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Die Seele des Bösen - Unter Verdacht

Sadie Scott 11

von Dania Dicken (Autor:in)
305 Seiten
Reihe: Sadie Scott, Band 11

Zusammenfassung

Auch in ihrem neuen Fall arbeitet Sadie mit LAPD-Detective Nathan Morris zusammen. Der Polizist bittet die FBI-Profilerin um Hilfe, als eine Edelprostituierte ermordet in einem Hotelzimmer aufgefunden wird. Sadie erkennt schnell, dass die widersprüchlichen Indizien am Tatort auf einen zweiten Täter hindeuten – ohne zu ahnen, in welche Kreise die Ermittlungen sie führen werden. Auch privat ist Sadie gefordert, denn die Begegnung mit seiner Stalkerin hat Matt verändert. Sadie macht sich große Sorgen um ihren Mann, der sich schweigsam und zurückgezogen gibt. Während sie sein Verhalten anfänglich auf die zurückliegenden Ereignisse schiebt, wird ihr irgendwann klar, dass Matt etwas vor ihr verbirgt …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Mittwoch

 

„Bald ist ja auch schon wieder Thanksgiving.“ Cassandra seufzte dramatisch, was Sadie ein Lachen entlockte.

„So schlimm? Ein paar Wochen Schonfrist haben wir ja noch.“

„Ja, schon klar ... Das ist der einzige Nachteil daran, dass ich jetzt hier arbeite. Der Flug nach New Jersey dauert ewig.“

„Ich verstehe dich nur zu gut“, sagte Sadie, während sie ihren Rechner herunterfuhr und nach ihrer Tasse griff.

„Und wofür? Damit meine Stiefmutter meinen Vater wieder anzickt und Brad sich volllaufen lässt.“ Cassandra stieß, den Kopf in die Hände gestützt, einen weiteren Seufzer aus und brachte Sadie so zum Lachen.

„Du könntest kneifen.“

„Dann werde ich bestimmt enterbt. Nein ... ich werde mich wohl fügen müssen.“ Mit diesen Worten fuhr Cassandra ebenfalls ihren Rechner herunter und folgte Sadie in die Küche, wo sie ihre Tassen in die Spülmaschine stellten. Zurück an ihrem Schreibtisch griff Sadie nach ihrer Tasche, verabschiedete sich von Cassandra und lief die zwei Stockwerke nach unten über die Treppe. Dort angekommen, kreuzten bereits einige von Matts Kollegen ihren Weg. Sie wartete, bis sie das Büro seiner Abteilung betreten konnte und ging hinüber zu seinem Schreibtisch. Darunter stand ein Hocker, den er für seinen Fuß brauchte. Gerade war er dabei, nach seinen Krücken zu greifen und mit ihrer Hilfe aufzustehen. Jason stand daneben und wollte seine Hilfe anbieten, aber Matt schüttelte schon im Voraus den Kopf.

„Da ist deine Frau“, sagte Jason. Matt hob den Kopf und lächelte kurz, dann hatte er es geschafft und stand mit den Krücken. Er spekulierte darauf, den Gips in der Folgewoche loszuwerden. Das wurde auch mal Zeit, wie Sadie fand. Inzwischen trug er ihn schon seit fast fünf Wochen und regte sich jedes Mal beim Duschen fürchterlich auf.

Es war nun schon die zweite Woche, in der er wieder arbeiten ging. Sobald der Arzt seine Blutwerte nicht mehr für allzu bedenklich gehalten hatte, hatte Matt darauf gedrängt, wieder als arbeitsfähig eingestuft zu werden. Der Gips hielt ihn ja nicht wirklich davon ab, ins Büro zu gehen und für den Arbeitsweg sorgte Sadie. Sie selbst war auch froh, dass er wieder arbeiten ging, denn während seiner Krankschreibung war er ziemlich unleidlich gewesen. Das konnte sie gut verstehen, sie kannte es auch von sich selbst.

„Hey, Sadie“, sagte Jason zu ihr. „Bis morgen.“

„Bis morgen“, erwiderte Matt und folgte ihm in Sadies Richtung. Gemeinsam gingen sie zur Tür, die Sadie vorausschauend für ihn aufhielt. Gemeinsam gingen sie zum Aufzug, wo sie Jason wieder begegneten. Als die Aufzugtüren sich öffneten, machten die Leute im Aufzug Platz für Matt. Er fing sich manchmal fragende Blicke ein, weil er mit Krücken und Gips im Büro erschien, aber das prallte einfach an ihm ab.

Als sie das Gebäude verließen, entdeckte Sadie Cassandra auf dem Parkplatz und winkte ihr zu. Sie ging langsam voraus zum Challenger, für den Matt im Augenblick völlig unerschrocken eine Sonderparkgenehmigung unweit des Gebäudes beantragt hatte, und Sadie nahm ihm die Krücken ab, als er auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte. Nachdem sie die Krücken in den Kofferraum gelegt hatte, stieg sie ebenfalls ein und fuhr los. Sie hatten den Parkplatz noch nicht verlassen, als Matt kommentarlos die CD wechselte und danach wieder aus dem Fenster starrte.

„Und, wie war dein Tag?“, fragte Sadie ins Schweigen hinein, während Monster Magnet aus den Lautsprechern schallte.

„Normal“, erwiderte Matt knapp.

„Klingt ja nicht sehr aufregend.“

„War es auch nicht.“

„Für Aufregung ist es vielleicht auch noch etwas zu früh.“

„Oh, so ein bisschen Abwechslung würde nicht schaden. Ich würde gern wieder raus auf die Straße, aber das geht ja nicht.“ Matt starrte auf seinen Gipsfuß und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Geduldig warst du ja noch nie“, stellte Sadie augenzwinkernd fest, während sie die Auffahrt zum Freeway nahm.

„Nein, vor allem nicht bei so etwas. Ich vermisse meine Arbeit.“

Sadie nickte nur. Sie konnte ihn verstehen, nur helfen konnte sie ihm nicht.

Durch den dichten Verkehr schlängelte sie sich nach Hause. Es war jetzt fast fünf Wochen her, dass Matt beinahe verblutet wäre, was er nach seiner Schussverletzung im Vorjahr mit Fassung trug. Dass er in Lebensgefahr geschwebt hatte, machte ihm nichts aus. Was ihn wurmte, waren die ganzen Umstände dahinter.

„Ich freue mich auf heute Abend“, versuchte Sadie, das Gespräch wieder aufleben zu lassen.

„Wird bestimmt nett“, stimmte Matt zu.

Sie seufzte leise und gab es auf. Sie konnte ihn wirklich verstehen, aber er machte es ihr auch nicht gerade leicht. In manchen Momenten bemühte er sich redlich, in anderen hatte sie keine Chance. Gerade war es wieder soweit.

Sie brachten den Heimweg schweigend hinter sich. Zu Hause angekommen, reichte Sadie Matt die Krücken wieder an und schloss die Haustür auf. Wie so oft führte ihr erster Weg in die Küche, um die Katzen zu füttern. Mittens stand schon bereit und erwartete sie miauend. Das rief Augenblicke später auch Figaro auf den Plan.

Im Augenwinkel sah Sadie, wie Matt sich auf die Treppe setzte, seinen rechten Schuh auszog und sich dann mit einer Krücke auf den Weg nach oben machte. Sie hatte es aufgegeben, ihm ihre Hilfe anzubieten, denn er lehnte sie grundsätzlich ab. Sadie stellte es nicht in Frage und nahm zur Kenntnis, dass sein Stolz in solchen Momenten größer war.

Als sie in der Küche fertig war, folgte sie ihm nach oben und zog sich ebenfalls um. Für den Abend wählte sie eins ihrer wenigen Kleider. Matt pfiff durch die Zähne, als er aus dem Bad zurückkehrte und sah, was sie angezogen hatte. Er trug bereits eine dunkle Jeans und ein ebensolches Hemd. Sadie drehte sich zu ihm um und lächelte.

„Du solltest öfter Kleider tragen“, sagte Matt. „Steht dir wahnsinnig gut.“

„Danke.“ Sadie errötete und senkte verlegen den Blick.

„Hey.“ Matt arbeitete sich mit seiner Krücke zu ihr vor und umarmte sie mit dem rechten Arm. Er drückte sie fest an sich, vergrub eine Hand in ihrem langen roten Haar und küsste sie unerwartet leidenschaftlich. Sadie schloss die Augen und lächelte. In solchen Momenten war er immer ganz der Alte, ihr Matt, ihr geliebter Ehemann. Sie gab sich seinen Zärtlichkeiten ganz hin und erwiderte seine Umarmung, so fest sie konnte.

„Meine wunderschöne Sadie“, raunte er ihr zu und grinste.

„Soll das ein Angebot sein?“, fragte sie überrascht.

„Na ja ... mein Fuß ist kaputt. Für andere wichtige Körperteile gilt das nicht ...“

Sie lachte, während er sich langsam von ihr löste und wieder auf den Weg nach unten machte. Schweigend blickte Sadie ihm hinterher und ging ins Bad, um sich zu frisieren. Es war nicht das erste Mal, dass Matt sich so verhielt, aber trotzdem wusste sie oft nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Sie war nämlich nicht sicher, ob das nur aufgesetzt oder ernst gemeint war.

Allerdings verschwendete sie in diesem Moment keinen weiteren Gedanken daran, denn sie mussten sich allmählich auf den Weg machen. Es war schon kurz nach sechs und Nathan hatte den Tisch für sieben Uhr reserviert. Er hatte einen Inder in Downtown vorgeschlagen, womit Matt einverstanden war. Ein Parkhaus lag in der Nähe und solange er nicht weit laufen musste, war ihm alles recht.

Wenig später machten sie sich wieder auf den Weg. Anfänglich starrte Matt aus dem Fenster, doch plötzlich tastete er nach Sadies Hand. Auf der Interstate brauchte sie ihre rechte Hand sowieso nicht, deshalb verschränkte sie ihre Finger mit seinen und schenkte ihm ein Lächeln.

„Dass es dir nicht zu lästig ist, mich herumzukutschieren“, sagte er.

„Ach was. Sonst fährst du immer, jetzt eben ich. Ich habe schon Typen kennengelernt, die ihre Frau oder Freundin nicht mit dem heiligen Auto hätten fahren lassen ...“

„Ja, das sind auch die Typen, die denken, der beste Liebhaber sei der, der am schnellsten fertig ist“, erwiderte Matt trocken und grinste.

Sadie lachte. „Du hast ja Vergleiche.“

„Das ist mein Ernst. Denen sind Frauen fürs Bett gut genug, aber ansonsten nicht auf Augenhöhe. Da stellen sich mir die Nackenhaare auf.“

Sadie drückte seine Hand und überlegte, was sie erwidern sollte, aber ihr fiel nichts ein. Sie war froh, dass Matt so anders war und liebte ihn für seine ganze Art.

Auf dem Weg nach Downtown hinein betrachteten sie den beachtlichen Stau auf der Gegenfahrbahn. Matt navigierte Sadie bis an ihr Ziel, das sie zwar zu früh erreichten, aber Sadie war lieber überpünktlich als zu spät. Für den Weg zum Restaurant brauchte Matt auch wieder ein bisschen. Zwar war er inzwischen gut darin, mit den Krücken zu hantieren, aber so schnell wie gewöhnlich war er damit trotzdem nicht.

Als sie am Eingang von einem Kellner in Empfang genommen wurden und Nathans Namen für die Reservierung nannten, nickte der Kellner und eilte geflissentlich voraus. Weder Sadie noch Matt waren überrascht, Nathan bereits an einem gemütlichen Tisch in einer ruhigen Ecke zu entdecken.

„Ihr seid ja auch schon da“, sagte er und stand gleich auf, um sie zu begrüßen. Matt klemmte sich die Krücke unter den Arm, um Nathan die Hand zu schütteln und setzte sich schließlich. Nathan und Sadie machten ihm unter dem Tisch etwas Platz, so dass er den Fuß ausstrecken konnte.

„Du siehst gut aus“, sagte Nathan und nickte Matt aufmunternd zu.

„Danke, ich bin auch fast wieder ganz der Alte“, sagte Matt und blickte zu seinen Krücken. „Bis auf die da vielleicht.“

„Ach, wer hatte noch nie einen gebrochenen Knochen? Das ist doch halb so wild. Wann gehst du wieder arbeiten?“

„Er geht schon längst“, sagte Sadie.

Überrascht hob Nathan die Augenbrauen. „Tatsächlich?“

„Schon seit letzter Woche“, sagte Matt. „Seit mein Arzt glaubt, dass ich nicht morgens neben der Kaffeemaschine umkippe.“

„Ganz schön motiviert“, fand Nathan.

„Er war unerträglich zuhause“, sagte Sadie kopfschüttelnd.

„Ja, vor allem in der zweiten Woche“, stimmte Matt trocken zu. „In der ersten warst du ja noch da, aber in der zweiten waren es bloß die Katzen und ich. Da wird man verrückt.“

„Arbeitstier“, sagte Nathan kopfschüttelnd und blickte zu Sadie. „Und wie geht es dir?“

„Gut. Endlich geht alles wieder seinen gewohnten Gang.“

„Es tut mir leid, dass ich es nicht vorher einrichten konnte“, sagte Nathan. „Heute wollte der Chief mir auch schon wieder den Feierabend versauen, aber dagegen habe ich gestreikt.“

„Was ist denn los?“, erkundigte Sadie sich. Sie wurden unterbrochen, weil der Kellner mit den Speisekarten kam und die Getränkebestellung aufnahm.

Als er fort war, antwortete Nathan: „Ein neuer Mordfall. Ihr kennt das ja ... zwar ist derjenige schon tot, aber alle stehen Kopf. Dabei habe ich im Gefühl, dass ich in der Angelegenheit einen langen Atem brauche.“

„Das klingt ja nicht sehr ermutigend“, fand Sadie.

„Nein ...“ Nathan seufzte. „Aber lassen wir das. Ich freue mich, dass wir es endlich geschafft haben, uns wiederzusehen. Auch wenn wir uns vielleicht nicht unter den glücklichsten Umständen kennengelernt haben, würde ich doch sagen, dass wir Freunde geworden sind. Das schaffe ich teilweise mit langjährigen Kollegen im Department nicht.“

„Danke für die Blumen“, sagte Sadie und lächelte. Ihr entging nicht, dass Matt ausdruckslos auf den Tisch starrte.

„So etwas erlebt man ja nicht alle Tage“, sagte Nathan.

„Hast du noch etwas von Manning gehört?“

„Nein, aber ich kann mich mal schlau machen, falls du das möchtest.“

„Das würde mich tatsächlich interessieren“, sagte Sadie.

„Das war wohl auch für dich kein ganz alltäglicher Fall.“

„Ganz und gar nicht“, stimmte Sadie mit einem Lächeln zu. Dann widmeten sie sich der Speisekarte und gaben beim Kellner ihre Bestellung auf, als er ihre Getränke brachte. Sadie erkundigte sich nach Nathans Familie und erzählte ein wenig von Phil. Dabei entging ihr nicht, wie Nathan Matt immer wieder fragende Blicke zuwarf und vergeblich darauf wartete, dass Matt sich am Gespräch beteiligte.

Schließlich wurde es ihm zu bunt. „Wie lang musst du den Gips noch tragen?“

Matt blickte auf. „Hoffentlich nur noch bis nächste Woche. Ich bin ihn so leid ... inzwischen juckt es darunter pausenlos, das ist die Hölle!“

Nathan lachte. Sie sprachen über die verschiedensten Dinge, bis das Essen kam und setzten ihr Gespräch auch während des Essens fort. Matts einziger Gesprächsbeitrag bestand jedoch aus der Feststellung, dass sein Chicken Curry ziemlich scharf geraten war. Nach dem Essen schnappte er sich seine Krücken und hinkte damit in Richtung der Toiletten. Er war gerade erst um die nächste Ecke verschwunden, als Nathan sich mit ernster Miene zu Sadie beugte und kurz überlegte.

„Alles in Ordnung mit ihm?“, fragte er dann ganz direkt.

„Definiere in Ordnung“, erwiderte Sadie, den Kopf in die Hände gestützt.

„Ich kenne ihn ja nun nicht besonders gut und ich habe ihn auch nicht lang erlebt, bevor das mit Stacy Gallagher passiert ist, aber ich habe den Eindruck, er hat sich ziemlich abgeschottet.“

Sadie seufzte tief und zuckte mit den Schultern. „Das ist tagesformabhängig. Manchmal wechselt das auch von einer Minute zur anderen. Inzwischen schläft er besser und dass er wieder arbeiten kann, hilft ihm ungemein. Ich weiß, wie das ist. Das braucht einfach Zeit.“

Nathan hob die Hände. „Du bist die Expertin.“

Sie lächelte. „Nein, schon gut. Du hast recht, er tut sich noch etwas schwer. Es würde mir Sorgen bereiten, würde ich nicht sehen, dass es stetig besser wird.“

„Gut“, sagte Nathan. „Wenn du meine Hilfe brauchst, zögere nicht, es zu sagen.“

„Danke, Nathan, aber ich wüsste nicht, wie du da helfen könntest. Da hilft gerade eigentlich nur Geduld.“

„Wenn das jemand beurteilen kann, dann du“, sagte er und lächelte. „Ich glaube, du hilfst ihm ungemein.“

„Ich tue mein Bestes“, sagte Sadie. Das tat sie wirklich, aber dass Nathan sie auf Matts Verhalten angesprochen hatte, beunruhigte sie. Zwar stimmte es, sie hatten sich seit Wochen nicht gesehen, aber sie hielt Nathan für sensibel genug, um sich bewusst zu machen, dass die vergangenen Ereignisse nicht spurlos an Matt vorübergingen. Dass es ihn trotzdem beschäftigte, ließ ihre Alarmglocken schrillen.

Sie kamen nicht dazu, das Thema weiter zu vertiefen, weil Matt schon wieder auf dem Rückweg war. Sadie lehnte sich wieder zurück und lächelte ihrem Mann zu, der das Lächeln vorbehaltlos erwiderte.

„Eine Laufbahn als Detective hätte ich mir auch vorstellen können“, sagte Sadie zu Nathan, während Matt sich wieder setzte.

„Ja, das ist nicht schlecht. Manchmal ist es der Wahnsinn, aber generell mag ich meine Arbeit“, sagte Nathan.

„Worum geht es denn in deinem neuen Fall? Darfst du darüber sprechen?“

„Da wir unter uns sind ...“ Nathan holte tief Luft. „Es geht um eine Prostituierte, die ermordet in einem Hotelzimmer aufgefunden wurde. Klingt erst mal nicht spektakulär, aber es war ein Luxushotel und die Dame hat Stundensätze genommen ... da schlackern dir die Ohren.“

„Um ehrlich zu sein, klingt das auch erst mal nicht ungewöhnlich“, sagte Sadie.

„Nein, das stimmt schon, aber ich kriege noch keinen Kopf an der Sache. Das ist ganz schön schlecht, wenn man der leitende Ermittler ist!“ Nathan lachte.

„Du weißt, ich helfe dir immer gern“, erinnerte Sadie ihn.

„Ich komme darauf zurück, wenn ich muss“, sagte Nathan. „Dabei kannst du dir doch sicher auch Besseres vorstellen, als mir dauernd den Hintern zu retten!“

„Ich rette jeden Hintern, der gerettet werden muss“, sagte Sadie.

„Ja, mal sehen. Ich gebe mich noch nicht geschlagen. Es ist eben die übliche zähe Polizeiarbeit ... Obduktionsergebnisse abwarten, mit dem Umfeld des Opfers sprechen, mögliche Zeugen verhören, Verdächtige ausschließen ... ehrlich gesagt sind wir da noch nicht besonders weit. Ich weiß bis jetzt nur, dass sie an dem Abend nicht offiziell über ihre Escortagentur gebucht wurde, sondern unter der Hand. Die Frage ist jetzt, von wem.“

„Da will jemand unentdeckt bleiben“, sagte Sadie.

Nathan nickte. „Mit absoluter Sicherheit. Es bleibt spannend.“

„Du kriegst das schon hin“, sagte plötzlich Matt und lächelte. Nathan nickte ihm zu.

Die beiden ließen sich schließlich Bier kommen. Sadie war es recht, sie hätte auch nichts trinken wollen, wenn sie nicht gefahren wäre. Sie bestellte sich nur einen alkoholfreien Cocktail, den sie in aller Ruhe austrank.

Als Matt erst mal etwas Bier getrunken hatte, wurde er etwas gesprächiger und plauderte mit Nathan über die Arbeit und andere Themen. Sie blieben noch recht lang in dem Restaurant. Es war schon kurz vor halb elf, als sie sich vor dem Eingang voneinander verabschiedeten. Sadie umarmte Nathan und schenkte ihm ein Lächeln.

„Du meldest dich, wenn du Unterstützung brauchst“, wiederholte sie.

„In Ordnung. Ich weiß das zu schätzen. Gute Heimfahrt, ihr beiden. Bis dann!“ Nathan hob die Hand zum Gruß und verschwand in die andere Richtung. Sadie und Matt gingen zum Parkhaus und traten den Heimweg an. Während Sadie ihren Mann im Augenwinkel musterte, hatte sie das Gefühl, dass er deutlich ruhiger und entspannter war als zuvor. Bis auf das Leuchten der Armaturenanzeigen war es dunkel im Wagen. Die Musik dudelte nur leise, so dass das laute Röhren des V8-Motors nicht zu sehr in den Hintergrund trat.

„Nathan ist schwer in Ordnung“, sagte Matt plötzlich ins Schweigen hinein.

„Ich mag ihn auch sehr“, stimmte Sadie zu.

„Ich bin froh, dass er für uns da war. Ohne seine Hilfe hätte das alles anders ausgesehen.“

Sadie nickte nur. Darüber wollte sie am liebsten überhaupt nicht nachdenken.

„Bist du glücklich?“

Die Blicke der beiden trafen sich, als Sadie Matt erstaunt ansah. „Natürlich. Wie kommst du darauf?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Ich mache es dir nicht leicht.“

„Du machst doch gar nichts.“

„Ach komm“, sagte er und atmete tief durch.

„Ich verstehe dich, Matt“, sagte Sadie ungerührt. „Wundert dich das etwa?“

„Nein ... aber ich weiß, du machst dir Sorgen. Das musst du nicht. Was ich vorhin zu Hause gesagt habe, habe ich übrigens ernst gemeint.“

Sadie musste kurz überlegen. „Als du mir das Kompliment gemacht hast?“

Er nickte. „Ich liebe dich unverändert und ich finde dich wunderschön. Du sollst meinetwegen auf nichts verzichten.“

„Was kommt denn jetzt?“, fragte Sadie irritiert.

„Du kannst es mir sagen, wenn dir der Sinn nach mehr steht. Das ist okay.“

„Ich weiß“, sagte sie knapp. Das hatte er ihr bereits bewiesen. Sie hatte keinen Unterschied gespürt und geglaubt, dass das bei Matt nicht anders gewesen war, aber das wusste sie eben nicht. Er hatte es unbedingt probieren wollen, sobald er sich körperlich dazu in der Lage gesehen hatte und es war auch nicht bei dem einen Mal geblieben.

Trotzdem verstand sie nicht, warum er das jetzt ansprach.

Erneut tastete er nach ihrer Hand. Seine war ganz kalt. Sadie drückte sie ganz fest.

Es war eigenartig. Bislang war Matt immer derjenige gewesen, der sich um Sadie gekümmert hatte und versucht hatte, ihr Halt zu geben. Im Augenblick hatte Sadie das Gefühl, sie hätten die Rollen getauscht. Es war nicht, dass es sie störte – aber es beunruhigte sie. Oft verhielt er sich zurückgezogen und abwesend, aber in anderen Momenten war er nicht nur ganz der Alte, sondern intensiv um sie bemüht. Sadie war so unaussprechlich froh, dass sie ihn noch hatte und er nicht an diesem Tag vor einigen Wochen an der Stichverletzung verblutet war. Mit diesem Gedanken beschäftigte sie sich kaum, weil sie ihn nicht ertrug.

Sie verließ den Freeway und fuhr das letzte Stück nach Hause ganz gemächlich. Es war kurz nach elf, als sie dort eintrafen. Sadie schaute noch einmal nach den Katzen und goss die Orchidee, die Cassandra ihr kürzlich geschenkt hatte. Einfach so. Sadie freute sich immer noch darüber.

Matt war schon nach oben gegangen. Als sie das Schlafzimmer betrat, fand sie ihn bequem auf dem Bett liegen mit seinem Tablet in der Hand. Als sie sich neben ihn legte, um zu spionieren, was er machte, fand sie eine Seite mit Fotos.

„Das ist ein Fotograf, dem ich folge“, sagte Matt. „Ich habe schon viel zu lang nicht mehr fotografiert.“

„Das stimmt“, sagte Sadie und schmiegte sich an ihn, um mit ihm gemeinsam die Fotos anzusehen. Als sie schließlich müde wurde, stand sie auf, zog sich um und ging ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Wenig später erschien auch Matt, um es ihr gleich zu tun. Als er in Shorts hinter ihr stand, konnte sie mit einem Blick in den Badezimmerspiegel auch die Operationsnarbe an seinem linken Oberschenkel sehen. Sie war noch ganz frisch und leuchtend rot. Seine älteren Narben verblassten inzwischen immer mehr.

Schließlich machte Sadie ihm Platz und wartete im Bett auf ihn. Als er dort angekommen war, stellte er die Krücke neben dem Bett ab, ließ sich ins Bett fallen und streckte einladend einen Arm aus. Sadie verstand und schmiegte sich seitlich an ihn, weil sie wusste, wie sehr er das immer liebte. Dabei rutschte die Bettdecke ihr bis an die Hüfte herab. Sie trug das Nachthemd, das Matt ihr einmal geschenkt hatte – aus eiskalter Berechnung, das war ihr klar. Der Stoff war ganz weich und der Schnitt verbarg nur das Nötigste.

Tatsächlich hatte Matt es darauf abgesehen. Er streckte auch den anderen Arm nach ihr aus und fuhr den Ausschnitt ihres Nachthemdes ganz sanft mit den Fingerspitzen nach, so dass Sadie eine Gänsehaut bekam. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich einfach auf seine Berührung. 

Schließlich strich er ihr übers Haar und küsste sie auf die Nasenspitze. „Ich liebe dich, meine süße Sadie.“

„Ich liebe dich auch.“

Er lächelte ihr zu und löschte das Licht. Sadie ließ ihren Kopf auf seiner Schulter liegen und konzentrierte sich ganz auf seine Nähe und Wärme. Vielleicht war er auch einfach nur so liebeshungrig, weil er sie beinahe verloren geglaubt hatte. Was auch immer es war, Sadie nahm es zur Kenntnis. Für sie zählte nur, dass zwischen ihnen alles in Ordnung war.

 

 

Donnerstag

 

Als Sadie unwirsch den Wecker ausstellte, wurde sie dessen gewahr, dass die Betthälfte neben ihr leer war. Im nächsten Augenblick korrigierte sie sich – es war zwar nicht Matt, der neben ihr lag, aber Figaro hatte ihn abgelöst. Er lag gleich unterhalb von Matts Kopfkissen in einer warmen Kuhle, hatte sich dort bequem zusammengerollt und schnarchte leise.

Sadie lächelte und drehte sich zu dem schlafenden Kater, um ihn zu kraulen. In Windeseile wurde das Schnarchen von einem Schnurren abgelöst. Dann hörte Sadie das Wasserrauschen aus dem Bad. Matt war wohl duschen gegangen.

Sadie hoffte, dass er einfach nur früh aufgewacht und nicht von einem Alptraum aus dem Schlaf gerissen worden war. Die hatte es in letzter Zeit zu häufig bei ihm gegeben. Er hatte immer versucht, das mit sich selbst auszumachen, aber er hatte ihr auch erzählt, wovon er da träumte. Ausgehend von seinen Berichten hatte sie mit vielem gerechnet, denn Stacy hatte ihm sehr zugesetzt. Tatsächlich träumte er aber meistens von dem Moment, in dem Stacy Sadie gezwungen hatte, eine Überdosis ihrer eigenen Beruhigungstabletten zu schlucken. Das verschob sich wohl gelegentlich, er hatte auch schon davon geträumt, dass Stacy Sadie erstach. In einer Nacht war es besonders schlimm gewesen, da war er heftig zusammengezuckt und hatte Sadie erst nach längerem Nachfragen erzählt, er hätte geträumt, wie er mit Stacy zu Sadies Beerdigung erschienen sei. Ihm hatte jeder Fluchtimpuls gefehlt – eine Flucht hätte ihm auch nichts gebracht, denn Sadie war ja ohnehin tot.

Sadie kannte das alles zu gut. Sie verstand, wie sehr Matt unter diesen Erinnerungen litt. So fiel es ihm schwer, zu vergessen. Es machte ihr auch nichts aus, jetzt für ihn da sein zu müssen. Es machte ihr sehr viel mehr aus, zu wissen, wie ihm dabei zumute sein musste. So etwas hätte ihm nie passieren dürfen.

Sie hoffte, dass die Zeit auch bei ihm alle Wunden heilte. Im Augenblick schwankte er immer wieder zwischen völliger Abschottung und dem Bedürfnis, ihre Nähe zu suchen. Sie ließ ihn gewähren, beobachtete ihn aber seit Wochen voller Sorge. Oft schalt sie sich selbst dafür und sagte sich, dass sie aufhören musste, ihn durch die Brille eines Profis zu betrachten.

Dabei machte sie sich einfach nur Sorgen. Auch jetzt wieder, weil er nicht mehr im Bett war. Das hatte meistens Gründe.

Sadie strich Figaro über den Kopf, warf die Bettdecke zurück und stand auf. Sie betrat das Bad in dem Moment, als Matt aus der Dusche stieg. Er hatte sich das Handtuch schon umgebunden, aus seinen Haaren tropfte Wasser.

„Hey“, sagte er und lächelte ihr zu. „Auch schon wach.“

„Ja, es ist Zeit. Bist du schon lang wach?“

„Eine Stunde vielleicht“, sagte er. Sadie atmete tief durch, sie hatte es befürchtet. Als Matt vor ihr stand, umarmte sie ihn ungeachtet der Tatsache, dass er am Rücken immer noch nass war.

„Alles okay?“

„Alles gut“, erwiderte er knapp.

„Keine Alpträume?“

„Und wenn schon“, sagte er wortkarg und löste sich aus ihrer Umarmung. Sadie reagierte nicht weiter, sondern begann ebenfalls, sich für den Tag fertig zu machen. Das kannte sie schon, sie würde jetzt nichts aus ihm herausbekommen, also versuchte sie es gar nicht erst.

Sie bereitete das Frühstück vor und fütterte die Katzen. Mittens war sofort da und fraß ihren Napf leer. Sadie stellte Figaros Napf beiseite, damit Mittens seine Portion nicht auch noch fraß, und schnappte sich die Katze dann. Mittens wehrte sich nicht dagegen, als Sadie sie an sich drückte und liebevoll kraulte.

„Na, meine Hübsche“, sagte sie und vergrub ihr Gesicht im Fell der Katze. Da war sie wieder, die Sorge. Sie wurde sie einfach nicht los.

Matt kam in die Küche gehinkt, setzte sich an den Tisch und fiel hungrig über seinen Toast her. Sadie setzte sich zu ihm und musterte ihn sorgenvoll, aber das merkte er überhaupt nicht. Auch während der Fahrt zur Arbeit sagte sie nicht besonders viel. Er war ebenfalls schweigsam, deshalb war es bis auf die Musik aus dem Radio wieder still im Auto.

Nach ihrer Ankunft beim FBI verabschiedeten sie sich im Aufzug voneinander. Sadie setzte den Weg in ihr Büro fort, wo sie bereits Cassandra an ihrem Schreibtisch vorfand. Ihre Kollegin war gerade dabei, ihren Rechner hochzufahren.

„Hey“, sagte sie freudig zu Sadie und hielt dann inne. „Was machst du denn für ein Gesicht?“

„Mache ich ein Gesicht?“, fragte Sadie. Das war ihr bis gerade überhaupt nicht bewusst gewesen.

„Allerdings. Was ist los?“

Es war noch nicht viel Betrieb im Büro, deshalb setzte Sadie sich neben Cassandra, startete ebenfalls ihren Rechner und sagte dann: „Matt scheint immer noch Alpträume zu haben.“

„Na überleg mal, was er erlebt hat. Das kennen wir doch von uns selbst, so etwas ist hartnäckig.“

„Ich weiß ... aber es macht mich rasend, mir das anzusehen. Irgendwie war es leichter, selbst betroffen zu sein.“

Cassandra lachte. „Das glaube ich. Jason hat so etwas auch schon gesagt.“

„Aber du hast doch keine Alpträume mehr, oder?“, fragte Sadie erstaunt.

„Nein, das nicht. Inzwischen nicht mehr. Aber es ist immer schwer, sich Sorgen um einen geliebten Menschen zu machen.“

„Allerdings“, sagte Sadie und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Hey, es sind erst fünf Wochen. Sie hat ihn fast umgebracht.“

„Er sagte, er träumt viel öfter davon, dass sie mich fast umgebracht hat.“

Cassandra seufzte verträumt. „Er betet dich einfach an.“

Doch die Schwärmerei prallte an Sadie ab. „Wahrscheinlich bin ich nur paranoid.“

„Ja, bist du. Ist denn ... nein, vergiss das“, unterbrach Cassandra sich kopfschüttelnd selbst.

„Was denn?“, fragte Sadie arglos.

„Ist denn sonst alles in Ordnung zwischen euch?“

Diese Frage erstaunte Sadie sehr, denn Cassandra wusste gar nicht, was Stacy mit Matt gemacht hatte. Für einen Augenblick suchte sie nach Worten.

„Ja, schon. Warum fragst du?“

„Ich könnte mir vorstellen, dass Stacy ziemlich aufdringlich war – nach allem, was du erzählt hast.“

„Ja, das stimmt auch. Aber seit es Matt besser geht ...“ Sadie errötete. „Nein, es ist alles gut.“

„Siehst du. Klar träumt er übles Zeug, aber das hört auf. Mach dir keine Sorgen, dein Mann ist robust.“

Sadie nickte und hoffte, dass Cassandra da recht hatte. Wahrscheinlich sponn sie sich nur etwas zusammen.

Sie dachte nicht weiter darüber nach, sondern widmete sich wieder dem Gutachten, an dem sie gerade arbeitete. Die viele Schreibtischarbeit nervte sie an ihrem Job, sie war lieber unterwegs und suchte Verbrecher draußen auf der Straße. Aber das gehörte dazu und es machte ihren Job immerhin abwechslungsreich. Andererseits war sie auch nicht traurig, dass sie gerade mal nicht nach irgendwelchen Verrückten oder Serienmördern suchen musste. Das würde früh genug wieder passieren.

Schließlich war es an der Zeit für die Mittagspause. Cassandra und Sadie machten sich gemeinsam auf den Weg in die Kantine.

„Gestern war es irgendwie einsam ohne dich“, sagte Cassandra, während sie mit dem Aufzug nach unten fuhren.

„Es hätte sich ja nicht gelohnt, mittags in die Kantine zu gehen, wenn abends noch ein Restaurantbesuch auf dem Plan steht.“

„Das stimmt. Wie geht es dem Detective?“

„Ganz gut. Er sagte, er betrachtet uns als Freunde, wie findest du das?“

„Ist doch super“, sagte Cassandra.

„Ich bin gespannt, ob er bald wieder meine Hilfe braucht. Er hat da etwas angedeutet.“

Cassandra grinste. „Wäre doch toll. Darauf freust du dich doch schon.“

„Bin ich so leicht zu durchschauen?“, fragte Sadie amüsiert.

„Ich kenne dich nur einfach sehr gut“, erwiderte Cassandra ausweichend.

Als sie die Kantine betraten, fanden sie Jason, Matt und Phil bereits an einem Tisch vor. Sie gesellten sich schnell dazu und begrüßten einander erfreut.

„Wir sind etwas früher gekommen, weil wir gleich pünktlich ins Meeting müssen“, erklärte Jason zwischen zwei Bissen. Cassandra nickte verstehend.

„Wie geht es Nathan?“, fragte auch Phil nun an Sadie gewandt.

„Gut“, erwiderte Sadie und erzählte ein wenig von ihrem Abendessen. Matt beteiligte sich nicht an dem Bericht, er widmete seine Aufmerksamkeit dem Essen. Sadie maß dem keine Bedeutung bei. Sie erkundigte sich bei Phil nach Amelia, bevor das Gespräch sich der Arbeit zuwandte. Tatsächlich verschwanden Matt und Jason sehr pünktlich wieder ins Büro, während Sadie noch an ihrem Obstsalat saß.

„Hast du gleich noch kurz Zeit?“, fragte Phil sie, als Matt und Jason gerade gegangen waren.

„Klar, was ist denn?“

„Ich habe nur eine Frage“, sagte Phil uneindeutig. Cassandra verstand, dass er das nicht in ihrer Gegenwart erörtern wollte und kehrte allein ins Büro zurück.

„Worum geht es?“, fragte Sadie, als sie allein waren.

„Um deinen Mann“, sagte Phil.

„Jetzt fang du auch noch an“, erwiderte Sadie.

„Wieso auch noch?“

„Matt saß gestern beim Abendessen schon stumm wie ein Fisch da, bis er und Nathan sich später Bier bestellt haben. Da ging es dann einigermaßen. Aber Nathan ist das auch aufgefallen.“

„Das fällt ja auch auf“, sagte Phil. „Ich mache mir doch nur Sorgen, und du bist die Expertin.“

„So komme ich mir auch vor. Ich beobachte das doch selbst die ganze Zeit.“

„Und was hältst du davon?“ Phil lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich habe seinerzeit länger gebraucht.“

„Was auch irgendwie kein Wunder ist.“

„Findest du?“, fragte Sadie.

„Würde ich schon sagen. Es ist nur ...“ Phil zuckte unschlüssig mit den Schultern.

„Was denn?“

„Du hast vielleicht länger gebraucht, aber du hast immer mit uns gesprochen. Ich weiß noch, als ich bei euch zum Essen war und du mir sagtest, dass du fast etwas Dummes getan hast.“ Phil drückte es diplomatisch aus. „Ich konnte mich mit dir unterhalten. Das konnten wir sogar schon damals im Krankenhaus.“

„Ja, aber ich bin eine Frau.“

„Na und? Reagieren wir Männer wirklich so anders?“

„Das musst du doch wissen“, sagte Sadie augenzwinkernd.

Phil blickte sich sorgsam um, bevor er sich über den Tisch beugte und sagte: „Bei der Sache kann ich aber nicht mitreden. Ich wollte dich nur mal fragen, denn eigentlich ist mir das schon längst aufgefallen, aber ich dachte, das wird schon alles irgendwie stimmen ... nur langsam mache ich mir doch meine Gedanken.“

Sadie wunderte sich nicht darüber, welches Gespräch sie da gerade mit Phil führte. Sie waren so vertraut und so eng befreundet, dass er ihr solche Fragen stellen konnte. Bei Männern erlebte sie das selten, aber mit Phil war das etwas anderes – und er kannte ja die ganze hässliche Wahrheit um Stacy.

„Er ist schweigsam, ja“, stimmte Sadie zu. „Das ist auch bei mir nicht anders. Glaub mir, ich habe ein Auge darauf ... aber sie hat ihn fast umgebracht und den Rest weißt du ja auch. Er spricht naturgemäß auch nicht gern darüber.“

„Ja, schon klar. Aber ihr kommt zurecht?“

Sadie lächelte. „Ja, es ist alles in Ordnung, Phil.“

„Okay. Wenn etwas ist, kannst du es mir sagen. Du weißt, ich rede auch immer gern mit Matt, falls das hilft.“

„Danke ... aber das ist es ja gerade. Er redet überhaupt nicht. Er ist lieb und er bemüht sich richtig, aber das braucht Zeit.“

„Ja, wahrscheinlich hast du recht. Bei dir habe ich davon weniger gesehen, aber Matt sehe ich gerade jeden Tag und ich wundere mich. Ich dachte, bei der Arbeit ist er anders.“

Das hatte Sadie auch erwartet, aber sie sagte es nicht. Schließlich standen die beiden auf und verabschiedeten sich vor der Tür voneinander. Gedankenversunken wartete Sadie auf den Aufzug.

Die Bemerkungen der anderen gaben ihr schon zu denken, weil sie so geballt kamen. Bis jetzt hatte eigentlich niemand etwas gesagt, doch jetzt plötzlich kamen alle auf einmal. Vielleicht auch, weil sie inzwischen ein anderes Verhalten bei Matt erwarteten.

Sadie wusste nicht, was sie tun oder dazu sagen sollte. Mit traumatischen Erfahrungen kannte sie sich aus, sowohl in fachlicher als auch in persönlicher Hinsicht. Aus ihrer Fortbildung wusste sie, dass Männer nicht unbedingt anders auf solche Erfahrungen reagierten als Frauen. Sie kannte die Unterschiede und bislang stellte sie nichts Besorgniserregendes fest. Matt hatte ja das große Los gezogen mit einer Frau, die ihm gegenüber zudringlich wurde; ein Problem, das selbst in ihrer Fortbildung nur am Rande gestreift worden war.

Allerdings wollte sie ihn nicht bedrängen. Sie hatte ihre Entführung durch Sean und ihren Selbstmordversuch ganz ohne fremde Hilfe und doch recht erfolgreich verarbeitet, wie sie fand und sie sah Matt beim besten Willen nicht bei einem Therapeuten sitzen und davon erzählen, was Stacy getan hatte. In ihrer Fortbildung hatte sie gelernt, was auch Andrea ihr später bestätigt hatte: Manchmal bewirkte eine Aufarbeitung auch nur eine Retraumatisierung. Und es war ja überhaupt nicht, dass Matt sie auf Distanz hielt. Ganz im Gegenteil, er bemühte sich wirklich um sie.

Trotzdem fragte sie sich, ob ihr nicht schlicht und ergreifend die Objektivität fehlte, um die Situation wirklich abschließend zu beurteilen. Sie tendierte dazu, Matt in Ruhe zu lassen, weil er auch genau das getan hatte, als sie es gebraucht hatte. Er wäre auch nie auf die Idee gekommen, sie zu einem Therapeuten zu schicken.

Sie beschloss, ihm einfach noch mehr Zeit zu geben. Fünf Wochen waren nichts bei einer solchen Erfahrung – und sie wusste, wenn man Verletzungen davongetragen hatte, erinnerten die einen noch viel mehr an alles, was geschehen war. Das war nie gut.

Sie schob den Gedanken beiseite, als sie das Büro betrat und sich wieder an die Arbeit machte. Zwar warf Cassandra ihr einen Blick zu, der irgendwas zwischen neugierig und fragend war, aber Sadie hatte nicht vor, ihr zu erzählen, worüber sie mit Phil gesprochen hatte. Sie wollte das Thema nicht ständig vertiefen.

An diesem Tag sehnte sie den Feierabend entgegen, genaugenommen sogar das Wochenende. Nur noch einen Tag. Irgendwie war ihr nach Urlaub zumute, aber sie hatte erst an Thanksgiving wieder frei.

Wie jeden Tag holte sie Matt im Büro ab. Das tat sie von sich aus, denn wenn er auf Krücken unterwegs war, war es leichter für ihn, wenn ihm jemand die Türen aufhielt. Sadie fand es gut, dass er wieder arbeiten ging, denn so hatte er eine Aufgabe, Ablenkung und war etwas ausgeglichener. Das hatte sie damals nach ihrer Entführung etwas vermisst.

Auf dem Heimweg konzentrierte sie sich auf den Verkehr. Der Freeway war verstopft, aber die Parallelstraßen waren nicht viel besser.

„Du bist so still“, sagte Matt plötzlich ins Schweigen hinein. Überrascht sah Sadie ihn an.

„Du sagst auch nichts.“

„Nein, aber bei dir ist das ungewöhnlich. Bei mir ...“

„Ich mache mir eben Sorgen.“

„Hat Nathan etwas gesagt?“

Ertappt sah Sadie ihn an. „Warum fragst du?“

„Weil er eine gute Beobachtungsgabe hat.“

„Um ehrlich zu sein, hat Nathan gefragt und Cassandra und Phil ist es auch schon aufgefallen“, sagte Sadie unverblümt.

„Oh“, machte Matt. „Und du?“

„Was soll ich dazu sagen? Jeder verarbeitet solche Erfahrungen individuell. Du weißt, dass du immer zu mir kommen kannst.“

Matt nickte. „Weiß ich. Ich habe nur keine besondere Lust, das mit dir zu erörtern. Mit dir nicht und auch mit sonst niemandem.“

„Kann ich verstehen.“

„Ich muss nur an sie denken und schon platzt mir die Hutschnur.“

Sadie wusste das und deshalb vermied sie es auch tunlichst. Matt war immer gleich auf hundertachtzig, wenn man Stacys Namen nur erwähnte.

„Für mich ist das alles in Ordnung“, sagte sie schnell.

„Ja, weil es auch vorbei ist. Manchmal träume ich nachts davon, wie sie mir aus dem Gefängnis schreibt und behauptet, sie sei schwanger.“

Im Augenwinkel sah Sadie, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte. Er starrte stur geradeaus, hatte sich an den Autositz gedrückt.

„Ich bin so froh, dass sie tot ist“, sagte er dann. Es klang seltsam tonlos.

Sadie griff nach einer seiner Hände und lächelte ihn kurz an. „Es ist alles gut. Solltest du reden wollen, bin ich da.“

„Ich weiß. Danke.“ Er erwiderte ihr Lächeln und es wirkte echt. Darüber war sie sehr froh.

„Ich liebe dich, Sadie“, schob er hinterher und drückte ihre Hand ganz fest.

„Ich weiß. Ich liebe dich auch.“

Allmählich entspannte er sich wieder etwas, worüber sie froh war. Sie machte sich ja doch Sorgen. Das alles fiel ihr schwer, aber nichts, was sie hätte tun können, hätte es besser gemacht. Sie wollte ihn nicht unter Druck setzen; das hatte er auch nicht getan und das brauchte er jetzt auch nicht.

Nach ihrer Ankunft zu Hause kochten sie gemeinsam, widmeten sich dem Essen und Sadie kümmerte sich ein wenig um die Hausarbeit, während Matt sich an den Computer verzog. Er half ihr nach Kräften, aber stehen konnte er kaum und herumlaufen auch nur sehr schlecht. Es störte sie nicht, seinerseits hatte er das Meiste übernommen, als sie damals den Armbruch gehabt hatte.

Sie surfte ein wenig im Internet, bis sie beschlossen, sich gemeinsam vor den Fernseher zu setzen und eine Serie anzusehen.

„Ich vermisse mein Training“, sagte Matt missmutig, während er den Fernseher einschaltete.

„Das glaube ich dir.“

„Dein Armbruch war zwar auch lästig, aber du warst wenigstens mobiler.“

Sie lächelte. „Jetzt warte bis Montag, vielleicht bist du den Gips dann los.“

„Ich hoffe.“

Matt startete die Serie und Sadie schmiegte sich an ihn. Draußen war es inzwischen schon dunkel. Figaro stromerte in der Küche herum und verspeiste ein paar Cracker, bevor er mit einem Satz aufs Sofa sprang und sich in der Nische zwischen Sadies angewinkelten Beinen zusammenrollte. Sadie kraulte ihn mit einem Arm, während sie an Matt lehnte und die Serie verfolgte.

„Ich hätte jeden Grund, eifersüchtig auf diesen anderen Mann in deinem Leben zu sein“, sagte Matt augenzwinkernd, während er die nächste Episode startete.

„Du meinst Figaro?“, fragte Sadie, während sie Figaro zwischen den Ohren streichelte.

Matt grinste. „Kastriert oder nicht, aber er ist ein Mann.“

„Jetzt komm schon.“

„Ich liebe dich eben“, sagte Matt. „Das will ich nicht teilen ...“

Er ließ seine Finger durch eine Strähne ihres langen roten Haares gleiten, legte einen Arm um sie und ließ seine Hand auf ihrer Brust ruhen. Sadie reagierte nicht darauf und Matt tat nichts weiter, aber als die zweite Folge sich dem Ende näherte, küsste er Sadie auf die Schläfe und strich mit den Fingerspitzen am Ausschnitt ihres T-Shirts entlang.

„Möchtest du mir etwas sagen?“, fragte Sadie leise.

„Mit Reden hat das, was ich vorhabe, nicht besonders viel zu tun“, erwiderte Matt mit einem unbeteiligten Gesichtsausdruck und einem gleichgültigen Tonfall, aber Sadie wusste, er spielte es nur.

„Ist das ein Angebot, Mr. Whitman?“, fragte Sadie belustigt.

„Du weißt, dass ich deine roten Haare wahnsinnig heiß finde ...“

„Du willst doch nicht mit meinen Haaren ins Bett.“

„Aber die sind dabei und das mag ich.“

Während der Abspann einsetzte, wandte Matt sich ihr vollständig zu, nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie begierig. Sadie erwiderte seinen Kuss nur zu gern. Er legte einen Arm um sie, zog sie an sich heran und wisperte: „Kriege ich dich rum?“

Sadie lächelte. Er hatte sich nie abgewöhnt, so charmant zu fragen, und sie nickte. Matt packte sie und bevor sie wusste, wie ihr geschah, saß sie auf seinem Schoß und er vergrub das Gesicht zwischen ihren Brüsten. Seine Hände wanderten von ihren Schultern bis hinab auf ihren Po, dann verschwanden sie unter ihrem T-Shirt und glitten nach vorn. Sadie schloss die Augen und ließ ihn gewähren. Gerade war sie verdammt empfänglich für seine Zärtlichkeiten. Matt streichelte sie durch die Unterwäsche, zog schließlich ihr T-Shirt hoch und machte weiter. Als Sadie ihn berühren wollte, verschränkte er sanft seine Finger mit ihren und hielt ihre Hände fest, zog die Träger ihres BHs mit den Zähnen von ihren Schultern und übersäte ihre Haut mit Küssen. Sadie lachte leise. Zwischendurch blinzelte Matt argwöhnisch zu Figaro, der immer noch neben ihnen auf dem Sofa lag und schlief.

„Wehe, er sieht uns zu ...“

„Tut er nicht“, sagte Sadie mit geschlossenen Augen und lächelte. Sie trug noch immer ihr T-Shirt, als Matt ihr die Unterwäsche halb vom Leib riss und sie mit seinen Lippen liebkoste. Sadie legte den Kopf in den Nacken und hielt sich an seinen Händen fest. Er ließ sie nicht los, während er sich vergnügt daran machte, sie in den Wahnsinn zu treiben. Sie stöhnte leise und rutschte unruhig auf seinem Schoß herum.

„Was denn, soll ich aufhören?“

„Nein, bitte nicht ...“

Er grinste und machte weiter. Schließlich löste er seine Hände von ihren und legte mit Unschuldsmiene eine Hand zwischen ihre Beine. Ein Schauer überlief sie.

„Ich bin total verrückt nach dir“, raunte er. Sadie legte die Arme um ihn und drückte ihn ganz fest an sich, wollte ihn gar nicht mehr loslassen.

„Ich will jetzt nicht erst ins Schlafzimmer gehen“, beklagte Matt sich.

„Dann bleiben wir eben hier.“

Er hielt kurz inne und überlegte. „Der verdammte Gips. Aber du könntest sitzenblieben wie jetzt, nur ohne Hose ...“

Sadie grinste und verstand. Augenblicke später saß sie so gut wie nackt auf ihm, hatte ihm die Hose nur so weit wie nötig heruntergezogen und hielt ihn immer noch an sich gedrückt. Mit einem lauten Aufprall sprang Figaro vom Sofa und verschwand.

„Gut, keine Zeugen“, sagte Matt atemlos.

Sadie hatte die Augen geschlossen und hielt die Luft an. Sie hatte eine Gänsehaut und bewegte sich keinen Millimeter. Damit wollte sie Matt ärgern und tatsächlich wurde er Sekunden später ungeduldig.

„Verdammt, du bist immer so gemein, wenn du am Zug bist“, beklagte er sich.

„Armer Matt“, sagte sie spöttisch und fuhr ihm durchs Haar, während sie doch allmählich begann, rhythmische Bewegungen zu machen.

„Ich bin verrückt nach dir“, sagte er atemlos, streichelte und liebkoste sie, bis sie im Handumdrehen ekstatisch wurde. Er wusste ganz genau, wie er das anstellen musste und sie genoss es jedes Mal. In diesen Momenten vergaß sie alle übrigen Sorgen, in diesen Momenten war Matt ganz er selbst und gehörte nur ihr. Sie wünschte, sie hätte sich seinerzeit so leicht damit getan, aber während sie sich auf die Lippen biss und versuchte, einen Schrei zu unterdrücken, machte sie sich wieder einmal bewusst, dass Matt es war, der ihr die Freude daran wiedergegeben hatte. Wahrscheinlich erging es ihm gerade ähnlich.

Sie klammerte sich an seinen Schultern fest, als sie zusammenzuckte und einen Schrei ausstieß. Mühelos riss sie ihn mit und sank zitternd gegen ihn. Matt hielt sie fest und strich ihr übers Haar.

„Meine liebe, süße Sadie“, sagte er keuchend und küsste sie auf die Stirn.

Sie lächelte. „Ich liebe dich, Matt.“

„Ich liebe dich auch.“

Sie löste sich nur widerwillig von ihm, suchte nach ihrem Höschen und zog sich ihr T-Shirt wieder an. Er tänzelte auf dem rechten Bein, während er ebenfalls versuchte, seine Hose wieder anzuziehen. Die beiden tauschten einen vielsagenden Blick.

Sadie hatte gar nicht gemerkt, wie sehr sie das jetzt gebraucht hatte. In dieser Hinsicht hatten sie tatsächlich kein Problem, was ihr genug verriet. Sie gab Matt einen Kuss, stand auf und fütterte die Katzen noch einmal. Wenig später gingen sie beide nach oben, was bei Matt in den üblichen Kampf ausartete, aber er schlug sich wacker. Er tauchte hinter Sadie im Bad auf, während sie sich die Zähne putzte, und umarmte sie von hinten. Sie spürte, wie er auf einem Bein balancierte und sich an ihr festhielt, aber das störte sie nicht.

Sie ging voraus ins Bett und wartete, bis er ebenfalls auftauchte. Er legte die Krücke neben dem Bett ab, machte es sich neben Sadie bequem und schloss sie von hinten ganz fest in die Arme. Er küsste sie in den Nacken, was ihr erneut eine Gänsehaut bescherte, und löschte nur kurz das Licht, bevor er sich wieder von hinten an sie presste und sein Gesicht an ihrer Schulter verbarg. Sadie legte ihre Hand auf seine und schloss mit einem zufriedenen Lächeln die Augen. In diesem Moment war sie glücklich und sorglos. Es war alles in Ordnung und schon bald würde vergessen sein, was passiert war.

Sie schlief im Handumdrehen ein und merkte nicht mehr, wie Matt hinter ihr irgendwann blinzelte und in die Finsternis starrte. Er war hellwach. Zwar versuchte er, sich auf Sadies ruhige Atemzüge zu konzentrieren, aber es ging nicht. Er streichelte ihre Finger mit seinen, vergrub das Gesicht in ihrem Haar, sog den vertrauten Duft ihres Shampoos ein. Das Entsetzen hatte ihn trotzdem im Griff.

 

 

Sonntag

 

Sadie blinzelte unwirsch, als Mittens unten in der Küche ein Hungergeheul anstimmte. Der Blick auf die Uhr ergab, dass es bereits kurz nach acht war. Matt erweckte nicht den Anschein, die Katze gehört zu haben, aber das war nicht weiter relevant, weil er mit seinem Gipsfuß ohnehin ewig gebraucht hätte, um nach unten zu kommen.

Sadie war noch nicht ganz aufgestanden, als sie einen krampfartigen Schmerz im Unterleib spürte. Sie verdrehte die Augen und machte, bevor sie nach unten ging, noch einen Umweg übers Bad. Es war also wieder soweit. Nach Bauchweh stand ihr zwar gerade überhaupt nicht der Sinn, aber da musste sie jetzt durch.

Als sie unten in der Küche eintraf, saß Mittens mit anklagendem Blick vor dem leeren Napf. Sadie ging an ihr vorbei, holte eine Dose Katzenfutter aus dem Schrank und teilte sie auf die beiden Näpfe auf. Mittens hatte gerade begonnen, geräuschvoll zu schmatzen, als Figaro erschien und sich zu ihr gesellte. Sadie kniete sich hinter die beiden und kraulte sie. Ein Leben ohne die beiden Katzen konnte sie sich kaum vorstellen.

Der Schmerz trieb sie schließlich zurück ins Bett. Sie wusste, sie würde bald frühstücken müssen, um eine Schmerztablette zu nehmen. Aber noch hatte sie dazu keine Lust.

Der Schmerz ließ nach, als sie erst einmal wieder im warmen Bett lag und sich entspannte. Sie hatte sich kaum hingelegt, als Matt nach ihr tastete und einen Arm um sie legte.

„Du bist kalt“, stellte er fest.

„Ich habe die Katzen gefüttert.“

„Oh, fütterst du mich auch?“

Sadie lachte leise. „Frühstück ans Bett oder was?“

„Oh, das wäre doch toll ... Erst ein leckeres Frühstück und zum Nachtisch würde ich dich verspeisen ...“ Mit diesen Worten ließ Matt seine Hand unter der Decke verschwinden und wanderte mit ihr über Sadies Bauch abwärts. Gleichzeitig begann er, sie in den Nacken zu küssen, doch sie hielt seine Hand fest und seufzte.

„Heute leider nicht. Ich habe Bauchschmerzen.“

Matt seufzte leidend. „Nicht schon wieder ... wie hält man das als Frau alle vier Wochen aus?“

„Muss man ja“, erwiderte Sadie trocken.

„Meine arme Sadie.“ Matt rutschte etwas näher an sie heran und ließ seine Hand auf ihrem Bauch ruhen. Sadie lächelte mit geschlossenen Augen. Sie fand die Wärme seiner Hand angenehm und er wusste das.

„Du hast es wirklich ernst gemeint, dass du es mit dem Kinderkriegen noch mal versuchen willst?“, fragte Matt unvermittelt.

Sadie wandte ihm den Kopf zu. „Ja. Wieso?“

„Ich weiß nicht, du musst das nicht meinetwegen tun. Nur, wenn du unbedingt willst.“

„Willst du nicht mehr?“, fragte sie verdutzt.

„Ach was, nein ... vergiss es. Ich musste nur eben daran denken, wie froh ich bin, dass es diesbezüglich mit Stacy naturgemäß kein Problem mehr gibt.“

Sadies Irritiation wuchs. Es kam selten genug vor, dass Matt überhaupt von Stacy sprach – und dann in dieser Situation ...

„Was?“, fragte Matt, den ihr Schweigen überraschte.

„Ich habe mich nur gewundert, dass du von ihr sprichst.“

„Soll vorkommen“, sagte er und vertiefte das Thema nicht weiter. Sadie fand es trotzdem eigenartig. Irgendwie war das alles immer noch beunruhigend. Sie hatte nicht vergessen, wie die anderen sie in der letzten Woche angesprochen hatten. Aber es war so eigenartig – manchmal gab Matt sich stumm wie ein Fisch und in anderen Momenten war er wie immer. Sadie war nicht sicher, was sie davon halten sollte und es ärgerte sie, weil sie es hätte wissen müssen.

Schließlich standen sie auf, gingen duschen und frühstückten gemeinsam. Dabei nahm sie eine Schmerztablette und wartete darauf, dass die Wirkung einsetzte. Wie so oft in letzter Zeit verschwand Matt danach am Computer, was Sadie weder kommentierte noch besonders beachtete. Sie beschloss, etwas zu tun, das sie viel zu lang nicht mehr gemacht hatte und setzte sich mit ihrem Zeichenblock und einem Stift draußen auf die Terrasse. Sie zeichnete die Rosenranke, die in der Nähe des Hauses wuchs, und es gelang ihr, darüber vollkommen abzuschalten. Inzwischen hatte sie auch keine Bauchschmerzen mehr. Ihr Bild war fast fertig, als das Telefon klingelte. Erst hatte sie keine Lust, aufzustehen, aber als es weiter klingelte, tat sie es doch. Vielleicht hörte Matt es durch seine Kopfhörer nicht, denn eigentlich saß er gleich neben einem Telefon.

Sie erkannte die Nummer nicht auf Anhieb, aber die Vorwahl war aus der Stadt. „Sadie Whitman.“

„Sadie, ich bin es, Nathan“, meldete der Polizist sich. „Hast du kurz Zeit?“

„Natürlich, was ist los?“

Sie hörte ihn atmen, er schien nach Worten zu suchen. „Gilt dein Angebot noch?“

Sadie lächelte. „Natürlich gilt das.“

„Kannst du morgen ins Department in Downtown kommen?“

„Kann ich. Der Fall mit der Prostituierten?“

„Genau der. Wir sind noch damit beschäftigt, die Videoüberwachung des Hotels auszuwerten, um einen Verdächtigen auszumachen, aber ich glaube, irgendwas ist anders an dem Fall.“

„Jetzt bin ich gespannt“, sagte Sadie.

„Also, da du jetzt an Bord bist: Sie ist wirklich brutal umgebracht worden, aber sie lag aufgebahrt in dem Bett. Es gibt so viele widersprüchliche Hinweise ... ich musste unwillkürlich an Manning denken.“

„Okay, ich bin gespannt. Wann soll ich morgen da sein?“

„Wir haben um halb zehn Lagebesprechung. Wenn du es bis dahin schaffst, wäre das super. Dann kann ich dich gleich vorstellen.“

„In Ordnung. Ich freue mich schon, wieder mit dir zusammenzuarbeiten.“

Er lachte kurz. „Sag das nicht ... ich hasse den Fall jetzt schon.“

„Ach, das wird. Ganz bestimmt. Wir haben auch Manning zusammen geknackt.“

„Nein, du hast ihn geknackt. Deshalb setze ich alle Hoffnung in dich. Wenn wir das hinkriegen, lade ich euch zum Grillen ein!“

„Bau nur Druck auf“, sagte sie belustigt.

„Hey, hast du nicht bislang jeden deiner Fälle aufgeklärt? Na also. Als ob sich das jetzt ändern würde.“

Sadie grinste. Dadurch wurde der Druck nicht eben geringer, aber sie wusste, Nathan wollte sie motivieren.

„Ich bin gespannt und ich freue mich auf morgen“, sagte sie. „Danke für dein Vertrauen, Nathan.“

„Na hör mal, das hast du auch verdient. Was machst du heute noch Schönes?“

„Im Moment sitze ich draußen im Garten. Wir haben heute nichts Spezielles vor, und du?“

„Ich komme gerade aus dem Büro. Alle sind ausgeflogen und auf dem Sportplatz. Ich denke, ich werde hier jetzt noch ein wenig arbeiten.“

„Nicht übertreiben“, mahnte Sadie.

„Ich doch nicht. Also dann, bis morgen.“

Sadie verabschiedete sich und legte auf. Es freute sie, dass Nathan ihre Hilfe wieder angefordert hatte. Es war sehr angenehm, mit ihm zu arbeiten. Jetzt war sie guter Dinge, denn im Büro hatte sie ohnehin Leerlauf.

Ihr fiel auf, dass einige Blumen im Garten die Köpfe hängen ließen, deshalb bewaffnete sie sich mit der großen Gießkanne und versuchte, Abhilfe zu schaffen. Das hatte sie schon in Waterford gemocht und setzte es hier jetzt fort.

Trotzdem freute auch sie sich darauf, dass Matt seinen Gips bald los wurde. Dann konnte sie am Wochenende wieder etwas mit ihm unternehmen.

Sie war noch gar nicht ganz fertig, als das Telefon erneut klingelte. Sadie stellte die Gießkanne ab und ging zurück auf die Terrasse. Sie erkannte die Nummer auf dem Display und lächelte. „Hey, Nick.“

„Schön, dass ich dich erreiche, Sadie. Ich hoffe, ich störe nicht.“

„Nein, überhaupt nicht“, erwiderte sie und ging mit dem Telefon wieder nach draußen.

„Ich wollte dich schon Ende der Woche anrufen, aber du weißt ja, wie das ist. Wir waren noch unterwegs in einem Fall, als ich eine Nachricht der American Society of Criminology bekommen habe. Ich hatte ja dein Essay dort eingereicht.“

„Und?“, fragte Sadie gespannt.

„Sie wollen ihn nehmen. Allerdings nehmen sie ihn schon für die nächste Ausgabe, wenn niemand Einwände hat. Sie schrieben mir, dass wohl jemand einen Artikel zurückgezogen hat und wenn wir einverstanden sind, dann erscheint er in zwei Wochen.“

„Oh. Okay“, sagte Sadie überrascht.

„Hast du etwas dagegen?“

„Nein, überhaupt nicht. Ich bin schon gespannt.“

„Toll. Dann gebe ich grünes Licht. Dazu habe ich aber auch noch eine Frage. Ich fände es toll, wenn du bei Gelegenheit zu uns an die Academy kommen könntest, um den Rekruten etwas dazu zu erzählen. Was hältst du davon?“

Sadie lächelte. „Dachte ich mir, dass du danach fragen würdest.“

„Du musst nicht.“

„Doch, das gehört in dem Fall dazu. Ich spreche mal mit meinem Chef und dann komme ich rüber zu euch.“

„Das wäre famos, Sadie. Meld dich einfach und ich sehe, dass ich alles in die Wege leite. Das übernehmen selbstverständlich wir.“

„Kein Problem“, sagte sie.

„Und wie geht es dir sonst?“

„Alles in Ordnung. Ich kann nicht klagen“, behauptete sie.

„Und Matt?“

„Er bekommt vielleicht in den nächsten Tagen den Gips ab.“

„Gut zu hören“, sagte Nick. „Das war aber nicht meine Frage.“

„Er geht jetzt schon seit zwei Wochen wieder arbeiten, das tut ihm gut.“

„Das glaube ich sofort. So kenne ich ihn. Aber zum Glück hat er ja in dir eine Expertin für solche Situationen.“

Sadie schluckte schwer. „Das hoffe ich ...“

„Ich bitte dich, du kennst dich auf jeder denkbaren Ebene mit dem Problem aus.“

„Ja, aber er ist mein Mann, verstehst du? Bei ihm gehe ich nicht hin wie bei Zeugen und Verbrechensopfern, mit denen ich bei der Arbeit konfrontiert werde, und versuche es auf die zaghaft-konfrontative Art. Letzte Woche wurde ich von mehreren Leuten darauf angesprochen, wie schweigsam er immer noch ist.“

„Du glaubst, du bist nicht objektiv genug?“

„Genau ... Die anderen machen sich alle Sorgen.“

„Wer?“

„Phil und der Polizist, Detective Morris ... und mit Cassandra habe ich auch gesprochen.“

Nick seufzte tief. „Wie siehst du das?“

„Ich weiß es nicht.“ Sadie fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. „Er schläft immer noch schlecht.“

„Du liebe Güte, es ist fünf Wochen her. Er ist doch kein Superheld.“

„Aber Phil sagte auch, er ist anders als ich damals.“

„Was auch kein Wunder ist, denn es ist etwas anderes passiert und außerdem ist er ein Mann. Du weißt, wir Männer reagieren in solchen Situationen anders.“

„Ja, ganz offensichtlich. Ich versuche, es zu handhaben, wie er es damals getan hat: Ich bin für ihn da, aber ich bedränge ihn nicht.“

„Ganz ehrlich? Das klingt in meinen Ohren goldrichtig.“

Ein riesiger Stein fiel Sadie vom Herzen. „Danke, Nick. Das tut gut zu hören.“

„Was hat Cassandra gesagt?“

„Ihr ist sein Verhalten aufgefallen, aber sie meinte, ich soll mir keine Sorgen machen und abwarten.“

„Das denke ich auch, Sadie. Vertrau deinem Instinkt, denn der lag noch nie falsch.“

Sadie bedankte sich für seinen Zuspruch und verabschiedete sich schließlich von ihn. Ruhe ließ es ihr trotzdem keine. Ihr Instinkt lag nie falsch ... das mochte stimmen, aber das war gleichzeitig auch genau das Problem. Sadie hatte eben nicht das Gefühl, dass es mit Abwarten getan war.

Kurzerhand ging sie ins Wohnzimmer und holte eins der Bücher aus dem Regal, die sie seit ihrer traumapsychologischen Fortbildung besaß. Das Seminar hatte sie darin bestätigt, dass es manchmal ganz gut war, nach traumatischen Erfahrungen einfach Geduld zu haben. Die allermeisten Menschen verarbeiteten sie problemlos und ohne fremde Hilfe, viele wuchsen daran. Das hatte sie an sich selbst gesehen.

Die Gründe für ein Trauma lagen oft in der Hilflosigkeit, die man in einer Gefahrensituation erlebte. Das kannte Sadie von sich selbst. Danach litt man oft unter Alpträumen und es kam vor, dass bestimmte Situationen oder andere Reize die Erinnerung an die traumatisierende Situation zurückholten. Das war ihr selbst ja in ihrer eigenen Hochzeitsnacht passiert, als sie statt Matt plötzlich Sean in ihrem Kopf gehört hatte.

Sie wusste, sie hatte es damals geschafft, die Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung zu verhindern. Jedenfalls, was Sean betraf. Sie wusste auch, dass sie als Kind unter einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung gelitten hatte, denn der tödliche Ausraster ihres Vaters hatte sie nachhaltig beeinflusst. Das war auch alles kein Wunder.

Aber egal, wo sie nachlas: Matt zeigte die typischen Anpassungsstörungen nach einer Gewalterfahrung. Die Alpträume waren nicht ungewöhnlich, seine Schweigsamkeit war es auch nicht. Sie rief sich ins Gedächtnis, dass Männer ihre Erfahrungen öfter nach außen trugen. Hatte sie versucht, ihre Verzweiflung mit sich selbst auszumachen und schließlich ein Messer gegen sich selbst gerichtet, setzte Matt sich an den Computer und spielte Ballerspiele. Er ging arbeiten, er schwieg Stacy tot und manchmal, wenn es doch aus ihm herausbrach, äußerte er sich aggressiv. Das alles war normal.

Ihre Fachliteratur erinnerte sie daran, dass Matt nach seinen Erfahrungen genauso unter Selbstzweifeln und Gefühlen von Einsamkeit litt, wie sie es seinerzeit getan hatte. Männer gingen nur anders damit um. Die Opferrolle war etwas, das Männer nur schwerlich annehmen konnten – manche profitierten davon und versuchten aktiv, diese Rolle zu überwinden.

In der Folge fand Sadie bestätigt, dass sie tatsächlich alles richtig machte. Es war gut, einfach für ihn da zu sein und ihm klar zu machen, dass er ihr nichts vorspielen musste. Es empfahl sich auch nicht, mit ihm über Stacy zu sprechen, wenn er das nicht wollte.

Sie wusste das alles und sie handelte entsprechend. Es hatte keinen Sinn, sich ihm aufzudrängen. Trotzdem verwirrte es sie, dass Matt sehr wohl an Zärtlichkeiten interessiert und generell sehr aufmerksam ihr gegenüber war, sich aber in vielen anderen Bereichen noch so schwer tat. Inzwischen erzählte er ihr auch nicht mehr von seinen Alpträumen. So sehr Sadie sich auch davon zu überzeugen versuchte, dass alles normal war und sie alles richtig machte – ihr Instinkt protestierte. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte, denn ihr fehlte jeder Anhaltspunkt. Vielleicht wurde es wirklich besser, wenn er erst den Gips los war.

Zumindest hoffte sie das.

Sie schlug das Buch zu, stellte es wieder ins Regal und ging nach oben, wo Matt immer noch vor dem Computer saß. Allerdings spielte er nicht mehr und er trug auch seine Kopfhörer nicht. Als Sadie hinter ihn trat, war er gerade damit beschäftigt, Sonderangebote bei Filmen durchzusehen. Er wandte den Kopf zu ihr und lächelte.

„Mit wem hast du telefoniert?“

„Mit Nathan“, sagte Sadie. „Er hat mich nun doch gebeten, mit ihm gemeinsam zu ermitteln.“

„Das ist ja keine Überraschung“, sagte Matt und grinste.

„Ich freue mich darauf. Es war toll, mit Nathan zusammenzuarbeiten.“

„Nathan ist auch schwer in Ordnung. Und wer hat noch angerufen?“

„Ach, das war Nick. Es ging um mein Essay“, sagte Sadie und erzählte Matt, was Nick ihr gesagt hatte.

„Ich bin stolz auf dich“, sagte Matt dann und bemühte sich, trotz seines Gipsbeins aufzustehen. Er umarmte Sadie und gab ihr einen Kuss. In diesem Moment fragte Sadie sich wieder, was sie sich da eigentlich zurechtsponn.

 

 

Montag

 

„Du kriegst das hin“, versuchte Matt, ihr Mut zu machen. „Denk mal über deine Erfolgsquote nach. Dir ist bisher noch keiner entkommen.“

„Ich weiß“, sagte Sadie und hielt ihm die Tür auf. Am Sicherheitscheck ließen sie ihre Ausweise scannen und gingen zu den Aufzügen.

„Ich bin gespannt, ob ich ihm helfen kann“, sagte Sadie, während sie den Aufzug betraten.

„Ach komm, du hast sogar Manning geknackt. Das war doch deutlich schwieriger.“

Sadie wusste nicht, ob sie dem so zustimmen sollte, denn das würde sie erst noch sehen. Sie ging nicht weiter darauf ein, verabschiedete sich von Matt und ging in Hanks Büro, um sich den Schlüssel von einem der Dienstwagen zu holen und ihrem Chef Bescheid zu geben, dass sie auswärts unterwegs sein würde. Hank wünschte ihr viel Erfolg, dann machte sie sich auf den Weg nach Downtown. Zum Glück war der schlimmste Berufsverkehr bereits vorüber.

Sadie tat sich immer noch schwer damit, sich an die schier endlose Größe dieser Stadt zu gewöhnen – und daran, wie viele Menschen dort lebten. Bis jetzt hatte sie immer in kleineren, überschaubareren Städten gelebt und so etwas wie eine Rush Hour hatte es dort eigentlich gar nicht gegeben. Aber in Los Angeles konnten sie und Matt eben am besten ihrer Arbeit nachgehen.

Schließlich war sie in Downtown angekommen und machte sich auf den Weg zu Nathans Büro. Den Weg kannte sie noch, es war ja nicht so lang her, dass sie zusammengearbeitet hatten. Es freute sie, dass er sie erneut um Hilfe gebeten hatte.

Es war zwanzig nach neun, als sie seinen Schreibtisch erreicht hatte. Er telefonierte gerade und lächelte ihr zu, bevor er sein Telefonat schließlich beendete und ihr seine Aufmerksamkeit zuwandte.

„Pünktlich wie immer“, sagte er.

„Das hoffe ich doch.“

„Also, einen Überblick liefere ich dir am besten nach unserem Meeting. Ich will gleich nur kundtun, dass du da bist und dann setzen wir uns an die Arbeit.“

„Klingt gut“, fand Sadie. Nathan begann, einige Unterlagen über den Fall zusammenzustellen und ging dann voraus in den Besprechungsraum, in dem sich alle Kollegen trafen, die auch nur im Entferntesten mit den Ermittlungen zu tun hatten. Nathan und sein Kollege Roy waren die leitenden Ermittler in dem Fall, aber es gesellten sich auch zahlreiche andere Kollegen dazu, darunter der Chief.

„Sie müssen Special Agent Whitman sein“, sagte er und hielt zielstrebig auf Sadie zu, um ihr die Hand zu reichen.

„Das bin ich. Guten Morgen“, sagte sie, während sie seine Hand schüttelte.

„Nathan hat schon nach ihrer Arbeit mit Manning in den höchsten Tönen von Ihnen geschwärmt. Ich hoffe, dass dieser Ermittlungserfolg sich jetzt wiederholen lässt!“

„Wir tun unser Bestes“, sagte Sadie. Schließlich waren alle Kollegen vor Ort und der Chief schloss die Tür, bevor er Nathan zunickte und dieser das Wort ergriff.

„Guten Morgen zusammen, ich hoffe, Sie hatten ein angenehmes Wochenende“, begann er. „Ich hoffe, dass wir mit unseren Ermittlungen im Fall Anita Paley in dieser Woche einen entscheidenden Schritt nach vorn machen werden. Oberste Priorität hat immer noch die Ermittlung eines möglichen Tatverdächtigen. Um die Ermittlungen etwas voranzutreiben, habe ich uns Unterstützung vom FBI geholt. Special Agent Sadie Whitman ist Profilerin und hat vor kurzem schon mit mir im Fall der neuen Opfer von Carter Manning zusammengearbeitet.“ Nathan blickte ihr zu und Sadie lächelte in die Runde.

„Guten Morgen“, sagte sie. „Ich freue mich, wieder hier zu sein und Detective Morris sowie Ihre ganze Einheit unterstützen zu können. Haben Sie Fragen?“

Eine junge Polizistin hob die Hand. „Ermitteln Sie öfter mit der Polizei?“

„Gelegentlich“, sagte Sadie. „Im Falle des Pasadena Stalkers etwa konnte ich der Polizei helfen.“

„Nicht schlecht. Und haben Sie noch in anderen bekannten Fällen ermittelt?“

Sadie zählte ein paar Namen exemplarisch auf und konnte den Gesichtern ansehen, dass sie sich damit schon eine gewaltige Portion Respekt eingehandelt hatte.

„Sadie wird uns von jetzt an unterstützen“, meldete Nathan sich wieder zu Wort. „Am wichtigsten ist es jetzt, irgendwie herauszufinden, wer mit Anita Paley im Hotel war. Dazu müssen immer noch die Videoaufnahmen ausgewertet und die letzten Angestellten vernommen werden. Wir brauchen jeden Zeugen, den wir kriegen können. An die Arbeit!“

Alle schwärmten aus, inklusive Nathans Partner Roy. Er hatte Sadie kurz zugenickt, aber dann verschwand er. Nathan und Sadie machten sich auf den Weg in einen Besprechungsraum.

„Roy koordiniert die Ermittlungen, während wir uns einarbeiten“, erklärte Nathan. „Irgendjemand muss das Chaos ja beaufsichtigen!“

Sadie grinste und nahm dankend an, als Nathan ihr etwas zu trinken anbot. Dann setzten sie sich zusammen, Nathan schloss die Tür und breitete die Ermittlungsunterlagen auf dem Tisch vor ihnen aus.

„Also dann“, sagte er und blickte zu Sadie. „Bereit? Das wird nicht schön.“

„Bereit“, sagte sie trotzdem.

Er öffnete einen Hefter und zeigte ihr die ersten Fotos. Auf den ersten Blick konnte Sadie nicht erkennen, was so schlimm an den Bildern sein sollte. Die ganzen blutigen Details entdeckte sie erst auf den zweiten Blick.

Die Aufnahmen waren bei hellem Tageslicht in einem Hotelzimmer gemacht worden. Anita Paley lag tot auf dem Bett, mitten auf der Matratze, und alles hätte so friedlich wirken können, wäre da nicht das viele Blut gewesen. Bei den Nahaufnahmen erkannte Sadie, dass Anitas Gesicht nicht voller Blut war – es war überhaupt kein Gesicht mehr erkennbar. Sie griff nach einem Foto, das Nathan danebengelegt hatte. Es war ein Auszug aus der Führerscheindatei und es zeigte eine junge, hübsche, blonde Frau. Davon war auf dem Tatortfoto nicht mehr viel zu erkennen.

„Ich sehe, das schockt dich nicht“, stellte Nathan fest.

Sadie schüttelte den Kopf. „Das habe ich schon einmal gesehen, damals bei meinem ersten Mordfall in Waterford. Dort hatte der Täter das Gesicht eines Jungen in ähnlicher Weise zertrümmert.“

„Was hat dir das verraten?“

„Hass“, sagte Sadie. „Unkontrollierte Wut und Aggression. Wird hier nicht anders sein.“

„Nein, das denke ich auch. Was siehst du noch?“

Sadie schaute sich alles genau an, ließ die Szene auf sich wirken. Das Blut war überall, an der Wand, auf dem Bett und auf Anitas Körper. Sie war nackt. Nacheinander nahm Sadie sich alle Fotos und studierte die Szene genau.

Anita lag wie aufgebahrt auf dem Bett, die Hände lagen aufeinander, fast wie im Gebet verschränkt. Man hatte Nahaufnahmen von ihren Handgelenken gemacht, die rote Striemen aufwiesen. Sie war gefesselt gewesen. Auch an ihren Fußgelenken wies sie Striemen von Fesseln auf.

„Ich nehme an, sie wurde vergewaltigt?“, fragte Sadie.

Nathan nickte. „Der Gerichtsmediziner hat eindeutige Verletzungen gefunden. Sieh mal hier.“ Er suchte ein anderes Foto heraus, das scheinbar aus der Gerichtsmedizin stammte. Es zeigte deutliche Blutergüsse an ihren Oberschenkeln.

„Der Pathologe hat bei ihr Verletzungen im Vaginal- und Analbereich gefunden“, sagte Nathan.

Sadie nickte verstehend. „Sag nichts. Ich wette, du hast Vermutungen zum Ablauf, aber lass mich das mal allein beurteilen.“

„Ich bin ganz still“, sagte Nathan. 

„Das ist in einem Hotel passiert. Sie muss geschrien haben, sowohl bei der Vergewaltigung als auch bei ihrer Ermordung. Es sei denn, sie war geknebelt.“

„War sie“, sagte Nathan und wühlte nach einem weiteren Foto. Es zeigte einen Ballknebel, wie man ihn in Sexshops kaufen konnte.

„Darauf hat der Gerichtsmediziner getippt. Stammte wohl aus ihrem eigenen Inventar, jedenfalls konnten ihr Speichel und ihre Zahnabdrücke daran nachgewiesen werden. Sie hatte Sachen dabei, darunter auch Fesseln aus dem Sexshop, aber gefesselt war sie wohl mit diesen Handschellen und Stricken.“ Er deutete auf ein weiteres Foto.

„Okay ... was war die Todesursache?“

„Erschlagen mit einem stumpfen Gegenstand. Der Pathologe vermutet, dass sie schnell das Bewusstsein verloren hat, weil die Schläge gezielt gegen den Kopf gerichtet wurden. Die Mordwaffe kennen wir nicht, die wurde nicht gefunden.“

„Aber das ist ein Overkill. Der Mörder hat länger zugeschlagen, als er musste“, sagte Sadie.

„So sieht es aus. Sie war schnell bewusstlos, aber dann hat er ihr Gesicht zertrümmert. Das sieht für mich nach Hass, nach blinder Raserei aus. Wie du schon gesagt hast.“

„Wurde ein Drogentest gemacht?“

„Wurde gemacht, sie hatte Alkohol und Kokain im Blut.“

„Oh“, machte Sadie. „Doppelt hält besser?“

„So ungefähr. Wahrscheinlich gilt dasselbe für ihren Mörder.“

„Spermaspuren?“

„Keine“, sagte Nathan. „Er hat ein Kondom benutzt.“

„Hm. Vorhin hast du Videoaufnahmen erwähnt. Sieht man nicht, mit wem sie ins Hotel geht?“

„Das ist es ja gerade. Man sieht, wie sie um 19.25 Uhr das Hotel durch die Lobby betritt.“ Auch dazu hatte Nathan ein Foto. Es war eine Momentaufnahme aus dem Überwachungsvideo. Anita trug ein elegantes, hautenges schwarzes Kleid und High Heels. Ihr langes blondes Haar fiel ihr glatt auf die Schultern. Sie trug eine relativ große Handtasche am Unterarm, ansonsten wirkte sie unauffällig.

Und sie war allein.

„Es hat sie niemand begleitet?“, sagte Sadie.

„Das ist ja gerade mein Problem. Anita hat für die Escortagentur Vivid Dreams gearbeitet, aber wie mir ihre Kolleginnen sagten, hat sie darüber hinaus auch private Anfragen erfüllt. Bei Vivid Dreams wird jeder Auftrag protokolliert, aber für diesen Abend hatte sie keinen. Sie starb in der Nacht etwa gegen viertel nach zwei. Wir sind seit Tagen dabei, die Überwachungsaufnahmen des Hotels auszuwerten, die Gesichtserkennung zu bemühen und jeden aufzutreiben, der an diesem Abend im Hotel war – Angestellte eingeschlossen. Das Problem ist nämlich, dass ihr Kalender verschwunden ist. Wir durchforsten immer noch ihre Anrufliste ... das alles dauert. Wir werden schon irgendwie rekonstruieren, wer sie kannte und mit wem sie in letzter Zeit Kontakt hatte, aber wir haben ja kein Sperma und die Fingerabdrücke im Zimmer kannst du als Beweis ja vollkommen vergessen.“

Sadie nickte, das Problem war ihr bewusst. „Konntet ihr überhaupt welche sichern?“

„Nicht wirklich. An ein paar neuralgischen Punkten wurden sie auch abgewischt, die Türklinke und der Lichtschalter waren völlig clean.“

„Und ein Abgleich der Personen, die das Hotel betreten und nach dem Mord wieder verlassen haben ...?“

„Wir arbeiten an allem, aber das ist ein großes Hotel. Wir können blöderweise nicht zuordnen, wer Anita in das Zimmer gefolgt ist. Ich denke schon, dass dieser Fall sich irgendwann durch klassische Polizeiarbeit lösen lässt, aber du weißt ja, wie das ist – je länger die Ermittlungen dauern, desto schlechter für die Aufklärung. Ich hoffe, dass du mir etwas über den Täter verraten kannst, das uns zumindest dabei hilft, den Verdächtigenkreis etwas einzugrenzen.“

„Verstehe“, sagte Sadie. „Wir haben also den höchst unwahrscheinlichen Fall, dass Anita in einem Hotel mit genügend Kameras war, aber sie hat sich privat mit jemandem getroffen und man hat bislang weder seine Telefonnummer noch eine Aufnahme von ihm.“

„So ist es“, sagte Nathan. „Sie hatte ja einen Kalender, aber den hat der Täter wohl mitgenommen. Anita war jetzt auch keine einfache Prostituierte, wie sie in finsteren Ecken Hollywoods am Straßenrand stehen ... nein, sie war eher das, was man wohl eine Edelprostituierte nennen würde. Wenn sie Aufträge von Vivid Dreams bekommen hat, waren das oft abendfüllende Veranstaltungen mit gutbetuchten Geschäftsmännern.“

„Die klassische Geschichte? Ein Abendessen, vielleicht ein Opernbesuch und hinterher bezahlte Extras auf dem Zimmer?“, sagte Sadie.

„So in der Art. Sie hat gut verdient, einen Abend hat sie sich, je nach Aufwand, mit mehreren Tausend Dollar bezahlen lassen. Sie war regelmäßig zu Gesundheitschecks beim Arzt, sie hatte ein hübsches Apartment in Beverly Hills. Ganz ehrlich ... die Gegend kann ich mir nicht leisten“, sagte Nathan.

Sadie grinste. „Ich verdiene auch nicht soviel.“

„Die Chefin bei Vivid Dreams sagte mir, dass Anita immer gut gebucht war. Pro Woche hatte sie im Durchschnitt vier Aufträge von der Agentur, hat pro Abend zwei- oder dreitausend Dollar verdient, dann noch private Zusatzaufträge ... und an Vivid Dreams hat sie meist fünfzehn Prozent abgetreten.“

„Wahnsinn“, staunte Sadie.

„Anita war bei den Kunden sehr begehrt, weil sie intelligent, eloquent und ziemlich tabulos war. Sie hat so ziemlich jeden Wunsch ihrer Kunden erfüllt, solange dafür nur bezahlt wurde. In ihrem Repertoire fand sich eigentlich alles. Rollenspiele, Fetische, sie hat sich als Domina oder als Sklavin angeboten, je nachdem. Sie war siebenundzwanzig und sie hat während ihres Studiums begonnen, für Vivid Dreams zu arbeiten. Sie hat an der UCLA studiert, Geschichte, soweit ich weiß. Den Abschluss hat sie auch gemacht, aber danach ist sie bei Vivid Dreams geblieben. Geld stinkt eben nicht.“

„Scheint so“, sagte Sadie.

„Man könnte sagen, sie hatte es geschafft, zumindest in ihrer Branche. So, das ist der grobe Überblick. Hast du noch Fragen?“

„Nun ... wenn du mich um Hilfe bittest, wirst du schon einiges überprüft haben.“

„Ja, wie gesagt, an den Überwachungsaufnahmen sind wir dran. Das ist eine ziemliche Scheißarbeit, denn die Gesichtserkennung kann nicht so viel, wie wir gern hätten. Wir gleichen im Moment die Aufnahmen mit den Fotos aller Angestellten und Hotelgäste ab. Das ist nicht witzig, wie du dir denken kannst. Noch haben sich da keine Schnittpunkte mit Anitas Stammkunden ergeben. Die überprüfen wir natürlich auch. Wie gesagt, wir haben schon mit den Hotelangestellten, mit Anitas Kollegen und ihrer Mutter gesprochen. Anita war Single, da kann uns also niemand weiterhelfen.“

„Klar ... und selbst wenn ihr dann irgendwann alle Gesichter auf den Aufnahmen überprüft habt, bringt euch das nicht zwingend weiter. Nicht ohne konkrete Hinweise.“

„Eben. Ich hätte gern, dass du dir das alles ansiehst und mir sagst, was hier vermutlich passiert ist. Nach welchem Tätertyp muss ich suchen? Ist er ein Frauenhasser? Ein Serientäter? War er auf Droge? Ist er ausgerastet?“

Sadie nickte langsam. „Wo ist der Obduktionsbericht?“

„Hier“, sagte Nathan und zog einen weiteren Hefter heran. Sadie schlug ihn auf und überflog die Erkenntnisse des Gerichtsmediziners. Anita hatte einiges getrunken und zusätzlich gekokst, aber ihr Magen war leer gewesen. Der Pathologe hatte vermutet, dass sie sich mal übergeben hatte. Das konnte ja auch einfach an ihrem Drogenkonsum liegen.

Er hatte die Fesselspuren dokumentiert und viele weitere Verletzungen festgehalten. Anita war gewürgt worden, was sich sowohl in Druckspuren an ihrem Hals, als auch an kleinen Einblutungen in ihren Augen niederschlug. Ihre Mundwinkel waren eingerissen, ihre rechte Augenbraue aufgeplatzt. Der Gerichtsmediziner hatte versucht, die Verletzungen in ihrem Gesicht noch zu benennen – ihre Nase und ihr rechtes Wangenbein waren gebrochen, es fehlten einige Zähne, an ihrer Schläfe war ihr Schädel beinahe zertrümmert. Die Verletzungen waren auch auf Fotos dokumentiert.

Darüber hinaus hatte er die Spuren ihrer Vergewaltigung festgehalten. Blutergüsse an den Beinen, Verletzungen an den Genitalien, Blut. Anhand der Schwere der Verletzungen hatte der Gerichtsmediziner geschlussfolgert, dass der Täter sie auch mit Gegenständen traktiert hatte.

Sadie schluckte hart und klappte den Obduktionsbericht wieder zu. Die entscheidende Frage war, um wen es sich bei dem Täter handelte und wie er mit Anita in Kontakt getreten war.

„Hat sie auch mal Kunden abgelehnt?“, fragte Sadie.

„So wie ich ihre Chefin bei Vivid Dreams verstanden habe, ja. Zwar war Anita sehr freizügig, aber auch wählerisch.“

„Also können wir davon ausgehen, dass er auch in ihr Beuteschema gepasst hat. Ein wohlhabender Geschäftsmann, dem man das auch ansieht.“

„Davon gehe ich aus.“

„Okay“, sagte Sadie und überlegte weiter. Daraus, dass er Anita nicht über Vivid Dreams gebucht hatte, schloss sie, dass sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach schon gekannt hatten oder der Kontakt spontan zustande gekommen war. Auf jeden Fall war er niemand, dem Anita misstraut hätte. Sadie konnte sich vorstellen, dass Anita sich sogar freiwillig hatte fesseln lassen und der Mann erst dann ausgerastet war.

Vielleicht war er heimlich in Anita verliebt gewesen und hatte die Beherrschung verloren, als sie nicht auf seine Avancen eingegangen war.

„Ganz dumme Frage“, sagte Sadie. „Auf wen war denn das Zimmer gebucht, in dem sie gefunden wurde?“

„Auf sie selbst“, sagte Nathan und zuckte mit den Schultern. „Sorry, das ist nicht die Lösung.“

„Dachte ich mir“, sagte Sadie. „Also wird sie vorab im Zimmer gewesen sein, um alles herzurichten und ihn dann dort zu empfangen.“

„So hatte ich mir das auch überlegt.“

„Offensichtlich war das auch kein Escort-Dienst, sondern es ging von vornherein nur um Sex.“

Nathan nickte. „Davon ist auszugehen.“

Sadie schloss die Augen. „Also, sie war schon auf dem Zimmer ... wurde denn überhaupt Unterwäsche gefunden?“

„Wurde es. Die lag vor dem Bett.“

„Okay ... also ... er klopft. Anita öffnet ihm in Dessous, hat vielleicht ein Glas Champagner in der Hand. So läuft das doch, oder? Sie bittet ihn herein, befreit ihn von seiner Krawatte, es geht zur Sache. Die beiden trinken und koksen. Er will sie fesseln, sie lässt es zu. Vielleicht ist es anfangs noch einvernehmlicher Sex. Aber irgendwann ist etwas passiert, das ihn die Beherrschung verlieren ließ. Zwar wissen wir jetzt nicht, wann er zu ihr gegangen ist, aber getötet hat er sie erst mitten in der Nacht. Und dieses Massaker ...“ Sadie deutete auf die Fotos. „Das ist nicht einfach so passiert. Er hat sie ja vorher schon vergewaltigt ... nehme ich an, oder?“

„Ja, das ist vor ihrem Tod passiert“, sagte Nathan.

Sadie atmete tief durch. „Wenn wir unterstellen, dass er auch Drogen genommen hat, könnte er in einer Art psychotischem Anfall ausgerastet sein. Oder aber sie hat ihn provoziert und er hat die Beherrschung verloren. Vielleicht steht er aber auch einfach nur drauf und hat das schon öfter getan.“

„Ich habe schon in VICAP geguckt“, sagte Nathan. „Da gibt es im weitesten Sinne ähnliche Fälle, aber nichts, was meine Aufmerksamkeit erregt hätte.“

„Okay ... er hat sie vergewaltigt. Dafür hat er sie geknebelt, weil er nicht wollte, dass sie schreit. Er muss sie auf den Bauch gedreht haben, sonst ergeben die Verletzungen im Analbereich keinen Sinn. Oder?“

Nathan nickte. „Das hätte es ihm vereinfacht.“

„Aber erschlagen hat er sie, als sie auf dem Rücken lag. Dazwischen lag also Zeit. Er hat es sich überlegt. Sie hat dagelegen und mit Sicherheit geweint. Sprechen konnte sie vermutlich nicht, sonst hätte sie geschrien. Also was hat dazu geführt, dass er sie mit einem stumpfen Gegenstand erschlägt?“

„Das ist die Frage“, sagte Nathan.

„Er hat ihr Gesicht zertrümmert. Sie war hübsch, also wollte er diese Schönheit zerstören, er wollte sie entpersonalisieren. Er wollte es blutig, er wollte sich abreagieren, seinem Hass freien Lauf lassen.“

„Nicht schlecht“, sagte Nathan. „Ich hatte mir das so ähnlich überlegt, wenn man die psychologischen Komponenten weglässt.“

„Das Ding ist nur: Er hat sie hinterher regelrecht aufgebahrt. Er hat sie in einem Overkill ermordet, viel brutaler als nötig. Danach nimmt er ihr die Fesseln ab und legt sie ganz friedlich hin.“ Sadie hob die Hände und seufzte. „Das passt nicht.“

„Nein, finde ich auch“, stimmte Nathan zu. „Wie erklärst du dir das?“

„Ein spontaner Anfall von Reue nach einem Overkill?“ Sadie schüttelte den Kopf. „Nein, ganz ehrlich, das da hat gedauert. Was hat er in der ganzen Zeit mit ihr gemacht? Unterstellen wir mal, er war um zwanzig Uhr bei ihr. Das waren sechs Stunden Zeit. Viel Gelegenheit für Drogen, Fesselspiele und Sex.“

„Denkst du wirklich, sie hat sich freiwillig fesseln lassen?“, fragte Nathan.

„Ja, schon, wieso fragst du?“

Er zuckte mit den Schultern. „Nur so. Ich hatte es mir damit erklärt, dass außer den Striemen an ihren Hand- und Fußgelenken keinerlei Verletzungen bei ihr zu finden waren, die auf eine Abwehr des Täters hingedeutet hätten. Sie hat ihn nicht gekratzt oder dergleichen, da war nichts zu holen.“

„Dachte ich mir“, sagte Sadie. „Sechs Stunden ... Ich bin noch nicht fertig mit der Frage, ob er das schon einmal getan hat. Das war verdammt kaltblütig, das tut nicht jeder. Setzt es Erfahrung voraus? Vielleicht. Auf jeden Fall hat der Täter sadistische Züge, denn er hat sich Zeit gelassen. Er hat sie gefesselt, vergewaltigt, vielleicht hat er dann überlegt, was er tun soll.“

„Das ist kein einfacher Vertuschungsmord“, sagte Nathan. „Um eine unliebsame Zeugin zu beseitigen, hätte es genügt, sie einfach zu erschlagen oder anderweitig umzubringen.“

„Richtig. Das ist etwas anderes. Vielleicht Hass auf Frauen? Hass auf sie persönlich? Ich weiß es noch nicht.“ Sadie stützte den Kopf in die Hände. „Lass mich ein wenig darüber nachdenken.“

„Alles, was du willst.“

Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Zu Anitas Ermordung gehörte eine Portion Sadismus und Hass. Und dann löst er ihre Fesseln und bahrt sie friedlich auf? Nein“, sagte sie kopfschüttelnd. „Ich sag dir was, Nathan: Das hat nicht derselbe Mensch getan.“

„Was, sie so hinzulegen?“

Sadie nickte. „Das war jemand anders.“

„Ein zweiter Täter?“

„Oder ein Mitwisser. Aber ihre Fesseln gelöst und sie so hingelegt, das hat jemand anders getan.“

„Bist du sicher?“

Sadie grinste. „Deshalb bin ich doch hier, oder?“

 

 

Sadie und Nathan hatten gerade die Köpfe über den ähnlichen Fällen zusammengesteckt, die VICAP ausgespuckt hatte, als es an der Tür klopfte. Herein kam der Chief.

„Störe ich?“, fragte er.

„Überhaupt nicht“, sagte Nathan.

„Wie kommen Sie denn voran?“

„Agent Whitman hat vorhin die Vermutung geäußert, dass wir es mit zwei Tätern zu tun haben.“

„Mit zwei Tätern?“, wiederholte der Chief und schloss die Tür hinter sich. „Wie kommen Sie darauf?“

Sadie erklärte ihm, wo sie Ungereimtheiten entdeckt hatte. Interessiert blieb der Chief hinter beiden stehen und nickte.

„Klingt sehr schlüssig, wie sie das erklärt, oder, Morris?“

„Deshalb ist sie ja hier“, sagte Nathan. „Mir ist diese Diskrepanz durchaus aufgefallen, aber ich bin psychologisch nicht so bewandert wie sie und hätte für mich nie diese Ableitung gezogen.“

„Ich ehrlich gesagt auch nicht“, stimmte der Chief ihm zu und nickte anerkennend. „Dieses Profiling ist wirklich interessant.“

Sadie lächelte. „Ich bin nur noch nicht sicher, ob ich in dem zweiten Täter überhaupt einen richtigen Mittäter sehen soll. Ich denke schon fast, der Haupttäter ist der Mörder und der zweite hatte ein schlechtes Gewissen, hat ihm aber nicht wirklich geholfen.“

„Ich bin gespannt“, sagte der Chief. „Dann machen Sie mal schön weiter.“

„Das tun wir“, sagte Nathan und warf einen Blick auf die Uhr. „Ich habe Hunger. Wie geht es dir?“

„Ähnlich“, sagte Sadie.

„Sollen wir wieder zum Diner um die Ecke? Das kennst du ja schon.“

„Gute Idee“, fand Sadie. Sie brachen auf und machten sich zu Fuß auf den Weg zu dem Diner, in dem sie auch vor kurzem schon zusammen gewesen waren. Beide trafen schnell ihre Wahl, dann nippte Nathan an seiner Cola.

„Ich habe übrigens mal wegen Manning nachgefragt“, sagte er. „Er hat sich noch nicht entschieden, ob er eine Wiederaufnahme des Verfahrens erreichen will. Er arbeitet gerade an einer psychiatrischen Begutachtung und will sich behandeln lassen.“

„Ist doch gut für ihn“, sagte Sadie.

„Anscheinend ist ihm bewusst, dass er nicht ohne Weiteres damit Erfolg haben wird. Ich bin nicht sicher, ob man ihn in ein psychiatrisches Hochsicherheitskrankenhaus verlegen wird, wenn die Diagnose sich bestätigt.“

„Wer weiß“, sagte Sadie. „Wenn wirklich festgestellt wird, dass er eine multiple Persönlichkeit hat, dann könnte er durchaus als unzurechnungsfähig eingestuft werden.“

„Mal sehen. Wie geht es Matt?“, wechselte Nathan das Thema.

„Matt?“, wiederholte Sadie. „Ich bringe ihn heute Abend zum Arzt, vielleicht wird er den Gips los. Das könnte helfen.“

„Wir haben ja letzte Woche nicht lang darüber gesprochen. Ich würde sagen, hinterher war es in Ordnung, durch das Bier wurde er gesprächiger. Aber bis dahin ...“ Nathan schüttelte den Kopf. „Kennengelernt habe ich ihn anders.“

„Ja, ich weiß. Du hast auch recht.“

„Es ist gut, dass das Thema weitestgehend vom Tisch ist. Es hätte ihm wirklich nichts gebracht, gegen sie auszusagen.“

„Nein ... wobei das nicht sein Problem ist. Er kämpft viel mehr damit, dass sie uns beide fast umgebracht hätte. Er sagte, er träumt meist davon, dass ich gestorben wäre.“

„Kann ich verstehen“, sagte Nathan. „Er fühlt sich verantwortlich, weil Stacy es auf ihn abgesehen hatte. So sind wir Männer.“

„Ja, ich weiß.“ Sadie starrte in ihre Cola. „Ich habe sogar gestern noch einmal nachgelesen, weil ich mich selbst verunsichert habe ... aber Matt zeigt keine Verhaltensweisen, die nicht zu erwarten wären. Es braucht einfach Zeit.“

Nathan lächelte. „Wenn du das sagst. Ich bewundere dein Wissen auf diesem Gebiet, damit habe ich nicht viel am Hut.“

„Das kann auch anstrengend sein“, sagte Sadie.

„Das glaube ich dir. Das bringt unser Job so mit sich.“ Er trank noch einmal von seiner Cola. „Zwei Täter ... das ist plausibel. Inwiefern ändert das etwas?“

„Das muss ich mir gleich mal überlegen“, sagte Sadie. „Vielleicht sehe ich mir auch mal die Überwachungsaufnahmen an, falls das geht.“

„Sicher. Denkst du, du findest jemanden?“

„Mal sehen. Nach dem Mittagessen überlege ich mir das Szenario mal für zwei Täter.“

„Ich bin gespannt. Es ist toll, dass wir wieder zusammen arbeiten. Das war schon bei Manning so überaus angenehm.“

Sadie lächelte verlegen. „Danke für die Blumen. Mir macht das auch Spaß.“

Sie wurden unterbrochen, als ihr Essen gebracht wurde. Das Gespräch erlahmte vorübergehend.

„Ich hoffe, ich kann dir auch irgendwann mal helfen“, sagte Nathan.

„Das hast du doch schon längst. Hast du das vergessen?“, fragte sie.

„Nein, aber das war doch schon mein Dankeschön für Manning.“

Sie lächelte. „Du musst dich nicht dafür bedanken, dass ich meinen Job mache.“

„Ich bedanke mich aber dafür, dass du ihn gut machst – und für mich.“

„Ich mache das wirklich gern.“

„Auch in einem solchen Fall?“, fragte Nathan.

„Natürlich. So etwas habe ich schon gesehen.“

„Ja, ich weiß. Ich hätte es aber verstanden, wenn es dir etwas ausmacht.“

„Das lasse ich nicht an mich heran“, sagte Sadie. Inzwischen gelang ihr das tatsächlich ganz gut. Sie wusste, wie Anita sich gefühlt haben musste, aber sie schob den Gedanken weg. Sie durfte einfach nicht daran denken, wie Sean das auch mit ihr gemacht hatte. Nicht während der Arbeit.

Schnell leerte sie ihr Glas. Sie beendeten ihre Mahlzeit, zahlten und kehrten zum LAPD zurück. Nathan besorgte dort frischen Kaffee und Kekse, während Sadie sich wieder vor die Fotos von Anita setzte und überlegte. Zwei Männer ...

„Hat Anita das gemacht?“, fragte sie Nathan, als er sich wieder zu ihr gesellte. „Hat sie auch mit mehreren Männern Verabredungen gehabt?“

„Keine Ahnung, das weiß ich nicht“, sagte Nathan.

„Ich könnte mir vorstellen, dass ihr das zu unsicher war.“

„Ja, ich mir auch. Aber weiß man es?“

„Ich kann ja mal bei Vivid Dreams nachfragen, ob so etwas üblich ist“, schlug Nathan vor.

„Gute Idee ... und ich gehe mal weiter die Fälle durch, die VICAP uns ausgespuckt hat.“

Nathan war einverstanden und begann zu telefonieren, während Sadie die Datenbank durchforstete. Die Kriterien, nach denen sie gesucht hatte, betrafen weibliche Opfer unter dreißig, die vergewaltigt und in einem Overkill ermordet wurden. Sadie suchte landesweit, fand aber trotzdem nicht viele Treffer. Der Overkill war sehr charakteristisch. Tatsächlich fand sie andere Prostituierte, die man, von zahllosen Messerstichen übersät, in finsteren Seitenstraßen gefunden hatte. Eine einzige Frau fand sie, die erschlagen wurde. Auch von ihrem Gesicht war nicht viel übrig geblieben, aber sie war dunkelhaarig und außerdem lag die Tat schon neun Jahre zurück.

„Also“, unterbrach Nathan sie in ihren Überlegungen. „Die Frau sagte mir, dass es bei Vivid Dreams einen Sicherheitskodex gibt. Die Frauen senden vor ihren Treffen mit den Freiern eine Nachricht ab und geben an, zu welcher Zeit sie eine weitere Nachricht senden wollen, dass alles in Ordnung ist. Wenn diese Nachricht nicht kommt, ruft die Chefin an und sollte keine Antwort erfolgen, verständigt sie die Polizei. Das kommt nur selten vor. Darüber hinaus treffen die Frauen bei Vivid Dreams nie mehr als einen Mann gleichzeitig, aber sie sagte mir, sie hätte davon gehört, dass Anita Treffen mit mehreren Männern gemacht hat.“

„Und an diesem Abend war sie ja ohnehin nicht über die Agentur gebucht, also konnte der Sicherheitskodex auch nicht greifen.“

„Richtig. Wenn sie über die Agentur gehen, sind die Frauen sicherer.“

Sadie nickte. „Ich habe hier noch mal geschaut, aber ganz ehrlich, das passt alles nicht. Die einzige Tat, die unserer nahe kommt, ist zu alt.“

„Aber glaubst du, dass das eine Ersttat war?“

„Ehrlich gesagt nicht“, gab Sadie zu. „Aber ich glaube, über VICAP kommen wir nicht weiter. Nehmen wir uns lieber die Überwachungsaufnahmen vor.“

Nathan war einverstanden. Er startete die Videoaufzeichnung am Laptop und begann noch vor Anitas Ankunft damit. Für Frauen interessierte Sadie sich nicht, sie nahm Männer unter die Lupe, die nach Geld aussahen. Wenn sie einen Mann sah, der ihr Interesse erregte, notierte sie sich die genaue Uhrzeit, zu der sie ihn entdeckt hatte. Schließlich tauchte Anita auf und ging ins Hotel. Fortan war Sadie noch aufmerksamer und achtete vor allem auch auf Männer, die zu zweit erschienen. Es war ein großes Hotel, entsprechend viel Betrieb herrschte am Haupteingang. Etwa gegen zehn vor acht trafen zwei gutaussehende junge Männer ein, die aus einer gepanzerten Limousine stiegen. Sadie notierte sich erneut die Uhrzeit und schrieb dazu, dass es zwei Männer waren. Immer wieder spulte sie vor, vor allem später, als immer weniger Betrieb vor dem Hotel herrschte. Erst gegen zwei Uhr nachts schaute sie wieder aufmerksamer hin. Etwa gegen halb drei verließ ein Mann mit schnellen Schritten das Hotel und verschwand einfach in der Dunkelheit. Auch diesen Zeitpunkt notierte Sadie sich. Sie spulte noch ein wenig weiter und hätte um halb vier fast aufgegeben, als ein weiterer Mann das Hotel verließ. Erneut war die gepanzerte Limousine vorgefahren, worin er hastig einstieg. Die Limousine fuhr sofort ab.

„Das war doch bestimmt einer der beiden, die um kurz vor acht schon mit der Limousine eingetroffen sind“, murmelte Sadie, spulte wieder zurück und machte einen Screenshot von dem betreffenden Zeitpunkt. Sie glich das Bild mit dem Mann ab, der später in die Limousine stieg und erkannte auch den Mann wieder, der um halb drei das Hotel allein verlassen hatte.

„Die sind zusammen gekommen, aber nach Anitas Todeszeitpunkt getrennt wieder verschwunden“, sagte sie. „Wissen wir schon, wer das ist?“

„Ich kann mal nachfragen“, sagte Nathan.

„Wir haben ein Kennzeichen der Limousine. Wer mit einem solchen Auto durch die Gegend kutschiert wird, ist kein Niemand.“

„Du hältst ihn also für verdächtig.“

„Das ist ein junger Mann, sie beide sind das.“ Sadie deutete auf ihren Screenshot. „Dieser Overkill würde zu ihnen passen.“

„Okay ... ich hake da mal nach.“ Nathan gab einen Druckbefehl für den Screenshot aus und schrieb auch das Kennzeichen der Limousine ab. „Bin gleich zurück.“

„In Ordnung“, sagte Sadie und machte Screenshots von jedem weiteren Mann, den sie notiert hatte. Sie ging die Videoaufnahmen noch einmal durch. Sie achtete auf nonverbale Signale der Männer und ließ sich ansonsten von ihrem Instinkt leiten. Männer, die mit Frauen im Hotel erschienen, schieden für sie aus. Natürlich wäre auch eine Frau als Mittäterin in Frage gekommen, aber in statistischer Hinsicht war das so unwahrscheinlich, dass Sadie es für sich ausklammerte.

Nein, bei dem Grad an Gewalt und Sadismus tippte sie auf einen jüngeren Mann, maximal vierzig Jahre alt. So zuzuschlagen, kostete Energie. Außerdem war gar kein passender älterer Mann zum fraglichen Zeitpunkt im Hotel unterwegs, weder zur Ankunft noch mitten in der Nacht.

Ihre Gedanken schweiften ab. Wenn es wirklich zwei Täter gewesen waren – wovon sie ausging – dann musste sie die bekannte Dynamik bei Mörderpaaren berücksichtigen: Ein Täter war dominant, der andere blickte zu ihm auf. Sie war ziemlich sicher, dass der dominante Täter der Mörder war und der andere nur ein Zeuge. Sie schloss die Augen und stellte sich die Situation vor. Zwei Männer hatten eine Nacht bei Anita gebucht – Sadie stellte sich Striptease, Koks und Blowjobs vor. Vielleicht war es auch einem darum gegangen, den anderen beim Sex mit Anita zu beobachten. Das hatte sie schon erlebt, da musste sie nur an Nolan, Cook und Whittaker denken. Nolan, der dominante Part, hatte es genossen, den anderen beim Sex mit ihren Opfern zuzusehen.

Vielleicht war das hier auch so gelaufen. Vielleicht hatte der Mörder Anita gefesselt und seinen Partner dazu angestiftet, Sex mit ihr zu haben. Ihr war noch nicht ganz klar, was später zu seinem Ausraster geführt hatte – generelle Aggressivität oder vielleicht der Einfluss des Kokains. Wenn er welches genommen hatte.

Das erklärte aber auch, warum das alles so lang gedauert hatte. Vielleicht war der Unterwürfige irgendwann weggetreten gewesen, hatte geschlafen, irgendwas in der Art – und der dominante hatte Anita, die immer noch ans Bett gefesselt dalag, vergewaltigt. Es hatte Streit zwischen den beiden Männern gegeben, woraufhin der Dominante Anita erschlagen hatte.

Ja, das passte. In Windeseile schrieb sie einige Stichpunkte auf.

Sie war noch nicht ganz fertig, als Nathan zurückkehrte. Er legte ihr einen Ausdruck auf den Tisch, der den Führerschein eines jungen Mannes zeigte, gerade vierundzwanzig Jahre alt. Sein Name war Tyler Evans.

„Das ist er, oder?“, fragte Nathan.

„Einer der beiden“, sagte Sadie. „Derjenige, der später wieder in die Limousine steigt.“

„Weißt du, wer das ist?“

Sadie schüttelte den Kopf. „Sollte ich?“

„Das ist der Sohn unseres Bürgermeisters.“

Überrascht sah Sadie ihn an. „Das ist pikant.“

„Allerdings. Das Kennzeichen führte mich zu seinem Vater und auf diesem Umweg zu ihm. Es ist mir nicht gelungen, herauszufinden, wer der andere Mann ist.“

„Das kann uns Mr. Evans doch bestimmt verraten.“

„Wir begeben uns in Teufels Küche“, sagte Nathan.

„Kneifst du etwa?“, fragte Sadie.

„Nein, ich überlege mir nur ein taktisch kluges Vorgehen.“

„Okay. Ich muss dir leider sagen, dass ein Bürgermeistersohn ganz hervorragend ins Profil passt.“

„Hast du eins?“

Sadie hielt ihre Notizen hoch. „So gut wie.“

Nathan lachte. „Wie lang war ich weg? Nicht lang. In der Zeit machst du mir ein komplettes Profil!“

„So einen ähnlichen Fall hatte ich schon“, sagte Sadie. „Zumindest in Grundzügen. Wenn man es mit zwei Tätern zu tun hat, funktionieren diese Mörderpaare immer nach einer bestimmten Dynamik.“

Sie begann, Nathan das Prinzip des dominanten und des unterwürfigen Täters zu erklären und beschrieb, welches Szenario sie sich vorgestellt hatte.

„Der dominante Part ist älter“, sagte Sadie. „Er hat das Geschehen bestimmt. Er hat den anderen angefixt, hat ihn teilhaben lassen, ihn vielleicht beobachtet ... was weiß ich. Und irgendwann fand er, dass er an der Reihe ist. Entweder hatte er die ganze Zeit schon vor, Anita Gewalt anzutun, oder irgendwas hat ihn dazu bewegt. Können die Drogen gewesen sein, kann auch ein anderer Auslöser gewesen sein. Er hat sie vergewaltigt, sie hat geweint, der andere ist wieder aufgewacht, es gab Streit. Vielleicht ist er auch erst aufgewacht, als der Dominante Anita umgebracht hat. Die beiden hatten also Streit ... vielleicht sieht man ihnen das noch an, vielleicht haben sie Verletzungen im Gesicht. Der Dominante hat seinem Partner gedroht, hat ihm klargemacht, dass er ebenfalls dran ist ... und dann ist er gegangen. Der Unterwürfige war allein im Zimmer und wusste nicht, was er tun soll. Er hat Reue gezeigt, deshalb hat er Anita losgebunden und aufgebahrt.“

„Wer hat die Fingerabdrücke abgewischt?“

„Weiß ich nicht, das können beide gewesen sein. Der Unterwürfige ist dann auch irgendwann aufgebrochen.“

„Okay ... interessant. Das Profil hattest du ja gerade schon fertig, bevor du wusstest, wen wir da auf Video haben. Irgendwie passt es erschreckend gut.“

„Ich kenne den Bürgermeistersohn nicht ... aber Drogen und Prostituierte? Unpassend wäre es nicht.“

„Er ist schon wegen Drogenbesitzes verhaftet worden und Daddy hat ihn rausgepaukt“, sagte Nathan. „Hab ich schon nachgesehen.“

„Ach nein.“ Sadie grinste. „Aber er hat noch nie seine Freundin geschlagen?“

„Ich konnte keinen Hinweis darauf finden.“

„Okay. Ich würde sagen, wir lassen auch noch die anderen Männer überprüfen, die ich rausgesucht habe, aber wir beide sollten Tyler Evans mal einladen und genauer überprüfen. Ich will wissen, wer sein Freund ist und ich will wissen, ob seine Nummer in Anitas Kontakten auftaucht. Sollte er es wirklich gewesen sein ...“ Sadie überlegte kurz. „An Anitas Stelle würde ich dem Bürgermeistersohn ein bestimmtes Vertrauen entgegenbringen. Weil man ihn kennt. Wenn er mit einem Freund auftaucht ... da hätte ich an ihrer Stelle nichts Böses vermutet.“

„Schon möglich“, stimmte Nathan zu. „Wir sollten mit Fingerspitzengefühl vorgehen. Das ist erst mal nur eine Befragung. Die Presse wird schnell Wind davon bekommen, wenn das LAPD etwas von Tyler Evans will. Wenn wir mehr Staub aufwirbeln als nötig, wird das eine Schlammschlacht.“

„Ich will nichts aufwirbeln, ich will nur mal sehen, was er in diesem Hotel gemacht hat.“

„Ich auch“, sagte Nathan. „Mal sehen, wo wir ihn auftreiben können.“

Sadie nickte und widmete sich wieder ihren Überlegungen, während Nathan zu telefonieren begann. Sie war noch nicht weit gekommen, als Nathan sich wieder setzte und sagte: „Tyler Evans ist heute in San Francisco. Er ist erst morgen wieder in der Stadt. Der Kerl hat eine eigene Assistentin, wusstest du das? Sie sorgt dafür, dass er morgen Vormittag bei uns aufkreuzt.“

„Immerhin“, sagte Sadie.

„Ich werde mich mal dahinterklemmen und versuchen, herauszufinden, wer der andere Kerl ist und ob Evans und Anita Kontakt miteinander hatten.“

„Okay.“

„Wie ich sehe, bist du noch beschäftigt.“

Sadie nickte und war jetzt schon gespannt, Tyler Evans kennenzulernen. Sie versuchte, so viel wie möglich über ihn herauszufinden. Das war gar nicht so schwierig, denn als Sohn des Bürgermeisters stand er in der Öffentlichkeit.

Er hatte in Berkeley studiert, sich dort mit einer gleichaltrigen Studentin verlobt und die Verlobung wieder gelöst. Das alles war passiert, bevor sein Vater vor anderthalb Jahren Bürgermeister geworden war. Vor etwa einem halben Jahr war Tyler auf einer feuchtfröhlichen Party mit Kokain erwischt worden. Das passte ja. Es war seinem Vater irgendwie gelungen, seine Kontakte spielen zu lassen und seinen Sohn rauszupauken, so dass die Sache wegen Geringfügigkeit fallen gelassen wurde. In der Klatschpresse gab es Fotos von ihm mit wechselnder weiblicher Begleitung. Scheinbar hatte er im Moment keine Freundin.

Er war der typische Aufreißer, den Sadie in seiner Position erwartet hätte. Das alles verriet ihr noch nichts über Dominanz, da würde sie sich gedulden müssen, bis sie ihn kennenlernte. Aber er war ein heißer Kandidat für sie. Er arbeitete im Team seines Vaters und war offensichtlich nicht arm, das bedeutete auch, dass er sich eine Begleitung wie Anita leisten konnte.

Tyler war offensichtlich ein Macho. Aber war er auch ein Vergewaltiger? Ein Mörder? Oder traf das eher auf seinen Begleiter zu?

Vielleicht war er psychiatrisch auffällig. Sie war gespannt, ihn kennenzulernen; das würde ihr einiges über ihn verraten.

„Ich finde einfach nicht heraus, wer dieser Kerl ist“, regte Nathan sich zwischendurch auf. „Sein Begleiter. Das werden wir ihn morgen fragen müssen.“

„Hast du denn eine Verbindung zu Anita?“, fragte Sadie.

„Bis jetzt nicht. Ich habe die Nummern abgeglichen, aber noch hat sich keine Überschneidung ergeben.“

„Vielleicht kennen wir gar nicht all seine Nummern.“

„Das denke ich auch. Mal sehen, morgen um zehn will er hier sein. Dann fragen wir ihn. Er erscheint mir jedoch durchaus passend.“

„Abhängig davon, wer sein Freund ist“, sagte Sadie. „Aber er erfüllt viele Kriterien: Er hat Geld, er ist jung, er sieht kräftig aus ... Wir können ja auch mal in Berkeley nachfragen, ob man sich dort an ihn erinnert.“

„Gute Idee“, fand Nathan. „Irgendwie gefällt mir das alles viel zu gut. Ich hoffe, wir fokussieren uns nicht zu sehr.“

„Deshalb sorgen wir doch auch dafür, dass weitere Männer überprüft werden“, sagte Sadie.

„Ich bin wirklich mal gespannt, was wir herausfinden“, sagte Nathan.

„Ich auch.“ Sadie warf einen Blick auf die Uhr. „Ich fürchte, ich muss schon los. Ich muss Matt doch zum Arzt fahren.“

„Sicher, kein Problem“, sagte Nathan. „Morgen zur gleichen Zeit?“

Sadie nickte. „Ich bin pünktlich. Das wird bestimmt interessant.“

„Denke ich auch.“ Nathan lächelte ihr zu und klemmte sich wieder hinter den Computer, während sie sich auf den Weg in die Tiefgarage machte. Es war erst halb fünf, aber trotzdem herrschte schon reger Verkehr auf der Interstate. Sie traf mit etwas Verspätung beim FBI ein, aber Matt saß bereits im Challenger und wartete auf sie.

„Hey“, sagte sie und gab ihm einen Kuss, nachdem sie sich abgehetzt auf den Fahrersitz fallen ließ. „Wie ich sehe, hast du deinen Zweitschlüssel.“

Matt nickte. „Den habe ich immer dabei. Könnte ja etwas passieren wie jetzt.“

„Es tut mir leid. Der Verkehr ist höllisch.“

„Ich weiß. Nicht schlimm. Wenn jetzt nichts mehr dazwischen kommt, schaffen wir es pünktlich.“

Sadie hielt sich gar nicht mit Reden auf, sondern startete den Motor und machte sich auf den Weg.

„Bist du gut mit Nathan vorangekommen?“, erkundigte Matt sich.

„Durchaus“, sagte Sadie. „Du erinnerst dich an den Fall, von dem er letzte Woche gesprochen hat?“

Matt verzog nachdenklich das Gesicht. „Lass mich überlegen.“

„Erinnerst du dich nicht? Er hatte mich doch deshalb gestern angerufen.“

„Ja ... es war ein Mordfall.“

Sadie nickte. „Richtig. Eine tote Edelprostituierte in einem Hotelbett. Overkill.“

„Klingt doch ganz nach deiner Kragenweite“, sagte Matt trocken.

„Was du wieder für ein Bild von mir hast ...“

„Ein realistisches“, sagte er unbeeindruckt.

„Ein zweifelhaftes Kompliment.“

Matt lächelte ihr zu. „Das ist eben meine unerschrockene Frau. Habt ihr schon einen Verdächtigen?“

„Verdächtig wäre zuviel gesagt ... aber wir werden morgen mal mit dem Sohn des Bürgermeisters ein ernstes Wörtchen reden müssen.“

„Ausgerechnet“, sagte Matt. „Verbrennt euch nicht die Finger.“

„Ich bin nicht bestechlich“, sagte Sadie. „Das hat Peter ja seinerzeit auch schon korrekt festgestellt.“

„Nein, aber Politik ist immer heikel. Viel Erfolg dabei.“

„Danke“, murmelte Sadie und konzentrierte sich wieder auf den Verkehr. Die Arztpraxis lag auf dem Heimweg und erwartungsgemäß waren sie sowieso nicht gleich an der Reihe, deshalb machte es nichts, dass sie nicht ganz pünktlich waren. Nervös starrte Matt auf die Uhr, bis er endlich aufgerufen wurde. Sadie ließ ihn allein gehen, denn so spannend würde das nicht werden. Stattdessen saß sie einfach nur da und überlegte.

Ihr war nicht entgangen, wie Matt entfallen war, an welchem Fall Nathan gerade ermittelte. Natürlich vergaß jeder mal etwas, aber das war nichts, was Matt üblicherweise vergaß. Ermittlungen interessierten ihn eigentlich immer. Am Vortag hatte er nichts dazu gesagt, aber eigenartig war das trotzdem.

Sie war hin- und hergerissen. Musste sie sich nun Sorgen machen oder nicht? Vielleicht überinterpretierte sie das. Immerhin hatte Matt gerade den Eindruck erweckt, gute Laune zu haben.

Es dauerte nicht lang, bis er wieder im Wartezimmer erschien – am rechten Fuß trug er immer noch einen Schuh, am linken hatte er das Hosenbein hochgekrempelt und trug weder Schuh noch Strumpf.

„Was fällt auf?“, sagte er und grinste zufrieden.

„Der Gips ist ab.“

„Wie gut, dass ich Schuh und Strumpf im Kofferraum habe!“

Sadie lachte. „Wann hast du das gemacht?“

„Heute Morgen. Ich war einfach mal guter Dinge ... Ist das seltsam!“ Die Arme vor der Brust verschränkt, stand er auf beiden Füßen da und schien zufrieden mit sich und der Welt zu sein.

„Na endlich“, sagte Sadie. „Das wurde ja auch mal Zeit.“

„Allerdings“, sagte Matt. „Alles ist gut verheilt ... und gleich kann ich endlich wieder richtig duschen.“

„Dann lass uns fahren“, sagte Sadie. Matt war einverstanden und schmetterte jeden ihrer Vorschläge, dass sie ihm Schuh und Strumpf holen wollte, ab. Er lief das Stück zum Auto halb barfuß und zog erst am Challenger seinen Schuh an. Er saß auf dem Beifahrersitz und schielte auf den Fahrersitz.

„Willst du?“, fragte Sadie und hielt den Autoschlüssel hoch.

„Von Wollen kann keine Rede sein ... aber ich habe noch ein ziemlich komisches Gefühl im Fuß. Mach du lieber. Ich bin dann morgen wieder dran.“

Damit war sie einverstanden und fuhr das letzte Stück nach Hause. Dort angekommen, sprang Matt gut gelaunt aus dem Wagen, ging ins Haus und hatte erst einmal nichts Besseres zu tun, als nach oben zu laufen. Sadie folgte ihm grinsend und beobachtete, wie er seine wiedergewonnene Freiheit genoss.

„Ist das herrlich“, sagte Matt. „Endlich kein Gips mehr.“

„Er hat doch bestimmt gesagt, dass du dich schonen sollst.“

„Ja, was auch immer ... ich bin meinen Gips los!“ Übermütig umarmte und küsste Matt sie oben im Flur vor dem Schlafzimmer. „Jetzt kannst du wieder alles mit mir machen. Oder ich mit dir. Je nachdem.“

„Männer“, sagte Sadie kopfschüttelnd.

 

 

Dienstag

 

Sie fuhren über die Interstate zur Arbeit. Die Frage stellte sich gar nicht. Matt gab, sofern er im Berufsverkehr die Möglichkeit dazu hatte, richtig Gas. Darüber wunderte Sadie sich kein bisschen. Er war bestens gelaunt und sein Fuß machte auch alles mit. Zwar sollte er noch nicht springen und rennen, aber normal benutzen konnte er ihn. Er war glücklich und erleichtert, den Gips los zu sein.

„Dann mach den Politikern mal die Hölle heiß“, sagte er zu Sadie, nachdem er ausgestiegen war.

„Mal sehen“, sagte sie. „Vielleicht hat er auch gar nichts damit zu tun.“

„Vielleicht aber doch. Bis später.“ Er verabschiedete sich mit einem Kuss von ihr und betrat guter Dinge das Gebäude, während Sadie sich wieder den Dienstwagen holte und weiter nach Downtown fuhr.

Seit Matt den Gips los war, war er wie ausgewechselt. Zumindest war er das am Vorabend gewesen. Im Moment fand sie es anstrengend und irritierend zugleich, dass seine Stimmung so oft abrupt wechselte. Sie wusste, das war wohl normal, aber sie hoffte trotzdem, dass das bald aufhörte.

Durch den Berufsverkehr quälte sie sich nach Downtown. An diesem Tag brauchte sie länger als am Vortag, obwohl sie früher losgefahren war. Zum Glück kam Tyler Evans erst um zehn. Um kurz nach halb stand sie endlich bei Nathan im Büro. Er blickte auf, als er sie durch die Tür kommen sah.

„Sadie“, sagte er erfreut. „Wie geht’s? Wie war der Arztbesuch?“

„Gut. Matt ist seinen Gips los. Er ist wie ausgewechselt.“

„Das kann ich mir vorstellen. Gut zu hören!“

„Hast du gestern noch etwas herausgefunden?“, fragte Sadie.

„Wir haben noch einige weitere Männer identifiziert, aber da bin ich noch nicht weiter aktiv geworden. Ich habe immer noch keine Ahnung, wer Tyler Evans begleitet hat, aber das werden wir wohl gleich herausfinden.“

„Bin gespannt, ob er wirklich auftaucht.“

„Er kann es sich nicht leisten, wegzubleiben. Dazu ist er zu prominent.“

„Stimmt auch wieder“, sagte Sadie. „Und auf seine Geschichte bin ich auch gespannt.“

„In der Tat. Ich bin immer noch nicht sicher, ob ich glauben soll, dass er tatsächlich etwas damit zu tun hat. Dann war er unvorsichtig.“

„Er muss nicht der Täter gewesen sein und ich denke auch nicht, dass die Tat geplant war. In einem Hotel mit all den möglichen Zeugen ...“ Sadie schüttelte den Kopf. „Viel zu riskant.“

„Auch wieder wahr. Kaffee?“

Sadie bat um ein Wasser, dann machten sie es sich nebenan im Besprechungsraum bequem und warteten auf Tyler Evans. Es dauerte allerdings nicht lang, bis eine Kollegin von Nathan auftauchte und an der Tür klopfte. Sie hatte Evans im Schlepptau.

„Dein Besuch ist da, Nathan“, sagte sie und nickte ihm zu.

„Danke, Sammy“, sagte er. Die Frau verstand und Nathan ging zu Tyler Evans, um ihn zu begrüßen. Er reichte ihm die Hand.

„Danke, dass Sie es einrichten konnten, Mr. Evans“, sagte er. „Bitte nehmen Sie Platz. Das ist Special Agent Sadie Whitman vom FBI.“

Sadie sah, wie Tyler unbehaglich schluckte und sich bemühte, sie trotzdem höflich zu begrüßen.

„FBI?“, fragte er nervös, während er den beiden gegenüber Platz nahm.

„Wissen Sie, worum es geht?“, fragte Nathan.

„Ich habe keine Ahnung“, sagte Tyler. „Meine erste Vermutung war diese Drogensache vor ein paar Monaten.“

„Nehmen Sie denn immer noch Drogen?“, fragte Nathan provokant.

Tyler überlegte. „Brauche ich einen Anwalt?“

„Nein, nicht doch. Wir reden nur. Mit Drogen hat es nichts zu tun. Mr. Evans, wir haben Aufnahmen einer Sicherheitskamera, die Sie vor dem Wilshire Park Hotel hier in Downtown zeigen, und zwar Anfang letzter Woche. Erinnern Sie sich?“

Es entging Sadie nicht, wie Tyler immer nervöser wurde. „Ja ... ich war da.“

„Was haben Sie dort gewollt?“

„Worum geht es hier überhaupt?“, fragte Evans nun etwas forscher. Er schien sich gefangen zu haben.

Nathan griff unter den Tisch und schob ihm ein Foto von Anita hin. „Schon mal gesehen?“

Sadie achtete genau auf Tylers Initialreaktion. Das Zucken seiner Mundwinkel und sein nervöses Blinzeln verrieten ihr alles, was sie wissen musste.

„Wer ist das?“, fragte Evans trotzdem.

„Das ist Anita Paley, siebenundzwanzig. Sie wurde in dem Zeitraum, in dem Sie sich im Wilshire Park Hotel aufgehalten haben, dort ermordet.“

„Oh.“

„Sie waren in Begleitung eines jungen Mannes“, stellte Nathan weiter fest.

„Oh, ja ... das ist Craig Conway, ein Studienkollege von mir.“

„Was haben Sie mit Mr. Conway in dem Hotel gemacht?“

„Werde ich verdächtigt? Verhaften Sie mich oder ich sage gar nichts.“ Tyler verschränkte ablehnend die Arme vor der Brust.

„Eins nach dem anderen“, schaltete Sadie sich ein. Irritiert sah er sie an.

„Sie sind also vom FBI?“

Sie nickte. „Ich unterstütze die Polizei bei ihren Ermittlungen.“

„In einer Mordsache?“

„Ich bin Profilerin“, sagte Sadie.

Tyler schluckte und versuchte, gefasst zu wirken. „Wirklich.“

„Wir haben damit begonnen, jeden Mann zu überprüfen, der zum fraglichen Zeitpunkt im Hotel war. Auf Sie sind wir recht schnell gestoßen, weil wir das Kennzeichen der Limousine überprüft haben.“

„Verstehe“, sagte Tyler und beruhigte sich allmählich wieder.

„Das ist reine Routine“, sagte Sadie und lächelte ihm zu.

„Ich würde niemanden umbringen“, beteuerte Tyler.

„Aber vielleicht haben Sie etwas gesehen, das uns weiterhilft. Mit uns zu kooperieren liegt in Ihrem eigenen Interesse.“

„Okay ...“ Er räusperte sich. „Wir haben uns mit einer Prostituierten getroffen.“

Sadie und Nathan tauschten einen überraschten Blick.

„Wie war ihr Name?“

„Sie sagte, sie hieße Melody. Ist wahrscheinlich nicht ihr richtiger Name. Aber das war nicht die Frau von dem Foto. Sie war dunkelhaarig.“

„Ich nehme an, Craig kann das bestätigen?“, fragte Sadie.

„Bestimmt.“

„Wo finden wir ihn denn?“, schaltete Nathan sich wieder ein.

„Ich kann Ihnen seine Adresse geben.“

„Das wäre sehr freundlich. Und die Frau ... die kann das doch sicher auch bestätigen?“

„Kann sie, aber dafür müssen Sie sie auf dem Straßenstrich suchen“, sagte Tyler.

„Verstehe“, sagte Nathan.

„Wie lang waren Sie im Hotel? Wissen Sie das noch?“, fragte Sadie.

„Nein, keine Ahnung“, behauptete Tyler.

„Und in welchem Zimmer waren Sie?“

Erneut wurde er unruhig. „Darauf habe ich gar nicht geachtet ...“

„Haben Sie getrunken?“

Er nickte. „Eine ganze Menge sogar.“

„Kann sonst jemand bestätigen, wo Sie waren? Ein Hotelangestellter vielleicht?“

„Nicht, dass ich wüsste.“

„Und Sie haben nichts mitbekommen?“, fragte nun Nathan.

„Von dieser toten Frau? Nein“, behauptete Tyler.

„Sie waren also die ganze Zeit mit Craig und Melody zusammen?“, fragte Sadie. „Die Überwachungskameras zeigen, wie Sie mitten in der Nacht das Hotel verlassen. Allein. Craig war da schon weg.“

„Ja ... ich hatte zuviel getrunken.“ Tyler grinste.

„Aber keine Drogen?“, fragte Nathan.

„Keine Drogen.“

„Und wenn ich Sie jetzt testen lasse?“

„Mit richterlichem Beschluss können Sie das gern tun“, erwiderte Tyler schlagfertig.

„Sadie“, sagte Nathan und gab ihr einen Wink. Die beiden standen auf und gingen vor die Tür, nachdem sie sich bei Tyler entschuldigt hatten.

Nathan verschränkte die Arme vor der Brust und warf Sadie einen vielsagenden Blick zu. „Der lügt uns doch an, oder?“

„Würde ich auch sagen“, erwiderte sie.

„Immerhin wissen wir jetzt, wie der andere heißt. Wie würdest du Tyler einschätzen?“

„Gute Frage. Ein bisschen überheblich, aber er kennt seine Rechte. Und er hat keine gute Story. Wir sollten ihn ein bisschen in die Enge treiben, Fingerabdrücke von ihm nehmen, seinen Freund ausfindig machen. Vielleicht kriegen wir ja wirklich einen Drogentest hin.“

„Er erzählt uns nicht viel. Ich wette, diese Melody ist eine Erfindung. Aber die Fingerabdrücke sind eine gute Idee, die können wir ihm als Argument zu seiner Entlastung verkaufen.“

„Versuchen wir das mal“, sagte Sadie. Sie gingen wieder hinein und als Nathan nichts sagte, nahm Sadie das Gespräch wieder auf.

„Wer hat Melody bezahlt?“, fragte sie unvermittelt. Diese Frage brachte Tyler aus dem Konzept.

„Das war ich, wieso?“

„Sie haben Craig eingeladen?“

„Ja, wir kennen uns noch von der Uni. Er hatte letztens Geburtstag, das war mein Geschenk an ihn.“

„Und Sie haben auch einfach mal davon profitiert“, stellte Sadie trocken fest.

„Sicher. Wir kennen uns gut. Ich wollte ihm das schenken und er wollte, dass ich mitgehe.“

„Nennen Sie uns doch mal seine Anschrift“, bat Nathan. Er hatte Zettel und Stift vor sich und schrieb auf, was Tyler ihm diktierte.

„Ich überprüfe das mal“, sagte er und ließ Sadie und Tyler allein.

„Ist das ein Trick?“ fragte Tyler, als er weg war. „So wie guter Cop, böser Cop?“

„Wieso sollte es?“, fragte Sadie.

„Na, ich meine ...“ Tyler musterte sie unverhohlen. „Sie sind vom FBI und ermitteln hier, obwohl es nur um eine tote Prostituierte geht. Und Sie sind schon echt hübsch, das muss man sagen.“

„Danke für die Blumen, aber wir reden hier nicht über mich“, sagte Sadie. „Woher wissen Sie, dass Anita Paley eine Prostituierte war?“

„Weil Sie das gesagt haben.“

„Dazu haben weder mein Kollege noch ich ein Wort verloren“, sagte Sadie seelenruhig. Tyler erbleichte, als ihm klar wurde, dass sie recht hatte.

„Auf welchem Flur lag das Zimmer, in dem Sie sich mit Melody getroffen haben?“, fragte Sadie dessen ungeachtet.

„Auf der zweiten Etage“, behauptete Tyler.

„Wissen Sie noch, auf welchem Gang?“

Er versuchte, es Sadie zu beschreiben. Sie nickte interessiert.

„Hatten Sie Sex mit ihr?“

„Ich wüsste zwar nicht, was Sie das angeht, aber ja. Mit Kondom, wenn Sie es wissen wollen.“

„Craig auch?“, fragte Sadie.

„Ja, er auch. Ich bitte Sie ... wir sind Freunde, aber ... nein.“

Sie verzog angesichts dieser Anspielung keine Miene. „Wer hatte das Zimmer gemietet?“

„Das war Melody. Bezahlt habe ich es.“

„Und Melody war noch im Zimmer, als Sie gegangen sind?“

„Genau. Ich hatte einiges getrunken und bin eingeschlafen, wissen Sie? Deshalb weiß ich auch die Zimmernummer nicht mehr.“

„Würden Sie sich gern vollständig entlasten, Mr. Evans?“, fragte Sadie.

„Wenn ich das kann.“

„Wir haben Fingerabdrücke bei der Leiche gefunden“, behauptete Sadie. „Dürften wir zum Vergleich Ihre nehmen?“

Tyler starrte sie entgeistert an. Jetzt hatte sie ihn. Ihm musste klar sein, dass er sich verdächtig machte, wenn er das jetzt verweigerte.

„Machen Sie ruhig“, sagte er.

„Das ist nett, danke“, sagte Sadie und verließ den Raum, um Nathan zu suchen. Er bat seine Kollegin darum, von Tyler Fingerabdrücke zu nehmen und winkte Sadie dann gleich zu sich an den Rechner heran.

„Ich habe Craig Conway überprüft“, sagte er. „Die angegebene Adresse stimmt. Conway hat mit ihm in Berkeley studiert – und jetzt kommt’s. Dort haben ihn gleich zwei Studentinnen der Vergewaltigung bezichtigt, aber es kam beide Male zum Vergleich. Er kam mit einer Verwarnung davon. Im Übrigen ist Conway Engländer.“

„Ach nein“, sagte Sadie.

„Ich habe gerade überlegt, unsere britischen Kollegen zu fragen, ob etwas über ihn vorliegt. Das wird vermutlich dauern.“

„Muss es nicht“, sagte Sadie. „Ich kenne doch eine britische Profilerin, die vermutlich auch an alle Datenbanken herankommt. Soll ich sie fragen?“

„Das wäre ja famos“, sagte Nathan.

„Ist es in Ordnung, wenn ich ein Ferngespräch führe?“

„Ist ja für unsere Ermittlungen. Ich kümmere mich dann solange um Evans.“

„Er hat sich übrigens gerade verquatscht“, sagte Sadie. „Er weiß, dass Anita Paley eine Prostituierte war.“

„Ach was.“

„Hat er mir eben gesagt. Und von uns weiß er das nicht.“

„Nein, nicht wirklich.“ Nathan grinste zufrieden. „Mal sehen, ob uns seine Fingerabdrücke weiterhelfen.“

„Ich bin gespannt“, sagte Sadie. Während Nathan sich auf den Rückweg zu Evans machte, suchte sie aus ihrem Handy die Privatnummer von Andrea Thornton in London heraus. Der Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie Andrea wohl eher nicht noch im Büro antreffen würde, denn vor Ort war es bereits kurz vor acht.

„Andrea Thornton“, meldete sich schnell eine vertraute Stimme.

„Ich bin es, Sadie.“

„Das dachte ich mir, ich sehe deine Nummer. Wie geht es dir?“

„Gut“, sagte Sadie. „Und dir?“

„Auch ... wenn man davon absieht, dass das Leben mit einer pubertierenden Tochter irgendwo zwischen Wahnsinn und den Toren der Hölle pendelt.“

Sadie lachte. „Pubertät ist, wenn die Eltern schwierig werden, weißt du das nicht?“

„Oh doch ... du sagst es. Warum rufst du an?“

„Ich könnte deine Hilfe gebrauchen.“

„Okay, worum geht es?“

„Wir haben hier eine tote Prostituierte und einen Tatverdächtigen, der britischer Staatsbürger ist“, begann Sadie knapp und schilderte dann etwas ausführlicher, worum es in dem Fall ging.

„Ein Mörderteam also“, sagte Andrea schließlich. „Ja, hatte ich auch schon. Wie kann ich dir jetzt helfen?“

„Kannst du das britische Vorstrafenregister einsehen?“

„Kann ich. Soll ich ihn für dich überprüfen?“

„Das wäre grandios. Er heißt Craig Conway.“

„Das haben wir gleich ...“ Es raschelte ein wenig und Sadie hörte Andrea tippen. „Da haben wir ihn doch. Craig Conway, sechsundzwanzig, geboren in Bristol. Er hat eine Akte hier bei uns.“

„Ach was.“

„Scheint reiche Eltern zu haben, jedenfalls war er nur auf teuren Internaten, mehrere davon. Ich vermute, es gab dort immer Ärger, aber das steht hier nicht. Das erste Mal wurde er mit siebzehn festgenommen, da hatte er genügend Joints für eine ganze Kellerparty dabei. Er ist dann trotzdem an eine unserer Elite-Unis gegangen, aber nur für acht Monate. Dann ist er rausgeflogen, weil er eine Studentin missbraucht hat.“

„Tatsächlich“, sagte Sadie interessiert.

„Ja ... Daddy scheint Geld zu haben, jedenfalls muss er einen guten Anwalt gehabt haben, der ihn zumindest bei der Drogensache rausgepaukt hat. Wo hat er drüben bei euch studiert?“

„In Berkeley. Dort hat es auch Vergewaltigungsvorwürfe gegeben, die jedoch nicht verfolgt wurden.“

„Na super. Wird wohl auch wieder ein guter Anwalt gewesen sein.“

„Davon gehe ich aus“, stimmte Sadie zu. „Er scheint auf jeden Fall nicht uninteressant zu sein.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739386904
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (September)
Schlagworte
Profiling Profiler Ermittler Thriller Krimi Gewissenskonflikt Los Angeles FBI Sexualmord Psychothriller

Autor

  • Dania Dicken (Autor:in)

Dania Dicken, Jahrgang 1985, schreibt seit ihrer Kindheit. Die in Krefeld lebende Autorin hat in Duisburg Psychologie und Informatik studiert und als Online-Redakteurin gearbeitet. Mit den Grundlagen aus dem Psychologiestudium setzte sie ein langgehegtes Vorhaben in die Tat um und schreibt seitdem Psychothriller mit Profiling als zentralem Thema.
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Titel: Die Seele des Bösen - Unter Verdacht