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Die Seele des Bösen - Besessenheit

Sadie Scott 10

von Dania Dicken (Autor:in)
325 Seiten
Reihe: Sadie Scott, Band 10

Zusammenfassung

In ihrem neuen Fall leistet FBI-Profilerin Sadie Amtshilfe für einen Kollegen von der Polizei: Detective Nathan Morris vom LAPD bittet sie, ihn ins Gefängnis zu dem bereits verurteilten Serienmörder Carter Manning zu begleiten. Der Polizist benötigt psychologische Unterstützung bei der Zuordnung zweier neuer Leichenfunde in Mannings Mordserie. Während Sadie und Morris noch versuchen, das Rätsel um Manning zu knacken, überrascht ihr Mann Matt Sadie mit einer unangenehmen Offenbarung: Er hat eine unbekannte Verehrerin, die ihm nachstellt. Als sie sich bedroht fühlen, bitten die beiden Morris um Hilfe. Keine Sekunde zu früh, denn Matt gerät in große Gefahr …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Sonntag

 

Über den San Gabriel Mountains türmten sich die Gewitterwolken kilometerhoch. Die untergehende Sonne leuchtete dem bedrohlich schwarzen Wolkenberg entgegen, dann flammte ein Blitz auf und schlug irgendwo in den Bergen ein. Schweigend blickte Sadie in die Richtung des nahenden Sturms. Nicht mehr lang und die Welt würde untergehen. Sekunden später donnerte es und Figaro sträubte unwillig sein Fell. Er stand mit Buckel auf dem Sofa, war sichtlich unruhig. Sadie setzte sich neben ihn und hob ihn auf ihren Schoß. Als sie ihm über den Rücken strich, entspannte der Kater sich langsam und rollte sich auf ihrem Schoß zusammen.

Matt schloss die Spülmaschine und ging hinüber zu seiner Frau und dem Kater. Erneut zuckte ein Blitz durch die Wolken und beschwor den nächsten grollenden Donner herauf.

„Er ist aber auch ein Sensibelchen“, kommentierte Matt die missgelaunte Stimmung des Katers.

„Ist er“, stimmte Sadie zu, während Matt sich neben sie setzte. Er legte einen Arm um Sadie und kraulte Figaro mit der anderen Hand am Kopf.

„Ihn hattest du zuerst, oder?“, fragte Matt.

Sadie nickte, während sie Figaro am Rücken streichelte. „Er ist mir zugelaufen. Dann habe ich Mittens aus dem Tierheim geholt, damit er Gesellschaft hat.“

„Er wusste schon damals, dass er es gut bei dir haben würde“, sagte Matt.

„Das hoffe ich doch.“ Sadie lächelte, als Figaro zu schnurren begann. Bei ihr fühlte er sich sicher. Das war von Anfang an so gewesen. Inzwischen war Figaro etwa sechs bis acht Jahre alt, Mittens war etwas jünger. Suchend schaute Sadie sich um, aber sie konnte ihre Katze nirgends entdecken.

Matt griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Es war an der Zeit für die Abendnachrichten. Die schaute er sich immer an, wenn er die Gelegenheit dazu hatte. Gedankenversunken starrte Sadie auf den Bildschirm, ohne die Nachrichten wirklich zu verfolgen. Insgeheim war sie noch nicht aus dem Yellowstone zurückgekehrt. Zwar waren sie schon seit einer Woche wieder aus ihrem Urlaub zurück, aber wenn sie ehrlich war, wünschte sie sich zurück in die Abgeschiedenheit der Natur. Sie war froh, dass Matt ihr nun die Schönheit und Vielseitigkeit ihrer Heimat zeigte. Früher wäre sie allein nie auf die Idee gekommen, an diese Orte zu reisen, aber das erweiterte den Horizont ungemein. Draußen in der Natur hatte sie sich richtig wohl gefühlt – besser als in Los Angeles, aber das war jetzt nun mal ihre Heimat.

Der Wind frischte auf, es wurde immer dunkler. Der Sturm rückte näher. Sadie machte das keine Angst, sie hatte Gewitter schon als Kind aufregend gefunden. Als sie ein verräterisches Knacken aus der Küche hörte, drehte sie sich um und entdeckte Mittens am Napf.

Sadie verfolgte die Berichterstattung in den Nachrichten mit halbem Ohr, sie lauschte mehr auf das Schnurren ihres Katers. Figaro war ein liebes, anhängliches Tier.

„Wie die Polizei heute bekanntgab, wurden am Wochenende im Angeles National Forest die sterblichen Überreste eines noch nicht identifizierten Mannes von Wanderern gefunden. Laut Angaben der Polizei handelt es sich um bereits mumifizierte Leichenteile, die in einem Gebiet entdeckt wurden, in dem vor etwa zehn Jahren der bereits verurteilte Serienmörder Carter Manning zahlreiche seiner Opfer hinterlassen hat. Ob es sich bei dem gerade entdeckten Toten um ein weiteres von Mannings Opfern handelt, wird zur Stunde untersucht.“ Es wurden Aufnahmen eines abgesperrten Areals in den Bergen gezeigt, in dem Polizisten unterwegs waren.

„Die Polizei durchsucht weite Teile der abgelegenen Region, um eventuell weitere Opfer zu finden. Der heute vierunddreißigjährige Manning hat zwischen 2004 und 2008 mindestens elf Männer ermordet und zerstückelt. Der zu elf lebenslänglichen Haftstrafen ohne Aussicht auf Bewährung verurteilte Serienmörder sitzt seit 2011 im Los Angeles County State Prison ein und soll nun zu der Sache vernommen werden.“

Das Bild im Nachrichtenstudio wechselte und der Sprecher berichtete von einer Schießerei in South Central, doch wieder einmal hörte Sadie nicht zu. Sie spürte Matts Seitenblick auf sich, während sie im Geiste das Foto von Carter Manning vor sich sah, das gerade noch auf dem Bildschirm eingeblendet gewesen war.

„Sagt der Name dir was?“, fragte Matt prompt.

Sadie nickte gleich. „Den Fall kenne ich noch von der Academy. Manning ist ein sadistischer, nekrophiler Homosexueller.“

Matts Blick war mit angewidert am besten zu beschreiben. „Klingt ja verlockend.“

„Ja, war nicht schön. Als man ihn damals erwischt hat, wurde er mit John Wayne Gacy und Jeffrey Dahmer verglichen.“

„Ach so? Kleiner hatten wir es nicht?“, spottete Matt.

Sadie schüttelte den Kopf. „Manning kommt nicht auf so viele Opfer, aber davon abgesehen waren die Parallelen zu den berühmten Größen kaum zu übersehen.“

Matt zog die Augenbrauen hoch und kräuselte die Lippen. „Und das ist jetzt wieder einer der Momente, in denen ich nicht weiß, ob ich bewundern soll, welchen Job du da machst, oder ob mir das alles nicht doch lieber höchst suspekt ist ...“

Grinsend erwiderte Sadie seinen Blick. „Du wusstest, worauf du dich einlässt.“

Er lachte. „Ja, da gebe ich dir Recht. Ich bewundere es auch die meiste Zeit. Aber manchmal staune ich dann doch darüber, in welcher Seelenruhe du dich mit solchen Fällen beschäftigst. Ich meine ... ein nekrophiler Serienmörder?“

„Weißt du, wie man ihn erwischt hat?“, erwiderte Sadie. Matt schüttelte den Kopf.

„Er hatte einem seiner letzten Opfer die Haut vom Gesicht gezogen und konserviert. Dieses Behältnis hat jemand gefunden und so ist man ihm auf die Schliche gekommen.“

Angewidert verzog Matt das Gesicht. „Was, wie in Face/Off?“

„So ähnlich“, sagte Sadie. „Manning hat wirklich eklige Dinge getan.“

„Lecker“, murmelte Matt sarkastisch.

„Bin gespannt, ob mich deshalb jemand anruft.“

„Oh bitte ...“ Melodramatisch stöhnend lehnte Matt sich am Sofa zurück und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Davon will ich gar nichts hören.“

„Was heiratest du auch eine Profilerin?“

„Ja, wirklich ...“ Grinsend drückte Matt ihr einen Kuss auf die Wange und blickte auf, als ein lauter Donnerknall die Luft zerriss. Inzwischen war es stockfinster draußen und Augenblicke später setzte der Regen ein. Sadie entging nicht, wie angespannt Figaro auf ihrem Schoß war. Er hatte Gewitter noch nie gemocht.

Als die Nachrichten vorbei waren, schaltete Matt um zur nächsten Folge der Stephen King-Serienverfilmung 11/22/63. Sadie war ganz vernarrt in die Serie – nicht nur, weil sie als Jugendliche Stephen King-Romane verschlungen hatte, sondern auch, weil eine junge Frau eine tragende Rolle in der Serie spielte, die genauso hieß wie sie. Dabei spielte es auch keine Rolle für sie, dass Sadie nicht ihr richtiger Name war. Sie hieß nun schon länger Sadie, als sie Kim geheißen hatte und sie identifizierte sich mit diesem Namen auch weitaus mehr.

Während sie die spannende Episode verfolgte, hatte draußen der Weltuntergang begonnen. Es stürmte, regnete und donnerte ohne Unterlass, aber keine halbe Stunde später war der Spuk vorbei und das Wetter beruhigte sich wieder. Inzwischen war es Mitte September und Sadie dachte daran, dass sie nun schon seit über zwei Jahren mit Matt zusammen war. In diesen zwei Jahren war wahnsinnig viel passiert und sie hatte sich dadurch sehr verändert, das wurde ihr immer wieder bewusst.

Aber trotz allem war sie jetzt glücklich. Sie hatte nicht damit gerechnet, das jemals behaupten zu können. Für viele lange Jahre war es nur ein Traum für sie gewesen, irgendwann einen Mann zu finden, dem sie vorbehaltlos vertrauen konnte. Aber es war passiert. Er saß neben ihr auf dem Sofa und wirkte ebenfalls glücklich.

„Hättest du vor zwei Jahren gedacht, dass wir irgendwann zusammen in L.A. beim FBI sind?“, fragte Sadie, während Matt nach dem Ende der Episode durch die Kanäle zappte.

Nachdenklich ließ er die Fernbedienung sinken und schüttelte den Kopf. „Vor zwei Jahren habe ich den Chief des Dale City PD in die Hölle gewünscht, daran kann ich mich erinnern. Da habe ich mich nicht mal beim FBI gesehen, geschweige denn hier.“

Sadie lächelte. „Stimmt, damals hast du einen Rauswurf riskiert, nur um zu mir in die Wüste zu kommen.“

„Den Rauswurf habe ich nicht nur riskiert, sondern auch bekommen.“

„Dass das schon so lang her ist.“

„Ja, verrückt“, stimmte Matt zu und zog ihr T-Shirt ein wenig zur Seite, so dass die Narbe an ihrer linken Schulter zum Vorschein kam. „Seitdem ist viel passiert.“

„Den Narbenwettstreit gewinnst du“, erwiderte Sadie trocken.

„Stimmt“, sagte er grinsend. „Aber ich bereue nichts. Wenn ich mir vorstelle, ich säße jetzt immer noch in Modesto, um dort Einbrecher zu jagen ... na, danke.“

„Ich glaube, dein Leben hat sich seitdem genauso verändert wie meins.“

„Das denke ich auch.“ Anstatt noch etwas zu sagen, nahm Matt ihren Kopf in beide Hände und küsste sie zärtlich. Sadie ließ sich bereitwillig darauf ein und erwiderte den Kuss nur zu gern. Ungeachtet des Katers auf ihrem Schoß legte Matt einen Arm um sie und zog sie näher an sich heran. Als sie seine andere Hand auf ihrer Brust spürte, zögerte sie kurz und hielt seine Hand dann fest. Matt zog sie sofort zurück.

„Ich bin müde“, sagte sie und meinte es auch so.

„Kein Ding“, sagte er achselzuckend und lächelte. Er wusste, dass sie ihn in solchen Dingen nicht anlog. Das hatte sie nie gemusst.

Wenig später schaltete er den Fernseher aus und die beiden gingen nach oben. Matt stellte sich noch unter die Dusche, bevor er Sadie ins Bett folgte. Sie lag bereits dort und las alles, was sie im Internet über den Toten aus dem Angeles National Forest fand. Details verrieten die Medien nicht, aber sie überlegte, sich bei der Polizei schlau zu machen und ihre Hilfe anzubieten, falls man nicht ohnehin darum bat. Im Gegensatz zu Cassandra hatte sie nämlich im Augenblick nicht viel zu tun, sie hatte ihre Fälle vor dem Urlaub zum Abschluss gebracht und in der letzten Woche war nicht viel passiert, aber sie wusste schon, das konnte sich jederzeit ändern.

Wenig später betrat Matt das Schlafzimmer, nur mit einer Shorts bekleidet. Sadie lächelte bei diesem Anblick. Die lange Narbe auf seiner Brust verblasste langsam, aber sie entstellte ihn auch nicht wirklich. Sie liebte ihn, wie er war und beobachtete schweigend, wie er sich zu ihr ins Bett legte.

„Du hast wieder diesen Blick“, stellte er folgerichtig fest.

„Welchen Blick?“

„Manchmal hast du eine Art, mich anzusehen, an die ich mich immer noch gewöhnen muss. Das ist ein Blick, der mir sagt, dass du mich einfach liebst und das auch immer tun wirst.“

Sadie errötete. „Ja ... und dass ich froh bin, dich zu haben.“

„Ich weiß. Ich bin auch froh, dich zu haben, Sadie Whitman.“

Sie lächelte, als er das sagte. Das Bewusstsein, jetzt seinen Namen zu tragen, tat ihr gut. Inzwischen merkte sie ihm auch nur noch selten die Traurigkeit über den Verlust ihres Kindes an. Er steckte es weg, so wie er schon viele Dinge weggesteckt hatte. Und Sadie hatte es so gemeint, als sie gesagt hatte, dass sie irgendwann doch Kinder mit ihm wollte. Dabei war es nicht ganz unbedeutend für sie, dass Matt immerhin acht Jahre älter war, aber im Augenblick war sie glücklich damit, ihn zu haben. Während er mit seinem Handy herumspielte, schmiegte Sadie sich seitlich an ihn, bettete ihren Kopf auf seine Brust und legte einen Arm um ihn. Sie wusste, wie sehr er es liebte, wenn sie das machte.

Sie hatte nie einen anderen Mann gehabt, aber das fehlte ihr auch nicht. Als sie schließlich das Licht ausschalteten, blieb Sadie weiter auf Matts Brust liegen und lauschte auf seine Atemzüge.

 

 

Montag

 

„Um was wetten wir, dass dich jemand anruft?“

Sadie drehte sich um und grinste in Cassandras Richtung. Ihre Kollegin ließ ihre Tasche neben dem Stuhl auf den Boden gleiten und setzte sich.

„Du meinst wegen des Toten im Angeles National Forest?“, fragte Sadie.

Cassandra nickte. „Genau den meine ich. Die werden kommen, da bin ich sicher.“

„Mal sehen. Vielleicht können sie den Toten selbst mit Manning in Verbindung bringen.“

„Die rufen dich an. Bestimmt.“ Mit diesen Worten schaltete Cassandra ihren Computer ein. „Nettes Gewitter gestern, was?“

„Figaro war völlig unleidlich“, sagte Sadie.

„Ach, ich liebe deine Katzen. Ich hätte selbst gern welche.“

„Und warum legst du dir keine zu?“

„Weil Jason Allergiker ist.“

„Soso“, erwiderte Sadie mit hochgezogener Augenbraue. „Höre ich da etwa ernste Absichten?“

„Ach, komm“, sagte Cassandra und errötete leicht. „Als ob dich das überraschen würde.“

„Nicht wirklich“, gab Sadie zu. „Aber ich finde es toll, Cassie. Ich wusste, dass er dein Typ ist.“

„Ist er ... aber du weißt ja, wo das Problem lag.“

„Solange es keins mehr ist.“

Cassandra schüttelte den Kopf. „Er ist toll, wirklich. Und er ist großartig mit der Situation umgegangen.“

„Es ist ja auch bald vorbei“, sagte Sadie und meinte den Prozess um Lucas Whittaker – den Mann, der Cassandra vor einigen Monaten mit Hilfe seines Komplizen Ross Nolan entführt und vergewaltigt hatte. Cassandra hatte sehr unter der Tat gelitten und bei ihrer Aussage gegen Whittaker im Gerichtssaal Höllenqualen gelitten, aber Sadie ging davon aus, dass sich die Mühe gelohnt hatte. In wenigen Tagen wurde das Urteil gegen Whittaker gesprochen und sie rechnete mit einer langen Freiheitsstrafe, was sie nur gerecht fand.

Aber natürlich hatte das Cassandras beginnende Beziehung zu Matts Kollegen Jason Wheeler anfangs überschattet. Inzwischen wusste Jason, was Cassandra erlebt hatte und er ging gelassen damit um. Inzwischen hatte Cassandra auch keine Angst mehr davor, Jason an sich heranzulassen; das hatte sie Sadie glücklich und erleichtert erzählt. Sadie fühlte sich geehrt, inzwischen für Cassandra nicht mehr nur eine Kollegin, sondern auch eine gute Freundin zu sein. Sie freute sich für Cassandra, dass sie sich Jason langsam angenähert hatte und nun eine glückliche Beziehung mit ihm führte.

„Ich bin schon ziemlich gespannt auf das Urteil“, sagte Cassandra ins Schweigen hinein.

„Ich auch, obwohl es ihn ja weniger hart treffen wird als Nolan und Cook.“

„Was nur gerecht ist.“

Sadie nickte. „Ich bin froh, dass du Jason vertrauen kannst.“

„Ja ... hätte nicht gedacht, dass ich mich so schnell wieder auf einen Mann einlassen kann. Aber Matt sagte ja, er ist in Ordnung. Er hatte recht. Wenn er das sagt, kann ich das einschätzen.“

„Wie meinst du das?“, fragte Sadie.

Cassandra gestikulierte erst und suchte nach Worten, bevor sie sagte: „Ich bin einfach davon ausgegangen, dass er einschätzen kann, ob Jason mit mir umgehen kann oder nicht. Da hatte ich ihm Erfahrung unterstellt. Ich meine ... du hast es so gut mit Matt.“

Sadie nickte stumm. Das wusste sie und sie vergaß es auch nie.

„Habt ihr überlegt, zusammenzuziehen?“, fragte sie.

„Ja, schon“, erwiderte Cassandra. „Das würde eigentlich Sinn ergeben, meist schläft ja doch einer beim anderen.“

„Das hatte ich nicht sehr lang mit Matt.“

„Nein, ihr seid ja gleich nach Quantico gekommen. Ich freue mich übrigens schon auf Freitag.“

„Ich mich auch“, sagte Sadie. Jason und Cassandra würden vorbeikommen, um mit Matt und Sadie zu kochen. Das hatten sie schon länger geplant.

Schweigend öffnete sie ihr Essay über ihren Vater. Daran arbeitete sie immer noch, aber inzwischen lag sie in den letzten Zügen. Sie überlegte, Nick offiziell an Bord zu holen. Er hatte gute Kontakte zu Fachzeitschriften und würde auch beurteilen können, was sie geschrieben hatte. Seine Meinung lag Sadie am Herzen. Dieses Essay würde ihn persönlich interessieren und vielleicht auch für die Ausbildung an der Academy von Nutzen sein.

„Ah“, machte Cassandra, als sie auf Sadies Bildschirm spähte und sah, woran Sadie arbeitete. Inzwischen wusste auch sie Bescheid.

„Solange mich niemand anruft, kann ich das ja machen“, sagte Sadie.

„Stimmt. Dass du wirklich die Nerven hast, über deinen Vater zu schreiben.“

Achselzuckend erwiderte Sadie: „Er ist jetzt schon fast zwei Jahre tot, Cassie. Inzwischen tut mir das nicht mehr weh.“

Was leider nicht auf all ihre Familienbeziehungen zutraf, aber den Gedanken schob sie schnell beiseite und stürzte sich in die Arbeit. Cassandra blieb nicht lang neben ihr sitzen, sondern fuhr wieder zur Polizei in Beverly Hills, wo sie im Augenblick Amtshilfe leistete. So hatte Sadie lang die nötige Ruhe, um zu schreiben, bis etwa eine Stunde vor der Mittagspause ihr Telefon klingelte. Es war eine Nummer aus der Stadt.

„Special Agent Sadie Whitman“, meldete sie sich.

„Gut, dass ich Sie erreiche, Agent Whitman. Mein Name ist Nathaniel Morris, ich bin Detective beim LAPD und könnte die Hilfe eines Profilers gebrauchen. Deshalb hat man mir Ihren Namen genannt.“

„Da sind Sie richtig bei mir“, sagte Sadie. „Worum geht es?“

„Es geht um den Toten aus dem Angeles National Forest. Haben Sie schon davon gehört?“

Sadie grinste wissend. „Ja, es geht um Carter Manning, nicht wahr?“

„Richtig. Es geht nicht so sehr darum, dass wir ein Profil bräuchten; eigentlich sind wir uns ziemlich sicher, dass der Tote auf Mannings Konto geht. Gestern war ich schon im L.A. County State Prison und habe mit Manning gesprochen, aber der weiß von nichts. Sagt er zumindest. Ich war schon fast versucht, ihm zu glauben, aber ich habe schon damals an den Ermittlungen in seinem Fall mitgearbeitet und ich bin mir todsicher, dass Manning auch für das neue Opfer verantwortlich ist.“

„Okay“, sagte Sadie. „Und wie kann ich Ihnen da helfen?“

„Ich wollte zuerst Hilfe von Ihren Kollegen aus Quantico anfordern, aber da sagte man mir, dass Sie hier für solche Fälle zuständig sind.“

„Sie haben mit Agent Cooper gesprochen?“, fragte Sadie, die gleich an Alexandra dachte.

„Richtig. Ich würde einfach gern einen Profi hinzuziehen, der die Fakten prüft und selbst mal mit Manning spricht. Im Augenblick sind meine Kollegen noch draußen in den Bergen und suchen nach weiteren Leichen, denn ich werde den Verdacht nicht los, dass es noch weitere Tote gibt. Aber Manning ... der gab sich völlig unbeteiligt.“

„Ich komme gern vorbei und sehe mir das an. Wo finde ich Sie?“

„Im Police Headquarters in Downtown.“

„In Ordnung, bin unterwegs“, sagte Sadie und legte auf. Sie meldete sich ab, holte sich den Schlüssel für einen Dienstwagen und legte auf dem Weg zum Parkplatz noch einen kurzen Halt in der Kantine ein, um sich ein Sandwich zu kaufen. Verhungern wollte sie unterwegs nämlich nicht.

Sie folgte der Interstate 10 bis nach Downtown. Das Verkehrsaufkommen nahm unterwegs zu, aber sie war trotzdem schnell unterwegs und schaffte es noch, ihr Sandwich zu essen, bevor sie sich im Police Department auf die Suche nach Morris machte. Er erwartete sie bereits am Aufzug und begutachtete sie staunend von Kopf bis Fuß, während er ihr die Hand schüttelte.

„Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie wunderschöne Haare haben?“, sagte er und lachte. „Entschuldigen Sie, das ist eigentlich nicht meine Art, aber ich hatte irgendwie mit einem Bücherwurm mit Brille gerechnet und ...“ Er brach ab, wollte sich nicht um Kopf und Kragen reden.

„Das ist schon okay“, sagte Sadie und lächelte. „Meine Haarfarbe fängt sich gelegentlich den einen oder anderen Kommentar ein.“

„Kommen Sie“, sagte Morris und ging voran. Sadie folgte ihm belustigt. Er war ein attraktiver Mittvierziger, dessen Kleidung professionell und trotzdem leger wirkte. Sein dunkles Haar war gepflegt, an seiner Hand fiel Sadie ein Ehering auf, der sie nicht wirklich überraschte.

Morris ging zu seinem Schreibtisch in der Ecke eines Großraumbüros, wo er bereits einen zweiten Stuhl bereitgestellt hatte. Er bot Sadie auch etwas zu trinken an, was sie dankend annahm, und setzte sich dann vor seinen Computer.

„Toll, dass Sie so schnell kommen konnten, Agent Whitman“, sagte er und nickte ihr wohlwollend zu. „Damit hatte ich nicht gerechnet, ich hatte befürchtet, Sie müssten mich vertrösten.“

„Nein, ich habe hier in der Stadt zwar nur eine Profiler-Kollegin, aber meist sind wir ja beratend tätig und das klappt eigentlich ganz gut“, sagte sie.

„Gut zu hören. Ich bin froh, dass wir jemanden wie Sie hier in der Stadt haben. Seit wann ist das so?“

„Seit dem letzten Jahr.“

„Und worin haben Sie schon ermittelt?“

„Ich war unter anderem an den Ermittlungen gegen Juan Filhos und Joey Baker beteiligt“, sagte Sadie. „Und auch die Anschläge im Sommer fielen in meine Zuständigkeit.“

„Ja, natürlich. Das war schlimm. Nun, Agent Whitman ...“

„Sadie“, unterbrach sie ihn rasch und lächelte.

„Nathan“, erwiderte er, ebenfalls mit einem Lächeln, und fuhr fort. „Als es damals darum ging, Manning zu schnappen, war ich erst seit kurzem Detective und bin da eigentlich nur so reingerutscht. Anfangs wussten wir ja noch nicht, womit wir es da zu tun hatten. Ich kann dir sagen ... das war hart. Teilweise eklig. Bist du mit dem Fall vertraut?“

Sadie nickte. „Ich habe ihn an der FBI Academy studiert.“

„Okay, dann weißt du ja, worum es hier geht.“ Morris griff nach seiner Maus und öffnete eine Bilddatei. Sadie erkannte erst auf den zweiten Blick, worum es sich dabei handelte. Es war eine mumifizierte Leiche, in deren Kieferhöhle etwas steckte. Um den Hals bemerkte Sadie dünnen Draht.

„Vielleicht erinnerst du dich an die Gemeinsamkeiten bei seinen Opfern. Er hat sie alle mit einer selbstgebauten Garotte stranguliert, die er auch nie entfernt hat, und er hat ihnen allen Stoff in den Mund gesteckt.“

Sadie nickte sofort. „Das ist wie bei John Wayne Gacy. Er hat das getan, um zu verhindern ...“ Sie suchte nach den passenden Worten. „Dass Leichenflüssigkeiten austreten, wo sie es nicht sollen.“

„Ich weiß“, sagte Nathan und nickte. „Manning hat das wohl eher als Knebel benutzt, zumindest hat er das gesagt. Ihm war die Ähnlichkeit zu Gacy und Dahmer aber damals schon bewusst. Wobei, das ist falsch formuliert ... er ist ja bestens über andere homosexuelle Serienkiller informiert. Er hat ein morbides Interesse an Gleichgesinnten. Und wenn du mal hier schaust ...“ Er öffnete das nächste Bild. „Das hier ist nur der Torso. Uns fehlt immer noch das rechte Bein, den ganzen Rest haben wir inzwischen gefunden. Aber es sieht so sehr nach Manning aus, dass ich da kaum einen Zweifel hege. Eine zerlegte Leiche, an der noch die Garotte hängt und ... ja. Das ist doch Mannings Handschrift!“

„Sieht ganz danach aus“, stimmte Sadie ihm zu. Morris wollte etwas erwidern, als sein Telefon klingelte und er sich entschuldigte, bevor er ranging. „Ja?“

Er hörte nur kurz zu, bedankte sich dann und legte wieder auf. „Sie haben einen weiteren Torso gefunden, keine halbe Meile entfernt. Wollen wir hinfahren?“

„Sicher, gute Idee“, erwiderte Sadie und stand auf. Sie folgte ihm zum Aufzug und blickte zu Boden, während sie neben ihm stand und wartete.

„Entschuldige meinen Spruch von vorhin“, sagte Nathan, um das Schweigen zu brechen. „Das sollte ein Kompliment werden, aber ich glaube, das ist ziemlich verunglückt ...“

„Ach, gar nicht“, sagte Sadie entspannt. „Um ehrlich zu sein, habe ich mein Aussehen schon öfter eingesetzt, um in Verhören bestimmte Reaktionen zu erzwingen. Das klappt erstaunlich gut.“

„Das glaube ich“, sagte Morris, während er Sadie den Vortritt in den Aufzug ließ. „Du bist hübsch, das zieht immer ... und ich könnte mir vorstellen, dass deine Haarfarbe den einen oder anderen Täter schon provoziert hat.“

„Hat sie tatsächlich. Das ist nicht unpraktisch, wie du dir denken kannst.“

Ihr entging nicht, wie Morris sie erneut von Kopf bis Fuß ansah. Sie trug ihr Haar offen, so wie meist, und sie hatte sich daran gewöhnt, dass es die Blicke auf sich zog.

„Wie lang bist du schon beim FBI?“, erkundigte Morris sich.

„Seit zwei Jahren.“

Er nickte wissend. „Davor ziehe ich meinen Hut. Ich habe mich mal mit dem Rekrutierungsverfahren auseinandergesetzt, weil ich mit dem Gedanken gespielt hatte, mich zu bewerben, aber mir war schnell klar, dass ich das nicht packe.“

„Das kann man nicht wissen“, sagte Sadie und folgte ihm aus dem Aufzug. „Mein Mann hatte auch Zweifel und dann haben sie ihn trotzdem genommen.“

„Geht das gut, wenn der Partner auch bei der Behörde ist?“, fragte Morris interessiert.

„Erstaunlich gut, ja. Wir arbeiten öfter zusammen. Was macht deine Frau?“

Morris lachte. „Den Ring hast du also auch schon gesehen. Sie ist Buchhalterin.“

Sadie lächelte belustigt. „Es ist mein Job, auf die Details zu achten.“

„Das kann ich mir vorstellen. Warum wird man Profiler?“

„Warum wird man Polizist?“, erwiderte Sadie grinsend.

„Ja, verstehe. So sehr unterscheidet die Motivation sich wohl nicht ... aber ich könnte mich beruflich nicht immer mit Typen wie Manning beschäftigen. Es sind doch Serienmörder, mit denen du häufig zu tun hast, oder?“

„Schon. Es ist eigentlich alles, bei dem die Polizei nicht weiterkommt und wo davon auszugehen ist, dass eine psychologische Einschätzung weiterhilft.“

„Aber du siehst öfter so krankes Zeug wie bei Manning, oder?“

Sadie nickte sofort. „Ziemlich oft, ja. Ich hatte auch den Richard Carson-Fall ... und einige Frauenmörder.“

„Und das macht dir nichts aus?“, fragte Morris.

„Inzwischen nicht mehr.“

„Meine Hochachtung. Der Manning-Fall war damals schon eine echte Bewährungsprobe für mich.“

„Das kann ich verstehen. Ich freue mich auch nicht gerade darauf, mich jetzt damit zu beschäftigen. Nekrophilie kommt bei mir gleich hinter Kannibalismus.“

Morris sah sie irritiert an, während sie auf dem Parkplatz zu einem Dienstwagen gingen und sich gemeinsam hineinsetzten.

„Das ist für dich am schlimmsten?“, fragte er.

„Ja, zusammen mit Sexualsadisten. Es ist mir eine Genugtuung, jeden dieser Typen einsperren zu können.“

Morris startete den Wagen und fuhr los. „Mir war es eine Genugtuung, Manning festzunehmen. Als ich damals rausgefahren bin, um die erste Leiche zu begutachten, hatte ich ja keine Ahnung, was auf mich zukommt. Jahrelang sind wir ihm nicht auf die Schliche gekommen. Damals war noch jemand aus Quantico hier und hat ein Profil für uns erstellt. Ein gutes Profil, das in den meisten Punkten zutreffend war. Aber gekriegt haben wir ihn trotzdem nicht. Dann war es so ein dummer Zufall ...“

„Kommt oft genug vor“, sagte Sadie.

„Hast du das auch schon erlebt?“

„Natürlich. Einen Fluchtwagen mit GPS, ein vergessenes Handy, allgemeine Unsicherheit, Selbstüberschätzung ...“

„Also hat das Methode.“

„Ziemlich“, sagte Sadie. „Das war eins der ersten Dinge, die ich an der Academy gelernt habe. So unmenschlich uns manche Mörder und ihre Taten vorkommen mögen, aber jeder von ihnen ist ein Mensch. Selbst Jeffrey Dahmer war nach seinem ersten Mord so schockiert von dem, was er getan hat, dass er das Morden erst mal sein gelassen hat.“

„Tatsächlich? Das wusste ich nicht“, sagte Morris kopfschüttelnd.

„Ja, klingt verrückt, oder? Aber ich habe das auch schon erlebt“, sagte Sadie und überlegte kurz, ob sie es erzählen sollte, aber dann tat sie es. „Eine perfekt geplante Entführung: Der Täter dringt in eine Wohnung ein, legt falsche Spuren, nimmt Schlüssel und Portemonnaie mit, um es so aussehen zu lassen, als sei die Wohnung freiwillig verlassen worden.“

„Und dann?“

„Dann hat er das Handy vergessen, über das Rückschlüsse auf seine eigene Identität gezogen werden konnten. Das hat ihm den Hals gebrochen.“

„Puh“, machte Morris. „Wer war das?“

Sadie starrte geradeaus auf die Straße. „Der Pittsburgh Strangler.“

„Von dem habe ich gehört. Fieser Mistkerl.“

„Das kann ich dir sagen.“

„War das deine Ermittlung?“

Sadie nickte. „Meine schlimmste. Da ist Manning mir lieber ...“

„Bin gespannt, ob du das gleich auch noch sagst“, murmelte Morris bedeutungsvoll.

 

Geduldig hatte Morris sich in die San Gabriel Mountains vorgearbeitet, in denen der Angeles National Forest lag. Er fuhr mit dem Wagen so weit, wie es möglich war, parkte ihn dann neben einigen anderen Einsatzfahrzeugen und erkundigte sich bei einem Kollegen in der Nähe, wo sie die zweite Leiche fanden. Er erklärte ihnen den Weg durchs Unterholz und sie stapften los.

„Dass Manning sich wirklich die Mühe gemacht hat, die Leichen so weit in die Einöde zu schleifen“, sagte Sadie. „Wenn es Manning war.“

„Ja, das hat mich auch immer gewundert. Aber er ist einer derjenigen, die Leichen wirklich verschwinden lassen wollen und sie nicht ausstellen. So wie die Hillside Stranglers zum Beispiel“, sagte Manning, woraufhin Sadie interessiert nickte. An dieses Killerpaar hatte sie auch gleich denken müssen. Morris war ihr sympathisch, er war ein kluger und engagierter Polizist und er wusste, was er tat.

Im Unterholz war es noch feucht, dampfte fast ein wenig in den Strahlen der Sonne, die sich durch die Wipfel der dürren Bäume kämpfte. Sie begegneten immer wieder anderen Polizisten auf den Weg zu ihrem Ziel und wussten so wenigstens, dass sie auf dem richtigen Weg waren. Sadie fühlte sich an ihren ersten FBI-Fall zwei Jahre zuvor erinnert, bei dem sie auch vor Ort unterwegs gewesen war, um die Tatorte kennenzulernen. Sie war selten so unmittelbar dabei.

Morris drehte sich um, weil er wissen wollte, ob Sadie noch gleichauf war. Sie war es und sie war froh, geeignete Schuhe zu tragen. Cassandra trug bei der Arbeit oft schwindelerregend hohe Absätze, aber damit wäre Sadie jetzt aufgeschmissen gewesen. Wenigstens gab es eine Art kleinen Trampelpfad. Sadie fragte sich, ob es vor Jahren hier einen Weg gegeben hatte, den Manning möglicherweise benutzt hatte.

„Du kennst Manning persönlich, oder?“, fragte Sadie.

„Ja, warum fragst du?“, erwiderte Morris.

„Ist er groß? Kräftig?“

„Ah, verstehe. Ja, das ist er. Es stand für mich nie in Zweifel, dass er die Leichen selbst hergebracht hat.“

Sadie nickte, denn das hatte sie wissen wollen. Bald entdeckten sie zwischen den Bäumen Absperrbänder und bemerkten Kollegen von der Spurensicherung, die dabei waren, ein abgestecktes Gebiet unter die Lupe zu nehmen. Schließlich blickte einer der Kollegen auf und nickte Morris zu.

„Gut, dass du schon hier bist, Nathan. Wen hast du mitgebracht?“

„Special Agent Whitman vom FBI. Sie ist Profilerin. Sadie, das ist Detective Roy Coulter, mein Partner. Er ist schon seit dem Morgen hier. Was haben wir?“

Coulter hob das Absperrband an, so dass Sadie und Nathan sich darunter herducken konnten und das abgesperrte Areal betraten.

„Da vorn“, sagte Coulter, ein gemütlicher Endvierziger mit etwas zerzausten Haaren. Er deutete an zwei Kollegen von der Spurensicherung vorbei auf etwas im Gebüsch. Einige Zahlenmarkierungen standen daneben.

„Können wir näherkommen?“, fragte Sadie.

Coulter nickte. „Ist okay.“

Sadie näherte sich der Stelle vorsichtig und erkannte dann, dass es sich um den zweiten Torso handelte. Auch er war halb mumifiziert, die Haut war getrocknet, braun und wirkte ledrig. Sadie erkannte einige Rippenbögen und einen Rückenwirbel. Der Torso war gleich unterhalb der Rippen abgetrennt. Vom Hals war nicht viel übrig außer der Wirbelsäule, der Schädel hatte leere Augenhöhlen, zwischen den Zähnen klemmte ein Stück Stoff. An den Halswirbeln befand sich ein Stück dicker Draht mit zwei Griffen an den Enden. Das erinnerte sie an das Foto, das Morris ihr gezeigt hatte und auch an die Fotos von Mannings anderen Opfern. Sadie kannte einige Aufnahmen.

Ein paar blonde Haare waren am Kopf noch erkennbar. In diesem Moment kam ein Kollege von der Spurensicherung mit einem großen Beutel in ihre Richtung. Sadie schluckte, als sie sah, dass es sich bei dem Inhalt um einen halb skelettierten Arm handelte. Schon von weitem sah sie, dass an der Hand nur noch drei Finger vorhanden waren.

„Das gehört auch zu unserem Toten“, sagte der Mann im Ganzkörperanzug und hielt die Tüte hoch.

„Ein Arm“, stellte Morris trocken fest.

„Sogar mit Fesseln“, erwiderte der Kollege. Sadie ging hinüber und betrachtete den Arm in der Asservatentüte. Es stimmte, am Handgelenk war noch eine Schlinge erkennbar.

„Sieh mal, Sadie“, rief Morris und winkte sie zu dem Torso herbei. „Das muss Manning gewesen sein.“

„Warum?“, fragte Sadie und ging wieder zu ihm hinüber.

„Da.“ Morris deutete auf ein kleines, fast kreisrundes Loch im Schädel. „Bei der anderen Leiche haben wir das nicht festgestellt, aber dieser Tote hat ein Loch im Schädel.“

„Das war Mannings Ding. Er hat sich von Dahmer inspirieren lassen und mit seinen Opfern experimentiert.“

Morris nickte. „Wenigstens hat er keine Salzsäure benutzt.“

„Und wir wissen schon, dass die Opfer männlich sind?“, fragte Sadie.

„Der Tote vom Wochenende schon, das hat der Pathologe gleich gesagt. Hier ... na ja, wir haben das Becken ja noch nicht gefunden“, sagte Coulter.

„Als ob das nicht passen würde“, sagte Morris. „Aber Roy meinte, ich sei etwas voreingenommen und sollte vielleicht einen Experten um Rat fragen, deshalb bist du hier, Sadie.“

Sie nickte verstehend und kramte tief in ihren Erinnerungen. Manning war damals an der Academy Thema gewesen, weil er ein aktuelles Beispiel für einen homosexuellen, nekrophilen Killer war, der berühmten Namen sehr ähnelte. Sein Verteidiger hatte es irgendwie gedreht, dass er nicht zum Tode verurteilt wurde – ein Glück, das er mit nicht wenigen anderen Serienmördern teilte. Spontan fiel Sadie Gary Ridgway ein, einer der schlimmsten Serienkiller der amerikanischen Geschichte – aber er saß nicht im Todestrakt.

„Wie kann ich denn jetzt helfen?“, fragte sie schließlich.

„Nun, wir versuchen jetzt erst mal, herauszufinden, wen wir hier haben“, sagte Nathan. „Das geht über den Zahnstatus und DNA-Proben. Vielleicht finden wir was. Der Pathologe muss uns jetzt erst mal sagen, wie lang die beiden hier tot sind, dann können wir in den Vermisstenanzeigen aus dem fraglichen Zeitraum nach passenden Männern suchen und einen Abgleich starten. Und davon abgesehen wüsste ich gern, ob Manning dahintersteckt. Er mauert ja komischerweise.“

„Jetzt plötzlich?“, fragte Sadie überrascht. „Er war doch früher kein Geheimniskrämer.“

„Eben, das hat mich auch gewundert. Er kam mir ganz anders vor als früher.“

„Liegt vielleicht an seiner Haftstrafe.“

„Dachte ich auch, aber irgendwie war das seltsam. Wäre vielleicht gut, wenn du dir das mal ansiehst.“

„Klar“, sagte Sadie.

„Vielleicht hast du ja mehr Erfolg. Du kennst dich doch mit solchen Verhören aus.“

Sadie nickte. „Ich habe den Attentäter Bradley im Sommer verhört und ihn immerhin dazu gebracht, mögliche Anschlagsziele einzugrenzen.“

„Das warst du? Sehr gut!“

„Unter anderem“, sagte Sadie.

Plötzlich wurde es hinten im Gebüsch laut und es dauerte nicht lang, bis ein Kollege erschien und kundtat, dass sie den Unterleib des zweiten Opfers gefunden hatten. Mit vor der Brust verschränkten Armen stand Sadie neben der Absperrung und ließ die Umgebung auf sich wirken. Die goldenen Strahlen der Mittagssonne bahnten sich ihren Weg durch die Bäume bis hinab zum Waldboden. Es roch immer noch nach feuchter Erde, der Boden war aufgeweicht. Das war selten genug in Kalifornien. Als Sadie die Augen schloss, wurde ihr bewusst, wie weit sie schon von der Zivilisation entfernt waren – zumindest kam es ihr so vor. Das Verkehrsrauschen und der übrige Lärm der Metropole drangen hierher nicht vor. Es war nicht das erste Mal, dass Mörder ihre Opfer in einem solchen Gebiet versteckten. Sadie versuchte, sich vorzustellen, wie Manning seine Opfer hergebracht und im Unterholz verscharrt hatte.

In diesem Gebiet hatte man vor zehn Jahren immer wieder Leichen gefunden. Ermordet hatte Manning sie meist in seiner Wohnung, um sie anschließend in diesem gottverlassenen Gebiet zu verstecken – oder das, was von ihnen übrig war.

„Wann willst du Manning besuchen?“, fragte sie Nathan.

Er blickte auf die Uhr. „Tja ... bis wir da sind ...“

„Ich würde mich gern noch mal in den Fall einlesen“, sagte Sadie. „Denkst du, das ist in Ordnung?“

„Klar. Ich meine, es ist jetzt nicht so, als befände sich jemand in akuter Gefahr. Manning sitzt ja schon.“

„Eben“, sagte Sadie. „Aber du hast recht, bislang wirkt das auf mich so, als gingen diese Leichen auf sein Konto. Es ist dasselbe Fundgebiet, die Leichen sind auf ähnliche Weise zugerichtet worden ... das könnte er gewesen sein.“

„Ja ... nur seltsam, dass er das nie erwähnt hat und wir sie auch nie gefunden haben.“

„Wir werden schon noch herausfinden, ob er es wirklich war. Aber für einen Trittbrettfahrer ist das viel zu präzise.“

„Findest du? Der modus operandi war jetzt nie ein großes Geheimnis.“

„Nein, aber in seiner Gesamtheit sieht das schon sehr nach Manning aus. Und es ist ja auch nicht ungewöhnlich, dass später noch Opfer irgendwelcher Killer gefunden werden.“

„Ach so?“, fragte Morris überrascht. „Wo zum Beispiel?“

„Nimm zum Beispiel den Green River Killer ... oder Ted Bundy. Oder Rick Foster ...“ Der Satz war raus, bevor Sadie ihn sich wirklich überlegt hatte, aber Morris ging gar nicht darauf ein.

„Stimmt. Wenn wir hier fertig sind, würde ich vorschlagen, dass wir zurückfahren.“

„Ich wäre soweit“, sagte Sadie. Morris schloss sich ihr an und schlug den Rückweg ein. Als sie außer Hörweite waren, fragte Sadie: „Begleitet dein Partner uns gar nicht?“

„Wir hatten beschlossen, uns aufzuteilen. Denkst du, wir brauchen ihn?“

„Nicht unbedingt. Ich habe mich nur gewundert“, sagte Sadie.

„Verstehst du etwas von klassischer Polizeiarbeit?“, erkundigte Nathan sich interessiert.

„Ich war selbst jahrelang Streifenpolizistin, bevor ich zum FBI kam.“

„Oh, das ist aber ein Aufstieg. War das FBI denn immer dein Ziel?“

„Nicht direkt das FBI, aber ich wollte Profilerin werden.“

„Das klingt so, als gäbe es einen bestimmten Grund dafür.“

„Schon“, sagte Sadie. „Aber konzentrieren wir uns lieber auf den Fall.“

„Okay.“ Morris ließ das Thema ruhen und fuhr zur Polizei zurück. „Wo wollen wir uns denn morgen treffen?“

„Ich komme morgen früh zu dir“, sagte Sadie. „Ich denke, das ist am sinnvollsten.“

Nathan nickte zustimmend. „Ich bin gespannt, was du zu der ganzen Sache sagst. Du machst keinen leichten Job, würde ich sagen.“

„Ich habe mich bewusst dafür entschieden und es bislang nicht bereut“, sagte Sadie und erzählte ihm, dass sie tatsächlich von der Behavioral Analysis Unit kam, was er interessiert zur Kenntnis nahm.

„Ich fühle mich psychologisch nicht besonders fit“, behauptete er. „Zwar habe ich einen Instinkt für Verbrecher, aber ich hinterfrage ihre Motivation nicht. Das fände ich belastend.“

„Mir hilft es“, sagte Sadie.

„Hast du Familie?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nur meinen Mann. Und du?“

„Ich habe zwei Kinder, vierzehn und sechzehn. Das ist ganz schön aufregend!“

Sadie grinste. „Das kann ich mir vorstellen. Ich habe zwei Katzen, das reicht mir in Sachen Trubel.“

„Wir haben einen Hund. Damit wird es auch nicht langweilig.“

Sie unterhielten sich privat, bis sie wieder in Downtown waren. Sadie hielt sich nicht mehr lang dort auf, sondern verabschiedete sich von Morris und verabredete sich mit ihm für den nächsten Morgen um neun.

„Ich freue mich. Bis morgen“, sagte Nathan, bevor er im Gebäude verschwand und Sadie zu ihrem Dienstwagen zurückkehrte. Auf ihrem Rückweg drehte sie das Radio auf und pfiff die Musik nachdenklich mit. Sie teilte den Verdacht des Polizisten, dass es sich bei den beiden Leichen um Mannings Opfer handelte, aber sie hatte nicht mehr alle Tatumstände im Kopf und wollte sich einlesen, bevor sie sich Manning gegenübersetzte. Sie war gern gerüstet.

Bei ihrer Rückkehr ins Büro fand sie Cassandra dort auch wieder vor. Ihre Kollegin blickte neugierig auf, als Sadie neben ihr erschien.

„Und wo hast du gesteckt?“, erkundigte Cassandra sich.

„Du hattest recht“, sagte Sadie belustigt. „Morgen besuche ich Carter Manning.“

Ihre Kollegin lachte. „Es war so klar. Also wurdest du angerufen.“

„Ja, von einem sehr netten und engagierten Polizisten, der erstaunt war, als ich bei ihm auftauchte. Er hatte irgendwie eine Brillenschlange erwartet ...“

Darüber amüsierte Cassandra sich prächtig. „Steht er auf dich?“

„Nein, er ist verheiratet. Aber ich habe mich gut mit ihm unterhalten. Wir waren gerade draußen in den Bergen, wo eine zweite Leiche gefunden wurde. Morgen sprechen wir mit Manning darüber.“

„Wow. Warst du schon mal in einem Gefängnis?“

„Bisher nicht“, sagte Sadie. „Das wird jetzt meine Premiere.“

„Toll. Und dann auch noch mit einem wie Manning ... ich kann mich noch daran erinnern, dass ich seinen Fall an der Academy hatte. Das war ganz kurz nach seiner Verurteilung.“

„Ja, daher kenne ich den Fall auch. Ich gehe jetzt alles noch mal durch, damit ich im Bilde bin.“

„Gute Idee“, sagte Cassandra und wandte sich ebenfalls wieder ihrem Bildschirm zu. Sadie öffnete VICAP und gab den Namen Carter Manning ein. Am Rand erschien ein Bild, das sie spontan an John Wayne Gacy erinnerte. Ein rundes, fleischiges Gesicht, dunkle Augen, schmale Lippen. Carter Manning war 1982 geboren und hatte mit vierzehn festgestellt, dass er sich eher zu gleichaltrigen Jungen als zu Mädchen hingezogen fühlte. Sein strenger Vater hatte ihn unter Druck gesetzt, nachdem Manning sich seiner Mutter anvertraut und der Vater davon erfahren hatte. Er war gerade achtzehn gewesen, als sein Vater ihn vor die Tür gesetzt hatte, dabei beschränkten Mannings Erfahrungen mit Männern sich zu diesem Zeitpunkt einzig auf den Kontakt zu Strichern. Feste Beziehungen zu Männern hatte er nie gehabt, bis er im Alter von zweiundzwanzig mit dem Morden begonnen hatte. Sein erstes Opfer war ein Stricher gewesen, den er in seine Wohnung gebracht hatte. Dort hatte er erst einvernehmlichen Sex mit dem Jungen gehabt, einem Neunzehnjährigen aus Palm Springs. Manning hatte nicht gleich geplant, ihn zu töten. Erst, als Streit über die Bezahlung ausgebrochen war, hatte er den Jungen bewusstlos geschlagen, die günstige Gelegenheit genutzt und ihn gefesselt und geknebelt, bevor er ihn alsbald mit einer selbstgebastelten Garotte erdrosselt und anschließend auf den Leichnam masturbiert hatte.

Da war für ihn ein Damm gebrochen. Den ersten Toten hatte er noch relativ unversehrt in die Berge gefahren und tief, aber nicht tief genug in den Wald gebracht, so dass die Leiche nach drei Wochen von einem Jäger entdeckt worden war. Daraufhin hatte Manning sich eine gewisse Zeit lang ruhig verhalten, um das Risiko einer Entdeckung zu minimieren. Aber dann hatte er weitergemacht und anfangs Stricher, später Bekanntschaften aus anonymen Internetforen ermordet. Er hatte viele, aber nicht alle vergewaltigt, sich später auf Leichenschändung verlegt und den Zeitraum, in dem er sich mit den Toten vor ihrer Entsorgung befasste, immer weiter ausgedehnt. Er war nekrophil, hatte sadistische Züge an sich entdeckt und irgendwann begonnen, seine Opfer in die Badewanne zu stecken und immer wieder fast ertrinken zu lassen. Ein junger Mann war dabei auch tatsächlich ungewollt ertrunken, aber ihm hatte Manning nach seinem Tod trotzdem die extra vorbereitete Garotte um den Hals gelegt. Er hatte nur die jungen Männer, die er besonders hübsch fand, vor ihrem Tod vergewaltigt. Die meisten hatte er zu Fesselspielen überredet, ihnen Stoff in den Mund gesteckt, um ihre Schreie zu ersticken und sie dann mit immer neuen, selbstgebauten Garotten erdrosselt. Deshalb hatte man ihm den Beinamen Garotte Killer of Los Angeles verpasst.

Die meisten Opfer hatten vor ihrem Tod nicht mehr lang gelebt, aber ihre Leichen hatte er eine ganze Weile behalten, bevor er sie zerstückelt und tief im Angeles National Forest versteckt hatte. Die Polizei hatte irgendwann begriffen, dass das sein Revier war und deshalb die meisten Leichen dort gefunden.

Aufgeflogen war er durch einen dummen Zufall. In seiner Wohnung hatte es einen Wasserrohrbruch gegeben und sein Vermieter hatte sich gewaltsam Zutritt zur Wohnung in Mannings Abwesenheit verschafft. Das Rohr war in einer Wand hinter dem Kühlschrank geplatzt, den man von der Wand gezogen hatte, um die Rohrbruchstelle zu finden. Dabei hatte der Vermieter nur zufällig auch in den Kühlschrank geschaut und dort Leichenteile entdeckt. Die herbeigerufene Polizei musste nur darauf warten, dass Manning eine Stunde später nach Hause kam und nahm ihn gleich wegen Mordverdachts fest. Seine DNA und zahllose Fotos, die er von den Toten gemacht hatte, bewiesen mühelos seine Schuld. Er hatte jedoch trotzdem noch einen Deal ausgehandelt und die Todesstrafe abgewendet, indem er die letzten drei Leichenverstecke preisgegeben und sich schuldig bekannt hatte. Zwar würde man ihn nie wieder auf freien Fuß setzen, aber immerhin wurde er nicht exekutiert.

Bis zum Feierabend studierte Sadie sehr eingehend Fotos, Aussagen und Obduktionsberichte. An der Academy hatte sie Manning oberflächlicher und nur exemplarisch behandelt, doch jetzt musste sie alles wissen. Sie musste gerüstet sein. Aber sie wurde pünktlich damit fertig und machte sich gleichzeitig mit Cassandra auf den Heimweg. Wie so oft traf sie sich unten auf dem Parkplatz mit Matt am Challenger. Er kam zwei Minuten nach ihr und umarmte sie zur Begrüßung.

„Und wie war dein Tag?“, erkundigte er sich.

„Ich fahre morgen zu Carter Manning.“

„War ja klar“, sagte Matt trocken, während er in den Wagen stieg.

Sadie lachte. „Was, das ist deine Reaktion?“

Er nickte grinsend. „Ich wusste, dass das kommt.“

„Cassandra wollte heute auch schon mit mir wetten, dass das mein nächster Fall wird.“

„Wundert mich nicht. Wie kam es dazu?“

Sadie erzählte ihm während der Fahrt, was sie an diesem Tag erlebt hatte und Matt hörte aufmerksam zu. Sie wusste, sein Interesse an ihrem Job war immer ehrlich und es faszinierte ihn, mit wieviel Hingabe sie sich dieser herausfordernden Arbeit widmete. Die ständige Auseinandersetzung mit Serienmördern wäre nicht sein Ding gewesen, aber er zog seinen Hut vor ihr, dass sie das zu ihrem Beruf gemacht hatte.

 

 

Dienstag

 

„Ich werde mich nie daran gewöhnen, wie groß diese Stadt ist“, sagte Sadie, während sie sich über die Interstate 5 nach Norden vorarbeiteten. Der Verkehr war immer noch höllisch, vor allem auf der Gegenfahrbahn.

„Woher kommst du eigentlich?“, fragte Nathan.

„Aus dem Central Valley, nahe Modesto.“

Morris nickte verstehend. „Also ein echtes California Girl.“

„Sozusagen“, erwiderte Sadie. „Nach dem College bin ich in Modesto zur Polizeischule gegangen, Streife gefahren und habe nach ein paar Jahren die FBI Academy nachgeschoben.“

„Toll, wirklich. Roy hatte erst Vorbehalte, als er gehört hat, dass du vom FBI bist. Er wollte zwar einen Profiler, aber am liebsten einen von der Polizei.“

Sadie nickte verstehend. „Gibt es inzwischen ja auch.“

„Ich weiß ... aber ich hatte hinsichtlich des FBI keine Vorbehalte.“

„Nein, musst du auch nicht. Wir verfolgen alle das gleiche Ziel.“

Morris lächelte und konzentrierte sich wieder aufs Fahren. Es würde ein heißer Tag werden, schon jetzt waren es fünfundzwanzig Grad. Sadie hatte sich eine kurzärmelige Bluse angezogen und achtete darauf, nicht die Innenseiten ihrer Unterarme zu zeigen. Nathan hatte die Narben noch nicht bemerkt und für den Fall der Fälle hatte sie eine Jacke mit längeren Ärmeln eingepackt. Inzwischen stand sie zu ihren Narben und war schon fast froh, dass die Schnittnarbe an ihrem Hals von den alten Verletzungen an ihren Armen etwas ablenkte.

„Ich habe eine Frage“, begann Morris unerwartet zaghaft. „Du musst nicht antworten.“

„Stell sie erst mal“, schlug Sadie augenzwinkernd vor.

„Gestern hast du Rick Foster erwähnt. Das war kein Zufall, oder?“

Verlegen lächelnd senkte Sadie den Kopf. „Natürlich hast du deine Hausaufgaben gemacht.“

„Hat aber eine Weile gedauert. Hättest du ihn nicht erwähnt, wäre ich nicht drauf gekommen, wieso du mir bekannt vorkommst.“

„Wie hast du es herausgefunden?“, fragte sie.

„Ich sehe, du wirst öfter damit konfrontiert.“

„Manchmal, ja. Meine direkten Kollegen wissen es, aber auch manche Polizisten kommen dahinter.“

„Ich habe erst deinen Namen nachgeschlagen, aber keine Verbindung gefunden“, erklärte Nathan. „Als ich es über ihn versucht habe, bin ich erst auf den Pittsburgh Strangler gestoßen und auf dein Foto. Es war ein bisschen kompliziert, aber ich glaube, ich habe die Verbindung durchschaut.“

„Schieß los“, sagte Sadie und versuchte, ihre schweißnassen Handinnenflächen zu ignorieren.

„Rick Foster war dein Vater“, sagte Morris.

Sie nickte. „Dummerweise ja.“

„Durch den Zeugenschutz bist du zu Sadie Scott geworden und durch Heirat zu Sadie Whitman. Und irgendwoher wusste das auch der Pittsburgh Strangler.“

„Ja. Ich bin froh, dass inzwischen Gras über die Sache gewachsen ist. Zumindest wenn niemand so gut kombiniert wie du.“

„Wer hat dir die Narbe beigebracht?“

Seufzend zog Sadie die Schultern hoch. „Für den Schnitt am Hals war jemand anders verantwortlich. Mein Vater hat mal wieder auf mich geschossen und mein ...“ Sie räusperte sich. „Der Pittsburgh Strangler war das.“

Damit drehte sie ihren linken Unterarm und zeigte Morris die vernarbten Schnitte. Er verzog betroffen das Gesicht.

„Die habe ich gar nicht bemerkt.“

„Ich verstecke sie ja auch.“

„Ich wusste nicht, dass du ihm begegnet bist.“

„Nein, das wurde nie an die große Glocke gehängt. Glücklicherweise.“

„Aus gutem Grund, nehme ich an.“

Sadie nickte. „Mein damaliger Chef wollte nicht, dass irgendjemand da genauer nachforscht.“

„Hattest du zum Pittsburgh Strangler auch eine persönliche Beziehung?“

Wieder nickte sie, aber diesmal sagte sie nichts. Morris ließ es gut sein.

„Verzeih meine Neugier“, sagte er.

„Schon okay. Dass der Pittsburgh Strangler mich in aller Öffentlichkeit bloßstellt, konnte ich damals nicht verhindern. Damit muss ich jetzt leben.“

„Immerhin weiß ich jetzt, dass du das mit Manning hinkriegen wirst.“

„Ich bin nicht automatisch im Vorteil, weil mein Vater ein Serienmörder war.“

„Nein, aber du hast nicht nur Erfahrung in Serienmordermittlungen – du kennst solche Täter.“

„Mein Chef bei der BAU wurde auch nicht müde, das zu betonen.“

„Ich habe auch ein Foto deines Mannes entdeckt. Scheint mir ein netter Kerl zu sein.“

„Ist er“, sagte Sadie. „Er war der erste, der die Verbindung zu meinem Vater gefunden hat.“

„Muss ein Schock gewesen sein.“

Sadie nickte. „Das war vor zwei Jahren ... bevor meinem Vater die Flucht gelungen ist.“

„Wie konnte er dich finden?“

Sadie erzählte es ihm und Morris nickte ernst. „Ich habe das in den Nachrichten verfolgt. Aber jetzt weiß ich, warum du gestern nicht erklären wolltest, warum du zum FBI gegangen bist.“

„Ist nicht mein Lieblingsthema“, sagte Sadie trocken.

„Kann ich verstehen. Nett, dass du es mir trotzdem erzählt hast.“

„Ich lüge niemanden deshalb an. Du hast es selbst herausgefunden, da kann ich es auch zugeben.“

Nathan lächelte. „Trotzdem nett.“

Sadie erwiderte sein Lächeln, sagte aber nichts mehr. Der Verkehr beruhigte sich, als sie das Stadtgebiet verlassen hatten und nach Lancaster abbogen. Der Highway führte durch eine öde Hügellandschaft in Richtung Wüste. Sie fuhren durch Palmdale und hatten schließlich nach etwa anderthalb Stunden Fahrt das Antelope Valley State Prison in Lancaster erreicht. Es lag unweit eines Wohngebietes und einer Kirche und hatte ein riesiges Gelände. Aus der Praxis kannte Sadie das nicht, ihren Vater hatte sie ja nie besucht. Das war jetzt eine Premiere für sie.

Morris ging vor und übernahm das Reden. Er hatte sie angekündigt, deshalb wusste das Sicherheitspersonal Bescheid. Er gab seine Waffe am Eingang ab, Sadie hatte ihre gar nicht erst mitgebracht. Sie hatte sich ihre Jacke über einen Arm gehängt und blickte sich neugierig um.

Es sah so aus, wie sie es aus dem Fernsehen kannte. Vergitterte Türen, hohe Decken, Gitter an den Fenstern, Fangnetze zwischen den Etagen.  Sie bemühte sich instinktiv, leise Schritte zu machen, während sie mit Morris dem Wärter folgte. Den Zellentrakt sahen sie nur von weitem, sie wurden zu einem Verhörraum geführt, der etwas abseits lag. Der Wärter öffnete die Tür, bat sie hinein und ging dann wieder. Manning war noch nicht dort. Auch hier war das kleine Fenster vergittert.

Während sie warteten, erzählte Sadie Morris, dass das eine Premiere für sie war. Das überraschte ihn, aber er ging nicht weiter darauf ein. Es dauerte nicht lang, bis die Tür wieder geöffnet wurde und zwei Wärter mit Carter Manning erschienen. Beim Anblick des orangen Sträflingsanzugs zuckte Sadie fast wieder zusammen. Der war für sie bis in alle Ewigkeit mit ihrem Vater assoziiert.

Manning sah genauso aus wie auf dem Foto, doch jetzt sah Sadie selbst, dass er eine enorme physische Präsenz besaß. Er war groß und kräftig und irgendwie wirkten die Handschellen und Ketten an ihm deplatziert. Sadie stellte sich vor, dass er sie wie der Hulk mühelos zerreißen konnte. Natürlich war das Unsinn, aber das war ihre erste Assoziation.

Nachdem er sich gesetzt hatte, befestigte einer der Wärter seine Handschellen an dem Tisch, dann verschwanden die beiden Männer wieder. Unwillkürlich blickte Sadie zu der Kamera, die an der Seite des Raumes an der Decke hing. Es konnte nichts passieren.

Sie hatte schon schlimmeren Verbrechern gegenübergestanden.

Manning lächelte Morris zu. „Heute haben Sie Verstärkung mitgebracht, Detective. Stellen Sie uns vor?“

„Special Agent Sadie Whitman vom FBI“, sagte Morris mit Blick auf Sadie. „Sie ist Profilerin.“

„Oh, FBI“, sagte Manning grinsend. „Die Ehre hatte ich schon länger nicht. Werde ich jetzt hypnotisiert?“

„Wir werden uns nur unterhalten“, sagte Sadie. „Keine Psychotricks.“

„Schade. Es ist Jahre her, da habe ich mit einem Ihrer Kollegen gesprochen. Nicholas Dormer.“

„Mein Ausbilder“, erwiderte Sadie.

„Tatsächlich. Ein kluger Mann. Wenn er Sie ausgebildet hat, sind Sie bestimmt auch nicht dumm.“

„Wir sind nicht hier, um über mich zu sprechen“, sagte Sadie.

„Nein, ich weiß. Aber ich kann mich nur wiederholen: Ich erinnere mich an keine weiteren Opfer“, sagte Manning. Er sprach ruhig, geradezu bedächtig.

„Das ist seltsam, inzwischen haben wir noch einen weiteren Toten gefunden“, sagte Morris. „Da war wieder eine Garotte im Spiel.“

„Ich bitte Sie. Ich habe sie benutzt, John Wayne Gacy hat sie benutzt ... was weiß ich, wer das noch getan hat?“

„Aber es war Ihr Ding, sie an der Leiche zu belassen“, sagte Sadie.

„Wie alt sind Sie, Special Agent?“

„Achtundzwanzig, wieso?“

„Tatsächlich. Sie sehen jünger aus. Machen vielleicht die offenen Haare.“

„Ich bin nur ein paar Jahre jünger als Sie, Manning. Ich habe Ihren Fall an der Academy studiert und ich denke, ich kenne ihn gut.“

„Ja, schon gut. Ich wollte Sie nicht in Frage stellen, Agent Whitman, ich war nur neugierig.“

Sadie wunderte sich nicht über seine eloquente und höfliche Art. Viele Serienmörder wussten bestens, was sich gehörte. Deshalb kamen auch die wenigsten damit durch, auf Unzurechnungsfähigkeit zu plädieren.

„Ich habe mich nicht angegriffen gefühlt“, sagte sie. „Ich bin hier, weil Detective Morris mich um Unterstützung gebeten hat.“

„Ja, das sehe ich. Aber ich schwöre Ihnen, ich lüge Sie nicht an. Es gab elf Tote. Das war’s. Haben Sie schon mal an einen Trittbrettfahrer gedacht?“

Morris wollte schon etwas sagen, aber Sadie kam ihm zuvor. „Haben wir, aber beim besten Willen ... das sieht nach Ihnen aus.“

„Nach meiner Handschrift?“, fragte Manning.

„Richtig. Ich sehe, Sie erinnern sich an Ihr Gespräch mit Agent Dormer.“

„Natürlich tue ich das. Das war interessant. Sagen Sie, Agent Whitman, wenn Sie so jung sind ... haben Sie überhaupt Erfahrung mit Serienmördern?“

Sadie hatte ihr schönstes Pokerface aufgesetzt. „Wahrscheinlich mehr als Sie.“

Im Augenwinkel sah sie, wie Morris sich das Grinsen verkniff. Er wusste ja nun Bescheid.

„Tatsächlich?“, fragte Manning interessiert. „Haben Sie ein Beispiel für mich?“

Sadie überlegte kurz, aber dann entschied sie sich, wie so oft, für eine Referenz zu Blackwood. „Ich weiß nicht, ob Ihnen der Name David Blackwood etwas sagt.“

„Aus Utah?“

Überrascht nickte Sadie. „Genau.“

„Der Menschenjäger.“

„Sie kennen ihn.“

„Hat Detective Morris Ihnen nicht erzählt, dass ich es liebe, mich über andere Killer zu informieren?“

„Doch, hat er. Er sagte mir, dass Sie mit den Fällen Dahmer und Gacy sehr vertraut sind.“

„Unter anderem“, sagte Manning. „Ich habe mich nicht nur mit anderen homosexuellen Serienmördern befasst. Haben Sie gegen Blackwood ermittelt?“

Sadie nickte. „Ich habe ihn erschossen.“

Manning pfiff durch die Zähne. „Toll, das muss ich mir ansehen. Blackwood war zwar völlig anders als ich, aber deshalb nicht uninteressant.“

„Wie würden Sie die Unterschiede beschreiben?“, fragte Sadie.

„Na ... er war nicht schwul. Seins war es, Menschen zu jagen und zu erschießen. Das wäre mir nicht eingefallen.“

„Nein, Sie haben Ihre Opfer lieber stranguliert.“

Manning nickte. „Wissen Sie warum, Agent Whitman?“

„Erzählen Sie es mir.“

Seufzend lehnte Manning sich zurück. „Sie wissen, dass mich der Tod fasziniert. Der Tod und Leichen. Man hat mich hinterher auch einen Sadisten genannt, aber damit bin ich nicht einverstanden. Meine Motivation war nicht das Leiden meiner Opfer. Mich hat Neugier geleitet. Und ich habe sie stranguliert, weil das die unmittelbarste Methode ist, jemanden zu töten. Man erlebt den Tod des anderen mit.“

Sadie konzentrierte sich für einen Moment aufs Atmen. „Dann hätten Sie Ihre Opfer mit den bloßen Händen erwürgen müssen.“

„Ja, aber das ist anstrengend, wissen Sie? Sie brauchen Kraft und das für mehrere Minuten. Mit der Garotte war das weitaus leichter zu bewerkstelligen. Ich konnte es ja so machen, dass ich mich auf die Brust der Männer gesetzt und ihnen in die Augen gesehen habe, während sie den Tod vor Augen hatten. Ich habe ihnen dabei zugesehen, habe beobachtet, wie sie das Bewusstsein verlieren und schließlich aufhören zu atmen.“

Sadie spürte ein verräterisches Kribbeln unter der Haut. Ihr entging nicht, wie Morris sie ansah. Er wusste, dass es bereits zwei Mörder in ihrem Leben gegeben hatte, die ebenfalls mit Vorliebe ihre Opfer gewürgt hatten.

Immerhin hatte er keine Ahnung, dass Sadie wusste, wie sich das anfühlte. Sean hatte sie mehrmals gewürgt, wenn ihm danach gewesen war, seine Überlegenheit zu demonstrieren. Er hatte genau gewusst, wie er es anstellen musste und wie lang er sie würgen durfte, ohne dass sie das Bewusstsein verlor. Unter dem Tisch ballte sie die Hände zu Fäusten, während sie versuchte, die aufkeimende Erinnerung zu ignorieren.

Manning grinste sie an. „Doch nicht so abgebrüht, Agent Whitman?“

Sadie holte tief Luft. „Sie sind nicht der erste Killer in meiner Laufbahn, der es liebt, Menschen zu erwürgen.“

„Dafür sind Sie aber ganz schön still.“

„Mir hat noch nie jemand so eindrucksvoll geschildert, wie sich das anfühlt.“

„Nicht? Nun, es ist ein gutes Gefühl. Es verleiht Macht. Ich habe es geliebt, sie zu töten. Am liebsten waren sie mir sowieso, wenn sie tot waren. Irgendwann habe ich sie solange behalten, bis es nicht mehr ging. Wenn Sie verstehen.“

Sadie nickte langsam. Ihr entging nicht, dass sie deutlich angespannter war als Morris neben ihr. Er hatte das wohl alles schon einmal gehört.

„Der Gerichtsmediziner hat den Sterbezeitpunkt der beiden mumifizierten Leichen geschätzt“, sagte Morris. „Er denkt, dass sie seit etwa acht bis zehn Jahren tot sind. Das würde in Ihren Jagdzeitraum passen.“

„Stimmt“, sagte Manning. „Aber sagen Sie mir, warum sollte ich die Morde nicht zugeben, wenn ich es war? Habe ich was zu verlieren? Ich komme sowieso nie wieder raus. Ich würde es Ihnen sagen, wenn es meine Morde wären. Warum auch nicht?“

„Das weiß ich eben nicht“, sagte Morris.

„Sie verschwenden hier Ihre Zeit mit mir, Detective. Ich bin es nicht. Vielleicht hat mich jemand nachgeahmt. Oder haben Sie irgendwelche Beweise außer dem Modus Operandi?“

Sadie überraschte es nicht, dass Manning erneut Fachvokabeln benutzte. „Vorhin sagten Sie, Sie seien nicht damit einverstanden, dass man sie für einen Sadisten hält. Warum nicht?“

„Weil ich keiner bin“, sagte Manning. „Es ging mir nie darum, meine Opfer zu foltern.“

„Sie haben die Männer auch nicht von Anfang an in der Badewanne untergetaucht. Damit haben Sie erst später begonnen. Warum?“

„Weil es ein Spiel war. Ich konnte demonstrieren, dass ich das Sagen habe. Dass alles in meiner Hand liegt. Es ging mir immer nur um die Zwischenwelt zwischen Leben und Tod. Es ging mir nicht um Folter und das Leiden.“

„Also würden Sie sagen, das wurde fehlinterpretiert?“, fragte Sadie.

Manning nickte. „Zumindest kenne ich die Definition eines Sadisten als einen Menschen, der einen Gewinn daraus zieht, das Leid seines Opfers zu beobachten.“

„Das stimmt“, sagte Sadie.

„Darum ging es mir nie.“

„Aber Sie haben sie leiden lassen.“

„Mag sein, aber das diente einem übergeordneten Zweck.“

Sadie konnte seine verquere Argumentation sogar nachvollziehen. Man hatte ihm bereits Soziopathie attestiert, deshalb fiel es ihm nicht schwer, so zu argumentieren. Andererseits glaubte sie ihm sogar, dass er die Folter nicht als Mittel zur Luststeigerung eingesetzt hatte.

„Die Garotte ist ihr Markenzeichen“, sagte Sadie. „Sie haben sie schon bei Ihrem ersten Mord eingesetzt.“

„Ja ... Sie kennen den Ablauf?“

„Erzählen Sie ihn mir“, bat Sadie. Morris saß ruhig daneben und wartete ab, drängte sie nicht.

„Ich habe mich immer schwer mit Beziehungen zu anderen Männern getan“, begann Manning. „Nicht, weil ich beziehungsunfähig gewesen wäre, aber damit hätte ich mir eingestehen müssen, dass ich anders bin. Als ich so jung war, war ich noch nicht soweit. Da habe ich mir bei Strichern geholt, was ich brauche. Und der erste war eben Rico Sullivan.“

Manning machte eine Pause. „Ich wollte ihn ja gar nicht töten. Zumindest war das nicht die ursprüngliche Idee. Wir hatten erst Sex ... einvernehmlich, wie Sie vielleicht wissen. Das ist erst eskaliert, als er plötzlich meinte, mich über den Tisch ziehen zu können. Er wollte mehr Geld als ursprünglich vereinbart. Er ist laut und aggressiv geworden und als er mich angreifen wollte, habe ich mich gewehrt.“

Sadie nickte. Sie kannte diese Darstellung bereits. Sie hatte nie widerlegt werden können.

„Ich habe ihn bewusstlos geschlagen. Als er so dalag und ich sein friedliches Gesicht betrachten konnte, habe ich ganz plötzlich beschlossen, ihn zu töten. Ich wollte diese Schönheit konservieren. Ich wollte mir beweisen, dass ich das Sagen habe. Also habe ich ihn gefesselt, ihn mit einem Stück Stoff geknebelt – ich habe ja bloß in diesem kleinen Apartment gewohnt – und überlegt, wie ich es anstellen soll. Ich bin die verschiedenen Möglichkeiten durchgegangen, habe mir vorgestellt, dass ich ihn mit einem Messer erstechen könnte oder Ähnliches ... aber ich wollte ihn strangulieren. Ich wollte spüren, wie das Leben aus ihm weicht. Ich wusste schon, dass es nicht leicht ist, jemanden zu würgen, also habe ich mir diese kleine Garotte gebastelt. Das hatte ich mal in einem Film gesehen. Als Rico wieder wach geworden ist, wollte er schreien und sich wehren, da habe ich ihn gewürgt. Er ist bewusstlos geworden, wieder aufgewacht, ich habe ihn wieder gewürgt ... und als ich gesehen habe, dass das nicht funktioniert, habe ich die Garotte benutzt und ihn damit getötet, als er wieder wach war.“

Plötzlich wurde Sadie bewusst, dass sie sich mit den Fingern in ihre Hose gekrallt hatte. Sie atmete tief durch und entspannte sich wieder.

„Das war ein grandioses Gefühl. Als er tot war, habe ich danebengesessen und ihn angesehen. Ihn berührt. Er war ja noch warm. Ich habe über die Stunden beobachtet, wie er kälter und starrer wurde. Aber zuvor ... ich musste mich einfach erleichtern.“

Sadie registrierte die Formulierung. Er hatte masturbiert und das Sperma war hinterher noch auf der Leiche gefunden worden – zumindest Reste davon, denn es hatte drei Wochen gedauert, bis man den Toten entdeckt hatte.

Manning straffte die Schultern. „Ich war für einen kurzen Moment entsetzt über das, was ich getan hatte, aber dann habe ich gemerkt, was für ein grandioses Gefühl das war. Dann musste ich zusehen, dass ich den Jungen irgendwie loswerde. Mitten in der Nacht habe ich ihn in die Berge gefahren, dort versteckt und abgewartet, ob man ihn finden würde. Tatsächlich ging das ja drei Wochen lang gut, aber dann hat man ihn entdeckt und ich wusste, ich muss vorsichtiger sein und sie tiefer in den Wald bringen. Also habe ich das getan.“

„Und genau dort haben wir die beiden neuen Toten entdeckt“, sagte Sadie.

„Genau dort?“, fragte Manning.

„Ziemlich genau“, erwiderte Morris. „Sie waren zerstückelt und hatten eine Garotte um den Hals, wie ich schon sagte. Kommen Sie, Manning. Sie haben recht, sagen Sie uns doch einfach, wenn Sie es waren. Was für einen Unterschied macht das?“

Doch Manning zuckte mit den Schultern. „Ich bin nicht wie so manch anderer Killer und vergesse, wieviele Männer ich getötet habe und wie sie hießen. Ich weiß das bei allen. Ich bin diesmal nicht Ihr Mann, tut mir leid.“

„Sie hatten sogar Stoff im Mund“, sagte Sadie.

„Die Details sind doch nicht geheim, oder?“, fragte Manning.

„Damals waren sie es“, erwiderte Morris.

„Ich war es nicht. Ehrlich nicht. Tut mir leid. Wie hießen die Toten denn?“

„Das wissen wir noch nicht“, sagte Morris. „Wenn ich es weiß, verrate ich es Ihnen.“

„Wie kam es zu Ihrer Vorliebe für Nekrophilie?“, fragte Sadie unvermittelt. Zwar kannte sie die Eckdaten, aber sie wollte es von ihm hören.

„Das hat sich früh entwickelt“, sagte Manning. „Ich habe meine Großmutter mütterlicherseits sehr geliebt. Sie starb an Krebs, wurde in den letzten Wochen ihres Lebens bei uns zu Hause gepflegt. Als es zuende ging, war ich sehr unruhig. Ich war damals gerade erst in der Schule, wissen Sie ... noch sehr jung. Den ganzen Tag über lag so eine bedeckte Stimmung auf dem Haus. Nachts bin ich aufgewacht, das war vielleicht so gegen halb eins. Ich bin in ihr Zimmer geschlichen, um zu sehen, ob sie noch lebt. Sie starb in diesem Augenblick. Ich habe es beobachtet. Den Moment, in dem sie aufgehört hat zu atmen, werde ich nie vergessen. Ich habe dagestanden und sie betrachtet. Irgendwann kam mein Vater und er hat mich unter Gebrüll aus dem Zimmer gejagt. Das habe ich nicht verstanden, ich habe den Tod in diesem Moment als etwas Friedliches verstanden. Das hat mich nicht erschreckt, im Gegenteil. Es hat mich fasziniert. Ich wollte diesen Moment, in dem das Leben aufhört, besser kennenlernen. Das hat mich nie mehr losgelassen.“

„Also ging es Ihnen darum, den Tod zu erforschen“, stellte Sadie fest.

Manning nickte. „Sozusagen. Ich habe irgendwann festgestellt, dass ich es sehr viel befriedigender finde, es mit einem Toten zu tun als mit einem Lebenden. Ich weiß, das ist jenseits jeglicher gesellschaftlicher Norm, aber so bin ich nun einmal.“

„Und deshalb haben Sie auch die Souvenirs behalten.“

„Ja, um auch zwischendurch immer wieder etwas von den Männern zu haben, das mich an sie erinnert und mir hilft, die Erinnerung wachzuhalten. Mir war ja klar, dass ich nicht marodierend durch die Stadt ziehen und ständig andere Männer töten kann. Mir war auch immer klar, dass es falsch ist, zu töten. Aber ich konnte nicht anders. Es war immer meine Faszination für den Tod. Es hat mich am tiefsten befriedigt, meine Erfüllung mit Toten zu suchen. Was natürlich nur solange ging, wie sich die Leichen in einem annehmbaren Zustand befunden haben. Wenn die Verwesung eingesetzt hat, war Schluss, das mochte ich nicht.“

Sadie schluckte hart. Es fiel ihr schwer, Manning bei seinen sachlichen Ausführungen zuzuhören. Es war gerade seine Sachlichkeit, die dafür sorgte, dass sie seine Worte unerträglich fand.

„Ich glaube Ihnen“, sagte sie deshalb. „Ich glaube Ihnen, dass Sie sich nicht daran erinnern können, weitere Männer umgebracht zu haben. Allerdings frage ich mich, warum es dann so sehr danach aussieht, als seien Sie es gewesen.“

„Haben Sie Fotos dabei? Würden Sie sie mir zeigen?“

„Auf keinen Fall“, sagte Morris sofort, aber Sadie hob die Hand.

„Vielleicht hilft uns das“, sagte sie.

„Das sind vertrauliche Ermittlungsdaten“, wandte Nathan ein.

„Das weiß ich, aber ich würde es gern probieren. Hast du Bilder dabei?“

Morris nickte. „Auf meinem Handy.“

Er zögerte kurz, aber dann zog er es aus seiner Tasche und suchte ein Foto vom Kopf des ersten Opfers heraus, das er selbst geschossen hatte, und hielt Manning das Handy hin. Interessiert studierte Manning das Bild und zog die Augenbrauen hoch.

„Okay. Ich verstehe, warum Sie hier sitzen.“

„Wirklich“, murmelte Morris und Sadie war nicht sicher, ob das sarkastisch gemeint war.

„Das sieht wirklich nach mir aus“, sagte Manning weiter, der vorgab, den Kommentar zu ignorieren.

„Sie verstehen uns“, schaltete Sadie sich wieder ein.

„Ja, tue ich. Aber ich kann mich nur wiederholen: Das war ich nicht. Ich verstehe, dass Sie hier sind, aber das war ich nicht. Wirklich nicht. Ich habe elf Männer getötet, keinen mehr und keinen weniger.“

„Okay“, sagte Sadie und blickte zu Morris. Sie merkte, dass sie hier im Moment nicht weiterkamen.

„Danke, dass Sie mit uns geredet haben“, sagte Morris, der ebenfalls bereits zum Aufbruch war. „Bei Fragen würden wir gern wieder auf Sie zukommen.“

„Nur zu, Detective.“ Manning nickte ihm zu und schenkte Sadie dann ein Lächeln. „Special Agent.“

„Vielen Dank, Mr. Manning“, sagte auch Sadie. Morris stand auf, ging zur Tür und klopfte. Es dauerte nur Augenblicke, bis die Tür geöffnet wurde und man Sadie und Morris gehen ließ. Sie hörten noch, wie Manning abgeholt und in seine Zelle zurückgebracht wurde, aber sie sahen ihn nicht mehr. Als sie in die Vorhalle zurückkehrten, fühlte Sadie sich plötzlich vom Sonnenlicht geblendet.

 

Morris übernahm kommentarlos auch die Rückfahrt. Inzwischen war es früher Nachmittag, aber sie würden vor der Rush Hour zurück in der Stadt sein. Er durchquerte Lancaster und fuhr zurück auf den Highway nach Los Angeles.

„Glaubst du ihm?“, fragte er ins Schweigen hinein.

„Irgendwie schon“, sagte Sadie. „Seine Überraschung war echt. Er würde sich den Toten selbst zuschreiben und er würde es uns sagen, wenn er etwas zu sagen hätte. Das denke ich schon. Ich weiß noch nicht, warum er sagt, er hätte nichts damit zu tun.“

„Gibt es eine psychologische Erklärung dafür? Amnesie?“

Sadie zuckte mit den Schultern. „Möglich wär’s. Es gibt verschiedene Szenarien, die ich mir vorstellen könnte. Wir sollten aber auch prüfen, ob da wirklich kein Trittbrettfahrer am Werk ist. Jemand, der damals Täterwissen hatte und ihn geschickt nachgeahmt hat.“

„Ja. Mal sehen. Wir müssen ja überhaupt erst mal rausfinden, wer die Toten sind und wann sie ermordet wurden. Aber trotzdem danke. Du warst so gut, wie ich gehofft hatte.“

Verlegen starrte Sadie in den Fußraum. „Ich habe nur meine Arbeit gemacht.“

„Ja, aber wie du ihm gesagt hast, dass du vermutlich mehr Serienmörder kennst als er ... wahrscheinlich stimmt das sogar.“

„Das denke ich auch“, sagte Sadie. „Ich weiß gar nicht, wer hier noch einsitzt.“

„Ich auch nicht. Manning ist aus Verlegenheit hier, sie wollten ihn eigentlich in Folsom oder San Quentin haben, aber da ist kein Platz.“

„Immer dasselbe Problem mit den überfüllten amerikanischen Gefängnissen.“

Morris lächelte und sah sie dann nachdenklich von der Seite an. „War wahrscheinlich verrückt von mir, zu glauben, du hättest damals deinen Vater im Gefängnis besucht.“

„Nein, das habe ich nie“, sagte Sadie kopfschüttelnd. „Nachdem er auf mich geschossen hat, habe ich ihn nur noch im Gerichtssaal wiedergesehen und eben nach seiner Flucht. Ich hatte keine besondere Sehnsucht nach ihm, wie du dir denken kannst.“

„Ja, das macht Sinn. Wie ist dein Leben dann verlaufen?“

Sadie erzählte es ihm, denn sie mochte Nathan und sie wusste, es war echtes Interesse, das er ihr entgegenbrachte.

Schließlich nickte er und sagte: „Für die Behörden ist das ja eigentlich ein Glücksfall. Ich habe vorhin gemerkt, dass du ein Händchen für solche Typen hast.“

„Das bleibt nicht aus, wenn man von einem Serienmörder großgezogen wird.“

„Aber als Kind hast du das doch nicht gemerkt, oder?“

„Das nicht, nein. Aber er war gewalttätig.“

Morris nickte verstehend. „Manning hat feine Antennen. Er hat bemerkt, dass dir seine Schilderung dessen, was er beim Erwürgen seiner Opfer empfindet, etwas ausgemacht hat.“

Sadie erwiderte seinen Blick. „Gut, dass er den Grund dafür nicht kennt.“

„Ich dachte es mir.“

Sie zuckte mit den Schultern, während sie nach Worten suchte. „Der Oregon und der Pittsburgh Strangler heißen nicht zufällig so.“

„Ja, schon klar. Schon verrückt, dass Sean Taylor auch aus Oregon stammte. Rein vom Alter her könntet ihr verwandt sein.“

Sadie erstarrte zur Salzsäule, als er das sagte, krallte ihre Finger in ihre Hose und vergaß für einen Moment das Atmen. Obwohl Nathan ihre Reaktion nur im Augenwinkel beobachtete, entging sie ihm nicht.

„Was ... nein. Das war nur so eine blöde Idee, die ich gestern schon hatte, aber ...“ Er brach ab.

Ganz langsam löste Sadie sich wieder aus ihrer Starre. „Irgendwann musste es jemandem auffallen.“

„Das ist nicht dein Ernst. Er war ... war er Fosters Sohn?“

Sadie nickte stumm und starrte auf die Straße, während sie versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Das hatte sie unvermittelt erwischt.

„Tut mir leid“, sagte Morris schnell, aber es war zu spät. Sadie wischte sich verstohlen über die Augen und atmete tief durch.

„Ich bin zu neugierig, Sadie. Ich sollte einfach mal die Klappe halten.“

„Das ist nicht deine Schuld, Nathan.“

„Nein, aber ich hatte nicht erwartet, dass das stimmt. Wusstest du davon?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich hatte keine Ahnung, bis er es mir gesagt hat.“

Während sie tief Luft holte und sich erneut eine Träne abwischte, blickte sie seitlich zu Morris und sah, wie er um Fassung rang.

„Verdammt. Ich habe so eine vorlaute Klappe, wirklich. Es war nur ... mir kam der Gedanke gestern Abend gleich. Das hätte alles erklärt. Ich wollte nicht mal wirklich fragen ...“

„Ist okay, Nathan. Wirklich“, sagte Sadie und rang sich mühsam ein Lächeln ab.

„Was, das ist deine Reaktion? Das ist doch Wahnsinn. Wie steckst du das weg?“

„Ich stecke das weg, weil ich muss. Habe ich eine Wahl?“, erwiderte Sadie düster.

„Hm“, machte Nathan. „Wow. Das sitzt.“

„Lass uns einfach das Thema wechseln“, bat Sadie.

„Okay, klar. Sicher. Ich habe nichts gesagt.“

Sie lächelte und atmete tief durch. „Jetzt weißt du, warum Manning mich nicht schockt.“

„Ja, ich verstehe. Wirklich. Ich bin gespannt, was wir noch herausfinden. Vielleicht gibt es bald das Obduktionsergebnis des ersten Toten. Roy wollte heute herausfinden, welche Vermissten es in dem Zeitraum gab und wer als Opfer in Frage käme. Immerhin gibt es noch Zähne, so dass uns der Zahnstatus da hoffentlich auf die Sprünge hilft.“

„Das wäre gut“, sagte Sadie.

„Ich habe Manning immer für intelligent gehalten. Ist es normal, dass Serienmörder so reflektiert über ihre Taten sprechen?“

Das war zwar kein Themenwechsel im eigentlichen Sinne, aber Sadie reichte es. „Mitunter, ja. Ich kenne das jedenfalls schon.“

„Okay. Verrückte Sache, finde ich. Man stellt sich immer irgendwie zähnefletschende Verrückte vor, aber das ist es gar nicht, oder?“

„Eher selten. Das sind auch Menschen. Zwar haben sie ziemlich kranke Vorstellungen, aber sie sind Menschen.“

„Finde ich toll, dass du das so sehen kannst.“

„Mein Vater war nicht nur ein Serienmörder, für mich war er lange Zeit tatsächlich nur mein Vater. Ich habe das erlebt.“

„Glaube ich dir. Wie hat dein Mann reagiert, als er es erfahren hat?“

„Er sagte, es ist ihm egal.“

Morris lächelte. „Das ist schwer in Ordnung. Vielleicht lerne ich ihn ja mal kennen.“

„Vielleicht.“ Sadie wechselte das Thema, indem sie sich nach seiner Familie erkundigte. Auf ihrem Rückweg nach Los Angeles unterhielten sie sich über alltägliche Dinge, Sadie erzählte von ihren Katzen und davon, wie sie das Leben in Los Angeles fand. Als sie sich Downtown näherten, kehrten sie wieder zum Ausgangsthema zurück und überlegten, wie es weitergehen sollte. Sie entschieden sich dagegen, am nächsten Tag wieder nach Lancaster zu fahren. Zuerst wollten sie die Ergebnisse der Obduktion und Roys Ermittlungen abwarten.

„Ich werde auch mein Wissen über Jeffrey Dahmer, John Wayne Gacy und Konsorten noch einmal auffrischen“, kündigte Sadie an. „Vielleicht hilft uns das.“

„Nur zu“, sagte Morris.

„Vielleicht hat meine Kollegin auch noch Anhaltspunkte.“

„Was auch immer hilft.“ Er fuhr auf den Parkplatz des Police Departments, wo Sadie auch ihren Dienstwagen geparkt hatte. Nachdem er den Wagen abgestellt hatte, stiegen sie nacheinander aus und blieben voreinander stehen.

„Ich weiß deine Unterstützung zu schätzen“, sagte Nathan und reichte ihr zum Abschied die Hand. „Und du hättest nicht ehrlich sein müssen.“

„Ich lüge nicht mehr“, erwiderte Sadie. „Du wirst es schon nicht herumtratschen.“

„Um Gottes Willen, nein“, sagte Nathan und schüttelte den Kopf. „Also, ich melde mich.“

„Ist gut“, sagte Sadie, verabschiedete sich und ging zu ihrem Auto. Ganz in Gedanken fuhr sie zum Wilshire Boulevard zurück. Es war kurz nach drei, sie hatte also noch ein wenig Zeit im Büro. Die würde sie auch zu nutzen wissen, denn dort war sie den ganzen Tag noch nicht gewesen.

Als sie oben im Büro eintraf, war sie wenig überrascht, auch Cassandras Schreibtisch verwaist vorzufinden. Sie achtete jedoch gar nicht weiter darauf, sondern setzte sich an den Computer und widmete sich ihren liegengebliebenen Mails. Diese Aufgabe vereinnahmte sie fast bis zum Feierabend. Pünktlich verließ sie das Büro und wartete unten am Auto auf Matt, der nach drei Minuten ebenfalls auftauchte. Er sah so aus, als sei er gut gelaunt und entsprechend hingebungsvoll begrüßte er Sadie mit einem Kuss.

„Da bist du ja schon“, stellte er fest.

„Ja, bin eben gekommen.“

„Und, wie war es im Knast?“, fragte Matt beim Einsteigen. „Ich kann immer noch nicht glauben, dass du noch nie dort warst.“

„Warst du denn schon mal?“

„Ja, vor Jahren. War nicht so spektakulär. War aber auch kein Serienmörder.“

Sadie schnallte sich an. „Das ist halt mein Job.“

„Klar. Erzähl doch mal, wie ist Manning so?“

Sadie beschrieb ihn kurz und Matt hörte aufmerksam zu. Er entschied sich dafür, den Heimweg über den Freeway zu riskieren, aber der Verkehr war ziemlich dicht.

„Dass er sich selbst wirklich so beschreibt“, sagte Matt schließlich.

„Dumm ist er wirklich nicht. Er weiß, nach welchen Kategorien er beurteilt wird. Verrückt finde ich bloß, dass er wirklich selbst sagte, dass die neuen Opfer nach ihm aussehen, aber erinnern kann er sich nicht.“

„Dafür muss es doch einen Grund geben.“

„Bestimmt ... und den muss ich jetzt herausfinden.“

Matt nickte. „Das schaffst du.“

„Ja, mal sehen. Das war ziemlich aufwühlend heute. Der Polizist ist wirklich wahnsinnig nett und nicht auf den Kopf gefallen. Er hat mich auf der Hinfahrt auf meinen Vater angesprochen.“

Achselzuckend sagte Matt: „Blieb nicht aus.“

„Nein ... Erschreckend war bloß, dass er ganz von selbst richtig kombiniert hat, wer Sean war.“

„Was meinst du?“, fragte Matt irritiert.

„Dass Sean mein Bruder war“, präzisierte Sadie leise.

„Was, im Ernst? Das hat er gesagt?“

Sie nickte. „Ich habe es nicht geleugnet.“

„Mutig“, fand er.

„Warum hätte ich das tun sollen? Er ist in Ordnung. Er war da wie Cassandra – plötzlich hatte er die Idee und er hat sie ausgesprochen. Ich war so geschockt, dass meine Reaktion ihm alles verraten hat.“

„Okay. Kann ich mir vorstellen.“

„Das war echt verrückt heute. Es gibt nur eine Handvoll Leute, die das wissen. Aber Morris ... ich vertraue ihm irgendwie“, gab Sadie zu.

„Du wirst schon wissen, was du tust.“

„Ja ... ich meine, Sean war mir eine Lehre. Da war ich nicht misstrauisch, obwohl ich es hätte sein sollen. Morris ist ehrlich. Er will das nur verstehen.“

„Das musst du mir nicht erklären. Ist doch gut, wenn du dich mit ihm verstehst.“

„Ja, er ist nett.“

Inzwischen floss der Verkehr wieder, was besonders Sadie erleichterte. Sie musste dringend pinkeln und konnte es kaum erwarten, zu Hause einzutreffen. Als sie endlich dort waren, beeilte Sadie sich, ins Haus zu kommen. Grinsend schaute Matt ihr hinterher und folgte etwas langsamer. Er hatte gerade erst die Post geholt, als Sadie wieder vor ihm stand. Rasch ließ er die Briefe sinken und setzte ein unbeteiligtes Gesicht auf. Zu seiner Erleichterung ging Sadie in die Küche und achtete nicht darauf, wie er kommentarlos mit einem Brief in die obere Etage verschwand.

 

 

Mittwoch

 

Cassandra saß bereits am Schreibtisch, als Sadie das Büro betrat. Mit einem Lächeln begrüßte sie ihre Kollegin und nahm neben ihr Platz, dann startete sie ihren Computer.

„Wie war es bei Manning?“, erkundigte Cassandra sich. „Ich beneide dich ja schon fast.“

„Du beneidest mich? Worum?“, fragte Sadie irritiert.

„Mit Manning im Gefängnis zu sprechen klingt so viel spannender als das, was ich gerade tue ...“

„Oh je“, sagte Sadie mitleidig und lachte. Allerdings ließ sie sich nicht zweimal darum bitten, ihrer Kollegin zu erzählen, wie es bei Manning gewesen war. Interessiert hörte Cassandra ihr zu und sagte schließlich: „Klingt ganz schön haarsträubend, aber das finde ich an unserem Beruf so faszinierend. Ich weiß noch, wie ich Nick damals darum beneidet habe, so viele Serienmörder zu kennen ... das klingt total krank, ich weiß. Aber mit solchen Typen zu sprechen, ist irgendwie etwas Besonderes. Sie schütten einem auch richtig ihr Herz aus.“

„Das stimmt allerdings“, sagte Sadie. „Das lieben sie alle.“

„Du kannst ja vergleichen“, murmelte Cassandra.

„An Selbstvertrauen mangelt es den wenigsten von ihnen. Seltsam fand ich nur, dass Manning wirklich glaubhaft versichern konnte, er hätte keine Ahnung, wer die Toten sind. Er hat sogar selbst gesagt, er würde sie sich zuschreiben, sei es aber nicht gewesen.“

„Ist ja verrückt“, sagte Cassandra überrascht.

„Allerdings. Was hältst du davon?“

„Keine Ahnung, ich war ja nicht dabei. Aber vielleicht ist es schlicht und ergreifend eine Form der Amnesie?“

„Das habe ich mir auch schon überlegt. Ich glaube ihm, dass er sich nicht erinnert, aber ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass er nichts damit zu tun hat.“

„Er sitzt im Knast. Hat er sich vielleicht mal bei einer Schlägerei eine Gehirnerschütterung zugezogen? Hat er Migräne? Ist er Alkoholiker oder nimmt er irgendwelche Medikamente?“

„Das weiß ich nicht“, gab Sadie zu. „Oder es ist eine Dissoziation.“

„Ist er denn psychiatrisch auffällig? Ich meine, mal abgesehen von der Tatsache, dass er ein nekrophiler Serienmörder ist.“

Sadie grinste kurz. „Soweit ich weiß nicht. Aber ich hake da mal nach. Es könnte gut so etwas sein.“

Zumindest konnte sie es sich vorstellen. Dass Cassandra es ähnlich sah, bestärkte sie noch in ihrer Meinung. Während sie die Datenbank öffnete, überlegte sie, ob Manning vielleicht tatsächlich vergessen oder verdrängt hatte, dass es noch weitere Opfer gab. Was war da los?

Cassandra hatte schon verschiedene Ursachen einer möglichen Amnesie angesprochen, was eventuell eine Erklärung war. Vielleicht aber auch nicht.

Sie beschloss, alle Spekulationen darüber erst einmal sein zu lassen und vertiefte sich stattdessen erst einmal in ihre Recherchen über die Referenzfälle. Der Vergleich mit Jeffrey Dahmer und John Wayne Gacy drängte sich einfach auf, auch wenn Manning längst nicht so fleißig wie diese beiden gewesen war. Auf Gacys Konto gingen ganze dreiunddreißig Opfer, während Dahmer es immerhin noch auf siebzehn Mordopfer brachte.

Diese beiden waren von Bedeutung, weil Manning selbst immer wieder von ihnen gesprochen und bereitwillig Parallelen zu ihnen gezogen hatte – nicht ganz unbegründet, denn er hatte sich regelrecht von ihren Taten inspirieren lassen. Jeffrey Dahmer, an dessen Beinahmen The Milwaukee Monster sich inzwischen längst nicht jeder noch erinnerte, hatte sich darauf spezialisiert, Schwule und insbesondere Stricher mit nach Hause zu nehmen, sie mit Schlafmitteln zu betäuben und zu töten. Er hatte ihre Leichen geschändet, sie zerstückelt, Gliedmaßen im Kühlschrank aufbewahrt und gegessen. Dafür war er bekannt – und dafür, dass er seinen Opfern noch bei lebendigem Leib Löcher in den Schädel gebohrt und Säure hineingetropft hatte, um sie zu Sexsklaven zu machen. Natürlich hatte das nicht funktioniert, sondern nur zu ihrem Tod geführt. Er hatte schon während seiner Zeit bei der Army begonnen, seinen Zimmergenossen zu misshandeln, nach seiner Festnahme waren bei ihm unter anderem eine psychotische Störung, Borderline und Nekrophilie diagnostiziert worden. Die Verteidigung hatte sein Bedürfnis, Sex mit Toten zu haben, als Argument für seine Unzurechnungsfähigkeit anführen wollen, war damit jedoch gescheitert. Man hatte Dahmer zu fünfzehnmal lebenslänglich verurteilt, allerdings starb er im Alter von vierunddreißig Jahren im Gefängnis. Ein Mitgefangener hatte ihn dort 1994 zu Tode geprügelt.

Im selben Jahr starb auch John Wayne Gacy, allerdings durch die Giftspritze. Bekannt wurde er damals als Killer Clown, weil er als Clown verkleidet Kinder bespaßte. Gacy war, trotz einer frühen Gefängnisstrafe für Kindesmissbrauch, in seiner Gemeinde sehr anerkannt und wirkte harmlos. Die Menschen ahnten nicht, dass Gacy nach der Scheidung von seiner Frau Carol völlig die Beherrschung verlor und zwischen 1972 und 1978 über dreißig junge Männer tötete und in einem Zwischenboden in seinem Haus verscharrte. 1980 wurde er für zwölf seiner Morde zum Tode verurteilt und saß noch vierzehn Jahre im Todestrakt. Gacy verschleppte, vergewaltigte und ermordete seine Opfer, hauptsächlich junge Männer, die noch keine zwanzig waren. Nicht alle dieser Opfer konnten überhaupt identifiziert werden, daran hatten auch neue forensische Methoden nichts geändert.

Gacy hatte verschiedene Mordmethoden benutzt, manche Opfer hatte er stranguliert, andere erstochen. Ein Opfer war auch an seinem Knebel erstickt. Das ließ Sadie unwillkürlich wieder an Manning denken, ebenso wie die Garotte, die Gacy oft benutzt hatte. Auch das Untertauchen in der Badewanne hatte Manning mit Gacy gemein.

Eins seiner Opfer hatte Gacy sogar einmal laufen lassen und war angezeigt worden, doch als er die Tat abgestritten hatte, hatte man ihm geglaubt. Auch ein zweites überlebendes Opfer hatte ihn angezeigt, doch mangels Beweisen waren die Ermittlungen eingestellt worden. Immer wieder hatte Gacy nur Glück gehabt. Nach seiner Festnahme hatte man paranoide Schizophrenie bei ihm festgestellt und es war auch klar, dass die Folter seiner Opfer ihn sexuell erregt hatte. Das hatte er nicht unbedingt mit Manning gemein, aber die vielen anderen Parallelen gaben Sadie zu denken.

Ähnlich viel Glück hatte auch der britische Serienmörder Dennis Nilsen gehabt, der zwischen 1978 und 1983 mindestens zwölf junge Männer ermordet hatte. Auch er war von einem seiner Opfer erfolglos angezeigt worden und man war ihm nur auf die Schliche gekommen, weil die Abflussrohre in seinem Haus irgendwann von Leichenteilen verstopft gewesen waren. Auch Nilsen hatte, so wie die anderen Mörder, seine Opfer nach Hause gelockt, sie dort alle stranguliert oder manche ertränkt. Man hatte ihn immer wieder als den britischen Jeffrey Dahmer bezeichnet – ein Vergleich, den Sadie nicht unpassend fand.

Nur um sich mit Manning vertraut zu machen, überlegte sie sich, welche Vorgehensweise er sich bei welchem Täter abgeschaut haben konnte. Er hatte diese Inspirationen nie geleugnet, manche sogar explizit bestätigt. Nekrophilie faszinierte ihn auch, Sadismus hingegen bestritt er vehement. Er war intelligent, eloquent, aber er war auch brutal und psychisch schwer gestört. Auch bei Manning hatte man Nekrophilie und eine schizotypische Persönlichkeitsstörung diagnostiziert, von der Sadie jedoch im Gespräch nichts bemerkt hatte. Er spielte mit all diesen Tätern in einer Liga, aber sie verstand einfach nicht, warum er die gerade gefundenen Opfer nicht anerkennen wollte. Sie überflog die Diagnosen der anderen Täter – immer in der Hoffnung, etwas zu finden, das ihr weiterhalf.

Besonders Jeffrey Dahmer hatte so allerhand psychiatrische Diagnosen auf sich vereint, war aber trotzdem als zurechnungsfähig eingestuft worden. Das hatte einen einfachen Grund, denn als zurechnungsfähig galt man, sobald festgestellt werden konnte, dass man richtig und falsch unterscheiden konnte – oder anders gesagt, dass man sich im Klaren über das Verbot war, jemand anderen zu töten. Die meisten Serienmörder wussten eben doch, was sie taten, auch wenn das vielleicht unbegreiflich erschien.

Auch bei Dennis Nilsen war festgestellt worden, dass er persönlichkeitsgestört war – es war ihm beispielsweise egal, dass seine Opfer auch Menschen waren, er hatte sie depersonalisiert. Bei ihm hatte, genau wie bei Dahmer, der Verdacht einer Borderline-Persönlichkeitsstörung im Raum gestanden.

Sadie kehrte noch einmal zu John Wayne Gacy zurück und fand schließlich einen Hinweis darauf, dass er versucht hatte, die Ermittler glauben zu lassen, er leide an einer multiplen Persönlichkeitsstörung. Allerdings war er damit nicht durchgekommen, auch ihn hatte man für zurechnungsfähig gehalten und deshalb schließlich auch zum Tode verurteilt.

Auch wenn Sadie noch nie mit dem Phänomen einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung zu tun gehabt hatte, die landläufig als multiple Persönlichkeit bekannt war, hätte es gepasst. Sie warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass es in London schon Abend war, aber das schreckte sie nicht. Für solche Fälle hatte sie Andreas Privatnummer. Unverzagt gab sie die lange Nummer am Telefon ein und lauschte auf das Freizeichen. Zu ihrer Freude hatte sie Andrea gleich am Apparat.

„Hier ist Sadie“, meldete sie sich und wollte noch etwas hinzufügen, aber dazu kam sie nicht.

„Sadie, wie schön, von dir zu hören“, sagte Andrea und klang auch sehr erfreut dabei. „Wie geht es dir?“

„Oh, alles bestens soweit, und bei dir?“

„Es ist der übliche Wahnsinn. Meine Tochter ist anstrengend und der Beruf kann einen erst recht in den Wahnsinn treiben, aber ich wollte es ja so ...“

Sadie grinste. „Das kenne ich. Hast du einen Augenblick Zeit? Ich bräuchte mal wieder deine fachliche Meinung.“

„Sicher. Worum geht es denn?“

„Als du bei uns warst, hast du von Amy Harrow erzählt, die dissoziative Identitätsstörung. Wie bist du damals dahintergekommen?“

Andrea holte tief Luft. „Die liebe Amy ... das werde ich nie vergessen. Es hat ja gedauert, bis ich es bemerkt habe. Ich war noch damit beschäftigt, ihre Opfer-Täter-Karriere zu bewundern, als sie Greg in ihre Gewalt gebracht hat und es richtig gefährlich wurde. Ich habe mich ja die ganze Zeit gefragt, wie ein Missbrauchsopfer dazu kommt, einen sexuellen Sadisten zu bewundern, aber ich musste ihr erst gegenüberstehen, um es zu sehen.“

„Das hattest du bei deinem Besuch hier kurz erwähnt.“

„Ist keine meiner schönsten Erinnerungen, wie du dir denken kannst. Ich saß ihr schließlich in diesem Keller splitternackt gegenüber und musste beobachten, wie mein Mann aufgrund einer Sepsis langsam das Bewusstsein verloren hat. Und das alles mit einer Verrückten vor der Nase, die im Sinn hatte, mich mit ihrem Messer in Scheibchen zu schneiden.“ Andrea lachte kurz. „Sie hat mir Narben beigebracht, die ich hinterher bei einem Schönheitschirurgen weglasern lassen musste. Aber das war alles schon passiert, bevor mir klar war, dass ich es mit einer multiplen Persönlichkeit zu tun habe. Das ist mir erst am Schluss klar geworden, als sie geswitcht hat.“

„Was ist passiert?“, fragte Sadie gespannt.

„Mein Freund Christopher, der Polizist, ist gerade noch rechtzeitig aufgetaucht und hat sie festgenommen. Er hat ihr Handschellen angelegt und sich um mich und Greg gekümmert, so dass Amy die ganze Zeit bloß am Boden lag. Du musst dir die Situation vorstellen: Gerade hatte sie noch ihr Messer in der Hand und wollte mich verstümmeln. Buchstäblich. Und plötzlich lag sie da, hat geweint und gesagt, man solle ihr nicht weh tun. Das kam so plötzlich und so radikal, dass ich sofort einen Verdacht hatte, was da passiert.“

„Und du wusstest, sie spielt dir nichts vor?“

„Ja, das war zu echt. Christine, ihre Host-Persönlichkeit, hat den Alltag bestritten. Sie war eine selbstbewusste, brutale und besessene Persönlichkeit. Sie war es, die den Serienmörder bewundern konnte, die entführt und gemordet hat. Sie stand auch vor mir, hat mich verletzt und mir gedroht. Aber Amy ... sie war immer noch das unsichere, verletzte kleine Mädchen, das Angst davor hatte, dass man ihr weh tut. Der Wechsel war extrem. Greg hat mir hinterher beschrieben, dass sie auch bei ihm immer wieder geswitcht hat. Erst hat sie ihn verletzt und nachher gefragt, ob sie ihm durch Ritzen nicht den Schmerz erleichtern soll.“

„Ist ja verrückt“, murmelte Sadie.

„Das war ihre Art der Problemlösung. Meine Kollegen haben hinterher zuerst mit ihr gesprochen – Dr. Carter hat sich immer dagegen gewehrt, die dissoziative Identitätsstörung anzuerkennen. Als er Amy begegnet ist, hat sich das geändert. Es wurde diagnostiziert und ich habe später noch einmal mit ihr gesprochen, als es um die Therapie ging. Die gängige Therapie bei multiplen Persönlichkeitsstörungen ist es, die Alters zusammenzuführen, aber das wollte sie verständlicherweise nicht. Sie wollte, dass Christine zerstört wird und sie nur noch Amy sein kann, deshalb hat sie mich dahingehend um Hilfe gebeten.“

„Die du ihr gegeben hast?“, fragte Sadie staunend.

„Ja, das habe ich. Das war auch Neugier. Aber es war kein Problem für mich, bei ihr einen Switch zu triggern. Ich musste nur die nötigen Schlüsselreize verwenden. Meist war ja Christine aktiv, aber es hat gereicht, sie auf ihre eigenen Ritzernarben aufmerksam zu machen. Amy war die Borderline-Persönlichkeit, die Narben waren ein Schlüsselreiz, um ihre Persönlichkeit anzusprechen. Bei allen Brutalitäten kam gleich Christine zum Vorschein.“

„Und war sie sich dessen bewusst, das sie zwei Persönlichkeiten hat?“

„Amy war es. Sie wusste von Christine, sie hat einmal zu Greg gesprochen und ihm gesagt, dass es ihr leid tut und sie verabscheut, was Christine ihm angetan hat. Christine hat sich umgekehrt nie zu Amy geäußert.“

„Interessant. Und Alters ...“

Andrea lachte. „Ach so, sicher. Im Fachjargon bezeichnet man die verschiedenen Teilpersönlichkeiten als Alters. Meist ist eine davon die Hauptpersönlichkeit, der Host. Es ist auch nicht ungewöhnlich, dass die Persönlichkeiten voneinander wissen oder eben auch nicht, das kommt immer ganz darauf an.“

„Okay ...“ sagte Sadie gedehnt.

„Hast du den Verdacht, es mit einem Betroffenen zu tun zu haben?“, fragte Andrea.

„Wäre möglich. Sagt dir der Name Carter Manning etwas?“

„Habe ich mal gehört. Nenn mir mal ein Stichwort.“

„Ein homosexueller Nekrophiler, der im Geiste von Dahmer und Gacy gemordet hat. Er wurde 2011 zu elfmal lebenslänglich verurteilt und sitzt jetzt im Antelope Valley State Prison in Lancaster.“

„Ja, da klingelt was ... ist das dein aktueller Fall?“

„Es wurden weitere Leichen gefunden und der Modus Operandi passt perfekt zu Manning, aber er erinnert sich nicht. Wirklich nicht, ich glaube ihm das. Ich helfe gerade einem Detective vom LAPD dabei, die Leichen vielleicht doch mit Manning in Verbindung zu bringen.“

„Okay ... und jetzt denkst du, er könnte ein Multipler sein, weil das seine Erinnerungslücken erklären würde.“

„War nur so eine Idee. Ich wollte dich fragen, woran man das erkennt.“

„Ah, verstehe. Und du denkst, er erinnert sich wirklich nicht?“

„Seine Überraschung wirkte echt. Wir haben ihm sogar Fotos gezeigt und er meinte selbst, das sähe nach ihm aus, aber er könne uns nichts dazu sagen.“

„Hm ...“ machte Andrea. „Und Amnesie?“

„Habe ich auch schon überlegt. Ich weiß nicht, ob es bei ihm überhaupt ein Trauma gegeben hat, das die Entstehung einer dissoziativen Identitätsstörung hätte begünstigen können. Wenn du sagst, bei Amy hat der Anblick ihrer Narben gereicht, um einen Switch auszulösen, hätte der Anblick der Fotos bei Manning es eigentlich auch tun müssen.“

„Das ist kein Naturgesetz, Sadie. Vielleicht hält der Host auch alles unter Kontrolle, das gibt es auch. Besuchst du ihn noch einmal?“

„Morgen wahrscheinlich.“

„Sieh ihn dir einfach noch mal genau an. Versuche einfach, einen Switch zu triggern, vielleicht klappt das. Vielleicht hat es ja auch ganz andere Ursachen ... oder ihr habt einen Trittbrettfahrer?“

„Wer weiß“, sagte Sadie. „Danke, Andrea. Du hast mir sehr geholfen.“

„Jederzeit. Ich bin gespannt, was du herausfindest.“

„Ich auch“, sagte Sadie und lachte. Nach einer herzlichen Verabschiedung legte sie auf und erwiderte dann Cassandras neugierigen Blick.

„Eine multiple Persönlichkeit?“, sagte Cassandra mit hochgezogener Augenbraue.

„Gacy hat mich drauf gebracht. Er wollte, dass man glaubt, er hätte eine. Bei Manning wäre es auch eine mögliche Erklärung.“

„Vielleicht lügt er euch auch einfach nur an.“

„Klar, kann sein. Glaube ich aber nicht“, widersprach Sadie. Sie glaubte Manning. Er hatte auch überhaupt keinen Grund zu lügen.

Bis zur Mittagspause durchforstete sie die Akten Dahmer und Gacy nach irgendwelchen Denkanstößen, die sie vielleicht weiter brachten, und sie nahm sich schließlich auch Mannings Akte noch einmal vor. Sie interessierte sich dafür, ob es irgendeinen auslösenden Moment in seiner Biographie gab, der vielleicht dazu geführt hatte, dass er eine multiple Persönlichkeit entwickelte. Er hatte ja sehr plastisch geschildert, woher seine Faszination für den Tod kam und Sadie konnte sich vorstellen, dass er als Jugendlicher mit der Erkennnis, homosexuell zu sein, gehadert hatte. Aber entwickelte man dadurch eine multiple Persönlichkeit?

Sie grub sich durch seine psychiatrischen Unterlagen und suchte nach einem Hinweis auf eine dissoziative Identitätsstörung. Die Unterlagen sprachen jedoch nur von Nekrophilie, einer schizotypischen Störung und leichter Zwanghaftigkeit. Paranoide Vorstellungen, inadäquate Affekte, exzentrisches Verhalten, Mangel an Freunden und Vertrauten – das alles klang nach Manning.

Aber eine dissoziative Identitätsstörung? Hauptsächlich waren davon Frauen betroffen, die – wie Amy Harrow – schwerste Traumata in der Kindheit erlebt hatten. Sadie erinnerte sich, dass Amy von ihrem Vater mit dem Wissen ihrer Mutter missbraucht worden war. Aber hatte Manning so etwas erlebt?

Die Komorbidität zwischen schizotypischer und dissoziativer Identitätsstörung war hoch, beides trat oft zusammen auf. Konnte, musste aber nicht. Sadie kam jedoch nicht dazu, sich das weiter zu überlegen, weil ihr Telefon klingelte.

„Whitman“, meldete sie sich knapp.

„Sadie, ich bin es, Nathan“, begrüßte sie am anderen Ende Detective Morris.

„Was gibt es?“, erkundigte sie sich gespannt.

„Ich habe gerade mit dem Gerichtsmediziner gesprochen. Er hat bei beiden Toten eine Einschätzung vorgenommen, wann sie gestorben sind und wie alt sie zu diesem Zeitpunkt waren. Auf Grundlage dessen habe ich mit Roy mal die Vermisstendatenbank durchforstet und bei einigen heißen Kandidaten die zahnärztlichen Unterlagen angefordert. Im Moment ist das ja die einzige Möglichkeit für uns, ihre Identität einzugrenzen.“

„Klingt doch gut“, fand Sadie.

„Ich hoffe, ich erfahre heute noch mehr. Der Pathologe meinte, dass beide ziemlich genau zehn Jahre dort liegen müssten, plus minus ein Jahr.“

„So genau kann er das eingrenzen?“

„Anscheinend schon. Ich hab nicht näher gefragt, ich stehe nicht so auf Verwesung, weißt du ... er meinte, der eine Tote hätte die Pubertät gerade erst abgeschlossen, er schätzte ihn auf achtzehn bis zwanzig. Den zweiten schätzte er etwas älter, aber nicht viel. Dort wird es einfacher, ihn zu identifizieren, weil er einen recht komplizierten verheilten Armbruch hat. Damit sollten wir ihn finden können.“

„Ist doch prima. Und die Todesursache?“

„Ist nicht mehr feststellbar, aber zumindest wurden keine Spuren an den Knochen gefunden. Das spricht irgendwie für die Theorie mit der Garotte.“

Das sah Sadie ähnlich. „Ich habe mit meiner Kollegin gesprochen und wir überlegen immer noch, wie es sein kann, dass Manning sich nicht erinnert. Aus dem Grunde würde ich ihn morgen gern noch einmal besuchen und etwas mit ihm versuchen.“

„Das klingt ja vielversprechend“, sagte Nathan.

„Ich bin nicht sicher, was es bringt – vielleicht gar nichts. Vielleicht lügt er auch nur geschickt.“

„Ist doch egal. Was glaubst du?“

„Eine multiple Persönlichkeit wäre eine Erklärung, aber mir fehlt ein auslösendes Trauma für die Entstehung dieser Störung in seiner Biographie.“

„Okay ... das ist aber heftiges Fachchinesisch. Einigen wir uns einfach darauf, dass wir ihn morgen besuchen! Kommst du wieder zu mir?“

„Ist okay. Ich könnte um neun da sein.“

„Reicht völlig. Ich freue mich schon. Dann bis morgen, Sadie.“

„Bis morgen“, sagte sie und legte auf. Sie freute sich auf die weitere Zusammenarbeit mit Nathan, denn er war ein sehr angenehmer Mensch. Zwar wusste er längst mehr, als er sollte, aber dieses Wissen war bei ihm in guten Händen.

 

Bis zum Feierabend recherchierte Sadie zum Thema Amnesie, dissoziative Identitätsstörung, Nekrophilie und anderen Themen, fand aber keine nennenswerten neuen Erkenntnisse mehr. Sie überlegte auch, ob nicht doch ein Trittbrettfahrer am Werk war, aber Morris hatte gesagt, dass man über Täterwissen verfügen musste, um die Morde so exakt nachzustellen. Das widersprach auch der Annahme, es möglicherweise bei Manning mit einer multiplen Persönlichkeit zu tun zu haben. Sie wollte der Sache am nächsten Tag mal auf den Grund gehen. Zum Glück war Manning ja kooperativ.

Sie verließ das FBI-Gebäude pünktlich und machte sich auf den Heimweg. An diesem Tag war sie ohne Matt unterwegs, sie wollte noch zum Training und er hatte ein Meeting, von dem er nicht wusste, ob es pünktlich endete.

Schon vor dem Urlaub hatte sie sich zum Aikido angemeldet, dessen Philosophie ihr gefiel und von dem sie hoffte, dass es ihr dabei half, in Form zu bleiben und nebenbei noch einige nützliche Techniken zu erlernen. Die Schule lag nicht weit von zu Hause entfernt, so dass sie das kurze Stück nach dem Training noch fuhr, obwohl sie völlig verschwitzt war. Sie verausgabte sich dort häufig, denn sie liebte dieses Gefühl. Duschen wollte sie trotzdem zuhause.

Beim Eintreffen konnte sie nicht gleich erkennen, ob Matt schon dort war oder nicht, parkte aber vorsichtshalber vor dem Grundstück und nicht vor der Garage. Als sie das Haus betrat, fand sie es still vor und holte die Post aus dem Briefkasten. USPS hatte eine Benachrichtigung hinterlassen, dass ein Paket für Matt bei den Hendersons lagerte, deshalb ging Sadie gleich hinüber zu den Nachbarn und holte das Paket ab. Es war nur klein und Sadie fragte sich, was Matt sich bestellt hatte, legte es dann aber auf dem Esstisch ab und ging in die Küche.

Sie hatte gerade erst die Katzen gefüttert, als die Haustür geöffnet wurde und Matt Augenblicke später in der Küche erschien.

„Hey“, sagte er und lächelte erfreut, bevor er sie umarmte. Sadie wollte noch protestieren, aber dazu kam sie nicht mehr.

„Ich bin doch nassgeschwitzt“, murmelte sie über seine Schulter hinweg und traute sich kaum, seine Umarmung zu erwidern.

„Ach was. Du riechst unwiderstehlich gut“, behauptet er.

„Wenn du meinst“, sagte sie augenzwinkernd und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

„Ich hasse endlose Meetings“, murmelte Matt.

„Ich auch. Ich hasse Meetings generell. Aber sieh mal, dein Paket ist da.“

„Mein Paket?“, fragte Matt überrascht. Sadie deutete zum Tisch und er ging mit fragendem Gesicht hinüber. „Ich habe überhaupt nichts bestellt.“

„Vielleicht vorbestellt?“, fragte Sadie. Sie stellte sich neugierig neben Matt, während er das Paket öffnete. Zum Vorschein kam ein Aftershave von einer Marke, die ihr überhaupt nichts sagte.

„Aber von dir ist das nicht?“, fragte Matt, während er es herausholte und probeweise daran roch.

„Nein“, sagte Sadie und roch ebenfalls daran. Pikiert verzog sie das Gesicht.

„Von wem ist das?“, fragte sie.

„Ich habe keine Ahnung“, sagte Matt ehrlich erstaunt.

„Deine Schwester?“

Er schüttelte den Kopf. „Tammy schickt mir nichts ohne Ankündigung. Und auch nicht so etwas.“

Da musste Sadie ihm Recht geben. „Das passt auch nicht zu ihr.“

„Sieht irgendwie nach einer Verehrerin aus“, sagte Matt.

Irritiert runzelte Sadie die Stirn. „Eine Verehrerin? Lynn?“

„Ich weiß nicht“, sagte Matt. „Eigentlich denke ich, die Fronten sind geklärt, aber vielleicht stimmt das nicht.“

„Wer weiß? Ich meine, sie hat neben uns gesessen und es war ihr vollkommen egal.“

„Sie hat dich auch für eine Kollegin gehalten ... was du ja auch bist“, sagte Matt und seufzte.

„Ich bitte dich! Ich war heute auch mit einem Polizisten unterwegs und als er mir ein etwas ungeschicktes Kompliment gemacht hat, habe ich auch gleich mal nachgesehen, wie er das meint und an seiner Hand einen Ehering entdeckt.“

„Ich glaube nicht, dass sie es war.“

„Aber wer war es dann?“, fragte Sadie und verschränkte seufzend die Arme vor der Brust. Sie war es jedenfalls nicht gewesen, so viel stand fest. Ihr erster Gedanke war gleich Matts neue Kollegin gewesen, die seit ein paar Wochen in seiner Abteilung war und sich einen heftigen Fehltritt gleich in der ersten gemeinsamen Mittagspause geleistet hatte. Wie so oft hatten sie sich für ein abteilungsübergreifendes Mittagessen getroffen und Sadie hatte gleich neben Matt gesessen. Auch Cassandra und Jason waren zusammen dort gewesen und Lynn hatte sich auch mit ihnen angeregt unterhalten, weil sie gerade über die Möglichkeit gesprochen hatten, zusammenzuziehen. Allerdings hatte sie dann, Matts Ehering vollkommen ignorierend, an ihn die Frage gerichtet, ob sie nicht mal zusammen ausgehen könnten. Sadie hatte sich fast verschluckt, während Jason sich schwer zusammengerissen hatte, um nicht sein Essen über den Tisch zu prusten. Matt hatte im ersten Moment gar nicht gewusst, wie er reagieren sollte, aber dann hatte er mit Blick auf Sadie seine Hand mit dem Ehering gehoben und dezent darauf verwiesen, dass er längst vergeben war. Lynn hatte Mrs. Whitman noch lautstark beneidet, woraufhin Jason fast an seinem Essen erstickt war und Cassandra sich berufen gefühlt hatte, Lynn darüber aufzuklären, dass Mrs. Whitman mit am Tisch saß. Es war Lynn naturgemäß hochnotpeinlich gewesen und sie hatte sich etwa tausendmal entschuldigt, aber Sadie fand das immer noch nicht witzig. Wenn es um Matt ging, war sie ziemlich dünnhäutig und das wusste er auch. Lynn hatte es nicht böse gemeint und nicht besser gewusst, aber Sadie war sich ziemlich sicher, dass sie zumindest Matts Ehering bemerkt und beschlossen hatte, ihn zu ignorieren. Natürlich hatte sie da noch nicht geahnt, dass Matts Frau gleich daneben saß, aber Sadie wusste, mit der Frau würde sie keine Freundschaft mehr schließen.

„Irgendjemand legt sich hier mit mir an“, murmelte Sadie, drehte sich um und stapfte die Treppe hinauf. Oben im Schlafzimmer angekommen, riss sie sich die verschwitzte Kleidung vom Leib und wollte gerade auch die Unterwäsche ausziehen, um duschen zu gehen, als sie Matts Anwesenheit hinter sich in der Schlafzimmertür spürte. Sie hatte ihn weder gehört noch gesehen, aber sie wusste, er war da. Deshalb hielt sie inne und drehte sich um.

„Du weißt, ich würde nie ...“ begann er, aber dann fehlten ihm die Worte.

„Natürlich weiß ich das“, sagte Sadie. „Du hast mir nie einen Anlass gegeben, daran zu zweifeln. Aber Lynn hat mich wirklich verletzt.“

„Ich weiß. Trotzdem glaube ich, dass da noch jemand ist.“

„Noch jemand?“

Er seufzte tief. „Eigentlich wollte ich es dir nicht sagen, um dich nicht zu beunruhigen.“

Sadie spürte, wie ihre Anspannung zunahm. „Matt, was ist los?“

„Ich glaube, dass jemand ein Auge auf mich geworfen hat ... und das ist nicht Lynn.“

Sadie schluckte. „Was soll das heißen?“

„Es hat kurz nach unseren Ermittlungen in der Anschlagsserie begonnen“, sagte Matt. „Mich hat immer wieder ein anonymer Anrufer auf dem Handy angerufen. Die ersten Male bin ich noch drangegangen, aber dann habe ich mein Handy so eingestellt, dass es nur noch Anrufe von gespeicherten Kontakten annimmt. Hier zu Hause ist das nie passiert, vielleicht weiß derjenige unsere Nummer nicht. Daraufhin ging es im Büro weiter.“

„Hat denn jemand mit dir gesprochen?“, fragte Sadie.

Matt schüttelte den Kopf. „Nein, nie. Ich habe auch schon versucht herauszufinden, ob mich jemand verfolgt, aber bisher ist mir nichts aufgefallen. Letzte Woche ging es dann los, dass ich Post bekam. Bisher waren es drei Briefe.“

„Was für Briefe?“, fragte Sadie.

„Fotos“, präzisierte Matt und ging ums Bett herum zu seinem Nachttisch. Sadie beobachtete ihn dabei. Ihr war überhaupt nichts aufgefallen, sie hatte die Briefe nicht bemerkt und Matt hatte ihr auch nichts gesagt.

Wortlos drückte er ihr drei Briefumschläge in die Hand. Sie trugen keinen Absender, waren handschriftlich an Matt adressiert. Er hatte zuletzt meist die Post geholt, deshalb hatte sie die Briefe nie bemerkt. Er hatte sie gleich versteckt. Der schwungvollen Schreibweise der Buchstaben entnahm Sadie gleich, dass eine Frau die Adresse geschrieben haben musste. So schrieb kein Mann. Abgestempelt waren sie im Stadtgebiet von Los Angeles.

Aus dem ersten Brief zog Sadie zwei Fotos von Matt: Sein Mitarbeiterfoto vom Modesto PD und ein Foto von ihm auf der Pressekonferenz zu Martin Grimes. Sadie konnte noch ein Stück ihrer Schulter erkennen, weil sie neben ihm gesessen hatte, aber der Rest war abgeschnitten.

„Will dir jemand drohen?“, fragte sie leise.

„Hab ich auch erst gedacht“, sagte Matt. „Aber sieh dir den Rest an.“

Sadie zog ein Foto aus dem zweiten Brief, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es war Matts Mitarbeiterfoto vom FBI – und es war am Rand kitschig mit Herzen verziert. Eine handschriftliche Notiz lag ebenfalls im Umschlag: Ich werde dich immer lieben.

Für einen Moment vergaß sie zu atmen und griff in den letzten Umschlag. Auch dieser enthielt einige Fotos, die Matt allein beim Einkaufen auf dem Parkplatz eines Supermarktes gleich neben seinem Challenger zeigten oder mit Sadie auf dem Parkplatz des FBI. Sprachlos hob sie den Kopf und sah ihn an. Schweigend erwiderte er ihren Blick.

„Warum hast du nichts gesagt?“, platzte es aus ihr heraus.

„Weil ich dir keine Angst machen wollte, ohne zu wissen, was hier los ist.“

Sadie wollte schon etwas erwidern, aber dann musste sie einsehen, dass er recht hatte. Das traf sie auch jetzt unvermittelt mitten ins Herz. Ihr erster Gedanke war gewesen, dass ein Krimineller Matt verfolgte, ihm Angst machen und Rache für irgendetwas nehmen wollte – vielleicht jemand aus dem Dunstkreis von Joey Baker oder ähnliches. Aber das hier war etwas anderes. Hier war jemand verliebt.

„Und das kann nicht Lynn sein?“, fragte sie.

Matt schüttelte den Kopf. „Nein, aus einem ganz einfachen Grund: Das fing an, bevor Lynn bei uns war. Und ganz ehrlich, das traue ich ihr auch nicht zu.“

Sadie tat das ebenfalls nicht, wenn sie ehrlich war. Trotzdem beunruhigte sie das nun massiv.

„Du hättest es mir ruhig sagen können.“

„Ich weiß, ich hätte auch noch ... dieses Paket zeigt mir, dass es falsch war, dir nichts zu sagen. Aber ich habe es nicht fertiggebracht, dich damit zu beunruhigen.“

„Du bist mein Mann. Du kannst mir alles sagen“, entgegnete Sadie.

„Genau das ist doch das Problem. Ich kenne dich ... du reagierst empfindlich auf Dinge, die mich betreffen.“

„Schon, aber ich kann dir doch helfen.“

„Kannst du? Ich kann mir nicht mal selbst helfen. Ich weiß überhaupt nicht, wer dahinterstecken könnte ...“

Sadie blickte noch einmal auf den kleinen Zettel. „Ich werde dich immer lieben ... eine deiner Ex-Freundinnen?“

„Das würde ich keiner zutrauen.“

„Aber wenn man sich den Inhalt anschaut, dann klingt es sehr danach, als könntest du sie kennen. Als hätte sie dich früher schon geliebt und du sie vielleicht auch.“

Ungläubig starrte Matt sie an. Sadie stand bloß in Unterwäsche da, mit zerzaustem Haar, hielt die Umschläge und Fotos in der Hand und war gleich bei der Sache.

„Und ich dachte, du flippst aus, wenn du davon erfährst“, sagte er.

„Wegen Lynn?“, fragte Sadie, denn da hatte sie wirklich geradezu zickig reagiert. „Nein, das hier ist etwas anderes.“

„Finde ich auch. Ich gebe zu, mein erster Gedanke ging bei dem Paket gerade nicht in diese Richtung, aber das war wohl falsch. So wie meine Entscheidung, es dir nicht zu sagen.“ Matt seufzte. „Ich weiß einfach nicht, wie ich reagieren soll. Was soll ich jetzt tun?“

Das war eine gute Frage, auf die Sadie so schnell auch keine Antwort hatte. Weil Matt auf sie zu kam, blickte sie unsicher auf und leistete keine Gegenwehr, als er sie erneut umarmte und oberhalb der Stirn aufs Haar küsste.

„Ich liebe dich, Sadie. Allein für diese Reaktion ... Damit habe ich wirklich nicht gerechnet.“

„Es gibt hier ein Problem, das gelöst werden muss. Und das will ich jetzt versuchen.“

„Vielleicht solltest du erst mal duschen gehen“, sagte Matt. „Wenn du wüsstest, wie sehr ich mich gerade beherrschen muss ...“

Diese ehrliche Offenbarung brachte sie unfreiwillig zum Lachen. „Du kannst ja mit in die Dusche kommen.“

„Tolles Angebot, aber mein Hunger ist gerade größer ... ich denke, ich widme mich dem Salat und dann ist er fertig, wenn du wieder unten bist.“

„Klingt toll“, fand Sadie. Nachdem sie Matt einen Kuss gegeben hatte, verschwand sie im Bad und hörte, wie er nach unten ging, während sie sich die langen Haare hochsteckte und sich nun auch ihrer Unterwäsche entledigte. Unter der Dusche achtete sie darauf, dass ihr Haar nicht nass wurde. Sie hatte gerade keine Lust, es zu waschen und zu föhnen, das dauerte ihr zu lang und es war auch nicht wirklich nötig.

Eigentlich hatte sie auch Hunger und sie wollte schnellstmöglich wieder nach unten zu Matt. Beim Einseifen überlegte sie, was es mit dem seltsamen Geschenk an Matt auf sich hatte. Sie hatte nicht den Eindruck, dass er selbst wusste, um wen es hier gehen konnte.

Sie dachte noch an Catalina, aber so etwas traute sie ihr nicht zu. Catalina hätte sich etwas anderes einfallen lassen – wenn überhaupt. Seit sie im Zeugenschutz war, hatte Matt nichts mehr von ihr gehört, womit Sadie gut leben konnte. Sie hatte nichts gegen Catalina, aber sie wusste, dass die Mexikanerin Matt schon ein wenig angehimmelt hatte.

Das konnte Sadie ihr kaum verübeln. Matt sah gut aus, war ein ehrlicher Mensch, hatte Humor. Sadie liebte ihn über alles und sie war nicht bereit, das mit jemandem zu teilen.

Schließlich trocknete sie sich ab, holte sich neue Sachen und zog sich in Windeseile an. Sie traf pünktlich unten ein, als Matt den Salat auf den Tisch stellte. Das Aftershave war verschwunden. Er war klug genug, es Sadie aus den Augen zu schaffen, um sie nicht unnötig zu verletzen.

Ausgehungert fiel sie über den Cesar Salad her, den Matt flink selbst gemacht hatte. Sie liebte sein selbstgemachtes Dressing, deshalb machte er ihr immer wieder eine Freude damit. Ihr entging nicht, wie er sie beim Essen beobachtete.

„Was?“, fragte sie schließlich.

Er seufzte tief. „Ich habe jetzt wochenlang überlegt, was ich tun soll. Ob ich es dir sagen soll und wie. Die ständigen Anrufe waren unheimlich, aber nicht weiter besorgniserregend. Ich dachte an alles Mögliche – hauptsächlich an die Arbeit. Auch beim ersten Brief war das noch so. Ich habe die ganze Zeit überlegt, wer dahinterstecken könnte, bin aber zu keinem Schluss gekommen. Im Moment arbeite ich im Büro, ich mache mir keine Feinde. Mit dem zweiten Brief war mir dann klar, dass es darum überhaupt nicht geht.“

Sadie schüttelte den Kopf. „Nein, tut es nicht. Überleg dir mal die Reihenfolge: Erst war es ein älteres Foto von dir, mit dem man alles hätte sagen können. Das zweite ist schon viel eindeutiger. Man könnte jetzt überlegen, warum die Fotos in dieser Reihenfolge gewählt wurden, aber ich sehe da eine Chronologie. Diese Person will sagen, dass sie dich schon lange beobachtet – erst in Modesto, jetzt hier, und wenn man den dritten Brief dazunimmt, wird das auch unmittelbar und persönlich. Jemand hat uns verfolgt und wir haben es nicht gemerkt.“

Matt schüttelte den Kopf. „Es war albern von mir, es für mich zu behalten.“

„Ich habe auch, ehrlich gesagt, nichts davon bemerkt“, musste Sadie sich eingestehen. „Normalerweise merke ich dir alles Mögliche an.“

„Ich weiß, Special Agent Whitman.“

Vergnügt streckte sie ihm die Zunge heraus. „Nenn mich nicht so.“

„Bist du aber.“

„Du auch.“

Matt lachte, wurde dann aber wieder ernst. „Mein Problem ist, dass ich nicht weiß, was ich unternehmen soll. Faktisch betrachtet kann es nicht Lynn sein und das traue ich ihr auch nicht zu. Eins der Fotos von uns in dem Brief ist schon älter, da war Lynn noch gar nicht in der Stadt.“

„Ich glaube auch nicht an sie“, stimmte Sadie ihm zu.

„Bleiben meine Ex-Freundinnen ... aber keine von ihnen würde so etwas tun. Sie haben überhaupt keinen Grund. Meine letzte Beziehung vor dir ist schon drei Jahre her. Warum sollte sie jetzt damit anfangen?“

„Und eine Verehrerin von früher?“

„Habe ich auch überlegt, aber ganz ehrlich, mir fällt wirklich niemand ein. Das ist aber das Problem und auch deshalb wollte ich dir nichts sagen, weil ich ehrlich gesagt nicht weiß, was man jetzt tun kann. Wenn ich gar nicht weiß, wer es ist, wie soll ich dann etwas unternehmen?“

Sadie nickte nachdenklich, während sie im Salat herumpickte. „Du wolltest mich nicht beunruhigen, ohne dass wir überhaupt etwas tun können.“

„Richtig. Denn was soll ich jetzt machen? Soll ich zur Polizei gehen und mich darüber beschweren, dass mir jemand Briefe schickt? Irgendeine Handhabe braucht die Polizei auch.“

„Ja, aber es hat uns zumindest jemand beobachtet.“

„Auch das ist nicht wirklich strafbar.“

Das musste Sadie einsehen. Sie war lange genug Polizistin gewesen, um zu wissen, wie problematisch solche Fälle waren.

„Trotzdem würde ich sagen, dass dich hier jemand stalkt“, stellte sie fest.

Mit einem langsamen Nicken stimmte Matt ihr zu. „Ich hatte es befürchtet. Ich weiß, wie die Gesetzeslage dazu ist, aber ich weiß nicht, aus welchen Beweggründen jemand das tut. Was ist das Ziel dieser Person? Mir sind doch die Hände gebunden, wenn ich nicht weiß, wer es ist.“

Da musste Sadie ihm zustimmen. Faktisch gesehen war noch nichts passiert, bei dem die Polizei hätte aktiv werden können und wenn sie noch nicht einmal jemanden verdächtigen konnten, waren sie erst einmal zum Nichtstun verdammt. Allmählich verstand Sadie, warum Matt es ihr nicht gesagt hatte. Jetzt war sie beunruhigt und wütend, weil sie nichts unternehmen konnte.

„Ich könnte dir viel über Stalking erzählen, über die verschiedenen Stalkertypen, ihre Beweggründe, alles Mögliche. Aber für unseren konkreten Fall fehlen mir noch Anhaltspunkte. Gibt es denn dein Mitarbeiterfoto noch beim Modesto PD?“, fragte Sadie.

„Das ist eine gute Frage. Ich gehe nicht davon aus, eigentlich müsste es schon seit zwei Jahren dort nicht mehr zu finden sein.“

„Wenn das so ist, hat dich aber jemand schon lange im Visier.“

Matt nickte ernst. „Das hatte ich befürchtet.“

„Lynn ist definitiv raus. Erinnerst du dich an irgendjemanden aus Modesto? Warst du mal aus und hast jemandem beim Flirten einen Korb gegeben? Gab es mal jemanden, der in dich verliebt war, den du aber nicht wolltest?“

„Ehrlich, ich denke schon die ganze Zeit darüber nach, aber ich habe absolut keine Ahnung. Ich weiß es nicht, Sadie. Was soll ich jetzt machen?“

„Wir machen das zusammen“, sagte Sadie. „Zur Not warten wir einfach die nächsten Briefe ab und alles, was sie tun wird. Irgendwann wird sie uns mehr über sich verraten.“

Matt seufzte unglücklich. „Ich hatte gehofft, du könntest ein Profil erstellen ...“

Sadie grinste halb belustigt. „Nein, würde ich gern, aber das reicht noch nicht. Ich kann dir sagen, dass diese Frau kein großes Selbstbewusstsein hat, denn sonst würde sie dich nicht heimlich bespitzeln, dich anrufen, ohne etwas zu sagen und überhaupt nicht so ein großes Geheimnis um ihre Identität machen. Und ja, sie kennt dich schon länger und scheint ziemlich  vernarrt in dich zu sein, aber mehr weiß ich nicht. Nichts, was uns hilft. Vielleicht kommt wirklich mehr, dann sage ich dir, an wen du denken musst.“

„Okay“, sagte Matt. Er hatte bereits aufgegessen. Als auch Sadie fertig war, stand er auf und blieb mit erwartungsvoller Miene vor ihr stehen. Mit fragendem Blick stand Sadie auf und lächelte verstehend, als er sie umarmte und fest an sich drückte.

„Danke, Sadie“, sagte er. „Ich liebe dich wahnsinnig. Du bist einfach nicht wie andere Menschen.“

Sie lachte überrumpelt. „Wie kommst du jetzt darauf?“

„Bei Lynn warst du so eifersüchtig. Ich dachte, das wärst du jetzt auch.“

„Nein, hier gibt es etwas zu tun. Du hast ein Problem und das lösen wir gemeinsam!“

Mit einem glücklichen Lächeln nahm Matt sanft ihren Kopf in die Hände und küsste sie hingebungsvoll.

 

Donnerstag

 

„Das zweite Opfer ist so gut wie identifiziert“, erzählte Nathan Sadie gleich am nächsten Morgen. Sie waren gerade losgefahren, als er begann, sie auf den neuesten Stand zu bringen.

„Ist ja klasse“, sagte Sadie.

„Roy und ich haben die Angehörigen der Vermissten nach dem Armbruch gefragt und die Mutter eines jungen Mannes erinnerte sich sofort. Im Augenblick läuft der DNA-Test, zahnärztliche Unterlagen gab es keine. Aber ich denke, er ist es. Spätestens morgen wissen wir mehr.“

„Und das erste Opfer?“

„Ein Forensiker ist dran. Einige zahnärztliche Unterlagen von Vermissten haben wir schon, die anderen kommen bestimmt heute. Er gleicht jetzt die Gebisse miteinander ab. Und was hast du noch herausgefunden?“

Auf ihrer Fahrt nach Lancaster erzählte Sadie Nathan von ihren Recherchen am Vortag. Sie konnte ihm auch über John Wayne Gacy und Jeffrey Dahmer einige Dinge erzählen, die neu für ihn waren. Besonders ihre Ausführungen über Amnesie und die dissoziative Identitätsstörung interessierten ihn sehr.

„Ich habe den Fall Manning gestern auch noch mal genau untersucht“, sagte er. „Dabei habe ich mich gefragt, ob man nicht an den zeitlichen Abständen zwischen den Taten etwas ablesen kann, aber leider hat er nicht sehr regelmäßig gemordet.“

Sadie grinste. „Auf die Art wollte ich meinem Vater schon ein Bein stellen.“

„Ach was. Wie das?“

„Du erinnerst dich, wie ihm vor zwei Jahren plötzlich eingefallen ist, dass er noch fünf weitere Opfer irgendwo verscharrt hat? Die Bekanntgabe ihrer Verstecke hat er an die Bedingung geknüpft, dass ihm die Todesstrafe erlassen wird.“

„Ja, das weiß ich noch“, sagte Nathan.

„Ich habe damals die Staatsanwaltschaft in Portland angerufen und ihnen sechs Namen von Vermissten genannt, die als Opfer in Frage gekommen wären. Das hat ihnen aber irgendwie nicht gereicht und er hat seinen Deal bekommen.“

Nathan pfiff anerkennend durch die Zähne. „Du wolltest also nicht, dass deinem Vater die Giftspritze erspart bleibt.“

„Nein“, sagte Sadie kalt. „In der Nacht, in der er meine Familie umgebracht hat, ist er völlig ausgerastet. Ich habe gesehen, wie er meiner Mutter in den Kopf geschossen und meine Schwester vergewaltigt hat. Dann hat er noch meinen siebenjährigen Bruder erschossen und hinterher Jagd auf mich gemacht. Nein, ich fand immer, er hatte die Todesstrafe verdient.“

„Kann ich verstehen“, sagte Nathan. „Also hast du dir damals dieselben Gedanken gemacht wie ich jetzt.“

„Ja, weil mein Vater in schöner Regelmäßigkeit gemordet hat. Er hat später zu mir gesagt, sein Versteck sei zwischendurch nie lange leer gewesen. Also habe ich die Zeiträume, in denen es vermeintlich keine Opfer gab, mit Vermisstenanzeigen abgeglichen und auch die fünf Frauen gefunden, die er tatsächlich noch ermordet hat.“

„Nicht schlecht. Ungefähr das habe ich mir jetzt auch vorgestellt, aber das klappt leider nicht. Hattest du denn damals keine Angst, dass man dich erkennt?“

„Ein wenig vielleicht ... aber mir war wichtig, dass er im Todestrakt bleibt.“

„Wie ... nein, vergiss es.“

„Was denn?“, fragte Sadie.

„Ich wollte dich etwas fragen, aber das klingt ganz schön blöd.“

„Frag einfach.“

Seufzend sah Nathan sie an, aber dann nahm er sie beim Wort. „Ich habe mich gefragt, wie du empfunden haben musst, als du ihn wiedergesehen hast.“

Ein verlegenes Lächeln zuckte über ihre Lippen. „Mir ist fast das Herz stehengeblieben. Ich war mit Matt bei meinem Onkel im Haus, dort hat er uns aufgelauert. Er hat draußen auf Matt gewartet, ihm eine Waffe an den Kopf gehalten und mich so gezwungen, zu tun, was er will. Das war verrückt ... ich hatte entsetzliche Angst vor ihm, aber er war auch mein Vater. Das ist schwer zu beschreiben. Ich war hin- und hergerissen zwischen bodenloser Furcht und einer gewissen Vertrautheit. Das war ja der Mann, der mir früher auch Gutenachtgeschichten erzählt hat. Vielleicht, bevor er in sein Versteck im Wald gefahren ist, ich weiß es nicht.“

Nathan nickte verstehend. „Und er hat dir nie gesagt, dass er noch einen Sohn hat? Wusste er es denn?“

Sadie nickte. „Sean hat mir ein Foto von unserem Vater und seiner Mutter gezeigt, ein Foto mit ihm. Da war er gerade ein paar Tage alt. Doch, mein Vater wusste das ... es war ihm nur egal.“

„Warum hat er dich entführt?“

„Gute Frage“, sagte Sadie und seufzte. „Das wird wohl anfangs nicht mehr als eine morbide Neugier gewesen sein. Ich habe ihm angemerkt, dass er nicht wirklich darauf vorbereitet war, wie es sein würde. Anfangs hat er wirklich nur seine Tochter gesucht, glaube ich. Erst, als ich vor ihm stand, ist ihm klar geworden, dass da eine Frau vor ihm steht. Ich habe total in sein Beuteschema gepasst.“

„Puh“, machte Nathan und atmete tief durch. „Ganz schön beschissen.“

Sadie grinste. „Zum Glück ist nichts passiert. Ich habe ihm einen Tritt ihn die Weichteile verpasst, als es brenzlig wurde.“

Überrascht hob Nathan die Augenbrauen. „Und das erzählst du einfach so ... das war dein Vater. Das ist ziemlich widerwärtig.“

„War es auch. Mein Vater war ein kranker Mistkerl.“

Das konnte Nathan sich lebhaft vorstellen. Bis zu ihrer Ankunft in Lancaster wechselten sie jedoch das Thema und Nathan erzählte ein wenig von der Polizeiarbeit in Downtown. Für Sadie war das spannend zu hören, sie hatte es ja nie in den gehobenen Polizeidienst geschafft und ihre Arbeit beim FBI war nicht ganz so unmittelbar wie seine. Dabei hatte sie nicht das Gefühl, ein Schreibtischtäter zu sein. Sie war auch oft genug draußen und in gefährliche Aktionen verwickelt.

Sadie unterhielt sich gern mit Nathan, er war ein sehr guter Gesprächspartner, interessiert und einfühlsam. So verging die Fahrt zum Antelope Valley State Prison wie im Flug. Dort angekommen, ließen sie sich durchsuchen und wurden erneut zu Manning gebracht. Man führte sie wieder in denselben Raum, in dem sie auch zwei Tage zuvor schon gesessen hatten. Dort mussten sie nicht lange warten.

Mit indifferentem Gesichtsausdruck nahm Carter Manning ihnen gegenüber Platz. Die Ketten wurden an einem Ring am Tisch befestigt. Er machte eine gleichmütige Miene und ließ es emotionslos über sich ergehen. Als die Wärter die Tür hinter sich geschlossen hatten, wandte er sich sofort Sadie zu.

„Sie sind ja mit allen Wassern gewaschen, Special Agent Whitman. Oder soll ich lieber Kim Foster sagen?“

Sadie verzog keine Miene, ebensowenig wie Nathan. Sie hatte das Gefühl, dass Manning das zur Kenntnis nahm. Er beobachtete sie genau.

„Hatten Sie Computerzugang?“, fragte sie ungerührt.

Er nickte. „Die FBI-Agentin Sadie Scott hat David Blackwood erschossen. Und sie wurde auch vom Pittsburgh Strangler enttarnt. Warum haben Sie mir nicht gesagt, wer Sie sind?“

„Weil ich hier keine Rolle spiele.“

„Oh, das finde ich aber schon. Ich kenne mein Gegenüber gern. Wissen Sie, warum ich neugierig geworden bin?“

„Sie werden es mir jetzt bestimmt sagen.“

„Weil Sie sagten, Sie kennen möglicherweise mehr Serienmörder als ich. Sie sind achtundzwanzig, aber Sie haben früh angefangen. Ihr Vater ist der Grund dafür, dass Sie zum FBI gegangen sind, nicht wahr?“

„Mr. Manning, wir sind nicht hier, um über mich zu sprechen“, sagte Sadie.

„Oh, das interessiert mich aber brennend! Ich habe vorgestern gesehen, wie Sie zusammengezuckt sind, als ich beschrieben habe, wie es sich anfühlt, jemanden zu würgen. Sie kennen die andere Seite, nicht wahr?“

„Schluss jetzt“, ging Nathan knurrend dazwischen. Überrascht sah Manning ihn an.

„Wir plaudern doch nur, Detective. Dass Sie nicht überrascht sind, sagt mir, dass Sie es wussten.“

„Agent Whitman ist meine Kollegin. Könnten wir den Unfug jetzt lassen?“

„Ach, verdammt! Was denken Sie, wie oft ich hier interessanten Besuch bekomme?“, beschwerte Manning sich.

Sadie sah ihn solange an, bis er seinen Blick wieder auf sie lenkte und sie ansah. Trotzdem war er mürrisch.

„Lassen Sie uns reden“, schlug Sadie vor.

„Wir reden doch.“

„Über Sie, Mr. Manning. Wir wissen nun mehr über die beiden Toten aus den Bergen. Sie waren beide um die zwanzig, einer ist so gut wie identifiziert.“

„Haben Sie Namen?“, fragte Manning.

„Bisher nicht. Warum, erinnern Sie sich?“

Manning schüttelte den Kopf. „Wann sind sie gestorben?“

„Vor etwa zehn Jahren“, sagte Nathan.

„Genau zu meiner Jagdzeit.“

„Deshalb sind wir ja hier“, sagte Sadie. Sie beobachtete Manning genau, interessierte sich für seine Reaktionen und sein gesamtes Verhalten. Sie wollte wissen, ob er sie anlog oder nicht. Mit wem hatte sie es hier zu tun?

„Sagen Sie, Mr. Manning ... oder darf ich Sie Carter nennen?“

Er setzte ein charmantes Lächeln auf. „Dürfen Sie, Agent Whitman. Ich mag Sie.“

Sadie reagierte nicht auf dieses zweifelhafte Kompliment. „Wann haben Sie begonnen, sich für andere Serienmörder zu interessieren? War das vor oder nach Ihrem ersten Mord?“

„Das war danach“, sagte Manning. „Allerdings hat es nicht lang gedauert. Das war mehr so ein Prozess, aber begonnen habe ich damit gleich nach Ricos Tod.“

„Was war der Grund dafür?“

„Ich war gleichermaßen abgestoßen und fasziniert von dem, was ich getan hatte. Ich habe festgestellt, dass ich sexuelle Handlungen an Leichen erregend finde und habe mich gefragt, warum das so ist und ob ich damit allein bin. Über einen gewissen Zeitraum habe ich mich schlau gemacht und ja, ich habe mich inspirieren lassen.“

„Ich würde sagen, Sie haben sich von John Wayne Gacy Anregungen geholt.“

„Durchaus“, bestätigte Manning. „Das Erste, was ich übernommen habe, war die Garotte. Auf die Idee, mir auch die Badewanne zunutze zu machen, bin ich erst später gekommen. Das hat sich entwickelt.“

„Und die Idee, Leichenteile zu konservieren?“, fragte Sadie weiter.

„Jeffrey Dahmer“, sagte Manning knapp. „Kannibalismus konnte ich mir nie vorstellen, wenn Sie es wissen wollen, aber die Schönheit des Todes zu konservieren war eine Idee, die mir gefiel. Dass mir ausgerechnet das den Hals brechen würde.“

„Jeder hat seine Präferenzen“, sagte Sadie. „Auch wenn Sadismus bei Ihnen nicht dazugehört.“

„Nun, später schon“, sagte Manning zu ihrer absoluten Überraschung. Im Augenwinkel sah sie, wie Nathan zusammenzuckte und einhaken wollte, aber sie hob die Hand, so dass nur er es sehen konnte und Nathan schwieg daraufhin.

„Hat das Leid Ihrer Opfer Sie sexuell erregt?“, fragte Sadie.

„Schon. Ich wollte mir das nicht eingestehen, aber so war es.“

„Sie haben Ihre Opfer aber nicht als Persönlichkeiten betrachtet.“

„Nein, sie waren ein Mittel zum Zweck. Bis zum Prozess kannte ich nicht einmal all ihre Namen. Sie haben mich auch nicht interessiert.“

„Was, wenn Sie die gerade gefundenen Opfer einfach nur vergessen haben?“, platzte es aus Nathan heraus.

„Sie machen mir Spaß“, sagte Manning kopfschüttelnd.

Sadie beeilte sich, wieder etwas zu sagen. „Wenn Sie einen Menschen stranguliert haben, haben Sie sich mächtig gefühlt, nicht wahr?“

„Und wie. Ich nehme an, Sie kennen meine Diagnosen. Ich war nie gesellig oder ein Menschenfreund, Tote waren mir oft lieber als Lebende. Manchmal dachte ich, es ist ein Geschenk für diejenigen, die ich getötet habe. Der Tod, meine ich. Dieser friedliche Zustand.“

Sadie achtete auf jedes Wort, das er sagte, vor allem auch die Art und Weise. Zwei Tage zuvor hatte er sich noch vehement gegen Sadismus verwahrt, nun stellte er ihn nicht mehr in Abrede. Er hatte sie auch sehr viel konfrontativer begrüßt, als sie zuvor erwartet hätte.

Aber war das ein Beweis für irgendwas? Hatte er mehrere Persönlichkeiten? Sprach sie gerade mit einer anderen?

„Ich habe gestern einiges über Ihren Vater gelesen“, wechselte Manning unverhofft das Thema. „Hat er Ihnen bewiesen, warum man ihn den Oregon Strangler genannt hat?“

„Das lässt Ihnen keine Ruhe, oder?“, erwiderte Sadie kühl.

„Ich verstehe nicht seine Faszination für das weibliche Geschlecht, da muss ich passen. Aber die Narbe da ...“ Er deutete auf seinen eigenen Hals. „Stammt die von ihm?“

„Nein, tut sie nicht. Ich habe meinen Vater gehasst, wenn Sie es wissen wollen.“

„Hat er Ihnen seine Motive erklärt?“

„Ich weiß nicht, warum er seinerzeit mit dem Morden begonnen hat. Das habe ich ihn nicht gefragt. Er hat mir erzählt, was er daran so genossen hat und das war ähnlich wie bei Ihnen“, sagte Sadie. Ihm das mitzuteilen, kostete sie schließlich nichts.

„Ich hatte nichts anderes erwartet.“

Bevor er die nächste Frage stellen konnte, kam Sadie ihm zuvor. „Sie haben damals Donnie Tyler das Gesicht vom Schädel geschnitten. War das nicht wahnsinnig mühselig?“

Manning nickte überrascht. „Das kann man so sagen. Können Sie sich das vorstellen?“

Sadie schüttelte den Kopf. „Ich habe das nie versucht, wie Sie sich denken können.“

Sie spürte Nathans fragenden und verständnislosen Blick auf sich, aber sie fragte aus einem bestimmten Grund. Diese gezielten Fragen sollten eine Reaktion bei Manning provozieren. Sie wollte sehen, ob er etwas abblockte oder sehr darauf einging.

„Sie haben aber auch schon getötet, Agent Whitman.“

Sadie nickte. „Ich habe Menschen erschossen, ja.“

„Hat Ihnen das etwas ausgemacht?“

„Nicht sehr“, sagte sie ehrlich. „Blackwood hat wie ein Wahnsinniger auf uns geschossen, vom Streifenwagen war hinterher nicht mehr viel übrig. Das war eine einfache Frage: Er oder wir.“

„Sie empfinden also nichts, wenn Sie Menschen töten.“

„Sollte ich?“, fragte Sadie. „Ich habe keine sadistische Ader. Auch nicht, weil mein Vater ein Serienmörder war. Das fehlt mir einfach. Beschreiben Sie mir doch, wie sich das anfühlt.“

„Was, Sadismus?“, erwiderte Manning, woraufhin Sadie nickte.

„Das kann ich nicht, ich bin kein Sadist“, sagte er. Nathan versuchte, Sadie nicht allzu überrascht anzustarren. Auch sie ließ sich nicht anmerken, was sie dachte. Allmählich wurde sie wirklich misstrauisch.

„Aber die Strangulation eines Opfers ist unmittelbar, sie ist persönlich, intim. Egal war es Ihnen also nicht“, sagte sie.

„Ganz und gar nicht“, sagte Manning. „Jedes meiner Opfer war wertvoll für mich.“

„Haben Sie sich je gefragt, wie es sich für Ihre Opfer anfühlt, stranguliert zu werden?“, fragte Sadie. Ihr war, als husche ein manisches Lächeln über Mannings Gesicht.

„Keine Ahnung, ehrlich gesagt ... warum fragen Sie?“

„Wollen Sie es wissen?“

„Sadie ...“ mischte Nathan sich von der Seite ein, aber sie hörte nicht zu. Sie war damit beschäftigt, Manning anzustarren, der mit einem geradezu diabolischen Ausdruck zurückstarrte.

„Sie können mir das beschreiben?“

„Kann ich“, sagte Sadie.

„Lass es sein“, raunte Nathan ihr zu. Sadie hatte das jedoch nicht vor, denn sie hatte Manning da, wo sie ihn haben wollte. Jetzt wollte sie seine Reaktion sehen.

„Anfangs ist da nur Panik“, sagte sie. „Man kämpft, man wehrt sich gegen seinen Angreifer. Irgendwann verschwimmt die Sicht. Wenn es anfängt, in der Lunge zu brennen, kriegt man Todesangst. Es tut natürlich weh ... und man steht total unter Strom.“

„Das ist auch der Grund, weshalb Menschen sich selbst würgen, oder? Autoerotische Spiele ... das sorgt für einen Kick.“

Sadie spürte, dass ihre Handflächen schweißnass waren. „Da kann ich nun wieder nicht mitreden.“

„Wer hat das bei Ihnen getan? Ihr Vater?“

Sie nickte schnell, denn sie wollte die Rede nicht auf Sean bringen.

„Das muss er sehr genossen haben“, sagte Manning.

„Kann sein“, sagte Sadie. „Jedenfalls hat er so ausgesehen.“

Sie konnte sich gut daran erinnern, wie Sean sie dabei angesehen hatte. Er hatte ruhig, zufrieden, völlig gelöst gewirkt. Es hatte ihm Spaß gemacht. Manchmal hatte er auch einen geradezu besessenen Ausdruck angenommen – genau wie Manning in diesem Moment. Er saugte jedes ihrer Worte in sich auf. Diesen Ausdruck kannte sie von Sadisten.

Sie blieb bei dem Thema und fragte Manning darüber aus, wie er seine Opfer dominiert und gewürgt hatte. Er erzählte es ihr bereitwillig und äußerte sich dabei exakt so, wie ein Sadist es tun würde. Was diesen Standpunkt betraf, switchte er immer wieder. Sadie ließ ihn reden, hörte ihm zu, ließ sich auch schildern, wie er Donnie Tyler hinterher sorgfältig das Gesicht vom Schädel geschnitten hatte. Nathan neben ihr wurde bald ziemlich unruhig, es war für ihn grenzwertig, sich das anzuhören.

„Und Sie erinnern sich wirklich an kein anderes Opfer mehr?“, fragte Sadie schließlich unvermittelt.

„Nein“, beharrte Manning. „Sie können mir glauben.“

Das tat sie nicht, aber sie sagte nichts dazu. „Sie haben damals sehr mit sich gehadert, als Ihnen Ihre Homosexualität bewusst wurde. Woran lag das?“

„Wir sind hier nicht in San Francisco, Agent Whitman. Es gibt immer noch Menschen, die sich damit schwer tun.“

„Ihr Vater zum Beispiel?“, fragte Sadie.

Manning nickte. „Er fand das stets unmännlich.“

„Das hat mit Sicherheit nicht nur zu inneren Konflikten bei Ihnen geführt.“

Über diese Formulierung lächelte Manning. „Sie haben aber auch Psychologie studiert.“

„Habe ich“, sagte Sadie knapp. „War Ihr Vater gewalttätig?“

Manning schüttelte den Kopf. „Er war streng, aber er hat zu Hause niemanden geschlagen, weder mich noch meine Mutter.“

„Gab es ein anderes prägendes Erlebnis in Ihrer Kindheit, so wie den Tod Ihrer Großmutter? Vielleicht etwas, das Ihnen zu schaffen gemacht hat?“

„Wir sind jetzt aber nicht bei dem üblichen Gerede von der schweren Kindheit, oder?“

„Nein“, sagte Sadie kopfschüttelnd. „Ich versuche nur, Sie zu verstehen und einen Auslöser für Ihr Verhalten zu finden.“

„Ich kann mich nur an meine Großmutter erinnern.“

„An nichts sonst?“

„Woran dachten Sie?“

„Eine traumatische Erfahrung“, sagte Sadie. „Etwas, mit dem Sie nur schwerlich zurechtgekommen sind.“

„Da muss ich passen, Agent Whitman. Tut mir leid.“

„In Ordnung“, sagte Sadie und nickte Nathan zu. „Für heute wäre ich fertig.“

„Ich auch“, stimmte Nathan mit Grabesstimme zu und stand auf, um an der Tür zu klopfen.

„Das kommt plötzlich“, sagte Manning. „Sie gehen schon wieder?“

„Wir kommen zurück, wenn wir wissen, wer die Toten sind“, sagte Sadie. Gemeinsam mit Nathan verabschiedete sie sich höflich von Manning und trat den Weg nach draußen an. Als sie das Gebäude verließen und zum Parkplatz gingen, blieb Nathan stehen und atmete tief durch.

„Das war ziemlich abartig“, sagte er. „Ich hätte nicht gedacht, dass du das tun würdest – deine eigene Erfahrung einsetzen.“

„Ist nicht das erste Mal.“

Ungläubig schüttelte er den Kopf. „Aber ... wieso?“

„Weil es funktioniert“, sagte Sadie. „Du siehst ja, wie schnell solche Typen in Plauderlaune geraten. Er interessiert sich ja nicht aus Mitgefühl dafür, wie sein Opfer empfindet. Dabei kann er sich wieder mächtig fühlen, das gefällt ihm.“

„Aber du ...“ Nathan schüttelte den Kopf. „Das ist dir passiert. Du bringst es fertig, deine eigene Geschichte für einen Fall zu verkaufen?“

Sadie seufzte. „Dir ist doch aufgefallen, dass er immer wieder geswitcht hat, oder?“

„Geswitcht?“, fragte Nathan und klang immer noch ziemlich verständnislos.

„Es ist alles okay“, sagte Sadie und lächelte, um ihn zu beruhigen. Das hatte ihn regelrecht mitgenommen. Skeptisch blinzelte er zu ihr und schüttelte den Kopf.

„Das war vollkommen verrückt.“

„Ich war nicht überrascht, dass er mich ausspioniert hat. Ich hätte nicht gedacht, dass er es so schnell herausfindet, aber dass er es herausfindet, war mir klar. Aus Erfahrung kann ich dir sagen, dass es dann nur noch einen Fluchtweg gibt: nach vorn.“

„Vielleicht muss ich mich einfach dran gewöhnen.“ Mit undeutbarem Gesichtsausdruck ging Nathan voran zum Auto und setzte sich auf den Fahrersitz. Sadie ließ ihn in Ruhe, während er losfuhr und sich auf den Rückweg zum Highway machte. Das Schweigen währte jedoch nicht lang.

„Warum hast du das gemacht?“, fragte Nathan.

„Weil er sich vorhin verraten hat“, sagte Sadie. „Du erinnerst dich, wie vehement er am Dienstag noch abgestritten hat, ein Sadist zu sein ... und vorhin hat er es freimütig zugegben.“

„Ich hätte ja fast was gesagt. Ich habe dann schnell gemerkt, dass das keine so gute Idee gewesen wäre.“

„Nein, gar nicht. Ich wollte ihn nicht auf diesen Widerspruch aufmerksam machen.“

„Sagt dir das denn irgendwas?“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739378299
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Juni)
Schlagworte
Profiling Profiler Psychothriller Thriller Entführung Spannung FBI Stalking Krimi Ermittler

Autor

  • Dania Dicken (Autor:in)

Dania Dicken, Jahrgang 1985, schreibt seit ihrer Kindheit. Die in Krefeld lebende Autorin hat in Duisburg Psychologie und Informatik studiert und als Online-Redakteurin gearbeitet. Mit den Grundlagen aus dem Psychologiestudium setzte sie ein langgehegtes Vorhaben in die Tat um und schreibt seitdem Psychothriller mit Profiling als zentralem Thema.
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Titel: Die Seele des Bösen - Besessenheit