige so viel zu einem Serienmörder sagen konnte.

Doch sie konnte sich kaum konzentrieren und verwarf die Idee, an ihrem Essay zu arbeiten, schnell wieder. Der Grand Park-Anschlag ließ sie nicht los. Zwar hatte niemand sie um Hilfe gebeten, aber sie hatte das Gefühl, etwas tun zu müssen. Und sie wusste auch schon, was.

Sie griff nach dem Telefon und wählte Nicks Nummer in Quantico. Cassandra, die neugierig auf Sadies Telefondisplay schielte, grinste wissend.

„Du rufst bei Nick an?“

„Ja .... Arbeitet seine Lebensgefährtin nicht in der BAU-Antiterroreinheit?“

„Sheila? Ja. Ah, jetzt verstehe ich ...“

Sadie grinste und hielt den Hörer an ihr Ohr. Zu ihrer Freude erreichte sie Nick problemlos.

„Hey, Sadie“, sagte er. „Dass du überhaupt Zeit hast, um zu telefonieren!“

„Ich bin nicht an dem Fall dran. Noch nicht.“

„Im Ernst?“, fragte Nick erstaunt, was wiederum Sadie überraschte.

„Ja ... warum wundert dich das?“

„Weil es immer noch kein Bekennerschreiben oder etwas Derartiges gibt. Da gibt es einige Ungereimtheiten, bei denen ich als Terrorermittler einen Profiler hinzuziehen würde.“

Sadie grinste belustigt. „Ich würde auch gern.“

„Das dachte ich mir. Rufst du deshalb an?“

„Ich wollte dich nach deiner Lebensgefährtin fragen. Arbeitet die nicht in der Antiterroreinheit?“

Nick lachte. „Du kennst Sheila noch gar nicht, oder? Aber ja, tut sie. Willst du mir ihr sprechen?“

„Du kennst mich. Ich habe sowieso gerade Leerlauf und deshalb meine Nase in den Fall gesteckt. Ich dachte, ich könnte ja mal mit jemandem vom Fach sprechen ...“

„Ach, du fehlst mir hier! Cassandra übrigens auch. Wie geht es ihr?“

„Sie sitzt gerade neben mir und verfolgt die Nachrichten. Es geht ihr prima. Sie hat sich gut eingelebt“, sagte Sadie. Cassandra drehte sich zu ihr und lächelte, als sie merkte, dass das Gespräch auf sie gekommen war.

„Bestell ihr liebe Grüße. Ich werde dir jetzt mal Sheilas Nummer geben, aber sei gewarnt. Wie du dir denken kannst, steckt sie heute in einer Menge Meetings. Vielleicht erwischst du sie zwischendurch und sie kann dir etwas sagen. Ihre Einheit macht sich natürlich auch Gedanken zu der Sache.“

„Klar, wer tut das nicht.“

„Habt ihr denn schon Erkenntnisse?“

„Ich weiß eigentlich nicht mehr, als in den Medien gesagt wird. Ich verstehe nur nicht, warum die Behältnisse mit Gift mit einem Fernzünder versehen waren und nach der Rush Hour gezündet wurden.“

„Siehst du, und deshalb sollten die dich ins Boot holen. Du stellst wie immer die richtigen Fragen.“

„Und du meinst, die Ermittler tun das nicht?“

„Nein ... ich fürchte, jetzt wird wieder eine Hetzjagd auf jeden Mann mit zu dunkler Hautfarbe, zu langem Bart und einem Turban veranstaltet, obwohl man noch überhaupt nichts weiß. Irgendwas ist mir an dem Fall auch noch nicht ganz klar, aber es ist nicht so, wie alle im Moment glauben.“

„Nein, das stimmt. Das glaube ich auch nicht. Mal sehen ... vielleicht erreiche ich Sheila ja.“

„Hast du was zu schreiben?“ Als Sadie bejahte, fuhr Nick fort und diktierte ihr eine Telefonnummer. „Sie heißt Sheila Hopkins und sie wird wissen, wer du bist. Sei nicht überrascht.“

„Bin ich nie. McNamara hat mich da gestern auch kalt erwischt. Er wusste auch immer Bescheid.“

„Das wundert mich nicht, aber von mir hat er das nicht.“

„Ich weiß. Danke, Nick.“

„Halte mich auf dem Laufenden“, bat er. Sadie versprach es, verabschiedete sich von ihm und legte auf.

„Viele Grüße“, sagte sie zu Cassandra.

„Danke. Ich muss ihn auch mal wieder anrufen. Lass mich raten, er vermisst mich?“

„Er vermisst uns beide. Armer Nick.“

„Ich vermisse die BAU auch ein bisschen, aber ich bin nicht sehr traurig, dass es hier doch ein wenig ruhiger zugeht. Weniger Reisetätigkeit, weniger krasse Fälle. Und ein Feierabend, mit dem man meistens rechnen kann ...“

„Das kenne ich und ja, darüber bin ich auch froh. Langeweile habe ich hier zwar nicht und irgendwie werden auch die Sadisten nicht weniger, aber es ist anders.“

Cassandra lachte sich kaputt. „Du bist wirklich eine Marke, Sadie. Ich habe dir gar nicht erzählt, dass ich in das Video reingeschaut habe, das dich im Verhör mit Cook zeigt.“

Sadie war erstaunt. „Nein, hast du nicht.“

„Ich musste wissen, wie du mit Cook gesprochen hast. Das hat mir keine Ruhe gelassen. Das war unglaublich, Sadie. Der hat dich überhaupt nicht beeindruckt. Nur deinen richtigen Namen hätte er nicht sagen dürfen.“

Mürrisch zog Sadie eine Augenbraue hoch. „Das ist nicht mein richtiger Name, das ist der Name, mit dem ich geboren wurde. Aber ich weiß, was du meinst. Da hat er mich erwischt, das kam unvorbereitet. Aber ja ... ich habe ihn auseinandergenommen.“

„Nur meinetwegen.“ Cassandra lächelte dankbar und Sadie erwiderte ihr Lächeln, bevor sie nach dem Hörer griff und die Nummer eingab, die Nick ihr gegeben hatte. Erwartungsgemäß ging niemand ans Telefon, aber Sadie beschloss, einfach abzuwarten und in der Zwischenzeit etwas zu recherchieren.

Sie hatte sich während ihrer Ausbildung früh in Richtung forensische Psychologie orientiert, auch an der FBI-Academy. Sie hatte alle klassischen Serienmordfälle studiert, wusste so ziemlich alles über Paranoia, Schizophrenie, Sadismus, Vergewaltigung, Mordmethoden und alles, was dazugehörte. Aber Terrorismus war eigentlich nicht ganz ihre Baustelle. Das war jedoch nicht schlimm, denn dafür gab es ja die FBI-Datenbank.

Sie war überrascht, zu sehen, dass es viele verschiedene Arten und Ausprägungen von Terrorismus gab. Darüber hatte sie bislang nie so sehr nachgedacht. Terrorismus konnte politisch motiviert sein und aus dem linken oder rechten Lager kommen. Als prominentes Beispiel für sozialrevolutionären Linksterrorismus wurde die deutsche Rote Armee Fraktion angeführt, die in den 1970er Jahren für gewaltige Unruhe in Europa gesorgt hatte. Zwar steckte eigentlich die palästinensische Terrorgruppe Schwarzer September hinter den Attentaten bei den Olympischen Spielen 1972 in München, aber ihr Ziel war gewesen, die deutschen RAF-Terroristen Ulrike Meinhof und Andreas Baader freizupressen.

Demgegenüber stand rechtspolitischer Terrorismus, für den ähnlich bekannte Fälle als Beispiel aufgeführt wurden, allen voran der Anschlag auf das Murrah Federal Building in Oklahoma durch den inzwischen hingerichteten Timothy McVeigh. Auch wenn das Motiv nie ganz hatte geklärt werden können, nahm man Regierungsfeindlichkeit an.

Auch die Branch Davidians wurden aufgeführt – die sektenähnliche Religionsgemeinschaft war in Waco, Texas wochenlang belagert worden, nachdem die Behörden dort eine Durchsuchung hatte veranlassen wollen. Der Anführer David Koresh und weitere fünfundsiebzig Menschen waren schließlich ums Leben gekommen. Sadie kannte den Fall sehr gut durch Phil, der sich während seiner Ausbildung beim Hostage Rescue Team damit befasst hatte. Das HRT hatte damals auch den Einsatz geleitet. Eine Einordnung dieses Falles war jedoch aufgrund seiner Komplexität eher schwierig. Sadie hätte sich auch damit schwer getan, Waco dem religiösen Terrorismus zuzuordnen. Da dachte sie eher an Hamas, Hisbollah und Al-Qaida.

Ein eher neues Phänomen in dieser Richtung war der sogenannte Homegrown Terrorism, bei dem etwa im Ausland geborene Kinder von Immigranten ihre Wurzeln entdeckten und zu Terroristen wurden oder, was ein noch jüngeres Phänomen war, Mitglieder vollkommen fremder ethnischer Gruppen und Glaubensbekenntnissen plötzlich konvertierten und zu Extremisten wurden. In diese Kategorie fielen die Terroranschläge von London, bei denen die Attentäter Kinder von Immigranten waren.

Ebenfalls untrennbar mit Terrorismus verbunden waren Organsationen wie die kurdische PKK oder die irische IRA, die für die Unabhängigkeit ihrer ethnischen Gruppe eintraten und die bestens im öffentlichen Gedächtnis verankert waren. Terrorismus konnte aber auch von Lagern ausgehen, die im Gegensatz zu anderen Terroristen bestehende Rechtsordnungen nicht in Frage stellten, sondern sogar noch untermauern wollten. Als Beispiel dafür diente der Ku-Klux-Klan, der rassistisch und konservativ motiviert war.

Zuguterletzt wurde noch Staatsterror aufgeführt, für die die Diktatur Stalins oder die argentinische Militärdiktatur als Beispiel herangezogen wurden. Sadie musste feststellen, dass sie sich da nicht besonders gut auskannte, aber so hatte sie zumindest einen Überblick.

Sie hatte nur keine Idee, womit sie es hier zu tun hatten. Dazu fiel ihr spontan nicht viel ein. Sie klickte sich durch die Datenbank, informierte sich über Al-Qaida, las den Fall in Waco noch einmal nach, studierte Timothy McVeigh. Doch nichts erschien ihr zutreffend.

Sadie wurde das Gefühl nicht los, dass etwas nicht passte. Ein Anschlag auf eine beliebige Metro-Station in Los Angeles – das war nicht das, was üblicherweise stattfand. Was man gewöhnt war, waren Anschläge wie die auf das World Trade Center, die sogar Sadie damals in der Trauer um ihre Familie erreicht hatten. Oder es hatte auch die Anthrax-Anschläge in Washington gegeben. Alles symbolträchtig. Aber die Grand Park Station ... das verstand Sadie nicht. Die Union Station lag weniger als eine Meile entfernt. Die hätte ein deutlich besseres Ziel abgegeben.

„Du siehst so aus, als sei dir eine Idee gekommen“, stellte Cassandra fest.

„Ich weiß nicht ... wer nimmt die Grand Park Station, wenn in einer Meile Entfernung die Union Station liegt?“

Cassandra kniff die Augen zusammen und überlegte. „Du meinst ... das war gar nicht das eigentliche Ziel?“

„Was, wenn das ein Probelauf war?“

„Meinst du?“

Sadie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Ja, über zwanzig Tote sind schlimm. Aber überleg mal, das Sarin hätte in den Mülleimern in der großen Halle der Union Station gelegen.“

Cassandra nickte ernst. „Das hätte Tausende getroffen.“

„Eben. Aber das ist nur eine Idee, ich meine ...“

„Ja, aber das ist keine dumme Idee, Sadie. Wir sind Profiler, wir sind darauf geschult, so etwas zu erkennen.“

„Willst du es McNamara sagen?“

„Sollten wir vielleicht, oder?“

Sadie nickte und ging zum Büro ihres Chefs, aber er war ausgeflogen. Sie beschloss, Ausschau nach ihm zu halten. Irgendwann musste er zurückkommen.

Bis zur Mittagspause klickte sie sich durch die Datenbank und überlegte stillschweigend. Cassandra blickte ihr immer wieder über die Schulter und überlegte mit, aber sie ließ Sadie weitgehend machen. Sie kannte es schon, dass Sadie ihren Gedanken allein folgen wollte. Zwar konnte sie auch im Team brainstormen, was sie immer wieder bewiesen hatte, aber eigentlich brauchte sie Ruhe.

Sadie bemerkte, dass Cassandra sie in Ruhe ließ, und war dankbar dafür. Manchmal hatte sie ihrer Kollegin gegenüber schon fast ein schlechtes Gewissen, denn Cassandra war älter und länger dabei, aber seit sie in Los Angeles war, nahm sie sich sehr zurück. Das lag natürlich in der Hauptsache daran, dass sie die Neue im Team war und auch ihre Entführung vor wenigen Monaten spielte sicherlich eine Rolle, aber Sadie glaubte manchmal, dass Cassandra sich hinter ihr versteckte. Ihr war bewusst, dass sie eine rasante, geradezu verrückte Karriere hingelegt hatte und dass ihre eigene Biografie daran einen Anteil hatte. Trotzdem fühlte es sich irgendwie falsch für sie an. Sie wollte nicht vor Cassandra stehen.

Ihre Kollegin schrieb noch an einem Bericht und sah entsprechend motiviert aus. Sadie grinste. Sie hasste es auch, Berichte zu schreiben und wunderte sich nicht, als Cassandra zeitig vorschlug, in die Mittagspause zu gehen.

Sie waren als erste in der Kantine, doch es dauerte nicht lang, bis Matt ebenfalls auftauchte. Er hatte noch nicht bezahlt, als auch Phil erschien. Minuten später trafen sie sich am Tisch und widmeten sich ihrem Mittagessen.

„Hey, Phil“, sagte Cassandra, die ihn inzwischen auch schon besser kennengelernt hatte.

„Hallo zusammen“, sagte Phil und setzte sich mit seinem Tablett. Matt, der auf dem benachbarten Stuhl saß, warf ihm einen fragenden Blick zu.

„Kommst du vom Trainingsplatz?“, fragte er.

Phil nickte. „Wieso?“

„Du strahlst eine Hitze ab, das ist unfassbar.“

„Was? Dabei war ich noch duschen!“

„Ja, stinken tust du nicht.“

Sadie lachte. „Euch darf man auch nicht zuhören.“

„Nein, wirklich nicht.“ Cassandra lächelte. Das gelang ihr inzwischen wieder.

„Und dann nachher noch Kartons schleppen ...“ Phil stöhnte theatralisch. „Irgendwie ziehe ich ständig um!“

„Was verlobst du dich auch“, zog Matt ihn auf.

„Das sagt der Richtige!“

Cassandra hörte ihnen belustigt zu. Sadie wunderte sich nicht über die Neckereien, das kannte sie schon von den beiden.

„Und, wie ist Keaton so?“, fragte Matt.

„Auch nicht anders als Masterson. Ich habe ja immer noch irgendwie ein schlechtes Gewissen“, sagte Phil.

„Musst du nicht. Sein taktischer Fehler hatte nichts mit deinem Alleingang zu tun.“

„Ja ... aber es ging bei der Angelegenheit um mich. Da darf ich doch wohl mal ein schlechtes Gewissen haben!“

Sadie konnte Phil verstehen. Nach dem Sprengsatz-Desaster am San Gorgonio-Pass war niemandem ein direkter Vorwurf zu machen gewesen, aber der größte Teil des gesamten SWAT-Teams war heftig in Mitleidenschaft gezogen worden. Es hatte zahlreiche Verletzte gegeben, die gesamte Truppe war wochenlang nicht einsatzfähig gewesen. Phil hatte erst noch befürchtet, man würde ihm einen Strick daraus drehen, dass er Baker im Alleingang gefolgt war, doch das war nicht passiert. Stattdessen hatte sein Chef sich irgendwann anhören müssen, dass er auf eine Falle wie die, die Baker ihnen gestellt hat, hätte vorbereitet sein müssen. Matt hatte ja sogar eine Vermutung in die Richtung geäußert.

Um die hässliche Diskussion zu beenden und nicht vollends sein Gesicht zu verlieren, hatte Masterson schnell seinen Hut genommen und jetzt hatte das SWAT-Team einen neuen Leiter – Ron Keaton, ein ehemaliges Mitglied des Hostage Rescue Teams. Phil kannte ihn noch aus Quantico, wo er die Ausbildung der neuen Rekruten beaufsichtigt hatte und er hielt viel von ihm, aber er hatte auch von Masterson viel gehalten. Insofern war er zufrieden.

Sadie konnte ihm ansehen, dass ihm das alles Spaß machte. Er fühlte sich wohl, hatte jetzt einen Job, der ihn forderte und in dem er etwas bewirken konnte. Und er wollte im nächsten Jahr heiraten. Hätte man ihr vorher gesagt, dass sie einmal nicht nur Streife mit Phil fahren, sondern mit ihm beim FBI Los Angeles zusammenarbeiten würde – sie hätte es nicht geglaubt.

In einer beeindruckenden Geschwindigkeit verschlang Phil sein Mittagessen und stand schließlich auf.

„Bin noch mal pinkeln“, sagte er. „Bis gleich.“

Matt nickte und hob die Hand, dann war Phil schon verschwunden. Cassandra blickte ihm staunend hinterher.

„Man muss ein Adrenalinjunkie sein, wenn man beim SWAT ist“, sagte sie.

„Ja, durchaus. Phil macht seine Sache richtig gut“, sagte Matt.

„Im Juli fliegen Cassie und ich nach Washington“, sagte Sadie unvermittelt. „Der Termin für die Aussage steht jetzt fest.“

„Okay“, sagte Matt und nickte Cassandra zu. „Das schaffst du.“

„Ich hoffe“, sagte sie düster und blickte zu Sadie. „Sei froh, dass Phil dir das erspart hat, wirklich.“

„Bin ich“, sagte Sadie und seufzte.

„Jetzt macht euch nicht so fertig deshalb“, bat Matt.

„Du hast gut reden, dir kann das ja nicht passieren“, erwiderte Cassandra.

„Sicher?“, sagte Matt augenzwinkernd, doch dann schob er hinterher: „Ich weiß, was du meinst. Das ist ziemlich unwahrscheinlich.“

„Eben. Ich hoffe, es ist okay, wenn ich Sadie mit nach Washington nehme.“

„Sicher, das weißt du doch. Zeigt es dem Kerl!“

Cassandra lächelte und senkte dann den Blick. „Manchmal beneide ich Sadie um dich.“

Damit stand sie auf, griff nach ihrem Tablett und verschwand. Sadie blickte ihr kopfschüttelnd hinterher.

„Arme Cassie.“

„Das muss schwer sein.“

„Oh, das glaube ich auch. Aber sie hat recht, ich bin froh, dass Phil mir das erspart hat.“

 

Nach der Mittagspause schnappten Sadie und Cassandra einige neue Ermittlungsergebnisse auf. Die Techniker des FBI, das jetzt die Verantwortung für die Ermittlungen trug, hatten die Aufnahmen der Überwachungskameras studiert und nachbearbeitet. Auch die Behälter, aus denen das Sarin ausgetreten war, hatte man inzwischen untersucht. Ein technisch halbwegs versierter Mensch hatte spezielle Behältnisse gebaut, die mit einem Fernzünder zu öffnen waren. Diese Behältnisse hatte jemand am frühen Morgen, irgendwann um kurz nach fünf, in zwei Mülleimern deponiert. Es war ein Mann, nicht sehr groß, der eine unauffällige Jeans, eine Dodgers-Jacke, eine passende Baseballkappe und eine Sonnenbrille getragen hatte. Alle Sender strahlten die Bilder aus den Kameras aus, aber davon versprach Sadie sich nichts. Es war so gut wie nichts zu erkennen. Klar war nur: Es war ein Weißer.

„Das könnte jeder sein“, sagte Cassandra, die von ihrem Schreibtisch aus zum Fernseher hinüberschielte. Dort wurde das Bild des Unbekannten wieder gezeigt.

„Allerdings“, stimmte Sadie zu. „Weißt du, was ich seltsam finde?“

„Was denn?“

„Die Sache mit dem Fernzünder. Überleg mal ... das Gift wurde morgens ganz früh am Bahnsteig deponiert, aber ausgetreten ist es wohl erst gegen zehn. Das ist nach der Rush Hour.“

„Das ist allerdings merkwürdig“, fand Cassandra.

„Es waren gar nicht so viele Leute auf dem Bahnsteig. Du kennst das selbst, während der Rush Hour ist der Teufel los. Der oder die Täter hätten mühelos eine weitaus höhere Anzahl Opfer treffen können, aber das haben sie nicht.“

„Das ist in der Tat merkwürdig. Ich sehe schon, du bist heiß auf den Fall.“

„Ich weiß, dass das kein Profiler-Fall ist“, sagte Sadie. „Zumindest jetzt noch nicht.“

„Sag das nicht. Wozu hat die BAU eine Abteilung für Terrorismusbekämpfung?“

Das Klingeln des Telefons unterbrach sie in ihrem Gespräch. Es war die Nummer, die sie zuvor selbst gewählt hatte, Sheila Hopkins.

„Sadie Whitman“, meldete Sadie sich und klemmte den Hörer zwischen Kinn und Schulter.

„Agent Sheila Hopkins ... da hatte ich ja richtig vermutet, dass Sie es sind.“

„Danke für den Rückruf!“

„Ach, kein Problem ... es ist völlig verrückt heute, eine Besprechung nach der anderen. Wird bei Ihnen nicht anders sein, oder?“

„Es geht ... bislang brauchten die Ermittler hier nicht die Arbeit eines Profilers.“

„Nicht?“ Sheila war überrascht. „Die werden schon noch merken, dass sie Sie brauchen!“

„Vielleicht ist auch eher die Hilfe Ihres Teams gefragt.“

„Oh, wir sind längst im Gespräch mit den Kollegen an der Westküste. Ich überlege noch, ob ich selbst zu Ihnen rüberfliegen soll. Vielleicht rufe ich aber auch mal bei den richtigen Leuten an und sage denen, dass sie Sie fragen sollen.“

Sadie errötete, obwohl sie nur telefonierte. „Wie kommen Sie darauf?“

„Nick hat mir viel von Ihnen erzählt, ich denke, das überrascht Sie nicht. Ich muss gestehen, dass ich schon weiß, wer Sie sind, seit er Sie damals an der Academy erkannt hat.“

„Ich bin ja richtig berühmt“, sagte Sadie trocken.

„Ja, er hatte sich irgendwie an Ihnen festgebissen. Hat mir abends bei einem Glas Rotwein davon erzählt, wieviel Potenzial er in Ihnen vermutet und als Sie dann wirklich zur BAU gekommen sind, war er richtig stolz. Ich denke, Sie wissen, dass er Ihnen nachtrauert.“

„Das ist schwer zu übersehen.“

Sheila lachte. „Er ist da nicht dezent, ich weiß. Aber Sie wissen ja, wie es ist, wenn der Partner auch bei der Behörde ist.“

„Nur zu gut“, erwiderte Sadie.

„Wie dem auch sei ... Sie wollten etwas von mir.“

„Ich musste vorhin gleich an Sie denken. Als der Anschlag gestern passiert ist, war ich keine Meile entfernt und jetzt lässt mich das nicht los, aber ich muss gestehen, dass ich nicht viel über Terrorismus weiß. Nichts, was über das Wissen hinausgeht, das man aus der Academy mitnimmt.“

„Warum auch. Wie Sie sich denken können, habe ich vor wenigen Jahren beim Boston Marathon noch neben den Kreideumrissen der Toten gestanden. Das ist mein tägliches Brot. Was wollen Sie wissen?“

„Ich versuche, zu verstehen, was hier passiert ist. Ich habe das Gefühl, noch am Anfang zu stehen.“

„Okay ... Ich kann ganz vorn anfangen, wenn das hilft.“

„Warum nicht“, sagte Sadie.

„Terrorismus ist nicht nur das, was jeder Amerikaner seit dem Elften September mit dem Begriff verbindet. Ziel eines jeden Terroristen ist es, Angst und Schrecken zu verbreiten. Ich hatte nie Latein, aber ich weiß, dass Terror der lateinische Begriff für Furcht ist, insofern ein passender Begriff.“

„Das stimmt.“

„Ach, ich halte immer Vorlesungen, wenn man mich so etwas fragt, Entschuldigung. Terroristen wollen durch Anschläge etwas zum Ausdruck bringen, ein bestimmtes Ziel erreichen. Deshalb lieben sie es, Wahrzeichen zu attackieren – wie etwa das World Trade Center im Jahr 2001. Es sind immer Ziele mit Symbolkraft. Terroristen sind meist in einer sehr schwachen Verhandlungsposition, weshalb sie sich durch Gewalttaten Gehör verschaffen und meist zielen ihre Taten auch auf unbeteiligte Zivilisten. Man kann im Moment auch wieder sehen, dass das Medienecho die Botschaft noch verstärkt.“

„Ja, das ist klar ... auch wenn ich nicht weiß, was die Botschaft überhaupt sein soll.“

Sheila lachte. „Das frage ich mich auch, wissen Sie.“

„Haben Sie denn eine Ahnung, wer dahinterstecken könnte?“

Schon wieder lachte Sheila. „Das haben mich heute schon einige gefragt, aber um ehrlich zu sein ... nein, ich weiß es nicht. Es ist mir noch nicht klar. Dass ein Weißer auf den Überwachungskameras zu sehen war, grenzt die Sache ein. Ich bin nicht sicher, ob wir es hier mit Homegrown Terrorism zu tun haben, mit einem islamistischen Hintergrund ... aber eigentlich war gerade hierzulande ein wenig Ruhe eingekehrt, insofern würde mich das überraschen.“

„Mich auch“, sagte Sadie. „Ich verstehe vor allem das Ziel nicht. Die Grand Park Station ... Ich war zwar selbst noch nicht genau dort, aber nach allem, was ich weiß, ist das eine ganz normale Metro-Station. Vollkommen unspektakulär, aber eben in Downtown. Das ist dann auch schon alles.“

„Sehen Sie, das ist die erste Ungereimtheit. Es ist kein Ziel mit Strahlkraft. Gut, das waren die U-Bahn-Anschläge in London vor zehn Jahren auch nicht, aber dort hat man sich immerhin bemüht, möglichst viele Menschen zu treffen.“

„Das habe ich auch schon bemerkt ... das Sarin ist nach der Rush Hour ausgetreten. Ich meine ... wenn jemand sich die Mühe macht, Sarin zu stehlen oder zu synthetisieren, will er ein gefährliches, ein tödliches und hochwirksames Gift. Und dann bestückt er den Behälter mit einem Fernzünder und zündet den nach der Rush Hour? Wieso? Sollte das ein Probelauf sein?“, fragte Sadie.

„Davon gehen wir gerade aus, ja“, sagte Sheila. „Dazu passt auch, dass es noch keine Nachricht von den Drahtziehern gab, kein Bekennerschreiben oder ein Video. Die sind noch überhaupt nicht fertig.“

Sadie nickte. Sie hatte es geahnt. „Was können wir tun?“

„Das ist die alles entscheidende Frage. Wir hatten ja keinen Hinweis auf die Anschläge. Im Augenblick gehen wir jeden durch, der extremistische oder anderweitig auffällige Ansichten hat, jeden, der Ahnung von Chemie und Sarin haben könnte und vor allem die, auf die beides zutrifft. Alle Organisationen, von denen wir wissen, sind im Augenblick recht ruhig. Wir haben keinen Anhaltspunkt. Im Moment bleibt uns wirklich nur die Rasterfahndung. Wir müssen versuchen, herauszufinden, wer dahintersteckt, was seine Motive sind und was er als nächstes plant. Da wird noch etwas kommen und ich bin sicher, dass das schlimmer wird als Grand Park.“

„Das befürchte ich auch“, sagte Sadie.

„Wir wissen nicht mal, ob es ein Einzeltäter ist oder eine Gruppierung. Denkbar wäre beides. In den Medien ist er zweifelsohne präsent, die nötige Aufmerksamkeit hat er also. Aber das wird ihm nicht reichen. Gefährlich ist es deshalb, weil Sarin vollkommen geruchlos ist. Man kann jetzt in Los Angeles nicht mehr auf die Straße gehen, ohne befürchten zu müssen, dass man den Tod einatmet“, sagte Sheila.

„Wie wirkt Sarin?“

„Grundsätzlich? Es beginnt recht unspezifisch, die Nase läuft, man entwickelt Sehstörungen, Augenschmerzen, die ersten Anzeichen von Atemnot. Der Speichelfluss wird verstärkt. Das alles passiert, weil der Körper den Befehl bekommt, auf Hochtouren zu laufen. Das ist die knappe Zusammenfassung. Das Endergebnis kennen Sie sicher.“

„Ja“, bestätigte Sadie. „Krämpfe, Atemstillstand, Tod.“

„So ist es. Gift und Chemiewaffen sind geächtet, die Wahl des Mittels sagt uns also auch etwas. Da setzt sich jemand über alle Konventionen, jede Moral, jede Menschlichkeit hinweg. Er benutzt eine effektive, hochgefährliche Waffe, die leise wirkt und eben deshalb Furcht auslöst, weil es jeden unvorbereitet treffen kann. Wenn ich Ihnen einen Tip geben darf: Passen Sie auf, wo Sie in nächster Zeit hingehen.“

„Das werde ich“, sagte Sadie. „Das ist wirklich beängstigend.“

„Er hat sein Ziel schon erreicht, man merkt es. Aber ich bin sicher, da wird noch etwas kommen. Etwas Größeres.“

„Und das war schon groß ...“

„Ja, es gab schon zahlreiche Tote und er hat erreicht, was er wollte. Aber stellen Sie sich Sarin im Dodger Stadium vor. In der Union Station. In Disneyland ... ich will gar nicht daran denken.“

Sadie schluckte. Ganz so weit hatte sie noch gar nicht gedacht. Sie merkte Sheila die Erfahrung in diesem Bereich an.

„Ich hoffe, dass es nicht dazu kommt“, sagte Sadie.

„Tja, wer weiß ... Ich war noch Studentin, als 9/11 passiert ist. Ich wollte zum FBI, das war mein Fernziel ... aber 9/11 hat in mir die Idee reifen lassen, zur Terrorismusbekämpfung zu gehen. Nicht alles, was wir in den Jahren davor und danach getan haben, war gut und sinnvoll. Aber inzwischen hat es sich etwas gefangen, denke ich ... zumindest hierzulande. Bis jetzt.“

„Das stimmt. Danke auf jeden Fall ... Ich hatte schon befürchtet, dass Sie auch nicht wissen, welches Motiv dahintersteckt und wer es gewesen sein könnte.“

„Nein, dafür haben wir noch zu wenig Anhaltspunkte. Aber vielleicht finden Sie ja was. Soll ich mal mit den betreffenden Ermittlern sprechen und Ihren Namen fallen lassen?“

Dieses Angebot überraschte Sadie. „Ich würde mich freuen. Vielleicht können Cassandra und ich ja helfen.“

„Ich denke schon, dass Sie das können. Über die Jahre habe ich verstehen gelernt, was Nicks Arbeit ist und ich denke, dass Sie auch hier helfen können, obwohl sie normalerweise Serienmöder suchen. Also, ich rede mit den Kollegen und vielleicht können Sie ja helfen.“

„Toll. Vielen Dank!“

„Gern. War schön, mal mit Ihnen persönlich zu sprechen. Nick hatte recht, von Ihnen geht eine ganz seltsame, sehr ruhige Ausstrahlung aus. Schon von Ihrer Stimme.“

„Tatsächlich?“, fragte Sadie erstaunt.

„Das hat er mir zumindest erzählt. Jetzt weiß ich, was er meinte! Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, Sadie. Vielleicht begegnen wir uns ja noch im Zuge dieser Ermittlungen.“

„Würde mich freuen“, sagte Sadie ehrlich und verabschiedete sich schließlich von Sheila. Als sie aufgelegt hatte, spürte sie Cassandras erwartungsvollen Blick auf sich.

„Und?“, fragte sie neugierig.

„Eine sympathische Frau. Sie hat viel Energie.“

„Das stimmt. Ich habe sie kurz kennengelernt, das war letztes Jahr, als du nicht mehr bei uns warst. Sie hat zwar ein ziemlich dominantes Auftreten, irgendwie fast maskulin ... aber sie ist eine hübsche, attraktive Frau. Ich denke, sie hat Haare auf den Zähnen. Ist eine Männerdomäne.“

„Stimmt ... Unsere Abteilung ist offener für Frauen.“

„Beim FBI muss man sich als Frau eben durchsetzen“, sagte Cassandra. „Ich hatte eigentlich immer eher das Gefühl, dass es um das geht, was man auf dem Kasten hat, und nicht darum, mit welchem Geschlecht man geboren wurde.“

Nachdenklich sah Sadie sie an und nickte schließlich. „Da hast du eigentlich recht. Frauen bekommen jedenfalls keinen Bonus.“

„Nein, und ich wollte auch nie einen.“

Die beiden lächelten einander an und Sadie überlegte, sich wieder in die Recherche zu vertiefen. In diesem Moment fiel es ihr enorm schwer, weil sie sich plötzlich sehr müde fühlte. Das Mittagstief, dachte sie, und stand auf, um sich etwas zu trinken zu holen. Auf dem Rückweg bemerkte sie ihren Chef in einer Ecke des Büros und ging nach einem Umweg über ihren Schreibtisch zu ihm.

„Sadie“, sagte McNamara, als er sie kommen sah. Der Kollege, der mit ihm gesprochen hatte, verschwand. Sadie lächelte höflich.

„Komm doch mit in mein Büro“, sagte ihr Chef und sie war einverstanden. Dort angekommen, nahmen sie Platz.

„Ich habe mit Agent Hopkins von der BAU-Antiterroreinheit gesprochen“, sagte Sadie.

„Okay. Der Name sagt mir erst mal nichts.“

„Sie ist die Lebensgefährtin von Nick Dormer.“

McNamaras Miene hellte sich auf. „Ah, verstehe. Das lag natürlich nah.“

„Ich habe sie nach ihrer Meinung gefragt und wir waren uns einig, dass Grand Park gar nicht das eigentliche Ziel war.“

„Inwiefern?“

„Das könnte ein Testlauf gewesen sein. Ein Test für einen noch größeren Anschlag.“

„Das denkt sie?“

„Das denken wir beide“, sagte Sadie. „Grand Park war kein symbolträchtiges Ziel. Wäre es hier um maximalen Schaden gegangen, hätte das Sarin in der Rush Hour freigesetzt werden müssen. Und dass sich noch niemand dazu bekannt hat, ist auch ein Warnsignal.“

McNamara nickte ernst. „Okay. Und das sagt sie auch?“

Sadie nickte.

„Hatte sie eine Empfehlung für uns?“

Sadie errötete und grinste. „Sie hat vorgeschlagen, mit den Ermittlern vor Ort zu sprechen, um Cassandra und mich mit ins Boot zu holen.“

„Finde ich gut“, sagte McNamara sofort. „Wird sie das tun?“

„So hörte es sich an.“

„Okay, ich lasse ihr da freie Hand ... vielleicht rufe ich sie morgen mal an und frage danach, aber ansonsten halte ich mich da raus. Im Moment will jeder bei den Ermittlungen dabei sein und ich denke, es hat mehr Gewicht, wenn sie euch einschaltet und nicht ich.“

„Vermutlich“, stimmte Sadie zu.

„Aber das sind ja keine guten Aussichten ... ein Testlauf.“

Sadie zuckte mit den Schultern. „Ich hoffe, wir liegen falsch ... aber alles deutet darauf hin.“ 

„Ja, vermutlich habt ihr recht. Aber wie sollen wir alle in Frage kommenden Ziele in L.A. schützen? Wie sollen wir überhaupt nur diesen gesichtslosen Kerl von den Überwachungsbildern finden?“

„Vielleicht können Cassandra und ich helfen, wenn wir die Ermittler unterstützen.“

„Ich hoffe es. Danke, Sadie.“

Sie nickte und verließ das Büro wieder. Etwa eine halbe Stunde später klingelte ihr Telefon erneut. Es war eine Nummer aus dem Haus, zusätzlich zur Nummer stand der Name auf dem Display des Telefons, O’Toole. Sadie nahm das Gespräch entgegen.

„Guten Tag, Agent Whitman, hier ist Michael O’Toole von der Grand Park-Ermittlungseinheit“, stellte er sich vor.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte Sadie höflich.

„Vorhin hat mich Special Agent Hopkins aus Quantico angerufen und mir empfohlen, die Unterstützung unserer Profiler in Anspruch zu nehmen. Da bin ich bei Ihnen hoffentlich richtig.“

Sadie grinste. „Goldrichtig. Was kann ich tun?“

„Hopkins sagte mir, dass Sie und Agent Williams schon mit dem Fall vertraut sind?“

„Das ist richtig. Ich war selbst in Downtown im Gericht, als der Anschlag passiert ist und würde gern helfen.“

„Das trifft sich gut. Sie müssen wissen, nach der Balgerei mit Homeland haben wir auch immer noch viele interne Anfragen – jeder will mitmachen, aber viel hilft nicht immer viel. An unsere Profiler habe ich bisher gar nicht gedacht, aber Hopkins hat mir erklärt, warum Sie nützlich für uns sein könnten.“

„Ich hoffe, wir sind es.“

„Haben Sie Zeit?“ Als Sadie bejahte, fuhr er fort: „Dann kommen Sie doch mal bei uns vorbei. Siebter Stock.“

„Okay, bis gleich.“ Sadie legte auf und grinste, als sie Cassandras fragenden Blick auf sich spürte.

„Das war die Grand Park-Ermittlungseinheit.“

„Klasse!“, freute Cassandra sich und sprang von ihrem Stuhl auf. Die beiden machten sich auf den Weg zu Michael O’Toole und fanden ihn auch vollkommen problemlos. Er war ein hochgewachsener, kräftiger Mann Mitte Vierzig, der gleich aufstand und sie mit Handschlag begrüßte, als sie bei ihm an die Bürotür klopften.

„Willkommen“, sagte er und musterte Sadie etwas eingehender als Cassandra.

„Hätte nicht gedacht, dass Ihre Haare wirklich so feuerrot sind.“

Sadie lachte. „Doch, das sind sie.“

„Ich habe vorhin schon Ihr Mitarbeiterfoto gesehen. Alles echt?“

„Alles echt“, beschied sie amüsiert.

Er nickte ihr bewundernd zu. „Es wird Sie beide nicht überraschen, wenn ich sage, dass wir uns mit unseren Ermittlungen ziemlich im Kreis drehen. Wer auch immer dahintersteckt – wir haben keine Ahnung – er hat es mehr als geschickt angestellt. Wir dachten bislang, wir würden schon irgendwas herausfinden ... aber um ehrlich zu sein, tun wir einen Teufel. Ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen, Sie zu fragen, aber scheinbar haben Sie vorhin mit Agent Hopkins telefoniert, Agent Whitman?“

Sadie nickte. „Sie ist die Lebensgefährtin meines früheren Vorgesetzten, BAU-Chef Nick Dormer.“

„Verstehe“, sagte O’Toole. „Da lag es nah für Sie.“

„Sozusagen.“

„Sie hat auch angeboten, uns jederzeit zu unterstützen, aber erst einmal würden wir Sie beide gern an Bord holen. Wie ist denn Ihr aktueller Stand?“

Sadie und Cassandra sahen einander an, dann begann Sadie, zu erklären, was sie bislang recherchiert hatten.

„Okay ... und haben Sie daraus etwas abgeleitet?“

„Wir glauben nicht, dass es sich um einen islamistischen Hintergrund handelt“, sagte Cassandra.

„Da sind wir uns nicht so sicher ... nicht bloß deshalb, weil der Mann auf dem Video ein Weißer war. Das reicht uns nicht, um unsere Annahme zu widerlegen“, sagte O’Toole.

„Was vermuten Sie denn?“, fragte Sadie.

„Wir vermuten, dass jemand Sarin aus syrischen Beständen verwendet hat.“

„Kann man das irgendwie zurückverfolgen?“

„Unsere Chemiker versuchen es. Reste waren ja noch vorhanden und konnten geborgen werden. Klar ist bisher nur, dass es verdammt gutes Sarin war, anders als zum Beispiel damals in Tokio. Ich nehme ja nicht an, dass ich Ihnen darüber viel erzählen muss.“

Einstimmig schüttelten sie die Köpfe.

„Haben Sie noch weitere Annahmen?“, fragte O’Toole.

„Ja, ich denke, dass das nur ein Testlauf war“, sagte Sadie.

„Das hat Agent Hopkins auch schon angedeutet.“

„Wir sind unabhängig voneinander zu diesem Schluss gekommen. Der Fernzünder hätte auch jederzeit bequem zur Rush Hour betätigt werden können und außerdem hat sich bis jetzt niemand dazu bekannt. Oder?“

„Nein, es herrscht Schweigen im Walde. Es ist ja auch keineswegs so, dass sich immer alle Attentäter bekennen. Aber es ist uns ein Hinweis, ja. Mal sehen, ich stelle Sie dem Team vor und dann können wir morgen direkt loslegen.“

Die Frauen nickten und folgten O’Toole aus dem Büro. In einem benachbarten Besprechungsraum saßen fast ein Dutzend Ermittler zusammen, Männer und Frauen unterschiedlichen Alters. Kabel lagen auf dem Boden, jeder hatte seinen Laptop, es herrschte konzentrierte Stille.

„Wenn ich kurz um Aufmerksamkeit bitten dürfte: Das sind die Special Agents Sadie Whitman und Cassandra Williams, unsere Profiler“, sagte O’Toole. „Die beiden werden uns ab morgen bei unseren Ermittlungen unterstützen.“

Der Reihe nach stellte er die Kollegen vor, weshalb Sadie wieder ihr Namensgedächtnis verfluchte. Als er am Ende angekommen war, hatte sie die Hälfte schon wieder vergessen.

„Wir freuen uns auf Ihre Unterstützung“, sagte O’Toole, als er mit den beiden wieder nach draußen ging und zu seinem Büro zurückkehrte. Dort angekommen, drückte er ihnen zwei Hefter in die Hand.

„Das ist eine Zusammenfassung unseres bisherigen Wissensstandes“, sagte er. „Sie schaffen es, das bis morgen zu lesen?“

Cassandra und Sadie nickten und nahmen ihm die Hefter ab, dann verließen sie das Büro etwas irritiert wieder. Als sie im Aufzug standen, sagte Cassandra: „Wir legen nicht direkt los?“

Sadie zuckte mit den Schultern. „Lass uns erst mal in die Hefter sehen, es ist ja nicht abwegig, dass wir uns erst einmal einlesen sollten.“

In ihrem Büro angekommen, setzten die beiden sich zusammen an den Schreibtisch und gingen den Hefter durch. Die Ermittlungseinheit hatte alle bisherigen Erkenntnisse gesammelt und präzise festgehalten. Die genaue Uhrzeit, zu der die Sarin-Behälter im Bahnhof deponiert worden waren, das Foto des Unbekannten, die Namen aller Toten und Verletzten, ein Ablaufprotokoll des Anschlags. Es gab eine Karte, die zeigte, an welcher Stelle wer zu welcher Zeit bewusstlos zusammengesackt war.

Die Chemiker hatten bereits rekonstruiert, dass wohl insgesamt fast ein halber Liter Sarin zum Einsatz gekommen war – genug, um Tausende zu töten. Es gab Fotos und Schemazeichnungen der Behälter und des Mechanismus, der das Behältnis per Fernzündung geöffnet hatte.

Forensiker hatten bestimmt, wann die Behälter geöffnet worden waren. Das war wohl schon deutlich früher als zehn Uhr passiert, das Sarin hatte aber gebraucht, um in die Luft überzugehen und eingeatmet zu werden.

„Warte ... vielleicht war der Plan ja, doch die Rush Hour zu treffen und das hat nur nicht funktioniert“, sagte Sadie.

„Da bin ich auch gerade ... Denkst du, wir haben falsch gelegen?“

„Nicht unbedingt. Ich glaube immer noch, dass das ein Testlauf war.“

„Ich auch ... na ja, mal weiterlesen.“

Sadie blätterte durch den Hefter. Es gab eine lange Liste mit möglichen Verdächtigen, Protokolle der NSA, Kopien von Möchtegern-Bekennerschreiben. Tatsächlich war schon einiges passiert, allerdings nichts, was wirklich weitergeholfen hätte. Bislang waren es nur Mutmaßungen, Ideen und eine Sammlung von Möglichkeiten.

Trotzdem studierten sie die Unterlagen bis Feierabend eingehend und Sadie beschloss auch, den Hefter mit nach Hause zu nehmen. Aus Erfahrung wusste sie, dass ihr oft die besten Ideen kamen, wenn sie gar nicht danach suchte.

Sie hatte ihr Büro gerade erst verlassen, als Matt ihr auf dem Flur ins Auge fiel. Die beiden betraten gemeinsam den Aufzug und verließen das Gebäude.

„Was hast du da?“, fragte Matt und deutete interessiert auf den Hefter.

„Cassie und ich sind jetzt Teil der Grand Park-Ermittlungseinheit.“

Matt nickte anerkennend. „Wurde auch Zeit.“

Während sie in den Wagen stiegen und das FBI-Gelände verließen, erzählte Sadie ihm, dass sie mit Nick und Sheila Hopkins telefoniert und Sheila dafür gesorgt hatte, dass sie nun zu den Ermittlern gehörte.

„Ich kenne O’Toole“, sagte Matt. „Er ist noch alte Schule, glaubt nichts, was er nicht selbst gesehen und erlebt hat. Ich könnte mir vorstellen, dass er im Traum nicht von selbst auf die Idee gekommen wäre, euch dazuzuholen. Das hat er bloß gemacht, weil Nicks Freundin ihn dazu angestiftet hat. In seiner Situation kann er es sich nicht leisten, nicht auf eine Terrorexpertin zu hören.“

„Na toll. Mach mir nur Mut.“

„Du wirst es ihm schon zeigen, Süße. Du hast es auch Masterson gezeigt, als der im Baker-Fall größenwahnsinnig geworden ist.“

Daran konnte sie sich gut erinnern, deshalb lachte sie. „Das war großartig. Das Gesicht sehe ich jetzt noch vor mir.“

„Er hatte Respekt vor dir, weil er wusste, wer du bist. Das ist hier überall so. Sobald sie herausfinden, was du auf dem Kasten hast, sind die alle still.“

„Ja, trotzdem. Ich bin gespannt, ob Cassie und ich helfen können.“

„Bestimmt. Hey, du hast schon Sachen herausgefunden, auf die ich nie im Leben gekommen wäre. Damit beeindruckst du auch einen Knochen wie O’Toole.“ Matt schlug auf die Hupe, als vor ihm jemand einscherte, ohne zu blinken. „Da war überhaupt kein Platz!“

„Bist du gereizt?“, fragte Sadie zielsicher.

„Ich? Niemals! Ich habe nur jetzt schon keine Lust mehr, mich nächste Woche wieder mit Bakers Anwalt herumplagen zu müssen. Vorhin hatte ich noch ein Telefonat mit dem Staatsanwalt.“

„Oh, das kann ich verstehen, aber das schaffst du schon, Matt.“ Sadie lächelte ihm ermutigend zu. „Cassie macht mir da mehr Sorgen.“

„Verdammt unschön, dass sie wirklich noch vor Gericht gegen Whittaker aussagen muss. Reichen die Beweise nicht? Wofür hat sie denn die DNA bei der Untersuchung sichern lassen?“

„Die Staatsanwaltschaft will eine wasserdichte Sache daraus machen. Die Frauen sagen alle aus. Das ist auch wichtig, um Nolan dranzukriegen. Du weißt, wie unwiderstehlich die Aussagen von Verbrechensopfern auf Geschworene wirken.“  

„Ja, schon klar ... ist trotzdem nicht schön für sie.“

Sadie nickte nachdenklich. „Wäre vielleicht nicht schlecht für sie, zu einem Therapeuten zu gehen.“

„Das sagst ausgerechnet du. Du warst nicht ein einziges Mal bei einem Therapeuten.“

„Nein, weil ich es lieber totschweige“, sagte Sadie geradeheraus. „Was hätte ich denn da erzählen sollen? Mein eigener Bruder hat ...“ Sie schüttelte den Kopf.

„Wahrscheinlich hast du recht.“

„Ich will nicht drüber reden. Mit niemandem. Ich versuche einfach, zu vergessen, dass Sean je existiert hat.“

„Ist auch besser so. Geht mir nicht anders“, sagte Matt.

Sadie seufzte. „Lass uns davon aufhören.“

„Hast recht. Weißt du, wonach mir jetzt der Sinn steht?“

„Was denn?“

„Taco Bell.“

Sadie lachte. „Wie kommt’s?“

Matt zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Ab und zu habe ich das. Da brauche ich Junkfood ... und zwar auf mexikanisch.“

„Wie gut, dass einer auf dem Heimweg liegt ...“

Die beiden grinsten sich an. Es war beschlossene Sache, sie legten einen Zwischenstopp bei Taco Bell ein, den keiner von ihnen bereute. Als sie wenig später entspannt zu Hause eintrafen, beschloss Sadie, Norman anzurufen. Sie wollte sich erkundigen, wie es in Waterford zuging. Matt setzte sich in den Sessel und schaltete den Fernseher ein, aber nur leise. Er wollte die Nachrichten sehen. Sadie blickte ebenfalls auf den Bildschirm, während das Freizeichen ertönte.

„Sadie“, sagte Norman erfreut. „Dass du schon zu Hause bist.“

„Du meinst wegen dem, was in Downtown passiert ist?“

„Steht bei euch nicht alles Kopf?“

„Schon. Wir waren sogar ganz in der Nähe, wir haben gestern unsere Zeugenaussagen im Fall Baker gemacht.“

„Offensichtlich ist euch nichts passiert“, stellte Norman nüchtern fest.

Sadie erzählte ein wenig von dem, was passiert war und wie sie es erlebt hatte. Norman hörte aufmerksam zu.

„Beängstigend, zu wissen, dass ihr da unten in der Nähe seid. Aber ich bin froh, dass euch nichts passiert ist. Wisst ihr denn schon, wer dahintersteckt?“

„Überhaupt nicht“, sagte Sadie. „Inzwischen weiß man von achtundzwanzig Toten ... das ist so viel. Es weiß immer noch niemand, wieviele Verletzte es gab.“

„Ich habe das gestern auch den ganzen Tag verfolgt. Wir leben in einer verrückten Zeit, Sadie. Seit dem Elften September ist doch nichts mehr, wie es war.“

„Das stimmt. Daran erinnere ich mich auch noch gut.“

„Damals waren wir noch in Portland. Ist das lange her ...“

„Da sagst du was. Wie geht es euch denn?“

„Es ist ungewohnt, wieder allein zu sein. Die Gesellschaft von Jo und der Kleinen tat mir wirklich gut.“

Wieder einmal registrierte Sadie, dass Norman nur selten den Namen seiner Nichte aussprach. Das wunderte sie nicht, schließlich war es auch der Name seiner verstorbenen Frau. Joanna hatte die gesamte Zeit ihres Mutterschutzes mit der kleinen Michelle bei Norman verbracht.

„Hast du noch von ihr gehört?“, fragte Sadie.

„Ja, am Wochenende. Ich meine, ich habe das bei Fanny selbst auch erlebt ... es verändert einen, ein Kind zu haben, und ich würde sagen, das ist bei Müttern noch stärker als bei Vätern. Aber ich habe das noch bei niemandem so erlebt wie bei Joanna. Sie ist häuslich, geduldig und liebevoll. Sie liebt die Kleine. Die beiden kommen gut zurecht.“

„Geht Jo wieder arbeiten?“

„Sie arbeitet die meiste Zeit von zu Hause aus, aber ja, sie arbeitet wieder. Du kannst sie ja anrufen.“

„Das werde ich tun. Und wie geht es Gary und seiner Familie?“, erkundigte Sadie sich.

„Oh, sie gewöhnen sich auch an das neue Baby. Die Gelbsucht ist jetzt auch abgeklungen.“

„Ich hoffe, wir haben bald Gelegenheit, zu euch zu fahren. Ich will Nicolas unbedingt kennenlernen!“ Etwa eine Woche zuvor war Garys zweiter Sohn geboren worden. Im Moment war Sadie umgeben von neuen Familienmitgliedern. Joanna und Gary fanden es aufregend, fast gleichaltrige Kinder zu haben. Bislang hatte Sadie nur Fotos von Nicolas gesehen.

„Ich freue mich auch darauf, euch bald wiederzusehen. Spätestens am Independence Day, oder?“, fragte Norman.

„Das hoffe ich doch. Bisher spricht nichts dagegen! Mit Sandra ist auch alles okay?“

„Alles bestens“, berichtete Norman. „Aber die zweite Geburt ist ja meistens einfacher.“

„Sprach der Experte“, neckte Sadie ihn.

„Oh, ich kenne mich da auch aus. Im Gegensatz zu dir, würde ich sagen.“

„Ja, zieh mich nur auf.“

„Das würde ich doch nie tun!“, sagte Norman und lachte. „Du weißt, ich rede dir nicht rein. Du bist glücklich, mehr zählt für mich nicht.“

Sadie lächelte. „Ich freue mich darauf, euch wiederzusehen. Vielleicht schaffen wir es auch schon vor dem vierten Juli.“

„Ich würde mich freuen. Du weißt, ihr könnt auch spontan kommen. Ihr seid mir immer willkommen!“

Als sie wenig später das Gespräch beendete, lächelte sie. Es hatte ihr wieder einmal gut getan, mit ihrem Onkel zu sprechen.

Sie stellte das Telefon weg und ging nach oben, um nach Matt zu sehen. Es überraschte sie nicht, zu sehen, dass er sich bei einem Shooter abreagierte. Sie setzte sich daneben, nachdem sie ein Buch geholt hatte, legte die Füße hoch und begann zu lesen. Eigentlich gab es noch Dinge im Haus zu erledigen, aber die waren ihr gerade egal. Sie hatte noch das ganze Wochenende Zeit.

Matt zog sich das Headset vom Kopf. „Wollen wir fernsehen?“

„Warum nicht. Phil hat uns ja großzügigerweise mit endlos viel Netflix versorgt ...“

„Ich hab immer noch nicht Better call Saul gesehen.“

„Ist geritzt“, sagte Sadie und legte den Hefter weg.

„Du hast deine Ermittlungsunterlagen mitgenommen?“

„Klar“, sagte sie lapidar.

„Lass dich bloß nicht erwischen.“

„Wenn die sich jetzt noch anstellen, dass ich außerhalb meiner Arbeitszeit arbeite, kann ich denen auch nicht mehr helfen.“

Matt zuckte mit den Schultern, dann gingen sie nach unten und machten es sich mit Käsenachos auf dem Sofa bequem. Sie starteten die erste Episode von Better call Saul und schauten gleich noch eine zweite hinterher. Sadie hatte sich bequem an Matt gelehnt und liebte es, seine Wärme zu spüren. Solche Momente genoss sie immer sehr.

 

Mittwoch

 

Sadie fühlte sich todmüde, als der Wecker klingelte. Sie war am Vorabend schon recht früh wie ein Stein ins Bett gefallen, aber deshalb fühlte sie sich beim Aufstehen nicht wacher. Matt zog sie ein wenig damit auf, aber das machte es auch nicht besser. Sadie war froh, dass er wie meistens fuhr und träumte auf dem Weg zum FBI noch ein wenig vor sich hin. Es ärgerte sie, dass sie so müde war, denn an diesem Tag musste sie Leistung bringen. Jetzt gehörte sie zu einer wichtigen Ermittlungskommission.

Um zwei Minuten vor neun stand sie mit Cassandra bei den Kollegen im Büro, wo O’Toole das Meeting pünktlich begann.

„Guten Morgen zusammen. Ich freue mich, dass ab heute unsere Profiler die Ermittlungen unterstützen werden. Ich hoffe, Sie hatten Gelegenheit, sich in unsere Ermittlungsergebnisse einzulesen.“

Sadie nickte. „Da ist schon einiges zusammengekommen.“

„Ja, nur dummerweise nichts, was uns wirklich weiterhelfen würde. Ich hoffe, dass Sie neue Impulse in die Ermittlungsarbeit bringen können.“

„Wir versuchen es“, sagte Cassandra.

„Unser aktuelles Problem ist, dass wir kein erkennbares Motiv und keine Verdächtigen haben. Es hat sich niemand zum Anschlag bekannt und inzwischen glaube ich auch nicht mehr, dass das noch passieren wird. Ohne jeglichen Ansatz können wir nur umgekehrt ermitteln und das bedeutet: Überprüfung aller als gewalttätig oder terroristisch bekannten Organisationen, Überprüfung der möglichen Herkunft des Giftes. Diese exekutiven Aufgaben sind im Team bereits verteilt. Vielleicht können wir mit Hilfe des Profilings den Kreis der Verdächtigen weiter eingrenzen.“

Sadie nickte. „Im Idealfall wird das unser Ergebnis sein.“

„Wir überprüfen auch zahlreiche Hinweise auf die Identität des Mannes auf dem Video. Im Augenblick ermitteln wir noch in alle Richtungen. Die NSA überwacht auch die Kommunikation anhand bestimmter Schlüsselwörter. Vielleicht werden wir auch auf diesem Wege fündig.“

Das war tatsächlich noch nicht sehr eingegrenzt, aber das überraschte Sadie nicht. Wer auch immer hinter diesem Anschlag steckte, er hatte es geschickt angestellt.

„Ich würde vorschlagen, Sie holen sich einfach die Informationen, die Sie brauchen“, sagte O’Toole zu den beiden Profilerinnen. Sadie nickte und damit war die Besprechung fürs Erste beendet, aber O’Toole blieb vor Ort und Sadie stellte sich vor das Flipchart, an das die wichtigsten Informationen geheftet waren. Die Eckpfeiler der Ermittlungen waren bislang die Herkunft des Sarins, die Aufnahme des Verdächtigen und die Überwachung terroristischer Organisationen. Sadie war wenig überrascht, ganz oben Islamischer Staat zu lesen, dicht gefolgt von einer Handvoll weiterer islamistischer Terrorgruppierungen. Zu ihrer Überraschung tauchte jedoch gleich dahinter der Ku-Klux-Klan auf, ebenso der Begriff des Homegrown Terrorism.

Gemeinsam mit Cassandra setzte sie sich neben eine Kollegin namens Julia Longway, die an ihrem Laptop gerade an einer Zusammenfassung arbeitete.

„Was denken Sie, was hier passiert ist?“, fragte Sadie sie geradeheraus.

„Wenn ich das wüsste“, antwortete Julia. Sie war eine zierliche Brünette, die etwas unsicher, aber sehr konzentriert wirkte.

„Ganz oben steht der IS. Glauben Sie, dass der Anschlag aus dieser Richtung kommt?“

„Ich bin nicht sicher“, sagte Julia ausweichend. „Die meisten hier glauben es. Sarin wird seit 2013 mit Syrien assoziiert.“

„Und seit 1995 mit Japan“, hielt Sadie dagegen. „Denken Sie, es ist so einfach?“

„Ist doch möglich.“

„Wäre es“, erwiderte Sadie, stand wieder auf und ging zum Fenster. Cassandra folgte ihr.

„Was ist los? Ich kenne diesen Blick. Du hast eine Idee“, sagte sie.

„Ich bin nicht sicher. Aber weißt du, was mir auffällt? Eigentlich kann es keine der Organisationen sein, die drüben am Flipchart stehen.“

„Und warum?“

„Weil die sich alle dazu bekannt hätten. Überleg doch mal, islamistischer Terror hat auch etwas mit Stolz zu tun, mit Patriotismus, mit Männlichkeit. Islamisten stehen zu dem, was sie tun. Sie verbreiten den Terror in dem Bewusstsein, Allahs Botschaft in die Welt zu tragen. Wären das Islamisten gewesen, dann hätte es Tausende Tote zur Rush Hour gegeben und zwei Stunden später hätte Al Jazeera ein Video ausgestrahlt, in dem sich der IS oder wer auch immer dazu bekennt.“

„Stimmt“, sagte Cassandra. „So läuft das eigentlich immer.“

„Al Qaida hat an 9/11 auch kein Geheimnis draus gemacht, wer es war. Das tun die einfach nicht. Und der Ku-Klux-Klan ... Im Ernst, seit die Rassentrennung kein Thema mehr ist, ist der Klan auch kein Thema mehr.“

„Obama hat sich bei denen aber auch nicht sehr beliebt gemacht. Es ist doch noch gar nicht so lang her, dass ein Klan-Mitglied jemanden erschossen hat.“

„Du meinst Overland Park ... ja, sicher. Das war auch die Tat eines Einzeltäters. Aber den sehe ich hier nicht. Ich meine ... Sarin. Daran kommt man nicht einfach so. Es war auf dem Video nicht ohne Grund ein maskierter Weißer zu sehen. Die führen uns vor, meinst du nicht?“

Cassandra schwieg für einen Moment, folgte Sadies Gedanken dann aber. „Meinst du, dass es darum geht?“

„Kann doch sein.“

„Warte ... die lassen uns absichtlich im Dunkeln tappen. Das ist an sich schon ein Kunststück in der heutigen Zeit. Das könnte doch ihre Absicht sein. Uns zu zeigen, dass ...“ Sie brach ab und überlegte. „Dass Obamas recht liberaler Kurs ein Fehler war. Denkst du in diese Richtung?“

„Könnte doch sein. Da will uns jemand zeigen: Sieh her, Amerika, du bist verwundbar. War on Terror ist eine Sache der frühen 2000er Jahre, Obama war gemäßigter, die NSA hat zuletzt ziemlich eins auf die Mütze bekommen. Behoben sind die Konflikte aber nicht, die arabische Welt ist immer noch anderer Meinung als wir. In den letzten Jahren ist es ruhig geworden. Vielleicht will uns hier jemand zeigen, dass wir verwundbar sind. So viel ist ja seit dem Präsidentenwechsel noch nicht passiert.“

„Werden die neuen Kriege denn nicht im Cyberspace geführt?“, überlegte Cassandra.

„Ja ... und das ist vielleicht der springende Punkt. Natürlich wissen wir nichts, weil wir nichts wissen sollen. Jemand entzieht sich der Überwachung.“

„Hacker? Aber wie könnte irgendein Hacker für mehr Überwachung sein? Und was hat das mit Sarin zu tun?“

„Du hast recht. Vergiss das. Lass uns noch mal das ganze Überwachungsvideo ansehen.“

„Okay“, sagte Cassandra und folgte Sadie zu O’Toole. Er brachte sie in ein benachbartes Büro und sorgte dafür, dass sie sich die gesamten Aufnahmen der Überwachungskameras aus Grand Park ansehen konnten. Sadie hatte das Gefühl, dass O’Toole sie argwöhnisch beobachtete, aber das war ihr egal.

Sie nahmen sich Zeit und beobachteten, wie der Verdächtige mit der Sportkleidung Behälter in beide Abfalleimer warf und dann wieder verschwand. Zu diesem Zeitpunkt war er so gut wie allein am Bahnhof, niemand achtete auf ihn. Sadie und Cassandra überprüften, ob vielleicht jemand mit ihm zu tun hatte, aber dafür konnten sie keinerlei Anhaltspunkte finden.

Anschließend schauten sie sich die Aufnahmen etwa ab neun Uhr fast die ganze Zeit in Echtzeit an. Es dauerte bis etwa zwanzig vor zehn, als sich so etwas wie Unruhe auf dem Bahnsteig breit machte. Die ersten Menschen begannen, sich die Nase zu putzen und die Augen zu reiben. Danach stiegen sie in Züge. Sie waren dem Gift nicht sehr lang ausgesetzt gewesen, doch plötzlich wurde Sadie klar, dass vermutlich viel mehr Menschen betroffen waren als angenommen.

„Hat es eine Empfehlung gegeben, dass alle Menschen, die im fraglichen Zeitraum in Grand Park waren, sich medizinisch behandeln lassen?“, fragte sie.

„Für alle, die sich krank fühlen und ab zehn Uhr dort waren, glaube ich. Wieso?“, erwiderte Cassandra.

„Das hat viel mehr Menschen erwischt. Die sollten sich alle behandeln lassen.“

„Du hast recht.“

Sie beobachteten, wie immer mehr Menschen zu husten begannen. Schließlich brach der erste zusammen. Das war erst um kurz nach zehn. Es dauerte nicht lange, bis weitere Menschen zusammenbrachen. Zuckend und krampfend lagen sie am Boden, manche erbrachen sich, einige wurden schnell bewusstlos. Bis zwanzig nach zehn lagen zahlreiche Menschen bewusstlos oder tot am Boden. Es dauerte nicht mehr lang, bis erste Helfer eintrafen – erst noch ohne Gasmasken, aber sehr schnell mit. Passagiere betraten die Metro-Station gar nicht mehr.

„Okay ... das Gift wurde recht früh freigesetzt, aber es hat gebraucht, bis es alle erreicht hat. Ich verfolge jetzt nicht jeden einzelnen, aber es hat diejenigen am schlimmsten erwischt, die am längsten dort gestanden haben und die den Abfalleimern am nächsten waren. Die haben die höchste Dosis abbekommen“, sagte Cassandra.

„Was ja auch kein Wunder ist.“

„Nein, überhaupt nicht. Wir könnten auch nach Grand Park fahren und uns alles vor Ort ansehen.“

„Gute Idee ... Und weißt du, was ich auch tun will?“

Cassandra schüttelte den Kopf.

„Ich will die Behälter sehen. Ich will verstehen, wie die funktionieren. Aber ich sage dir ... das muss ein Test gewesen sein. Durch die mediale Berichterstattung erfahren die Verantwortlichen doch alles, was sie wissen wollen.“

„Ja, allerdings. Was denkst du, wer das war?“

Sadie schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht, dass das jemand war, den wir kennen.“

„Warum nicht?“

„Warum sonst sollte er so unter dem Radar bleiben? Im Ernst, wieviele Behörden sind an dem Fall dran, wieviele Ermittler? Der Anschlag ist schon zwei Tage her und wir haben nichts. Ich bin todsicher, dass da noch etwas kommt.“

„Ich nicht, aber ich könnte es mir vorstellen“, sagte Cassandra.

Sadie stand auf und suchte nach O’Toole. Er verriet ihr, dass die Giftgasbehälter in einem Hochsicherheitslabor Richtung Pasadena untersucht wurden. Für Sadie traf sich das gut, denn sie wollte sowieso nach Grand Park. Mit Cassandra besorgte sie sich einen Dienstwagen und setzte sich auf den Beifahrersitz. Sie wollte überlegen.

„Lotst du mich?“, bat Cassandra zwischendurch. „Du kennst dich hier besser aus.“

„Kein Problem“, sagte Sadie und lenkte Cassandra zuerst nach Downtown. Die Grand Park Station war wieder ganz normal geöffnet. Vollkommen unbeeindruckt parkte Cassandra auf der gegenüberliegenden Straßenseite, dann stiegen sie aus und gingen hinüber zur Metro-Station. Von außen war nicht zu erkennen, was passiert war. Sadie entging jedoch nicht, dass dort kaum Betrieb war. Nur wenige Menschen gingen hinein oder hinaus und auch auf dem Bahnsteig stand kaum jemand. Dafür lagen aber an einer Säule in der Mitte unzählige Blumen, kleine Plüschtiere, es waren Fotos der Opfer an die Säule geklebt. Sadie fiel auf, dass ihr der Wind von oben in den Rücken blies. Das hatte die Giftwolke zuverlässig unten in der Station gehalten.

„Das ist so irre“, sagte Cassandra. „Giftgas ... geruchlos und unsichtbar. Du rechnest ja nicht damit, wenn du das einatmest. Und dann ist es auch schon fast zu spät.“

„Richtig tückisch“, stimmte Sadie zu. „Und dann eine so gut besuchte Metro-Station.“

In diesem Moment fuhr ein Zug ein und bremste ohrenbetäubend laut. Sadie fuhr nicht oft mit der Metro, die jedoch ein kostengünstiges und vergleichsweise schnelles Verkehrsmittel war.

Das war ein Anschlag auf durchschnittliche Menschen, auf ihren Alltag. Fleißige, arbeitende Amerikaner, die nur zur Arbeit gewollt hatten oder anderweitige Pläne verfolgt hatten. Und niemand hatte geahnt, dass am frühen Morgen jemand den Tod gebracht hatte.

„Das hat keine Strahlkraft, weil jeder verunsichert sein soll“, sagte sie. „Wer auch immer das war, wollte den Durchschnittsbürger treffen. Jemanden, der von Terror keine Ahnung hat. Das ist kein Wahrzeichen, Cassie. Nicht wie das WTC oder das Pentagon. Es ist auch keine symbolische Massenveranstaltung wie der Boston Marathon. Nein ... hier ist jemand aufgekreuzt und wollte, dass jeder Pendler Angst davor hat, zur Arbeit zu fahren. Und ich wette mit dir, er wollte, dass alle auf die Behörden zeigen und sagen: Seht mal, die haben keine Ahnung, die können uns nicht schützen.“

„Kann doch eigentlich nicht lang dauern, bis der Präsident darauf reagiert“, sagte Cassandra, die Sadies Gedanken folgen konnte.

Sadie nickte. „Das ist politisch. In irgendeiner Weise. Hier will jemand, dass sich niemand in dem Amerika sicher fühlt, das wir heute haben. Aber seine Botschaft ist noch nicht klar. Der macht weiter.“

„Ja. Allmählich denke ich, du hast wirklich recht.“

„Komm, fahren wir in das Labor“, sagte Sadie. Sie verließen die Metro-Station wieder und fuhren weiter Richtung Pasadena. Cassandra gab ihre Zieladresse im Navigationsgerät ein und folgte der Interstate 110. Der Weg führte sie nach wenigen Minuten am Dodger Stadium vorbei, das Sadie wie hypnotisiert anstarrte.

So, wie sich die ganze Angelegenheit anfühlte, traute sie den Verantwortlichen zu, als Nächstes ein solches Ziel ins Auge zu fassen. Und das würde passieren, wenn sie ihnen nicht langsam näher kamen. Sie mussten etwas tun.

In South Pasadena verließen sie die Interstate und folgten nicht allzu verstopften Straßen bis zu ihrem Ziel. Das Labor ähnelte einem Glaspalast, aber schon bevor sie den Parkplatz erreichten, wurden sie von einem Pförtner in Empfang genommen. Nur, weil O’Toole ihren Besuch angemeldet hatte, wurden sie eingelassen und am Haupteingang gefilzt, nachdem sie ihre Ausweise vorgezeigt hatten. Es dauerte nicht lang, bis ein junger Mann im Anzug sie in Empfang nahm.

„Jim Watney, guten Tag“, stellte er sich vor und begrüßte beide per Handschlag. „Dass tatsächlich noch ein weiteres Mal jemand von Ihrer Behörde kommen würde, um die Behälter anzusehen.“

„Wir sind Profiler“, sagte Cassandra. „Im Augenblick versuchen wir einen anderen Ansatz, um etwas über den Anschlag herauszufinden.“

„Ah, wie interessant! Und was glauben Sie?“

„Dass das keine Islamisten waren“, sagte Sadie trocken.

„Da haben Sie vermutlich recht“, sagte Watney auf dem Weg zum Aufzug. „Es waren ja noch Reste in den Behältern vorhanden und vor einer guten halben Stunde hat mich der Laborleiter darüber informiert, dass er das Sarin für unser eigenes hält – für Sarin, das aus den USA stammt.“

Cassandra und Sadie tauschen einen Blick, während sie den Aufzug betraten.

„Und woran sieht man das?“, fragte Cassandra.

„Die Art und Weise, wie es eingesetzt wurde. Kennen Sie sich mit Chemie aus?“ Als beide die Köpfe schüttelten, grinste er. „Dann will ich Sie nicht mit Details langweilen, aber es gibt unterschiedliche Arten, Sarin herzustellen. Ursprünglich wurde Sarin von deutschen Chemikern der IG Farben entdeckt und hat einen Namen, den selbst ich mir nur mit Schwierigkeiten merken kann.“ Er lachte.

„Sarin ist ein Trivialname“, sagte Sadie.

„Richtig. Man kann erkennen, wie Sarin ursprünglich synthetisiert wurde. Hier in den USA wurde eine andere Methode entdeckt – Flusssäure sagt Ihnen was?“

„Das ist ätzend, oder?“, fragte Cassandra.

„Richtig“, sagte Watney, während sie den Aufzug wieder verließen. „Wie gesagt, ich will Sie nicht mit Details langweilen, aber es gibt Unterschiede und das Sarin, das hier zum Einsatz kam, ist sehr professionell hergestellt. Sarin kann eine gelbliche bis bräunliche Farbe annehmen, je nachdem, wie es hergestellt wurde, wie es gelagert wurde – ob es Verschmutzungen gab oder nicht. Dieses Sarin war ganz klar. Hätte jemand die Behälter vorab gefunden – er hätte nicht gewusst, was es ist.“

Vor einer Tür blieben sie stehen, an der Watney seinen Ausweis scannen ließ, um schließlich noch einen Zahlencode einzugeben und die Tür dann zu öffnen. Eine Glasfront schirmte das eigentliche Labor ab.

„Der taktische Vorteil in der amerikanischen Herangehensweise der Sarinsynthese liegt darin, dass der Ausgangsstoff Methylphosphonsäuredifluorid unter Zugabe von Isopropanol zu Sarin reagiert. In Binärkampfstoffgeschossen werden beide Stoffe in zwei Kammern aufbewahrt und erst bei Bedarf zusammengeführt. Dieses Prinzip haben die Attentäter sich hier auch zu Eigen gemacht. Zwei Kammern im Behältnis und per Fernzünder wurde eine Trennwand geöffnet.“ Watney gab den beiden aus einer Kiste Gasmasken, die sie zwar nur zur Vorsicht tragen sollten, aber Sadie war froh darum. Erst dann öffnete er, wieder mit seinem Ausweis, die nächste Tür und brachte sie ins Labor. Dort standen die Behälter in einem weiteren Glaskasten, aber sie konnten trotzdem alles erkennen.

„Fotos haben Sie gesehen, nehme ich an?“ Watneys Frage klang dumpf durch die Gasmaske.

Sadie nickte. „Können Sie uns das Prinzip erklären?“

Watney nickte. „Sie sehen die beiden Kammern. Eigentlich hatte der Behälter noch einen Deckel, der liegt hier.“ Er deutete neben den Behälter. „Sie sehen auch die Klappe in der Mitte. Am Deckel ist der Empfänger des Fernzünders befestigt. Man kann also per Knopfdruck die kleine Klappe aufschnappen lassen und die beiden Stoffe reagieren zu Sarin. Hier oben sehen sie Löcher, durch die das Sarin in gasförmiger Form ausgetreten ist. Sarin ist leicht flüchtig. Es hat vielleicht eine halbe Stunde gedauert, bis eine ausreichende Menge ausgetreten war, um den umstehenden Menschen gefährlich zu werden.“

„Das ist grausam“, sagte Cassandra.

„Hier hat also jemand genau gewusst, was er tut“, sagte Sadie.

Watney nickte. „Das wurde professionell und gründlich gemacht.“

„Ist das einfach? Welches Wissen ist dafür nötig?“

„Um ehrlich zu sein: Das Prinzip ist in der Wikipedia erklärt. Jeder, der sich halbwegs mit Chemie auskennt, versteht es.“

„Ist es denn aufwendig oder teuer, die nötigen Stoffe zu beschaffen?“

„Das nicht unbedingt, aber Sie können sich denken, unter welchen Sicherheitsvorkehrungen man schon die ersten Reaktionen durchführen muss. Das ist relativ aufwendig.“

„Und Sie konnten erkennen, dass das Sarin hierzulande hergestellt wurde?“

Watney zögerte kurz. „Nun, auch in Syrien wird man sich das Verfahren zueigen gemacht haben, das wir hier benutzen, um einen Binärkampfstoff herzustellen. Aber das wurde nicht irgendwo in einem Wüstenlabor durchgeführt. Es ist rein – und es ist auch nicht alt. Sie sehen, da sind noch Reste im Behälter.“ Watney zeigte auf den Glaskasten. „Das Sarin wurde erst kürzlich hergestellt, extra für diesen Zweck. Suchen Sie jemanden, der irgendwie die Möglichkeit hat, die Synthese in einem Sicherheitslabor durchzuführen. Ich schwöre Ihnen, der Stoff und all die Ausgangsstoffe kommen hier aus den Staaten.“

„Okay“, sagte Sadie. „Ich gehe wieder nach draußen.“

„Ich komme mit“, sagte Cassandra. Sie waren froh, als sie im Vorraum die Gasmasken abnehmen und das Labor verlassen konnten.

„Haben Sie sonst noch Fragen?“, erkundigte Watney sich.

„Im Moment nicht“, sagte Sadie. „Vielen Dank für die Erklärungen, das hat uns wirklich sehr geholfen.“

„Gern“, sagte Watney. In diesem Moment hatte Sadie es wahnsinnig eilig, nach draußen an die frische Luft zu kommen.

 

In der Kantine schnappte Sadie sich einen Teller Spaghetti Bolognese und ging mit Cassandra zu einem Tisch. Ihre Kollegin hatte sich für Chicken Nuggets mit Pommes entschieden.

Matt erschien in der Kantine. Er hatte seinen Kollegen Jason im Schlepptau. Minuten später waren die beiden am Tisch der Frauen eingetroffen und setzten sich dazu.

„Du auch Spaghetti?“, stellte Sadie grinsend mit einem Blick auf Matts Teller fest.

Er nickte. „Muss sein. Und, was gibt es bei euch?“

Sadie erzählte, dass sie in Grand Park und im Labor gewesen waren, was beide Männer sich interessiert anhörten. Schließlich schaltete Cassandra sich ein.

„Mal sehen, ob wir O’Toole vermitteln können, dass das möglicherweise nur ein Testlauf war.“

Jason hielt im Kauen inne und schluckte. „Ein Testlauf? Wofür? Reichen achtundzwanzig Tote nicht?“

Sadie begann, die Ziele aufzuzählen, die auch Sheila genannt hatte. „Denkt mal ans Dodger Stadium. An Disneyland ... es gibt genügend Ziele in Los Angeles, wo man unzählige Menschen treffen könnte. Symbolische Orte. Grand Park war nicht symbolisch, außerdem wurde der Fernauslöser erst nach der Rush Hour gezündet. Sheila glaubt, dass da noch etwas kommen wird. Etwas Größeres. Und ehrlich gesagt glaube ich das auch.“

„Aber wer soll dahinterstecken?“, fragte Matt. „Und warum?“

„Ich weiß es nicht, aber ich sehe da keine Islamisten“, sagte Sadie.

„Ihr seid ja schon echt weit“, sagte Jason. „Die Geheimwaffen vom Major Crimes Unit!“

„So nennt man uns?“, fragte Cassandra.

„So nenne ich euch. Und das seid ihr wirklich. Da muss man ja Angst bekommen als Verbrecher in der Stadt ... ihr habt nicht nur Köpfchen, ihr seht auch noch gut aus!“

Sadie lachte. „Du alter Charmeur.“

„Was denn? Das ist mein Ernst! Ich meine, ich weiß, dass du vergeben bist und du bist in den besten Händen, die ich mir denken kann. Aber was ist mit Agent Williams?“

Cassandra starrte ihn an. „Nimm es nicht persönlich, aber ich bin nicht interessiert.“

„Okay“, sagte Jason, aber diese brüske Zurückweisung erstaunte ihn doch. Matt bemühte sich, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken und Jason ging auch darauf ein, aber Cassandra aß schweigend zuende und stand gleich im Anschluss auf.

„Ich bin schon mal im Büro“, sagte sie und lächelte gezwungen in die Runde. „Bis später.“

„Bis gleich“, sagte Sadie und aß erst einmal weiter, aber ihr entging nicht, dass Jason Cassandra missmutig hinterherblickte.

„Das darfst du wirklich nicht persönlich nehmen“, sagte sie. „Cassandra will gerade nichts von Männern im Allgemeinen wissen.“

„Oh, okay. Noch nicht über den Ex weggekommen?“, fragte er interessiert.

„Nein, das ist es nicht. Sie hat da vor ein paar Monaten eine ziemlich üble Erfahrung machen müssen und darüber ist sie noch nicht ganz hinweg. Das war böse. Ich war noch dort und habe dabei geholfen, die Typen einzubuchten.“

„Oh ... verstehe. Klasse. Da bin ich ja mit Anlauf ins Fettnäpfchen gesprungen.“ Er wirkte ehrlich betroffen.

„Das konntest du nicht wissen.“

„Nein, aber das ist doch Mist. War ja wieder klar. Ich habe sie schon ein paar Mal bei dir gesehen und dachte mir, ich müsste sie mal ansprechen ... ich habe Matt sogar gefragt, ob deine neue Kollegin Single ist. Du hättest ja ruhig mal was sagen können“, brummte Jason tadelnd in seine Richtung.

„Kann ich ahnen, dass du sie anflirtest?“, verteidigte Matt sich.

„Jetzt hört schon auf. Ich rede mit ihr. Sie ist dir nicht böse, Jason“, versprach Sadie.

„Wenn du das sagst ... ach Mist.“ Verdrießlich drehte Jason sein Glas zwischen den Fingern.

Wenig später waren sie mit dem Essen fertig und gingen alle wieder an die Arbeit. Als Sadie im Büro der Sondereinheit erschien, fand sie Cassandra nicht an ihrem Platz vor. Sie ging in die Küche, holte sich etwas zu trinken und als sie Cassandra dann immer noch nicht fand, ging sie einer Vermutung nach und suchte auf der Toilette nach ihr. Dort war niemand zu sehen.

„Cassie?“, fragte Sadie zaghaft.

„Hier“, kam es aus einer der Kabinen zurück. Augenblicke später wurde die Tür geöffnet und Cassandra kam wieder zum Vorschein. Sie hatte nicht geweint, aber sie war blass.

„Er hat es nicht so gemeint“, sagte Sadie.

„Ich weiß. Er ist ja auch nett. Aber trotzdem ... ich kann nicht. Ich war nicht sehr freundlich zu ihm.“

„Ich habe es ihm erklärt.“

„Du hast was?“, fragte Cassandra.

„Ich habe ihm gesagt, dass du eine unschöne Erfahrung gemacht hast. Weiter ins Detail bin ich nicht gegangen. Vielleicht kann er es sich denken ... er war verständnisvoll. Es tat ihm leid.“

„Das hast du ihm gesagt?“ Cassandra war vollkommen aufgewühlt.

„Nein, ich habe ihm nur zu verstehen gegeben, dass es nicht seine Schuld ist.“

„Na toll. Jetzt hält er mich bestimmt für ... ich weiß es nicht.“ Frustriert verschränkte Cassandra die Arme vor der Brust und schnaubte.

Sadie seufzte. „Du musst mir nicht erklären, wie sehr man sich schämt.“

„Weiß er über dich auch Bescheid?“

„Jetzt hör schon auf“, sagte Sadie stirnrunzelnd. „Ich wollte bloß deine Ehre retten und dafür sorgen, dass er dich nicht für zickig hält! Ich war nicht sehr präzise.“

„Das ist nicht okay“, schnaubte Cassandra und stapfte aus dem Raum. Irritiert blickte Sadie ihr hinterher, aber dann sagte sie sich, dass das kein ungewöhnliches Verhalten war. Sie konnte Cassandra auch verstehen, aber sie hatte es nur gut gemeint.

Sadie setzte sich an einen Laptop und versuchte, sich einen Überblick über die aktuelle Lage zu verschaffen. An der Union Station stand mehr Polizei, ebenso auf dem Hollywood Boulevard, an Disneyland und anderen Sehenswürdigkeiten. Metro-Stationen wurden stärker überwacht, Polizisten und Rettungsteams waren mit Gasmasken ausgestattet, in Schulen wurde wieder Terroralarm geübt. Sadie besuchte eine Seite, auf der die Namen aller Opfer gesammelt waren. Es waren sechzehn Männer, elf Frauen und ein Kind. Es hatte Familienväter, Mütter, Söhne und Töchter getroffen. Ein Opfer war Entwicklungshelferin gewesen, ein anderes Ärztin, einer der Männer war selbst bei der Feuerwehr gewesen. Alles unbescholtene, friedfertige Bürger.

Die Bürger der Stadt kamen zu Wort. Im Moment konnte man nirgends mehr Gasmasken kaufen, selbst Versandhändler kamen inzwischen an ihre Grenzen. Die Menschen liefen damit teilweise durch die Stadt. Die Freeways standen morgens kurz vor dem Kollaps, weil viele sich nicht mehr trauten, mit der Metro zu fahren. Es wurde überlegt, das Dodgers-Spiel am Wochenende abzusagen.

„Ist doch verrückt, wie verunsichert alle sind“, wurde ein junger Mann zitiert, ein Student. „Ich lasse mich davon nicht einschüchtern. Das ist doch genau das, was die Terroristen wollen!“

Da musste Sadie ihm recht geben. Aber eigentlich hatten sie ihr Ziel schon längst erreicht. Das Leben in Los Angeles war manipuliert und auf den Kopf gestellt. Phil brachte Amelia morgens mit dem Auto zur Arbeit, das hatte er Matt erzählt, dem er am Vortag auf dem Flur getroffen hatte.

Auch am Flughafen waren die Kontrollen verstärkt worden, Spürhunde waren unterwegs. Manche Taxifahrer fuhren nur noch mit Gasmasken. Es wurden besorgte Eltern zitiert, die ihre Kinder nicht mehr in die Schule lassen wollten.

Wer auch immer es gewesen war, hatte sein Ziel tatsächlich erreicht. Wenn das überhaupt das Ziel gewesen war. Sadie hätte gern dabei geholfen, herauszufinden, wer der Drahtzieher hinter den Anschlägen war. Aber noch war es nicht soweit. Sie wartete darauf, dass das Telefon klingelte, aber das tat es nicht. Deshalb versuchte sie, im Vergleich zu den Anschlägen in Tokio 1995 herauszufinden, was die Attentäter beabsichtigt haben könnten – und wer sie überhaupt waren.

Mitglieder der Aum-Sekte hatten das Sarin in Zügen deponiert, nicht am Bahnhof, und sie hatten es mitten in der Rush Hour freigesetzt. Sie hatten das flüssige Sarin in Tüten gepackt und diese mit den Spitzen von Regenschirmen aufgestochen. Danach hatten sie die Flucht ergriffen und das sehr flüchtige Sarin war in die Luft entwichen. In den Nachrichten hieß es, dass es in Grand Park so ähnlich vonstatten gegangen war. Allerdings las Sadie, wie lang das Sarin damals in Japan gebraucht hatte, um sich überall zu verteilen. Das hatte erheblich länger gedauert als in Los Angeles. Zehn Personen hatten insgesamt fünf Züge mit Sarin vergiftet. Einzig die etwas chaotische Durchführung und die schlechte Qualität des Sarins waren der Grund dafür, dass es nicht viel mehr Tote gegeben hatte. Der Angreifer in Los Angeles hatte es besser gewusst. Dafür hatte es in Japan weitaus mehr Menschen verletzt, weil mehr Menschen dem Gift ausgesetzt gewesen waren. Der Anschlag von Grand Park war konzentrierter gewesen, nur an einem Ort – weniger Menschen, dafür aber mehr Tote.

Sadie las über den Anschlag in Tokio, was sie finden konnte. Cassandra fragte sie schließlich, wie sie ihr zur Hand gehen konnte und recherchierte die Sarin-Attacken in Syrien. Bis jetzt schoben die syrische Regierung und die Opposition sich gegenseitig die Verantwortung für die Anschläge zu, die mit Raketen auf die Stadt Ghuta gerichtet wurden. Je nach Quelle wurden rund dreihundert oder bis zu eintausendsiebenhundert Todesopfer gezählt.

Irgendwann kehrte auch Cassandra zurück und setzte sich ebenfalls an einen Laptop. Bis zum Feierabend wechselten die beiden kein Wort mehr, was Sadie aber nicht persönlich nahm. Sie zermarterte sich vielmehr den Kopf über den Fall und war auch sehr schweigsam, als sie schließlich auf Matt traf und mit ihm zum Auto ging. Er brauchte nicht lang, bis er ihre Schweigsamkeit bemerkte.

„Was beschäftigt dich?“

„Ach, es ist wegen Cassie. Ich habe ihr vorhin gesagt, dass ich Jason gegenüber angedeutet habe, worum es geht. Das hat sie mir übel genommen.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739370828
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (März)
Schlagworte
Terrorismus Giftgas Psychothriller Profiler Thriller Terroranschlag Spannung Los Angeles FBI Ermittlungen Krimi Ermittler

Autor

  • Dania Dicken (Autor:in)

Dania Dicken, Jahrgang 1985, schreibt seit ihrer Kindheit. Die in Krefeld lebende Autorin hat in Duisburg Psychologie und Informatik studiert und als Online-Redakteurin gearbeitet. Mit den Grundlagen aus dem Psychologiestudium setzte sie ein langgehegtes Vorhaben in die Tat um und schreibt seitdem Psychothriller mit Profiling als zentralem Thema.
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Titel: Die Seele des Bösen - Anschlag auf die Freiheit