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Die Seele des Bösen - Flucht in die Freiheit

Sadie Scott 12

von Dania Dicken (Autor:in)
330 Seiten
Reihe: Sadie Scott, Band 12

Zusammenfassung

Mitten in den Weihnachtsurlaub von FBI-Agentin Sadie platzt die Bitte eines Kollegen: In seiner Obhut befindet sich die vierzehnjährige Liberty, die aus einer polygamen Mormonensekte geflohen ist. Das FBI erhofft sich, das Mädchen als Belastungszeugin gegen die Sekte einsetzen und aufgrund ihrer Aussagen ermitteln zu können, doch Liberty hat Angst und weigert sich, mit ihnen zu sprechen. Behutsam nähert Sadie sich dem verschreckten Mädchen, das bislang keinerlei Kontakt zur Außenwelt hatte und sich allmählich zurechtfinden muss. Nach und nach erfährt Sadie von schrecklichen Praktiken, die sie sich kaum vorzustellen wagte. Darüber verliert sie fast aus den Augen, welche Probleme ihren Mann Matt quälen …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Mittwoch, Waterford

 

Beim Verlassen der Küche wäre Sadie beinahe mit Joanna zusammengeprallt, die sich beeilte, über die Treppe nach oben zu kommen. Die beiden grinsten einander an, bevor Joanna sich abwandte und nach oben lief. Michelle weinte herzzerreißend laut, das war trotz Weihnachtsmusik und dem allgemeinen Stimmengewirr im Wohnzimmer noch gut zu hören.

Sadie ging am Esstisch vorbei zum Sofa und setzte sich neben Matt, der es sich mit einer Dose Bier bei Gary gemütlich gemacht hatte. Unter dem Weihnachtsbaum fuhr Ben Wettrennen mit seinen neuen Spielzeugautos.

Tessa, die gerade von der Toilette zurückkehrte, durchquerte das Wohnzimmer und ließ sich schwungvoll neben Sadie auf das Sofa fallen. Sie stöhnte theatralisch und strich sich über den Bauch.

„Schon wieder überfressen“, stellte sie nüchtern fest.

„Trotzdem bist du dürr“, sagte Gary, nachdem er sie mit einem Seitenblick bedacht hatte.

„Wir waren eben nie füreinander bestimmt.“ Tessa grinste ihn breit an, woraufhin Gary lauthals lachte. Matt verzog kurz die Lippen zu einem Lächeln und nahm dann noch einen Schluck Bier. Nachdem er die Dose wieder weggestellt hatte, verlor sein Blick sich im Nichts.

Bens Rennauto kollidierte mit Sadies Turnschuh. Betroffen blickte er zu ihr auf und sie nutzte die günstige Gelegenheit, sich ihren Neffen zu schnappen.

„Komm her, du“, sagte sie und hob ihn auf ihren Schoß. Mit seinem schönsten und breitesten Milchzahnlächeln grinste Ben seine Patentante an, die seine Nase mit ihrer anstupste und dann begann, ihn ohne Ankündigung durchzukitzeln. Lautes Kreischen übertönte alle anderen Geräusche im Wohnzimmer.

„Wer wird hier geschlachtet?“, fragte Norman, während er aus der Küche kam und sich den anderen gegenüber in seinen Sessel setzte. Inzwischen war seine Haarpracht wieder deutlich dichter, er wirkte gesünder. Wenn alles so blieb, hatte er den Krebs besiegt.

„Schlachten ist eine gute Idee“, sagte Sadie, drehte Ben auf den Bauch und winkelte sein linkes Bein an. Der Kleine begann zu johlen und zu quieken, als sie vorgab, seine Wade anknabbern zu wollen. In diesem Moment erschienen Sandra und Joanna wieder im Wohnzimmer, die beide nach ihren Kindern geschaut hatten. Michelle und Nicolas schliefen oben – zumindest war das der Plan.

Sandra setzte sich lächelnd neben Gary auf das kleinere Sofa und beobachtete, wie Sadie Ben bis zur Atemlosigkeit lachen und schreien ließ. Schließlich ließ sie Gnade walten und strich ihm über den Kopf. Joanna gesellte sich zu Sandra und lächelte Sadie zu.

„Schläft die Kleine wieder?“, fragte Norman.

„So gut wie“, erwiderte Joanna. „Ist wahrscheinlich die fremde Umgebung.“

„Das ist Nicolas ja völlig egal, der schläft überall wie ein Stein“, sagte Gary zufrieden und bedachte Ben mit einem skeptischen Blick. „Anders als der kleine Rabauke hier ...“

„Sei nicht so hart zu meinem Neffen“, nahm Sadie Ben in Schutz.

„Du bist seine Patin, du bist voreingenommen“, sagte Gary nicht ganz ernst gemeint. Im Augenwinkel beobachtete Sadie Joanna, die jedoch nicht darauf reagierte. Das musste sie auch nicht, denn sie war Patentante von Nicolas – so wie Matt sein Patenonkel war.

Ben rutschte von Sadies Schoß und lief hinüber zu seiner Mutter. Sadie entging nicht, mit welch liebevollem Blick Norman seinen Enkel dabei beobachtete.

„So ein süßer Fratz“, murmelte auch Tessa.

Sadie nickte zustimmend. Sie hatte eine Schwäche für ihren Neffen – und er umgekehrt für sie. Schon an Thanksgiving hatte sie festgestellt, dass sie ihn plötzlich mit anderen Augen sah.

„Was macht das Studium?“, erkundigte Norman sich bei Tessa.

„Sagen wir so: Es ist zum Glück nicht mehr lang“, erwiderte sie und lachte.

„Du kannst stolz auf dich sein.“

„Danke.“ Sie errötete.

„Doch, im Ernst. Ich weiß, wie schwierig das ist. Ich habe auch erst spät und neben dem Beruf studiert“, sagte Norman.

„Ja, das hat Sadie mal erzählt.“

Während die anderen sich über die verschiedensten Dinge unterhielten, stand Sadie auf und ging an Rusty vorbei nach draußen auf die Veranda. Im Wohnzimmer war es ihr deutlich zu warm. Sie schob die Tür hinter sich wieder zu, verschränkte die Arme vor der Brust und atmete tief durch. Draußen war es angenehm frisch, der dunkle Garten lag still vor ihr. Unwillkürlich musste sie an ihre Katzen denken, die jetzt zu Hause waren und von den Nachbarn versorgt wurden. Sie hätte sich ein Leben ohne die beiden gar nicht vorstellen können. Sie gehörten einfach dazu.

Es war schön, in diesem Moment in der alten Heimat zu sein. Norman hatte noch Tessa eingeladen und er hätte sich auch über Besuch von Phil gefreut, aber der war mit Amelia bei ihrer Familie. Sadie, Matt und Norman würden Matts Vater und Tammy am nächsten Tag in Patterson besuchen, darauf freute sie sich auch schon. Sie war nur nicht sicher, ob das ebenso für Matt galt.

Als die Tür hinter ihr geöffnet wurde, war sie nicht überrascht, Tessa zu sehen. Wortlos trat Tessa neben sie und lehnte sich bäuchlings an das Geländer der Veranda.

„Alles okay mit Matt?“, fragte sie.

Sadie nickte stumm und starrte in die Dunkelheit. „Weitgehend.“

„Ist ja auch noch nicht so lang her. Und bei dir?“

„Mir geht es gut“, sagte Sadie.

„Vorhin hatte ich das Gefühl, er weicht mir aus.“

„Kann sein. Ich habe ihm ja gesagt, dass du es weißt.“

„Der kann sich vielleicht anstellen.“

Sadie seufzte. Damit hatte es nichts zu tun, sie konnte Matt verstehen. Und ehrlicherweise hätte sie sagen müssen, dass nicht alles okay mit ihm war. Er litt noch immer unter Schuldgefühlen, hatte Alpträume. Er hatte nicht durchblicken lassen, ob ihm klar war, dass sie es wusste, denn er redete mit ihr nicht darüber. Wann auch immer sie es angesprochen hatte, hatte er es abgeblockt, deshalb hatte sie es irgendwann gelassen.

„Wir müssen ja nicht darüber reden, dass die Frau mehr als nur eine Schraube locker hatte“, sagte Tessa ins Schweigen hinein.

„Nein, sicher ... aber das hat seine Welt zerstört. Ich weiß, wie sich das anfühlt.“

„Ja ... schon klar.“ Die Blicke der beiden trafen sich und Sadie wusste, sie musste Tessa nicht sagen, dass sie den Tod ihrer Familie meinte. Den und ihre Entführung durch Sean. Sie wusste, wie es sich anfühlte, in seinem eigenen kleinen Mikrokosmos fremd zu sein.

„Er hat mich heute nicht einmal angesehen“, stellte Tessa fest.

„Vielleicht ist dir aufgefallen, dass es bei Norman kaum besser ist.“

Die Tür wurde erneut geöffnet, zum Vorschein kam Joanna. Tessa ließ sich nichts anmerken, während Sadie ihrer Cousine zulächelte.

„Ich hoffe, ich störe nicht“, sagte Joanna.

„Gar nicht“, behauptete Sadie.

„Plötzliches Schweigen“, stellte Joanna trotzdem fest. Sie setzte sich hinter den beiden auf die Hollywoodschaukel. „Angenehm hier draußen.“

„Ziemlich.“ Sadie drehte sich zu ihr um und lehnte sich gegen die Brüstung.

„Du warst süß vorhin mit Ben“, sagte Jo.

„Wie meinst du das?“, fragte Sadie irritiert.

„Hat mich an mich selbst erinnert. Ich konnte mit Ben wenig anfangen, bis ich schwanger wurde. Inzwischen ist alles anders.“

„Sicher.“ Sadie lächelte.

„Ich hoffe, es ist okay, dass Dad es mir gesagt hat.“

„Was meinst du?“, fragte Sadie. Sie spürte, wie ihr heiß wurde und auch Tessa neben ihr war plötzlich vollkommen angespannt.

„Dass er fast noch ein Enkelkind gehabt hätte.“

„Oh. Ach so.“ Sadie lachte verlegen. „Hat er gar nicht erwähnt.“

„Nein, wir sind zufällig drauf gekommen. Ich habe dir nie etwas gesagt, weil du es auch nicht angesprochen hast. Ich dachte, es ist dir vielleicht unangenehm.“

„Nein, gar nicht“, sagte Sadie und verschränkte die Arme vor der Brust. Tessa entspannte sich wieder.

„Ist nur eine traurige Sache“, fügte Sadie noch hinzu.

Joanna musterte sie neugierig. „Dass du das so sagen würdest.“

„Schon.“

„Ich sehe uns noch hier stehen und über Paolo und Michelle reden. Damals hätte ich nie geglaubt, dass dir das auch mal passiert.“

Sadie lachte kurz. „Da bist du nicht allein. Im ersten Moment war es auch ein Schock. Wie das ist, weißt du ja ... aber dann ...“

„Ja, ich weiß. Ging mir ja auch so.“ Joanna lächelte und ergänzte: „Wollt ihr es wieder versuchen?“

Sadie nickte stumm. Tatsächlich hatte sie schon vor Weihnachten die Pille abgesetzt – Matt zuliebe. Sie hatte es da nicht eilig, aber in einem seiner schwachen Momente hatte sie ihm ganz konkret gesagt, dass sie sich immer noch vorstellen konnte, mit ihm eine Familie zu gründen. Jederzeit. Sie hatte es von sich aus angeboten und er hatte genickt. Sie hoffte, dass ihm dieser Gedanke ein wenig Zuversicht gab. Außerdem sollte es ihm beweisen, dass sie immer noch an ihre Liebe glaubte.

„Viel Glück“, sagte Joanna. „Es würde mich für euch freuen. Aber das ist schon eine ziemliche Überraschung. Wie wollt ihr das machen?“

Sadie erzählte ein wenig von dem, was sie sich schon überlegt hatten, als sie Matt das positive Ergebnis des Schwangerschaftstests gezeigt hatte. Schließlich seufzte Joanna sehnsüchtig.

„Das klingt toll. Anders als Paolo ...“

„Feigling“, knurrte Tessa.

„Ach, er kümmert sich schon um Michelle. Mehr, als ich erwartet hätte. Aber ganz ehrlich ... selbst wenn er jetzt zu uns zurückkehren wollte – das will ich nicht mehr“, sagte sie kopfschüttelnd.

„Warum nicht?“

„Weil ich ihm diese Flucht nicht verzeihen kann“, sagte Joanna. „Er hat sich mit Händen und Füßen gesträubt. Jetzt, wo Michelle da ist und er sieht, dass es schön sein kann, gefällt es ihm. Aber so einfach ist das alles nicht. Das war ein Vertrauensbruch.“

„Kann ich verstehen“, sagte Sadie.

„Als ob du das kennen würdest“, sagte Joanna stirnrunzelnd. „Matt trägt dich doch auf Händen. Er ist da einfach unglaublich!“

Sadie lächelte bloß, weil sie nicht wusste, was sie erwidern sollte.

„Oder hängt bei euch etwa der Haussegen schief?“, fragte Joanna.

„Nein, wie kommst du darauf?“, behauptete Sadie.

„Ich dachte schon. Matt ist schon ein toller Mann. Du bist zu beneiden!“

Sadie schluckte hart und ballte die Hände zu Fäusten. Sie atmete tief durch und sagte: „Ich muss mal aufs Klo.“

Sie hatte die Tür noch nicht erreicht, als Tessa ihr folgte. „Ich brauche etwas zu trinken.“

Gemeinsam kehrten sie ins Wohnzimmer zurück und Sadie machte tatsächlich Anstalten, in Richtung der Toilette zu gehen. Als sie jedoch merkte, dass Tessa ihr folgte, blieb sie im Flur neben der Küche stehen und lehnte sich gegen die Wand. Tessa blieb vor ihr stehen.

„Vergiss es. Sie weiß es doch nicht.“

„Schon klar ...“ murmelte Sadie. „Trotzdem war das ein Volltreffer.“

Wortlos machte Tessa einen Schritt auf Sadie zu und umarmte sie ganz fest. Sadie erwiderte die Umarmung und genoss dieses sichere Gefühl einfach nur für einen Moment. Schließlich ließ Tessa sie wieder los und legte ihre Hände auf Sadies Oberarme.

„Du hast mir nicht erzählt, dass ihr es wieder versuchen wollt.“

„Nein, ist noch ganz frisch ... ist keine große Sache“, sagte Sadie kopfschüttelnd.

„Wäre bestimmt gut für ihn.“

„Das ist auch der Grund.“

Tessa seufzte. „Soll ich mal mit ihm reden?“

„Nein, lass mal. Da rennst du nur gegen die Wand. Er redet ja schon mit mir kaum.“

„Oh je, ehrlich?“

„Er redet generell nicht besonders viel“, versuchte Sadie, zu relativieren.

Nachdenklich spähte Tessa in Richtung der Wohnzimmertür. „Das ist doch beschissen. Das hat er nicht verdient.“

„Nein“, sagte Sadie und lachte unwillig. „Nein, hat er nicht ...“

Tessa lächelte, legte Sadie kameradschaftlich eine Hand auf die Schulter und gab ihr zu verstehen, dass sie wieder ins Wohnzimmer gehen sollten. Sadie nickte und folgte Tessa wieder zum Sofa. Matt blickte die ganze Zeit nicht auf. Sadie setzte sich wieder neben ihn und griff unverzagt nach seiner Hand. Sie war warm, was sich wunderbar angenehm anfühlte. Nun hob er doch den Kopf und lächelte sie an.

Es war schwer. Es war ein Kampf – jeden Tag. Sadie versuchte nach Kräften, ihm zu helfen, zeigte sich geduldig und gab ihm alle Zeit der Welt. Er war stark, das wusste sie. Er würde das schaffen und sie würde ihm dabei helfen, denn wenn es etwas gab, das sie kannte, dann war es eine solche Situation. Sie wusste, dass es vor allem Zeit brauchte, wenn man eine so schlimme Erfahrung machte.

Doch dann korrigierte sie sich in Gedanken selbst. Es war ja gar nicht unbedingt nur, was Stacy getan hatte. Matt litt viel mehr unter dem, was er selbst getan hatte. Und das war etwas, wo sie nicht mitreden konnte. Sie hatte zwar schon Menschen erschossen, aber immer in Notwehr. Ihr war keine Wahl geblieben. Was Matt getan hatte, war jedoch etwas anderes. Sie sah jeden Tag, dass es an ihm nagte und er es rückgängig gemacht hätte, wäre es möglich gewesen.

Gary und Sandra machten sich mit ihren Söhnen auf den Heimweg, als Ben müde und unleidlich wurde. Bislang war er aufgedreht gewesen und hatte es genossen, lang aufbleiben zu dürfen, aber irgendwann war Schluss. Joanna und Michelle begleiteten die kleine Familie, Gary hatte seiner Schwester eine Übernachtungsmöglichkeit angeboten. Norman beherbergte immerhin schon Sadie, Matt und Tessa.

„Jo gibt ja eine richtig gute Mutter ab“, sagte Tessa, als die anderen gegangen waren. „Hätte ich nicht gedacht.“

„Ich bin stolz auf meine Tochter“, sagte Norman, während er zu Rusty vor dem Kamin blickte. „Sie hat sich so verändert, und nur zum Guten.“

„Das stimmt allerdings. Ich weiß noch, wie ich damals in den Sommerferien bei euch übernachtet habe ... das war kurz nach Sadies Rückkehr aus dem Krankenhaus“, formulierte Tessa es diplomatisch und vermied es geschickt, das Wort Selbstmordversuch zu benutzen. „Da müssen wir fünfzehn oder so gewesen sein ... und ich weiß noch, dass es Fannys Idee war, mich über Nacht hierzubehalten.“

„Ich erinnere mich“, sagte Norman. „Du warst eine ganze Woche hier, oder?“

„So ungefähr. Sadie wollte schwimmen gehen, aber wegen der Wunden ging das nicht. Deshalb ging nicht besonders viel. Aber das war nicht schlimm, wir hatten keine Langeweile. An diesem einen Abend haben wir uns erst einen Film angesehen und es gab eine riesige Diskussion, weil Jo unbedingt ihre Lieblingsserie ansehen wollte ... eine Wiederholung. Du hast sie weggeschickt, Norman. Später waren wir dann auf Sadies Zimmer und haben uns über Gott und die Welt unterhalten, vielleicht um kurz vor Mitternacht ... und auf einmal stand Jo in der Tür und hat uns angezickt, wir seien zu laut!“

„Das weiß ich noch“, sagte Norman. „Sie selbst hatte ja auch nachts um halb drei die Musik noch laufen ...“

„Und sie hat theatralisch über den Flur gerufen, dass das jetzt mein Selbstmordbonus sei“, sagte Sadie schonungslos. In diesem Moment blickte Matt auf und lehnte sich auf dem Sofa zurück. Sadie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten.

„Was auch immer daran ein Bonus sein sollte“, sagte Tessa kopfschüttelnd.

„Du warst die Einzige, die mich nicht mit Samthandschuhen angefasst hat“, sagte Sadie.

„Nein, ich wollte dafür sorgen, dass es dir besser geht und ich wusste noch, dass du es nicht leiden kannst, wenn alle übervorsichtig sind.“

„Wir haben es nur gut gemeint“, sagte Norman.

„Ich weiß. Das habt ihr immer“, sagte Sadie.

„Wenigstens hat Gary dich so schnell gefunden“, sagte Matt auf einmal, ohne dabei irgendjemanden anzusehen.

„Das ist lange her“, sagte Sadie.

„Ich bin froh, dass ihr euch alle so gut um Sadie gekümmert habt“, sagte Matt. „Nur deshalb habe ich heute eine so tolle Frau.“

Niemand wusste, was er darauf erwidern sollte. Unbehaglich rieb Matt seine Handflächen über seine Knie und stand auf.

„Ich denke, ich werde schlafen gehen. Irgendwie bin ich müde. Bleib du ruhig noch hier“, sagte er und hatte den letzten Satz dabei an Sadie gerichtet. Sie wollte schon protestieren, aber während die anderen ihm eine gute Nacht wünschten, ging Matt einfach nach oben und verschwand.

„Das war wohl kein gutes Thema“, sagte Norman.

„Nein, es ist euretwegen“, sagte Sadie. „Ich glaube, er schämt sich vor euch.“

„Ach, das muss er nicht. Er ist in meinem Haus willkommen.“

„Das weiß er, aber er macht sich einfach Vorwürfe.“

„Also, ich mache ihm die nicht“, sagte Tessa. „Die Frau hatte es nicht anders verdient.“

„Du warst ja immer schon kompromisslos“, stellte Norman mit gutmütiger Miene fest.

„Ja, was denn? Die wollte Sadie umbringen und was Matt zu ihrem Liebeswahn meint, war ihr doch völlig egal. Die Frau war doch krank. Oder, Sadie?“

„War sie“, sagte Sadie und nickte.

„Ich meine das nicht als Entschuldigung“, präzisierte Tessa.

„Lass uns davon aufhören.“

„Ich glaube, ich rede morgen noch mal auf der Fahrt mit ihm“, überlegte Norman. Sadie war nicht sicher, ob das eine so gute Idee war, aber sie hatte keine Einwände. Vielleicht half es ja doch.

Sie saß noch ein wenig bei Norman und Tessa und unterhielt sich mit ihnen über Familienangelegenheiten und ähnliche Dinge, bis die Unruhe sie ebenfalls nach oben trieb. Sie wollte wissen, ob bei Matt alles in Ordnung war.

Als sie das Gästezimmer betrat, lag er bereits im Bett. Sadie hörte ruhige, gleichmäßige Atemzüge, die den Eindruck machten, als würde er bereits schlafen. Sie wusste nicht, ob es stimmte, aber sie schnappte sich ihre Sachen und zog sich im Bad um, bevor sie ihre Zähne putzte. Schließlich legte sie sich ins Bett neben Matt und lauschte auf seinen Atem. Unverzagt schmiegte sie sich an ihn und bettete ihren Kopf auf seine Brust. Als er sich dann leicht bewegte, merkte sie, dass er tatsächlich schlief. Wenigstens etwas, dachte sie, bevor sie die Augen schloss.

 

 

Donnerstag

 

Sadie erwachte davon, dass es kalt neben ihr war. Im Gästezimmer war es totenstill. Sie streckte ihren Arm aus und stellte gleich fest, dass Matt nicht neben ihr lag. Sie blinzelte schläfrig und lauschte, ob sie ihn vielleicht nebenan im Bad hören konnte, aber es drang kein Geräusch an ihre Ohren. Erst war sie zu müde, um sich darüber Gedanken zu machen, aber dann ließ es ihr doch keine Ruhe. Seufzend stand sie auf, zog schnell ihre Socken an und tappte im Dämmerlicht zur Tür. Oben war alles still und dunkel. Fast geräuschlos schlich Sadie die Treppe hinunter – das hatte sie schon früher immer getan und sie wusste, wohin sie treten musste, um kein Geräusch zu verursachen.

Sie hatte das Wohnzimmer noch nicht erreicht, als sie merkte, dass die Tür zur Veranda offenstand. Sie hörte das Zirpen der Grillen von draußen und es war vergleichsweise kühl, wenn auch nicht unangenehm. Nicht mehr ganz so sehr um Geräuschlosigkeit bemüht, durchquerte sie das Wohnzimmer und trat hinaus auf die Veranda. Matt hatte sich auf die Hollywoodschaukel gesetzt und starrte einfach nur hinaus in den finsteren Garten. Eine Wolke hatte sich vor den Mond geschoben.

„Alles okay?“, fragte Sadie.

Er nickte bloß, ohne etwas zu erwidern. Unverzagt setzte Sadie sich neben ihn und verschränkte die Arme vor der Brust. Einträchtig schweigend saßen sie da. Etwas raschelte im Gebüsch.

„Niemand ist dir böse, Matt“, brach Sadie schließlich das Schweigen.

„Außer mir.“

„Tessa ist aufgefallen, dass du sie gar nicht wirklich ansiehst.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich fühle mich wie ein Hochstapler. Ich denke immer, man müsste es mir ansehen ... oder ich frage mich, wie Norman und Tessa es fertigbringen, mich anzusehen, ohne mich zu verurteilen.“

„Sie kennen dich eben besser.“

„Ja, aber das ändert nichts daran, dass ich es wirklich getan habe!“, begehrte Matt auf. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt. Sadie griff nach einer seiner Hände und legte ihre darauf.

„Stimmt, aber das Leben geht weiter, Matt. Unser Leben. Es macht mich fertig, dich so unglücklich zu sehen.“

„Ich weiß. Tut mir leid.“

„Kann ich dir irgendwie helfen?“

„Ich wüsste nicht, wie. Das ist alles zu spät und vorbei. Und weißt du, es ist gar nicht so schlimm, Norman und Tessa anzusehen, weil sie es wissen. Mit dir und Phil schaffe ich es ja auch. Es ist schlimm, auch alle anderen Menschen anzusehen und zu wissen, dass man sie belügt. Dass sie einen für etwas halten, das man gar nicht ist.“

„Du bist jetzt kein anderer Mensch, Matt.“

Plötzlich sah er sie mit einem Blick an, der zwischen Schmerz und Verzweiflung schwankte. „Und das ist genau der Punkt, Sadie: Es fühlt sich aber so an, als sei ich jetzt ein anderer Mensch.“

„Nein. Bist du nicht.“ Sie drückte seine Hand ganz fest und rutschte an ihn heran. „Mach dich nicht so fertig. Wir müssen das einfach vergessen. Lass dir von mir gesagt sein: Es gibt nichts, womit man nicht fertig werden kann.“

„Hm“, machte Matt und Sadie wusste nicht, wie sie es deuten sollte.

„Ich liebe dich“, sagte sie unerschrocken.

„Ich dich auch“, erwiderte er sofort. „Du weißt ja gar nicht, wie sehr.“

„Oh, ich glaube, ich habe da einen Verdacht.“ Sie lächelte und lehnte ihren Kopf an seine Schulter.

„Danke, Sadie.“

„Du weißt, ich meine das alles ernst.“

„Ja, warum auch immer. Bei deiner Geschichte könnte man Anderes erwarten.“

„Matt ...“ Sie seufzte ergeben. „Du bist mein Mann. Und weißt du, warum du das bist? Weil du nichts Besseres zu tun hattest, als mich zu heiraten, obwohl ich ziemlich am Boden war und unsere Beziehung genausogut hätte kaputtgehen können.“

„Ist sie aber nicht. Du hattest etwas Beschissenes erlebt und wir sind gemeinsam darüber hinweggekommen.“

Sie lächelte, ohne ihn anzusehen. „Siehst du ... genau das können wir jetzt auch wieder tun.“

„Okay, du hast mich“, sagte er und küsste sie aufs Haar. „Lass uns wieder ins Bett gehen.“

Sadie war einverstanden und ging mit Matt wieder nach oben ins Gästezimmer. Dort angekommen, nahm er sie von hinten in den Arm und hielt sie ganz fest. Lächelnd schloss Sadie die Augen und schlief im Handumdrehen wieder ein.

 

Geweckt wurde sie am Morgen vom Geklapper des Geschirrs in der Küche. Norman hantierte bereits mit Tellern und Besteck. Matt sprang im Handumdrehen aus dem Bett und stellte sich unter die Dusche. Sadie hatte sich gerade erst angezogen, als es an der Tür klopfte und Tessa erschien.

„Na“, sagte sie und setzte sich bei Sadie auf die Bettkante. „Alles gut?“

Sadie nickte und sah davon ab, ihr von Matts kleiner Nachtwanderung zu erzählen. Augenblicke später erschien er selbst wieder im Gästezimmer, mit nichts weiter als seinen Boxershorts bekleidet. Tessa pfiff durch die Zähne.

„Wäre ich hetero, wärst du genau mein Typ.“

Matt grinste sie an. „Dann ist es ja gut, dass du nicht hetero bist.“

„Und diese Narben“, fuhr Tessa fort, ohne auf seine Worte einzugehen. „Ohne Narben ist ein Mann kein Mann!“

Sadie lachte laut, während Matt Tessa einen fragenden Blick zuwarf und sich ungeachtet ihrer Anwesenheit in aller Ruhe anzog.

„Wie hat Sadie dich eigentlich all die Jahre ausgehalten?“, stichelte er zurück.

„Weiß nicht“, sagte Tessa und blickte zu ihrer Freundin. „Wie hast du das nur gemacht?“

Sadie zuckte mit den Schultern. „War einfach so. Du bist mir vom ersten Tag an nicht mehr von der Seite gewichen. Die anderen wussten nie, wie sie mit mir umgehen sollen, aber dir war das alles furchtbar egal.“

„Na ja, egal nicht ... aber ich fand immer, die anderen haben sich echt angestellt. Ich war neugierig, wer die Neue wohl ist, und ich fand dich immer in Ordnung.“

Die beiden lächelten einander an und als Matt fertig war, gingen sie alle nach unten zum Frühstück.

„Guten Morgen zusammen“, sagte Norman, während er Gläser und Orangensaft auf den Tisch stellte. „Ich muss wieder in die Küche zum Rührei.“

„Rührei!“, rief Tessa begeistert. Sie erkundigten sich, ob sie helfen konnten, aber Norman scheuchte sie alle aus der Küche und servierte schließlich das fertige Rührei mit Speck. Sofort begannen sie zu essen und es herrschte für einen Moment Stille am Tisch.

„Ich habe mich noch gar nicht bei euch bedankt“, sagte Matt ins Schweigen hinein.

„Bedankt?“, fragte Norman.

„Dafür, dass ihr mich nicht spüren lasst, was passiert ist.“

Tessa verdrehte die Augen und blickte zu Sadie. „Hat er das gerade wirklich gesagt?“

„Ja, das habe ich gesagt“, griff Matt ihre Worte unbeeindruckt auf. „Mit Norman habe ich immerhin schon einmal drüber gesprochen, mit dir ja noch nicht, Tessa. Aber für mich ist das alles andere als selbstverständlich ... nach dem, was ich ausgefressen habe.“

„Du hast vielleicht einen Fehler gemacht, aber in der Hauptsache müssen Sadie und du damit zurechtkommen und ich sehe, dass ihr das schafft“, sagte Norman.

Tessa ließ ihre Gabel sinken und wartete, bis Matt sie ansah. „Weißt du was, Matt Whitman?“

Überrascht zog er die Augenbrauen hoch. „Was kommt denn jetzt?“

Tessa seufzte dramatisch. „Du weißt, dass ich Sadie schon lange kenne. Ich hab sie auch schon sehr lang gern. Aber glücklich war sie eigentlich nie ... jedenfalls nicht, bis du angefangen hast, mit ihr auszugehen. Das wollte euch jemand zerstören und du hast dich dagegen gewehrt. Ende der Geschichte.“

„So siehst du das?“

Sie nickte. „Ich weiß genug über dich, um zu wissen, wie gut du für Sadie bist. Also mach dich nicht immer selbst so fertig.“

Matt lächelte bloß kurz, dann senkte er den Blick und fuhr fort, sein Rührei zu essen.

„Das hast du schön gesagt“, pflichtete Norman Tessa bei.

„Danke“, murmelte Matt leise, sah aber nicht wieder auf. Sadie war es, die Norman und Tessa anlächelte. Schließlich wechselten sie das Thema und machten sich nach dem Frühstück alle auf den Weg. Tessa fuhr nach Livermore zurück, während Matt, Sadie und Norman sich mit dem Challenger auf den Weg nach Patterson zu Matts Familie machten. Unterwegs im Wagen griff Norman das Thema jedoch noch einmal auf.

„Du schämst dich, oder?“, sagte er zu Matt. Die Blicke der beiden begegneten sich im Rückspiegel, aber Matt erwiderte nichts.

„Das spricht für dich, Junge. Es könnte dir auch gleich sein, du könntest es herunterspielen oder schönreden ... das alles tust du nicht. Ich weiß, du wärst bereit gewesen, die Konsequenzen zu tragen, wenn es sich nicht auch auf Sadie auswirken würde.“

„Das könnte ich mir nie verzeihen“, sagte Matt.

„Vergessen wir es einfach am besten. Das wird euch auch guttun.“

Sadie nickte, während Matt nicht wusste, wie er reagieren sollte. Zwar freuten Normans Worte ihn, aber es war ihm auch ein wenig unangenehm. Er blickte weiter geradeaus auf die Straße, schließlich musste er sich aufs Fahren konzentrieren. Niemand sagte mehr etwas dazu und Sadie versuchte, sich gedanklich auf die Ankunft bei Matts Familie in Patterson vorzubereiten. Sie wollte nicht, dass sein Vater oder seine Schwester etwas merkten. Matt hatte seine Familie länger nicht gesehen und sie glaubte, dass er sich auf den Besuch freute. Er sollte ihn genießen.

Nach einer guten Stunde Fahrt trafen sie am Ziel ein. Matts Elternhaus lag in einer ruhigen Seitenstraße in Patterson, die sehr weihnachtlich geschmückt war. Tatsächlich ähnelte Patterson Waterford in vielerlei Hinsicht.

Matt parkte den Challenger vor der Garage. Es war ein unscheinbares, gepflegtes Haus mit einem schmucken Erker und einem hübschen kleinen Vorgarten. Sadie fand, dass sie viel zu selten dort waren.

Sie holten die Geschenke aus dem Kofferraum und wollten erst noch klingeln, aber dazu kam es gar nicht erst. Tammy hatte sie längst entdeckt, riss die Tür auf und fiel Matt stürmisch um den Hals.

„Der beste Bruder der Welt!“, rief sie übermütig und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Matt lachte und drückte sie an sich.

„Hey, Kleines. Du siehst gut aus“, sagte er.

„Du aber auch. Wieder ganz der Alte!“ Tammy strahlte ihn an und wandte sich dann Sadie zu. Sie umarmte ihre Schwägerin und wiegte sie vergnügt in den Armen. Sadie lachte.

„Ist das schön, dich zu sehen! Und deine Haare ...“ Tammy schnappte sich eine Strähne von Sadies langem rotem Haar und ließ es durch ihre Finger gleiten. „Mein Bruder hat so eine hübsche Frau!“

„Danke für die Blumen“, sagte Sadie und errötete. Derweil wurde Matt in der Tür von seinem Vater begrüßt, aber als Tammy mit Norman fertig war, setzten sie die Begrüßung im Flur fort. Matts Vater nahm ihnen die Geschenke ab und deponierte sie erst einmal unter dem Weihnachtsbaum. Auf dem Couchtisch standen bereits Kaffee und Tee, auf dem Tisch wartete Kuchen auf sie. Matt verschränkte die Arme vor der Brust und schaute sich um, während die anderen bereits auf dem Sofa Platz nahmen. Matts Vater sorgte dafür, dass jeder etwas zu trinken hatte, bevor sie nacheinander ihre Geschenke holten und auspackten. Sadie beobachtete Matt im Augenwinkel, konnte seine Gemütslage aber nicht deuten. Sie konnte nicht bestimmen, ob er zufrieden oder unruhig war. Im Augenblick war er gut darin, seine Gefühle für sich zu behalten.

„Ich freue mich, dass ihr alle hier seid“, sagte Matts Vater schließlich in die Runde und blickte dann zu Tammy. „Alle bis auf Joel.“

„Joel?“, fragte Sadie, die gleich hellhörig geworden war.

„Ja ...“ murmelte Tammy und errötete. „Joel ist mein neuer Freund.“

„Da muss man also erst nach Patterson kommen, um davon zu erfahren“, tadelte Matt sie.

„Das ist auch alles noch ganz frisch“, sagte Tammy. „Er ist ein neuer Kollege und erst seit Anfang des Monats bei uns. Aber was soll ich sagen ... es hat gleich gefunkt!“

„Ich will Beweisfotos“, neckte Matt sie weiter. Tammy zog ihr Handy aus der Tasche und zeigte ihrem Bruder das Bild, das sie als Bildschirmhintergrund gewählt hatte. Es zeigte sie mit einem jungen Mann etwa in ihrem Alter. Er hatte frech abstehendes Haar und ein gewinnendes, sympathisches Lächeln.

„Wie sieht sein polizeiliches Führungszeugnis aus?“, fragte Matt.

„Scheusal“, sagte Tammy stirnrunzelnd und reichte Sadie ihr Handy. „Er kommt aus New Jersey, seine Eltern sind geschieden und er hat einen jüngeren Bruder. Und wenn du dich nicht benimmst, stelle ich ihn dir nicht vor.“

„Hey, ich bin dein großer Bruder und ich muss sicher sein, dass der Kerl dich auch verdient hat.“

Sadie grinste, als sie die unbeschwerte Neckerei der beiden beobachtete. Das war wirklich wie immer – und es beruhigte sie ungemein.

„Joel ist okay. Wir waren noch nicht soweit, dass wir uns persönlich bei unseren Familien vorstellen würden ... aber bei seiner bin ich an Neujahr eingeladen.“

„Ich hoffe, du stellst uns den jungen Mann auch bald mal vor“, sagte ihr Vater.

„Ja, bei nächster Gelegenheit, versprochen. Und wehe, mein Bruder macht dann einen auf FBI.“

„Entschuldige, dass ich da arbeite“, sagte Matt trocken.

„Kannst du ja, aber bei meiner süßen Schwägerin merkt man das auch nicht immer“, stichelte Tammy.

„Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass du eine Verbündete brauchst“, sagte Sadie wie aus der Pistole geschossen.

Tammy klappte der Unterkiefer herunter. „Ich nehme alles zurück. Erstellst du gerade ein Profil von mir?“

Sadie schüttelte den Kopf. „Nein, ich will dich nur ärgern. Ich weiß, dass dein Bruder gemein ist.“

„Das mit dem Verbrüdern gegen mich klappt aber ganz gut“, murmelte Matt stirnrunzelnd. „Oder ist das eher verschwestern?“

Sadie lachte und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Deine Schwester wehrt sich nur gegen dich.“

„Das Privileg des Ärgerns liegt allein bei großen Brüdern“, erklärte Matt todernst.

„Deshalb verstehst du dich so gut mit Gary“, murmelte Sadie trocken und grinste.

„Was dagegen?“

Sie lachten gemeinsam. Es war ein unbeschwerter Moment, wie Sadie ihn mit Matt schon länger nicht erlebt hatte. Es überraschte sie nicht und sie wäre auch nie auf die Idee gekommen, ihm Vorhaltungen zu machen. Er machte das ja nicht mit Absicht. Sein Leben war im Augenblick schwierig genug.

Sie unterhielten sich ungezwungen über die verschiedensten Dinge – über Tammys neuen Freund, über die Kinder im Hause Scott, über Los Angeles. Sie unterbrachen das Gespräch nur, um sich an den Tisch zu setzen und sich Kaffee und Kuchen zu widmen.

„Den hat Tammy gebacken“, verkündete ihr Vater stolz.

„Du hast geholfen.“

„Ja, aber auch nicht mehr als das!“

„Man merkt ja erst, wieviel Arbeit so ein Haushalt macht, wenn man als Witwer dasteht“, sagte Norman nicht ohne einen schuldbewussten Unterton.

„Ja, durchaus. Wenigstens haben wir die Kinder schon groß.“

„Und wie prächtig sind sie geraten!“, fand Norman. Sadie entging nicht, wie Matt wieder den Blick senkte.

Sie wusste, was los war. Er wollte büßen. Er wollte nicht einfach mit dem davonkommen, was er getan hatte. Das war vielleicht kein ungewöhnliches Bedürfnis, aber es gab einfach keine Lösung für dieses Problem. Dass er so dachte, verriet ihr ja genug über ihn, aber sie wusste nicht, wie sie ihm helfen sollte.

Als sie mit dem Kuchen fertig waren, tastete sie unter dem Tisch nach seiner Hand. Sie war eiskalt. Das erlebte Sadie in letzter Zeit öfter. Ja, einerseits war Matt immer noch derselbe, aber andererseits hatte er sich verändert. Sie sah ihn nicht als bösen Menschen, ganz im Gegenteil. Er war verzweifelt.

Wenig später schnitt ausgerechnet Tammy das undankbare Thema an. „Du siehst besser aus als vor zwei Monaten, Bruderherz.“

Matt bemühte sich, zu lächeln. „Gut zu hören.“

„Doch, ehrlich. Du warst so ungesund blass und auf Krücken war das auch nichts. Wobei es ja auch schlimmer hätte ausgehen können.“

„Vielen Dank für die Erinnerung“, knurrte Matt mäßig erfreut.

„Was denn, Großer?“

„Könnten wir bitte nicht über Stacy Gallagher reden?“

„Ich wollte doch gar nicht ...“ murmelte Tammy betroffen und senkte den Blick.

„Es ist nicht Matts Lieblingsthema“, nahm Sadie ihren Mann in Schutz.

„Nein, natürlich nicht. Sorry. Ich wollte nur nett sein.“

„Schon gut“, sagte Matt und nahm noch einen Schluck Kaffee. Für einen Moment herrschte betretenes Schweigen. Als Matts Vater schließlich begann, den Tisch abzuräumen, ging Sadie ihm sofort zur Hand. Die anderen waren noch mitten in einer Unterhaltung. Als sie den zweiten Kuchen auf der Arbeitsplatte abstellte, blickte Mr. Whitman von der Spülmaschine auf.

„Danke, dass du dich so gut um meinen Sohn kümmerst.“

Irritiert sah Sadie ihn an. „Was meinst du?“

„Er macht gerade eine schwere Zeit durch, aber ich glaube, du hilfst ihm dabei, das durchzustehen.“

„Das hat er für mich auch schon getan.“

„Ja, ich weiß. Trotzdem ist das sicher nicht leicht. Ich habe das Gefühl, dass es ihn nicht loslässt.“ Matts Vater stellte sich aufrecht hin und lehnte sich an die Arbeitsplatte.

„Nein“, gab Sadie zu und suchte nach Worten. „Sie hat ihn fast umgebracht. Mich auch. Es war wirklich nicht schön.“

„Ich weiß ... aber so kenne ich meinen Sohn gar nicht, verstehst du? Er hat schon Rückschläge in seinem Leben einstecken müssen, aber er war immer zuversichtlich, hat sich wieder aufgerappelt und weitergemacht. Aber jetzt ... ich habe das Gefühl, er ist noch am Boden und kommt nicht wieder hoch.“

Sadie war nicht überrascht, dass Mr. Whitman seinen Sohn so gut kannte. Das taten wohl alle Eltern. Matts Vater war jetzt Mitte Sechzig und ein sehr warmherziger, freundlicher Mann. Sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden. Es fiel Sadie jetzt auch schwer, ihn anzulügen, aber die Wahrheit zu sagen würde auch nicht helfen. Dann würde Matt sich noch bei seiner eigenen Familie schämen.

„Es ist schwierig, das stimmt“, sagte Sadie deshalb. „Aber wir schaffen das. Es hilft ihm, wieder arbeiten zu gehen und einen normalen Alltag zu haben. Für den Rest braucht er Zeit.“

„Ich weiß, das sage ich mir auch alles. Aber trotzdem habe ich das Gefühl, da ist noch mehr.“

Sadie starrte auf den Küchenboden und überlegte, wie sie reagieren sollte. Als Mr. Whitman sie auch weiterhin fragend ansah, begriff sie, dass sie ihm jetzt etwas sagen musste.

„Das war eine traumatische Erfahrung“, sagte sie. „Gewalt und Angst sind nicht unbedingt das, worunter man leidet, wenn man eine solche Erfahrung macht. Dabei hat er auch beides erlebt. Es war eher das Bewusstsein, der Situation hilflos ausgeliefert zu sein. Hilflosigkeit ist das, was traumatisiert.“

Mr. Whitman nickte ernst. „Du weißt ja, wovon du sprichst. Sowohl in beruflicher als auch persönlicher Hinsicht.“

„Allerdings. Matt hat darunter gelitten, zu glauben, dass ich sterbe. Er dachte ja im ersten Moment wirklich, ich sei tot. Und gegen seinen Willen festgehalten zu werden ist wirklich keine schöne Erfahrung ...“

Matts Vater nickte erneut. „Hat er dir von ihr erzählt? Was sie gemacht hat?“

„Ja, sehr ausführlich sogar. Es war ...“ Sadie zögerte kurz. „In gewisser Hinsicht ähnelte es den Erfahrungen, die ich mit Sean machen musste.“

„Oh.“

„Sie war ja völlig vernarrt in ihn und konnte einfach nicht akzeptieren, dass er sie nicht wollte. Er wollte es mir erst gar nicht erzählen, weil er dachte, ich glaube ihm nicht.“

„Du kennst ihn besser“, sagte Mr. Whitman.

Sadie seufzte. „Das ist die ganze Geschichte. Sie ist richtig aufdringlich geworden und er hat begonnen, an sich zu zweifeln. Das ist ein Prozess, das kommt wieder in Ordnung.“

Mr. Whitman lächelte und tätschelte seine Schwiegertochter am Oberarm. „Wie gesagt ... danke, dass du dich so gut um ihn kümmerst.“

„Das hat er auch für mich getan“, sagte Sadie ernst.

„Ich weiß. Er liebt dich. Es ist gut, dass er sich umgekehrt auch so auf dich verlassen kann.“

Sadie lächelte kurz und ging wieder ins Wohnzimmer zu den anderen. Argwöhnisch beobachtete Matt sie, aber als sie ihn unbefangen ansah, entspannte er sich wieder.

Vor ihnen lag noch ein langer Weg, da machte Sadie sich keine Illusionen. Es fühlte sich jedoch auch gut für sie an, Matt nun aktiv helfen zu können. Sie wusste aus eigener Erfahrung, wie wichtig verständnisvolle Unterstützung war und nun konnte sie die selbst liefern. Sie würden das schaffen. Sie mussten es schaffen!

Ohne Vorwarnung beugte sie sich zu Matt vor und gab ihm einen Kuss. Tammy lächelte ihnen zu und auch Norman und Mr. Whitman waren sichtlich gerührt. In diesem Moment war Sadie zuversichtlich, dass sie alles schaffen würden, was nötig war.

 

 

Freitag, Los Angeles

 

Das letzte Stück auf der Interstate 5 vor Los Angeles übernahm Sadie. Sie hatte es Matt angeboten, weil er nicht gut geschlafen hatte und immer noch müde war. Deshalb wunderte sie sich nicht, als er schon nach einer halben Stunde schlafend neben ihr saß. Schweigend betrachtete sie ihn im Augenwinkel und seufzte.

Es war ihm vor Weihnachten einigermaßen gut gegangen, aber die Begegnung mit ihren Familien hatte ihn kalt erwischt. Sadie wusste nur nicht, wie sie ihm da helfen sollte. Sie konnte ihn so gut verstehen.

Sie hatte den Tempomat auf die erlaubten 75 Meilen pro Stunde eingestellt und musste nur noch lenken. Im Radio spielte eine ihrer CDs, sie hatte schon vor Bakersfield ein Album von Kyuss eingelegt und hing nun zu Space Cadet ihren Gedanken nach.

Sie wusste nicht, ob Matt schon einmal ausführlich mit Phil gesprochen hatte. Ihrem Freund hatte es nie etwas ausgemacht, dass er Sean Taylor erschossen hatte, aber Sadie ging davon aus, dass der Vergleich etwas hinkte. Die Situationen ähnelten einander nur bedingt und Matt war anders gestrickt als Phil.

Sadie wünschte, sie hätte ihm irgendwie helfen können. Ihm die Last abnehmen können. Denn sie wusste, er hatte es auch für sie getan. Natürlich hatte sie nie darum gebeten, aber so war es.

Er erwachte erst wieder, als sie das Stadtgebiet von Los Angeles bereits erreicht hatten. Es war früher Abend, die Dämmerung war schon weit fortgeschritten. Der Verkehr wurde dichter, aber Sadie fuhr trotzdem in aller Ruhe nach Hause. Matt richtete sich neben ihr auf und nahm einen Schluck Wasser, sagte jedoch nichts. Als sie zu Hause angekommen waren, trug er wortlos die Tasche nach oben und gab den Katzen etwas zu fressen.

„Was hältst du von einem Anruf bei Gino’s und einem Film?“, fragte Sadie mit der Speisekarte des Lieferdienstes in der Hand.

„Eine Menge“, sagte Matt und lächelte. Nachdem sie beim Italiener das bestellt hatten, was sie ohnehin immer bestellten, widmeten sie sich der Auswahl eines Films. Ungefähr diese Vorstellung hatte Sadie gerade von einem gelungenen Abendprogramm – nichts, was noch irgendwie Arbeit machte. Schließlich waren sie gerade fünf Stunden Auto gefahren.

Sie entschieden sich wie meist für einen unterhaltsamen Actionfilm und starteten ihn, nachdem der Pizzabote geklingelt und ihnen das Essen gebracht hatte. Gino hatte noch ein kleines Weihnachtsgeschenk in Form von zwei Portionen Tiramisu dazugelegt, was Sadie sehr freute. Sie liebte Tiramisu.

Mittens gesellte sich zu ihnen aufs Sofa, während sie ihre Pizza aßen und sich vom Film berieseln ließen. Sadie streichelte die Katze und saß an Matt gelehnt da. Er hatte einen Arm um sie gelegt und machte den Eindruck, ganz gefesselt vom Film zu sein. Gelegentlich nahm er einen Schluck Bier. Nachdem Mittens vom Sofa gesprungen und in den Garten verschwunden war, schmiegte Sadie sich dichter an Matt und legte beide Arme um ihn. Er gab ihr einen Kuss aufs Haar und lehnte seinen Kopf an ihren.

Es war ein vertrauter, geradezu inniger Augenblick. Sadie war froh, dass Matt das zuließ. Anfangs hatte er sich damit sehr schwer getan, aber inzwischen wies er sie nicht mehr ab, wenn sie seine Nähe suchte. Seine Wärme und Nähe reichten vollkommen aus, um Sadie auf andere Gedanken zu bringen. Ihre Umarmung wurde fordernder und sie legte eine Hand auf seinen Oberschenkel, um seine Reaktion abzuwarten. Es dauerte einen kurzen Moment, bis Matt seine Hand auf ihre legte und sie festhielt.

Sadie verstand. Er war nicht in Stimmung. Das war in letzter Zeit häufig der Fall. Es lag nun schon fast zwei Wochen zurück, dass sie ihn morgens nach wilden Träumen geweckt und verführt hatte, bevor sie überhaupt aufgestanden waren. In diesem Moment hatte er sich belustigt und bereitwillig darauf eingelassen, aber seitdem ließ er sie wieder abblitzen, so wie er es auch zuvor immer wieder getan hatte.

Sadie versuchte, dem keine allzu große Bedeutung beizumessen. Er brauchte einfach Zeit, das nahm sie nicht persönlich. Sie wusste, es hatte nichts mit ihr zu tun. Trotzdem war es ungewöhnlich, so kannte sie ihn nicht. Nicht einmal gleich nach seiner Rettung von Stacy hatte er sich so verhalten.

Aber da hatte er auch noch versucht, alles mit sich selbst auszumachen. Manchmal hatte sie regelrecht das Gefühl, es ging ihm schlechter, seit er sich offenbart hatte. Das tat ihr leid, denn ihr ging es besser, seit sie wusste, was mit ihm los war. Sie hatten schon so viel zusammen bewältigt und bislang hatte Matt ihr immer zur Seite gestanden – sie fand, dass sie jetzt an der Reihe war.

Als der Film vorbei war, zappten sie noch ein wenig ziellos durchs Fernsehprogramm, bis Matt vorschlug, schlafen zu gehen. Zwar mussten sie am nächsten Tag nicht früh raus, aber auch Sadie war müde von der langen Fahrt und hatte deshalb nichts gegen den Vorschlag einzuwenden. Sie gingen gemeinsam nach oben, wo sie Figaro im Bett vorfanden, putzten sich gemeinsam die Zähne und gingen ins Bett. Figaro verkrümelte sich bei Sadie ans Fußende. Sie schmiegte sich an Matt und bettete den Kopf auf seine Schulter, während er wieder einmal Profilseiten von Fotografen durchging. Sie liebte es, gemeinsam mit ihm Fotos anzusehen. Ihm fehlte das regelmäßige Fotografieren, das wusste sie.

„Lass uns die Tage noch einen Ausflug machen“, sagte sie. „Vielleicht ans Meer, irgendwo, wo man tolle Fotos machen kann.“

„Gute Idee“, sagte Matt und lächelte ehrlich. „Das wäre schön.“

„Einfach nur wir beide.“

Er küsste sie auf die Stirn, legte sein Tablet beiseite und löschte das Licht. „Mehr brauche ich auch nicht.“

„Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch“, erwiderte er. „Vergiss das bitte nie. Ich weiß, manchmal ist es schwierig ... aber wir kriegen das doch hin.“

„Natürlich“, sagte Sadie und schloss die Augen.

 

 

Samstag

 

Am Morgen wurde Sadie davon geweckt, dass ein köstlicher Geruch ihre Nasenspitze kitzelte. Noch bevor sie die Augen aufschlug, begriff sie, dass sie Bacon roch. Sofort meldete sich ihr Magen, sie sprang aus dem Bett und machte nur einen kurzen Umweg übers Bad, bevor sie nach unten lief und Matt am Herd vorfand. Er war gerade dabei, Rührei mit Speck zu machen. Wortlos umarmte Sadie ihn von hinten und lehnte den Kopf an seine Schulter.

„Guten Morgen, meine Hübsche“, sagte er und drehte sich halb zu ihr, um einen Arm um sie zu legen. „Du bist ja nicht mal richtig angezogen.“

„Hätte jetzt nicht gedacht, dass dich das stört.“

„Ach was, das stört mich nicht! Im Gegenteil ... aber du in dem dünnen Nachthemd? Es ist Dezember ...“

„Du brätst hier Bacon, Matt. Glaubst du, das bleibt meiner Nase verborgen?“

Er grinste und servierte das Essen auf zwei Tellern, die er galant zum Tisch balancierte. Er rückte Sadie den Stuhl zurecht, hatte ihr schon Orangensaft eingeschenkt und Toast stand auch bereit. Gerührt lächelte sie und setzte sich. Er tat es ihr gleich und sie begannen schweigend, zu essen.

„Großartig“, sagte sie schließlich und hob anerkennend einen Daumen. „Genau das brauche ich jetzt.“

„Siehst du, und weil ich das weiß, dachte ich, ich mache dir ein Frühstück, das du verdient hast.“ Er grinste sie breit über den Tisch hinweg an.

„Danke, Matt“, sagte sie und hoffte, dass er wusste, wie sehr sie sich wirklich freute. Diese Momente gab es immer wieder. Er gab sich wirklich Mühe und versuchte, sie immer wieder spüren zu lassen, wieviel sie ihm bedeutete. Das genügte ihr, zumal sie auf dem Standpunkt stand, dass sie ihm gerade eine Stütze sein sollte und nicht umgekehrt. Das machte ihr nichts aus, umgekehrt hatte er das schließlich auch schon getan. Sie sah ihre Beziehung als ein Wechselspiel von Geben und Nehmen. Und solange Matt mit ihr an einem Strang zog, war für sie alles in Ordnung.

„Wollen wir heute etwas unternehmen?“, schlug Sadie vor.

„Woran hast du gedacht?“

„Einkaufen wollen würde ich nicht, das machen heute schon alle anderen. Wollen wir Amelia und Phil fragen, ob wir uns treffen wollen?“

„Das ist doch keine schlechte Idee“, sagte Matt. Sadie war froh, dass er die Idee mochte. Sie frühstücken in aller Ruhe zu Ende, dann ging Sadie duschen. Als sie in ein Handtuch gehüllt ins Schlafzimmer gehen wollte, um sich frische Kleidung zu holen, begegnete Matt ihr auf der Treppe und lächelte ihr zu.

„Ich habe Phil geschrieben. Er kommt gern heute Abend mit Amelia vorbei und hat vorgeschlagen, zusammen zu kochen.“

„Klingt gut“, fand Sadie und ging weiter ins Schlafzimmer. Sie hatte gerade erst frische Unterwäsche aus ihrer Schublade gezogen, als sie merkte, dass Matt hinter ihr stand. Grinsend drehte sie sich zu ihm um.

„Verfolgst du mich?“

„Klar“, sagte er mit Unschuldsmiene. Sadie blieb vor ihm stehen und legte eine Hand auf seine Brust. Matt zog sie an sich heran, legte seine Hände auf ihren Po und küsste sie zärtlich. Sadie genoss es schweigend und schloss die Augen.

Das Klingeln des Telefons schreckte sie auf. Matt verdrehte die Augen und ging nach nebenan ins Büro, während Sadie ins Bad zurückkehrte. Sie hörte mit halbem Ohr zu, verstand aber nicht viel.

„Augenblick, sie ist da“, sagte Matt dann. Sadie erwartete ihn in der Tür und nahm das Telefon entgegen.

„FBI“, wisperte er, woraufhin sie fragend eine Augenbraue in die Höhe zog.

„Whitman“, meldete sie sich.

„Entschuldigen Sie die Störung, Agent Whitman, hier SSA Clarkson. McNamara sagte mir, Sie seien nicht nur eine unserer Profilerinnen, sondern Sie kennen sich wohl auch mit traumatisierten Personen aus.“

Sadie war überrascht. „Ja, das stimmt, ich habe eine traumapsychologische Fortbildung gemacht.“

„Ja, das ist gut ... ich hätte sonst auch Agent Williams fragen können, aber ich denke, wir brauchen hier kundige Hilfe. Ich weiß, Sie haben heute frei, aber ...“

„Gar kein Problem“, unterbrach Sadie ihn. „Worum geht es denn?“

„Wir haben hier eine wichtige Zeugin, die mir ziemlich traumatisiert erscheint. Sie redet kaum ein Wort mit uns.“

„Okay ...“ Sadie überlegte kurz. Er wollte wohl nicht viel verraten, aber sie musste mehr wissen. „Was für eine Zeugin denn?“

„Ich will am Telefon nicht zuviel sagen. Wäre es möglich, dass Sie ins Büro kommen und sich das mal ansehen?“

„Sicher. Ich kann in einer Dreiviertelstunde dort sein.“

„Hervorragend. Danke, Agent Whitman. Ich weiß das zu schätzen.“

„Gern“, sagte sie, verabschiedete sich und legte auf. Neugierig steckte Matt seinen Kopf durch die Tür.

„Wer war es?“

„Kennst du SSA Clarkson?“

Er verzog die Lippen und schüttelte den Kopf. „Noch nie gehört. Nicht, dass ich mich erinnern könnte. Worum geht es denn?“

„Er hat sich ganz kryptisch ausgedrückt ... sagte etwas von einer traumatisierten Zeugin und bat mich, vorbeizukommen.“

„Oh ... was mag das wohl sein?“

„Bin gespannt“, sagte Sadie. „Ich hoffe, es macht dir nichts aus.“

„Nein, ach was ... ich beschäftige mich schon.“

„Ich sehe zu, dass ich bis heute Abend wieder hier bin.“

„Halt mich auf dem Laufenden.“

Sadie nickte, zog sich an und begann ihre Haare zu bürsten. Jetzt musste sie doch noch mal ins Schlafzimmer zurück und sich andere Kleidung heraussuchen.

„Du kannst gern den Challenger nehmen“, schlug Matt vor.

Sie lächelte. „Wenn du das sagst.“

„Sicher. Du fährst doch gut.“ Damit verschwand Matt wieder und Sadie beeilte sich, in ihre Kleidung zu schlüpfen und sich die Haare zu föhnen. Inzwischen war es kurz vor elf. Sie machte sich keine Illusionen, am Boxing Day erwartete sie sicher viel Verkehr auf den Straßen.

Sie hatte sich für eine schicke Hose und einen eleganten Pullover entschieden und gegen einen Hosenanzug. Damit wirkte sie sicherlich zu einschüchternd. Ihr Haar trug sie offen.

Matt stand an den Türrahmen gelehnt da und beobachtete, wie Sadie in Windeseile einige Sachen zusammenpackte und dann nach dem Schlüssel des Challengers griff.

„Was würde Los Angeles nur ohne dich machen?“, sagte er scherzhaft.

Sie grinste. „Wer weiß?“

„Ich bin gespannt, worum es geht.“

„Ich werde berichten.“ Zum Abschied gab Sadie ihm einen Kuss. „Bis später.“

„Ich liebe dich“, sagte er und sah sie geradezu verträumt an. Sadie wusste, dass er es gerade hatte sagen müssen. Er sagte es ihr immer wieder und sie hörte es auch gern. Sie erwiderte die Worte, verließ das Haus und holte den Challenger aus der Garage. Sie fand es süß, dass Matt sie mit seinem geliebten Auto fahren ließ. Natürlich hatte er nie Einwände gehabt, aber besonders seit sie ihn mit dem gebrochenen Fuß immer zur Arbeit gefahren hatte, überließ er ihr das Auto sehr bereitwillig.

Auf dem Freeway stellte sie fest, dass sie zu Recht mit viel Betrieb gerechnet hatte. Am ersten Tag nach den Weihnachtsfeiertagen lockten zahllose Geschäfte mit attraktiven Rabatten und die Leute nutzten die Angebote gern. Sie mochte es nicht, wenn so viel Betrieb war, deshalb ging sie an solchen Tagen ungern einkaufen.

Aber ihr Ziel war jetzt sowieso ein anderes. Weil sie stadtauswärts fuhr, kam sie problemlos voran und erreichte das FBI nach kurzer Fahrt. Am Eingang ließ sie ihren Ausweis scannen und brachte die Sicherheitsschleuse wie gewohnt hinter sich. Auch hier herrschte viel Betrieb, nicht jeder nahm sich an Weihnachten frei.

Beim Sicherheitspersonal erkundigte sie sich, in welcher Abteilung sie SSA Clarkson finden würde und runzelte fragend die Stirn, als sie erfuhr, dass Clarkson in der Ermittlungseinheit für religiöse Organisationen und extremistische Gruppierungen tätig war. Sie fuhr in die vierte Etage und wollte dort auf die Suche gehen, aber sie war noch nicht weit gekommen, als eine junge Frau auf sie zukam.

„Agent Whitman?“

Sadie nickte. „Sie scheinen auf mich gewartet zu haben.“

Die Frau nickte. „Tamara Watts. Folgen Sie mir bitte, Clarkson wartet schon.“

„Worum geht es denn hier?“

Doch die Frau antwortete nicht. Achselzuckend folgte Sadie ihr einen Gang entlang, wo sie an eine Tür klopfte und kurz etwas durch den Türspalt sagte. Augenblicke später erschien SSA Clarkson, ein seriös wirkender Mann mittleren Alters im Anzug, auf dem Flur und schüttelte Sadies Hand mit einem kräftigen Händedruck.

„Agent Whitman! Schön, dass Sie so schnell kommen konnten – und das, obwohl Sie Urlaub haben.“

„Sie hätten nicht angerufen, wenn es nicht wichtig wäre“, sagte Sadie trocken.

„Ja, das stimmt wohl. Bitte folgen Sie mir.“ Er ging voraus in sein Büro, schloss die Tür hinter Sadie und bot ihr etwas zu trinken an, aber sie lehnte ab.

„Entschuldigen Sie meine Geheimniskrämerei am Telefon, aber es geht hier um einen sehr sensiblen Fall“, sagte er dann. „Was sagt Ihnen die Fundamentalistische Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage?“

Da musste Sadie nicht lang überlegen. „FLDS? Die Rocky Mountain-Mormonen?“

Clarkson nickte. „Genau die.“

„Dabei handelt es sich um eine Sekte, die sich vor gut hundert Jahren von der mormonischen Kirche abgespalten hat und seit 2002 von Warren Jeffs geführt wird. Den kennt man deshalb hier besonders gut, weil er es bis auf die Most Wanted-Liste des FBI geschafft hat.“

„Gut“, sagte Clarkson und nickte zufrieden. „Ich sehe, Sie haben schon mal davon gehört.“

„Oberflächlich, ja. Religion ist jetzt nicht gerade mein Steckenpferd.“

„Das ist nicht schlimm, nehme ich an. McNamara sagte mir, dass Sie ein Händchen für Missbrauchsopfer haben. Ich vermute, dass das hier im Vordergrund steht.“

„War das nicht die Sekte, die durch Polygamie aufgefallen ist?“

„So in der Art ... Polygynie ist der richtige Begriff. Die FLDS glaubt daran, höchste Erlösung zu erreichen, wenn ein Mann mindestens drei Frauen heiratet. Die Behörde beobachtet die Vereinigung in Utah ja nun schon sehr lange, was nicht leicht ist, weil sie sich sehr gegen die Außenwelt abschottet. Seit ein paar Jahren gibt es nun einen Ableger hier in den Bergen bei Yucca Valley. Wir beobachten das Treiben dort, so gut es geht und würden den ganzen Laden ja rasend gern dicht machen, aber uns fehlt die Handhabe. Das könnte sich jetzt ändern.“

„Sie haben hier jemanden aus der Sekte?“

Clarkson nickte. „Ein junges Mädchen, eine Jugendliche. Sie ist in der Weihnachtsnacht ausgerissen und einer Highway Patrol fast vors Auto gelaufen. Die Kollegen haben sie dann zu uns gebracht, aber es ist schwierig. Das Kind scheint gar nicht wirklich zu wissen, wo es sich befindet. Sirenen, Funkgeräte, Technik im Allgemeinen – eigentlich macht ihr alles Angst. Wir wissen noch nicht viel über sie und ich bin da kein Profi, aber wenn Sie mich fragen, ist sie traumatisiert, wurde vielleicht missbraucht. Wir brauchen jemanden, der mit ihr redet und als wir McNamara nach unseren Profilern gefragt haben, hat er uns auf Sie verwiesen.“

„Okay“, sagte Sadie. „Da sind Sie wohl grundsätzlich richtig bei mir, außer dass ich mich wirklich mit dieser Sekte nicht auskenne.“

„Ich kann Sie entsprechend briefen, Agent Whitman. Ich bin aber gar nicht sicher, ob das für den Anfang nötig ist.“

„Ein paar Eckdaten wären schon gut.“

„Über das Mädchen kann ich Ihnen nicht viel sagen, wir wissen noch gar nicht, wer sie eigentlich ist. Wir vermuten auch nur, woher sie kommt, weil sie ein ziemlich typisches pastellfarbenes Kleid und Flechtzöpfe trägt. Die Kollegen von der Highway Patrol haben angenommen, dass sie aus der Sekte stammt und ihr Realitätsschock spricht dafür. Sie will ständig beten und rezitiert aus dem Buch Mormon, deshalb sind wir drauf gekommen.“

Sadie nickte ernst. „Ich wusste gar nicht, dass die FLDS neuerdings auch in Kalifornien vertreten ist.“

„Ja, man hat schon eher von der früheren Zentrale in Hildale, Utah und Colorado City, Arizona gehört. Die Zwillingsstädte kennt man auch als Short Creek. Geschätzt leben dort bis zu zehntausend Mitglieder der FLDS. Wir wissen über die Sekte, dass immer wieder junge Männer ausgeschlossen werden, damit die älteren mehr Frauen heiraten können. Jeffs wurde wegen Unzucht und Vergewaltigung Minderjähriger verfolgt ... da herrschen Sitten, die kein normaler Mensch versteht. Tatsächlich sind die allermeisten Mitglieder mindestens entfernt miteinander verwandt. Ich bin wirklich gespannt, was dieses Mädchen uns jetzt sagen kann.“

„Und Sie wissen sonst gar nichts über sie?“

Clarkson schüttelte den Kopf. „Wir haben Sie hergebeten, weil wir sie für traumatisiert halten – und sei es nur, dass die Konfrontation mit der Außenwelt sie schockt. McNamara meinte, sie hätten bisher jeden zum Reden gebracht, auch in Verhören.“

Sadie sparte es sich, ihn darüber aufzuklären, dass sie in Verhören besser war als in Verhandlungen, denn das war hier gar nicht weiter wichtig.

„Und was wollen Sie wissen?“, fragte Sadie.

„Wer sie ist. Woher sie kommt ... und ob sie etwas weiß. Wenn sie tatsächlich von der FLDS in Yucca Valley kommt ...“ Er machte ein bedeutungsvolles Gesicht. „Das wäre enorm wertvoll.“

„Verstehe“, sagte Sadie. „Mal sehen, was ich machen kann.“

„Reicht Ihnen das?“

„Ich habe eine Vorstellung, womit ich es zu tun bekomme“, sagte sie. „Lassen Sie es mich versuchen.“

 

Clarkson brachte Sadie zurück zu dem Raum, aus dem die Kollegin ihn zuvor geholt hatte. Es war ein schmuckloser Verhörraum, wie Sadie ihn vom FBI kannte. Agent Watts stand neben der Tür und nickte ihnen zu, als sie den Raum betraten. Sowohl Clarkson als auch Watts zogen sich zurück und ließen Sadie allein mit dem Mädchen, das in sich zusammengesunken auf der anderen Seite des Tisches saß. Sie hatte dunkelblondes, geflochtenes Haar, hielt den Blick gesenkt und knetete ihre Finger. Tatsächlich trug sie hellblaue Kleidung, von der Sadie nicht viel erkennen konnte.

Sadie blieb erst einmal stehen und musterte das Mädchen. Ihre ganze Körperhaltung verriet Furcht. Geduldig wartete Sadie auf eine Reaktion, aber als keine kam, brach sie das Schweigen.

„So hast du es dir wahrscheinlich nicht vorgestellt, oder?“

Für einen Moment erstarrte das Mädchen am ganzen Leib und hob dann langsam den Kopf. Sadie setzte ein versöhnliches Lächeln auf und lehnte sich an den Stuhl, der vor ihr stand.

„Ich bin Sadie“, sagte sie. „Wie heißt du?“

Das Mädchen schluckte und verknotete erneut ihre Finger.

„Ich weiß ... sie haben dir gesagt, du darfst hier niemandem vertrauen, nicht wahr?“, versuchte Sadie es weiter. Impulsiv zog das Mädchen die Schultern hoch.

„Darf ich mich setzen?“

Als keine Reaktion folgte, zog Sadie den Stuhl zurück und setzte sich. Eigentlich musste sie aus dem Zimmer raus, aber dafür war es noch zu früh.

Sadie verschränkte ebenfalls die Finger ineinander und beobachtete das Mädchen für einen Moment schweigend. Das würde interessant werden.

„Ich würde dich gern mit einem Namen ansprechen. Willst du ihn mir nicht verraten?“

Nun sahen die beiden einander wieder an. Das Mädchen war sichtlich hin- und hergerissen.

„Ich weiß, du kennst mich nicht. Du weißt gar nicht, wer ich bin. Mein Name ist Sadie Whitman, ich bin achtundzwanzig Jahre alt und lebe zusammen mit meinem Mann und zwei Katzen. Bevor ich zum FBI gegangen bin, habe ich als Polizistin gearbeitet. Ich wollte immer Gutes für Menschen tun.“

Das Mädchen wich Sadies Blick nicht aus.

„Ich weiß, das ist kein Grund, mir zu vertrauen. Das musst du selbst entscheiden. Aber du bist jetzt hier und dafür gibt es einen Grund. Es muss auch weitergehen. Ich kann dir dabei helfen, wenn du möchtest.“

Die beiden sahen einander immer noch an. Nun senkte das Mädchen den Blick wieder und seufzte. „Sie wissen nicht, wie das ist.“

„Nein, das stimmt, aber ich kann es mir vorstellen. Ich habe Psychologie studiert, weißt du? Ich kann mir eine ganze Menge vorstellen.“

„Studiert ...“ murmelte das Mädchen.

„Ja, am College. Da war ich eher eine Außenseiterin, weil ich nicht so viel feiern gegangen bin und nur selten Alkohol getrunken habe.“

„Wann haben Sie geheiratet?“

„Das ist noch keine zwei Jahre her“, sagte Sadie wahrheitsgemäß.

„Sind Sie religiös?“

Sadie schüttelte den Kopf. „Nie gewesen.“

„Dann können Sie mich nicht verstehen.“

„Lass es uns herausfinden. Sag mir wenigstens deinen Namen.“

Das Mädchen seufzte. „Wenn die herausfinden, wo ich bin ...“

„Hast du Angst um jemanden, der dir nahesteht?“, fragte Sadie gezielt, erhielt aber keine Antwort. „Ich verspreche dir, ich kümmere mich um dich. Du hast nichts zu befürchten. Weder du noch deine Angehörigen. Es kann überhaupt nichts passieren, es weiß doch niemand, dass du hier bist.“

„Lassen Sie mich doch einfach gehen.“

„Aber wir können doch nicht sichergehen, ob du in Gefahr bist. Hier bei uns bist du sicher. Willst du mir wirklich nicht deinen Namen verraten?“

„Warum sollte ich?“

„Du bist doch aus einem bestimmten Grund weggelaufen, nicht wahr?“

„Wer sagt denn, dass ich weggelaufen bin?“

„Die Highway Patrol hat dich in Yucca Valley gefunden. Wir wissen, dass dort die FLDS ansässig ist und du siehst aus, als hättest du dort hingehört.“

Die Augen des Mädchens verengten sich zu Schlitzen. „Interessant.“

„Ist es nicht so?“

„Und wenn? Warum bin ich beim FBI?“

„Weil wir dir helfen wollen. Und dir helfen können. Bist du weggelaufen?“

„Vielleicht.“

„Das muss doch einen Grund haben. Lass dir doch helfen. Aber ich muss deinen Vornamen wissen. Bitte. Vertrau mir nur den an.“

„Wirklich nur den?“, fragte das Mädchen.

„Ja, das reicht.“ Sadie lächelte ihr zu.

„Okay. Ich heiße Liberty.“

Erleichtert atmete Sadie aus. „Ein ungewöhnlicher Name. Er hat einen schönen Klang.“

Liberty schnaubte verächtlich. „Ich habe ihn immer gehasst.“

„Aber er hat eine gute Bedeutung.“

„Ja, das hat meine Mutter auch gesagt.“

„Weiß deine Mutter, dass du gegangen bist?“

„Und wenn?“

Sadie seufzte. Das konnte ja noch heiter werden.

„Du bist doch aus einem bestimmten Grund gegangen“, sagte sie erneut und wartete auf Libertys Reaktion, doch es kam keine.

„Gut, also ... du musst nicht mit mir reden. Nicht mit mir und auch mit sonst niemandem hier. Wir können dich auch nicht ewig festhalten. Aber wir dürfen dich auch nicht einfach gehen lassen. Wir müssten das Jugendamt einschalten und dann erfährt man, wo du bist. Du würdest wahrscheinlich zurückgebracht.“

Liberty versteifte am ganzen Körper und schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Das musst du auch nicht ... aber dann lass mich dir helfen.“

Erneut starrte Liberty sie an. „Wie soll ich wissen, dass ich Ihnen vertrauen kann?“

„Ganz ehrlich? Das kannst du nicht. Deshalb heißt es vertrauen. Niemand garantiert dir, dass ich es gut mit dir meine. Du musst selbst entscheiden, ob du mir das glaubst. Das ist wie mit dem Glauben an einen Gott.“

„Woher wollen Sie das denn wissen? Sie glauben doch an nichts“, sagte Liberty rebellisch.

„Das stimmt, aber man muss nicht alles selbst kennen, um es zu verstehen. Weißt du, normalerweise versuche ich, Serienmorde oder andere schwere Verbrechen aufzuklären. Mitunter sind das sehr blutige und grausame Taten. Ich könnte niemals selbst so etwas tun, aber es ist mein Beruf, zu verstehen, warum andere Menschen so etwas tun. Und ich kann auch verstehen, warum man an Gott glaubt.“

„Warum tun Sie es nicht?“, fragte Liberty.

Sadie zuckte mit den Schultern. „Ich wurde nicht so erzogen. Mir persönlich fällt es schwer, an einen gütigen Gott zu glauben, wenn ich täglich sehe, wozu Menschen fähig sind.“

„Kann ich verstehen“, sagte Liberty zu ihrer Überraschung.

„Tatsächlich?“

„Sie können ja gar nicht anders.“

„Nicht wirklich“, stimmte Sadie ihr zu.

„Warum versuchen Sie, Serienmörder zu verstehen? Können Sie das wirklich? Das ist doch ...“ Liberty schüttelte den Kopf. „Wie ist das möglich?“

Sadie lehnte sich zurück. „Das macht mir nichts aus. Ich lasse das nicht an mich heran. Bei manchen Mördern kann man im Gehirn Veränderungen nachweisen, die erklären, warum jemand andere Menschen tötet. Andere wurden durch ihre Biografie dazu gemacht. Und wieder andere ...“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, ob sie einfach böse sind, aber sie tun böse Dinge. Das kann ich nicht zulassen.“

„Haben Sie schon viele Serienmörder gefasst?“, fragte Liberty. Sie hatte sehr feine Gesichtszüge, schmale Lippen, tiefbraune Augen. Ein hübsches Mädchen, das – anders als viele Altersgenossen – vermutlich noch nie Make-up benutzt hatte. Das war auch überhaupt nicht nötig.

Sadie überlegte kurz. „Schon, ja. Warum fragst du?“

„Ich bin doch kein Serienmörder. Warum sind Sie jetzt hier?“

„Meine Kollegen hatten die Hoffnung, dass du mit mir eher sprichst als mit ihnen.“

„Ich will einfach nur hier weg.“

„Aber wohin? Was war dein Ziel?“

Libertys Augen verengten sich zu Schlitzen. „Das verrate ich Ihnen nicht.“

„Das kannst du aber ruhig. Du kannst mir auch sagen, ob es etwas gibt, das du immer schon mal machen wolltest, aber nie konntest.“

„Wieso sollte es das geben? Denken Sie wirklich, ich komme aus dieser Sekte?“

Sadie nickte. „Ich habe nie von einer Sekte gesprochen. Das Wort hast du gerade zum ersten Mal benutzt.“

„Und wenn schon. Warum glauben Sie das? Nur wegen Yucca Valley?“

„Nein, aber du bist genauso argwöhnisch deiner gesamten Umwelt gegenüber, wie ich es von jemandem erwarten würde, der dort hergekommen ist. Und trotzdem bist du ja hier. Trotzdem suchst du etwas.“

„Sie wissen gar nichts über mich.“

„Das kann sich ja noch ändern“, sagte Sadie.

„Was sehen Sie denn, wenn Sie mich ansehen?“

Da musste Sadie nicht lang überlegen. „Ich sehe ein verunsichertes Mädchen, das sich fragt, ob die spirituellen Führer nicht doch Recht hatten. Du hast dir sehr lang vorgestellt, wie es wohl draußen ist. Dass es hier freier ist. Dass es hier weniger Regeln gibt. Und jetzt stellst du fest, dass das gar nicht so ist. Es ist nicht so, wie du dachtest. Du weißt nicht, was du jetzt tun sollst. Du kennst dich ja hier nicht aus.“

Während Sadie sprach, konnte sie beobachten, wie Liberty ein zunehmend ertappteres Gesicht machte. Zwar versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen, aber es gelang ihr nicht ganz.

Schließlich schluckte sie, räusperte sich und sagte: „Was wissen Sie über uns?“

„Habe ich Recht?“, entgegnete Sadie.

„Was denken Sie, warum ich hier bin?“

Sadie seufzte und musterte Liberty nachdenklich. „Es ist etwas passiert, das dir Angst gemacht hat. Etwas, das dir keine Wahl gelassen hat. Du musstest einfach weg und hast gehofft, dass es draußen besser ist, aber jetzt ist es hier anders, als du dachtest. Und du kannst nicht zurück.“

Liberty starrte sie schweigend an. Ihre Lippen bebten.

„Wir müssen das nicht jetzt und hier erörtern“, sagte Sadie beschwichtigend. „Wichtig ist für dich nur, zu wissen, dass du keine Angst haben musst. Vor mir nicht und auch vor sonst niemandem hier.“

Die Augen des Mädchens begannen, feucht zu glänzen. Sie schluckte erneut, dann schlug sie plötzlich die Hände vors Gesicht und begann, heftig zu schluchzen.

„Es ist okay“, sagte Sadie ruhig. „Soll ich dir etwas zu trinken bringen?“

Aber Liberty antwortete nicht. Kurzerhand schaute Sadie sich um, strafte die Kamera mit einem bösen Blick und stand auf.

„Komm, gehen wir an die frische Luft“, sagte sie. Liberty reagierte nicht sofort, aber ihr Schluchzen wurde leiser. Sadie war noch gar nicht ganz um den Tisch herumgegangen, als die Tür aufging und Agent Clarkson seinen Kopf durch den Spalt steckte. Mit einer Kopfbewegung gab er ihr zu verstehen, dass sie zu ihm auf den Flur kommen sollte. Sadie, die einen Verdacht hatte, was nun folgen würde, ging wortlos hinaus, lehnte die Tür aber nur an.

„An die frische Luft?“, fragte Clarkson. „Was soll das denn heißen?“

„Was ich gesagt habe“, erwiderte Sadie gelassen. „Ich würde gern mit ihr draußen ums Gebäude gehen. Das hier ist nicht der geeignete Ort. Das macht ihr Angst.“

„Sie können nicht einfach mit ihr hier rausspazieren! Was, wenn sie Ihnen wegläuft? Wir brauchen das alles auf Video. Wir müssen das dokumentieren.“

Sadie verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie können ja gern selbst weiter mit ihr reden, wenn Sie glauben, dass das besser funktioniert.“

„Nein, das glaube ich eben nicht! Sie machen das gut, aber es gibt hier Regeln, an die Sie sich halten müssen!“

„Ich weiß, Agent Clarkson, ich bin schon lang genug dabei. Ich weiß aber auch, dass das hier nicht zielführend ist. Wenn Sie wollen, dass ich Ihnen helfe, dann lassen Sie es mich auf meine Art machen. Sie werden es nicht bereuen.“

„Agent Whitman, das geht so wirklich nicht.“

„Gut“, sagte Sadie. „Dann brauchen Sie mich ja nicht mehr.“

Clarkson stöhnte. „Nun kommen Sie, ich will Ihnen ja nicht das Leben schwer machen ...“

„Sie machen nicht mein Leben schwer, sondern das des Mädchens. Wenn es so ist, wie ich es mir vorstelle, dann weiß sie mit Glück, was das Gerät ist, das da drin auf sie gerichtet ist und sie beobachtet. Sie ist hier draußen in einer Welt, die ihr fremd ist und ihr Angst macht. Und seien wir mal ehrlich, dieser Raum trägt zu überhaupt nichts bei. Wenn ich mit ihr reden soll, dann auf meine Art oder überhaupt nicht.“

Unwirsch erwiderte Clarkson ihren Blick und seufzte. „Also schön. Aber Sie übernehmen die Verantwortung.“

„Ja“, beschied Sadie knapp und ging wieder in den Verhörraum. Zu ihrer Überraschung stand Liberty neben dem Tisch und sah Sadie mit einem zugleich hilfesuchenden und hoffnungsvollen Blick an.

Es hatte funktioniert. Sadie kam sich so berechnend vor, aber so musste man als Profiler manchmal agieren. Gelegentlich fand sie sich selbst unheimlich, denn sie wusste genau, wo andere Menschen ihre Schwachstellen hatten und was sie tun musste, um andere zu manipulieren. Sie hatte Clarkson die Pistole auf die Brust gesetzt, weil sie wusste, dass er eigentlich keine Wahl hatte. Und Liberty hatte jetzt gehört, dass sie eine Fürsprecherin hatte. Das würde sie voranbringen. Clarkson würde ihr schon vertrauen müssen, so wie Liberty ihr offensichtlich langsam vertraute.

„Komm, lass uns rausgehen“, sagte Sadie, öffnete die Tür und lächelte Liberty einladend zu. Das Mädchen ging mit überraschend schnellen Schritten zu Sadie und folgte ihr auf den Gang. Glücklicherweise war dort niemand. Sie hatten es nicht weit bis zu den Aufzügen. Liberty folgte Sadie hektisch und gehetzt und tänzelte nervös herum, während sie auf den Aufzug warteten.

„Du bist nicht oft rausgekommen, oder?“, fragte Sadie, ohne Liberty anzusehen. Sie wollte den Druck nicht noch vergrößern.

„Nein“, sagte Liberty. „Das mussten wir nicht. Eigentlich gab es immer alles, was wir gebraucht haben.“

Der Aufzug kündigte mit einem freundlichen Geräusch seine Ankunft an und die Türen öffneten sich. Sadie ging voran und Liberty folgte ihr flink. Sie huschte in eine Ecke und beobachtete, wie Sadie den Knopf fürs Erdgeschoss drückte.

„Offensichtlich kennst du Aufzüge aber“, stellte Sadie fest.

„Ja, schon ... ich meine, wir sind ja damit schon hochgefahren. Aber auch vorher.“

„Ich stelle mir vor, dass du manches kennst, aber anderes nicht.“

Liberty nickte. „Man hört ja auch Dinge ... Wir wissen mehr, als man glauben würde. Aber es ist anders, wirklich hier draußen zu sein.“

„Das Gefühl kenne ich“, sagte Sadie uneindeutig.

Liberty starrte geradeaus, dann suchte sie Sadies Blick. „Welches?“

„Das Gefühl, fremd in der Welt zu sein. Aus einem anderen Kosmos zu kommen und sich erst an alles gewöhnen zu müssen. Aus einer Parallelwelt in die echte Welt zurückzukehren.“

Der Aufzug blieb stehen und öffnete die Türen. In der Eingangshalle war wie immer viel Betrieb, aber Sadie achtete gar nicht darauf, sondern ging schnurstracks mit Liberty zum Ausgang und schlug den Weg zu den Bänken am nahen Grünstreifen ein. Allmählich verlangsamte sie ihre Schritte, weil sie merkte, dass Liberty alles voller Staunen ansah. Auf dem Parkplatz standen auch zahlreiche Autos, die Luft war erfüllt von Verkehrsrauschen, irgendwo lachte jemand.

Sie schlenderten langsam auf die Bänke zu. Liberty bestaunte die nahe Kreuzung der Interstate, die vielen geparkten Autos und das hoch aufragende FBI-Gebäude.

„Einschüchternd, oder?“, fragte Sadie über ihre Schulter.

„Das ist riesig“, fand Liberty.

„Kennst du das?“

„Ich wusste, dass es Hochhäuser gibt. Ich habe aber noch nie eins gesehen.“

„Wolltest du mal eins sehen?“

Liberty nickte. „Es gibt einiges, was ich immer schon mal sehen wollte.“

„Das glaube ich dir. Wir haben ein großes und wundervolles Land.“

„Das hat Joseph Smith schon gesagt.“

Der Gründer der mormonischen Kirche, das wusste Sadie. Während sie auf eine Bank zuhielt, suchte sie Libertys Blick. „Hätte nicht gedacht, dass du ihn von dir aus ansprichst.“

Liberty kräuselte die Lippen. „Ich denke, im Moment habe ich nicht besonders viele Optionen. Sie haben mir ja gesagt, was jetzt passieren wird. Oder passieren kann. Und da denke ich ... mit Ihnen bin ich am besten dran.“

Sadie blieb stehen und sah sie einnehmend an. „Es ist okay, wenn du mich Sadie nennst.“

Ein scheues Lächeln huschte über Libertys Lippen, aber sie sagte nichts. Nach ein paar Schritten setzten sie sich auf eine Bank. Liberty stützte sich mit den Armen auf, hatte die Schultern hochgezogen und schaute sich mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen um. Mit ihrem altmodischen Kleid und den Zöpfen wirkte sie gar nicht wie ein durchschnittlicher Teenager, sondern ziemlich deplatziert.

„Ich will nicht zurück“, murmelte Liberty leise.

„Musst du nicht“, sagte Sadie.

„Aber ich weiß gar nicht, wo ich hin soll ... ich wollte nur weg.“ Liberty senkte den Kopf und wandte sich schüchtern ab.

„Das kann ich verstehen.“

„Du kennst doch nichts von solchen Gemeinschaften.“

„Nein, aber ich weiß, wie es ist, wenn man sein Zuhause hasst.“

Betroffen blickte Liberty zu ihr auf. „Warum?“

„Weil mein Vater brutal war“, sagte Sadie.

„Gewalttätig?“

„Ja. Sehr sogar. In meiner Familie war Religion kein Thema. Dafür war neben Bier wenig Platz.“

„Verstehe.“

Sadie beschloss, ganz direkt zu fragen. „Hast du das auch erlebt?“

„Nein“, sagte Liberty kopfschüttelnd. „Nein, meine Mum war immer gut.“

„Deine Mum?“

„Ja ... Sie war immer alles für mich.“

„Und dein Dad?“

Liberty zuckte uneindeutig mit den Schultern. „Nicht so.“

„Willst du mir sagen, warum du weggelaufen bist?“

„Wenn du mir sagst, warum das FBI an mir interessiert ist.“

„Du weißt also offensichtlich, wer wir sind.“

„Sicher“, sagte Liberty. „Ich weiß genau, mit wem ich eigentlich nicht reden soll.“

Sadie grinste. „Und trotzdem tust du es.“

„Ja, weil ich dir glaube“, sagte Liberty.

„Jetzt schon?“

„Ja ... weil du nicht bist wie die anderen Agents. Du machst mir keine Angst.“

Sadie lächelte. „Nein, das will ich auch nicht. Das muss ich gar nicht. Du musst absolut keine Angst vor mir haben. Ich kann dir helfen, wenn du mich lässt.“

„Ich hatte gehofft, dass ich Hilfe finde.“

„Danke, dass du mir vertraust“, sagte Sadie ganz bewusst.

„Ich versuche es“, erwiderte Liberty zaghaft.

„Also ... ich sage dir, was das FBI zu finden hofft und du sagst mir, warum du weggelaufen bist.“

Liberty nickte. „Okay.“

„Das FBI hat die FLDS im Blick. Ich vermute, man hat dir erklärt, dass wir die Bösen sind und alles zerstören wollen, dabei sind wir Gesetzeshüter. Auch die FLDS lebt nach Gesetzen und wir versuchen, sicherzustellen, dass Regeln eingehalten werden und niemand zu Schaden kommt. Das muss ja nicht sein.“

Liberty machte ein ernstes Gesicht. „Klingt plausibel.“

„Wenn in der Gemeinschaft etwas passiert, das ungesetzlich ist, müssen wir eingreifen und handeln“, fuhr Sadie fort.

„Und jetzt soll ich Informationen dazu liefern“, schloss Liberty.

„Das ist die Hoffnung meiner Kollegen.“

„Deine nicht?“

„Ich weiß nicht“, sagte Sadie. „Kommt ganz darauf an. Ich bin mit den Ermittlungen meiner Kollegen nicht vertraut. Mir geht es um dich.“

Liberty lächelte scheu. „Das möchte ich gern glauben.“

„Das kannst du. Ich habe es dem anderen Agent vorhin gesagt. Er ist mir übergeordnet, aber das ist in dem Fall nicht wichtig.“

„Beeindruckend“, fand Liberty.

„Und warum bist du weggelaufen?“, fragte Sadie.

Liberty holte tief Luft, schloss die Augen und krallte sich mit den Fingern an der Bank fest. Es dauerte einen Moment, bis sie sich wieder entspannt hatte.

„Weil ich nicht heiraten wollte“, sagte sie leise.

 

 

Am Abend vorher

 

„Du musst wirklich kommen!“

„Natürlich, Liebes. Ich will nur nicht, dass jemand Verdacht schöpft. Ein paar Tage werde ich warten müssen, vielleicht auch länger. Sie werden verärgert sein, dass du weg bist.“

Verärgert ... Liberty glaubte nicht, dass es damit getan war. Sie würden Verdacht schöpfen. Sie würden ausrasten. Und sie würden Mum die Hölle heiß machen.

Aber all das schien ihre Mutter nicht zu beeindrucken. Sie war überzeugter von dem Plan als Liberty selbst. Und so verunsichert Liberty auch war, so dankbar war sie ihrer Mutter auch.

„Du bist so mutig“, sagte sie zu ihr.

Grace nahm das Gesicht ihrer Tochter in die Hände und seufzte. „Du bist mein Ein und Alles, Libby. Eigentlich hätte ich viel früher mit dir von hier verschwinden sollen, aber ich dachte, Michael wäre vernünftiger.“

„Warum sollte er sich dagegen stellen? Es geht hier um seinen Bruder und er selbst profitiert doch auch von den Gesetzen.“

„Ja, ich weiß. Ich war wirklich viel zu lang mit dir hier. Geh jetzt zu der Adresse, die ich dir gesagt habe, und warte dort auf mich. Ich werde dich finden.“

„Und wenn nicht?“, fragte Liberty ängstlich.

„So darfst du nicht denken.“ Grace küsste ihre Tochter auf die Stirn.

„Aber ich bin ganz allein ... ich weiß doch gar nicht, wie es draußen ist!“

„Das habe ich dir doch erzählt. Libby, du schaffst das. Du bist mein großes Mädchen. Letztlich haben wir doch keine Wahl.“

Liberty seufzte, denn sie wusste, dass ihre Mutter Recht hatte. Angst hatte sie trotzdem. Sie würde nicht mehr mitnehmen als ein paar Dollar; die Adresse hatte sie im Kopf. Irgendwie würde sie es schon nach Las Vegas schaffen. Trotzdem fühlte es sich seltsam an, wegzulaufen und außer etwas Geld nicht mal Dinge mitzunehmen. Sie hatte Yucca Valley doch noch nie verlassen. Niemals allein ...

Aber die Alternative war keine. Sie konnte und sie wollte Onkel Jeremiah nicht heiraten. Das stand gar nicht zur Debatte. Schon beim bloßen Gedanken bekam sie Angstzustände. Sie konnte seinen Atem noch spüren ...

Liberty schloss die Augen und holte tief Luft. „Ich schaffe das.“

„Natürlich schaffst du das“, sagte Grace. „Du bist klug, du wirst zurechtkommen. Denk nur an alles, was ich dir gesagt habe. Du musst auch keine Angst haben, draußen ist nicht so, wie die anderen sagen.“

Liberty nickte heftig. Sie glaubte ihrer Mutter. Zwar war es schon lang her, dass ihre Mutter draußen gewesen war, aber sie wollte einfach glauben, dass es sich nicht so sehr geändert hatte.

Warum sollte es auch? Warum sollte die Welt der Moloch sein, für den man sie in der Kirche hielt? Liberty glaubte ihrer Mutter und vertraute ihr. Und wenn Mum sagte, dass es besser war, wegzulaufen, als Onkel Jeremiah zu heiraten ...

„Wir sehen uns bald wieder“, sagte Grace und drückte ihre Tochter ein letztes Mal fest an sich. Liberty atmete tief durch und genoss den Duft der Lavendelseife ihrer Mutter. Das roch so sicher und vertraut. 

Schließlich ließ Grace ihre Tochter los, küsste sie ein letztes Mal und sagte: „Du kannst das. Sei mein großes Mädchen.“

Liberty nickte, dann gingen sie gemeinsam zur Hintertür und verließen das Haus. Grace begleitete ihre Tochter bis zu der Stelle im Absperrzaun, wo man einige Latten beiseite schieben und sich durch ein Loch zwängen konnte. Der Zaun war eigentlich mehr eine Wand, aber an dieser Stelle zwischen Mülltonnen und Büschen hatte irgendjemand die Bretter so befestigt, dass man sie tatsächlich unten in Bodennähe zur Seite drehen konnte. Liberty wusste durch ihre Freunde davon und war immer noch überrascht, dass das noch nicht bis zu den Obersten vorgedrungen war. Die undichte Stelle, ihr Fluchtweg, war immer noch da.

Es war nicht, dass man die Siedlung nicht verlassen durfte, aber das Tor war bewacht. Man würde sie sehen, ihr Fragen stellen und sie vielleicht tatsächlich nicht gehen lassen. Das konnte sie nicht riskieren. Sie musste weg.

Eigentlich waren fast alle im Tempel. Niemand sah, wie Grace und Liberty sich hinter den Busch zwängten und Grace die Bretter zur Seite hielt, so dass Liberty am Boden auf die andere Seite des Zauns kriechen konnte. Drüben war es dunkel, irgendwas raschelte im Unterholz. Liberty fand das verdammt unheimlich.

„Gut so“, sagte Grace. „Jetzt lauf runter zum Highway. Du findest den Weg schon.“

Liberty wollte ihr gern glauben, fühlte sich aber plötzlich entmutigt. Sie blickte sich um, holte tief Luft und stand auf.

„Ich hab dich lieb, Mum“, sagte Liberty.

„Ich dich auch. Bis bald, mein Kind.“

„Bis bald.“ Liberty klopfte ihren Rock ab, straffte die Schultern und lief los. Sie war kein Kind mehr. Eigentlich hätte sie in wenigen Wochen heiraten sollen. Sie war ihrer Mutter so dankbar, dass sie es nicht dazu kommen ließ. Aber sie wusste ja, wie das war.

Sie hatten bis zur Andacht gewartet, weil das die beste Gelegenheit war. Grace hatte behauptet, ihre Tochter sei zu unpässlich, um mit in den Tempel zu gehen und natürlich hatte man ihr angeboten, bei ihr zu bleiben. Das war die Chance gewesen. Grace hatte ihr alles an Geld gegeben, das sie über Wochen gesammelt und beiseite gelegt hatte. Liberty würde es für das Busticket nach Las Vegas brauchen.

Ein wenig fürchtete sie sich vor dieser Stadt. Sie fürchtete sich überhaupt vor allem. Ja, Mum hatte gesagt, dass es okay war. Aber warum sagten alle anderen etwas anderes? Draußen hatten die Menschen Sex vor der Ehe. Das konnte Liberty sich gar nicht richtig vorstellen, ebensowenig wie den Umstand, dass Frauen ähnlich viel zu sagen hatten wie Männer. Draußen arbeiteten Frauen, obwohl sie Kinder und Familie hatten. Sie suchten sich aus, wen sie heirateten. Und Männer heirateten nur eine Frau.

Für Liberty war all das geradezu unvorstellbar. All das war möglich? Und die Leute kamen so zurecht?

Sie gingen ins Kino, um sich Filme anzusehen, und sie besaßen Handys, mit denen sie im Internet surfen konnten. Liberty hatte von allem gehört, aber selbst so gut wie keine Erfahrungen damit. Woher auch? Persönlicher Besitz und schon das Lesen einer Zeitung waren ja nicht erlaubt. Natürlich hielt sich nicht jeder dran, aber ihr machte das alles Angst. Vor allem, weil es immer geheißen hatte, die Welt draußen sei ein Sündenpfuhl. Sex vor der Ehe!

Unter ihren Füßen knackte und raschelte es, während sie durch das staubige Unterholz am Waldrand vorbei lief. Sie hielt sich außer Sichtweite des Eingangstores und lief auch dann noch querfeldein, als sie sicher sein konnte, dass man sie nicht mehr sehen würde. Aber vielleicht kam jemand zum Gelände und würde sie sehen.

Es war kühl. Zwar trug sie ein langärmliges Kleid mit wärmendem Unterrock, aber ihre Mutter hatte sich nicht getraut, ihr mehr als das mitzugeben, um keinen Verdacht zu erregen. Es sollte nicht so aussehen, als sei Liberty ausgerissen, und deshalb durfte sie auch nichts mitnehmen.

Aber sie würde das auch so schaffen. Ihre Mutter hatte es gesagt. Ihre Mutter ließ sie allein gehen und würde ihr bei der ersten Gelegenheit nach Las Vegas folgen. Liberty hatte sie angefleht, sie doch gleich zu begleiten, aber dann wären erst recht alle ausgeschwärmt, um sie zu suchen. Grace hatte gesagt, sie wollte zurückbleiben und alle absichtlich auf eine falsche Fährte locken. Letztlich hatte Liberty sich gefügt, denn ihre Angst vor der Zwangsheirat war größer als alles andere. Nicht Jeremiah ... sie wollte nicht seine fünfte Frau werden. Er war viel zu alt. Grace wusste von den anderen Frauen, dass er ungehobelt sein konnte und besonders gern und öfter mit seinen jüngeren Frauen schlief. Aber er war kein Gentleman. Man hatte Liberty nichts gesagt, aber sie hatte aufgeschnappt, dass er grob sein konnte – was auch immer das hieß. Dabei hatte sie ja schon längst festgestellt, wie er tickte. Er wolle Dinge praktizieren, die die Lehre verbot. Liberty schüttelte sich.

Sie lief an Gärten und Hinterhöfen vorbei. Den Highway konnte sie im Dunkeln nur erahnen, weil die Autos sich in einem weißen und einem roten Band dort entlangzogen. Dort war die Bushaltestelle. Ihre Mutter hatte ihr alles erklärt.

Die Straßen waren weihnachtlich erleuchtet, es herrschte kaum Verkehr. Die Menschen saßen am Tisch und widmeten sich dem Festessen, das wusste Liberty. Niemand achtete auf das Mädchen mit Flechtzöpfen und Sandalen, das mit hochgezogenen Schultern Richtung Highway lief. Sie fiel niemandem auf.

Sie kam dem Highway immer näher, aber sie hatte keine Ahnung, wo der Bus hielt. Wo sollte das nur sein? Sie musste mit dem Bus nach Las Vegas fahren. Irgendwie. Ratlos schaute sie sich um und beschloss schließlich, an der Tankstelle gegenüber nach dem Weg zu fragen. Konzentriert lief sie über die Straße und achtete dabei überhaupt nicht auf den Wagen der Highway Patrol, der rechts von ihr um die Kurve kam und scharf bremsen musste, sobald die Scheinwerfer Liberty erfasst hatten. Zu Tode erschrocken stand sie mitten auf der Straße und rühte sich nicht.

Die Fahrertür wurde geöffnet und ein junger Mann stieg aus. „Alles in Ordnung?“

Doch Liberty antwortete nicht. Ihr blieben die Worte im Halse stecken. Im ersten Moment hatte sie das Auto für einen Streifenwagen der Polizei gehalten und flehte nur in Gedanken, dass sich jetzt niemand fragte, warum eine Vierzehnjährige am Weihnachtsabend um zehn allein über die Straße lief.

„Miss?“, fragte der Officer und kam vorsichtig auf sie zu.

„Bringen Sie mich nicht zurück“, stieß Liberty stockend hervor.

„Geht es Ihnen gut, Miss?“, fragte er. Er hielt die Hände unten, während er sich langsam näherte und sie aufmerksam ansah. Die Beifahrertür wurde geöffnet und ein zweiter Officer stieg aus.

„Sie ist von der FLDS, Howie“, sagte er zu seinem Kollegen.

„Was, aus der Sektengruppe oben am Berg?“

„Wie ist Ihr Name?“, fragte der zweite Officer.

„Ich will zum Bus“, sagte Liberty.

„Sind Sie weggelaufen?“

„Sie ist noch ein Kind“, sagte der erste.

„Kommen Sie“, sagte der zweite Officer. „Es ist kühl heute Nacht. Kommen Sie zu uns ins Auto, wir unterhalten uns dort.“

 

Das Verkehrsrauschen der nahen Interstate erschien Sadie in diesem Moment lauter als sonst. Clarkson hatte vielleicht Recht gehabt. Liberty stammte aus einer Parallelwelt, die Sadie sich kaum vorstellen konnte. Wenn sie daran zurückdachte, wie sie in Libertys Alter empfunden hatte, verstand sie nur zu gut, wie dem Mädchen zumute sein musste. Dabei wusste sie gar nicht, wie alt Liberty war. Sie konnte nur schätzen, deshalb beschloss sie, zu fragen.

„Verrätst du mir, wie alt du bist?“

Liberty blickte auf. „Vierzehn.“

„Und du solltest trotzdem heiraten?“

„Ja, das ist normal bei uns ... ich meine ... es ist nicht ungewöhnlich.“

„Aber du wolltest nicht.“

„Nein, ich ...“ Liberty schüttelte den Kopf. „Nein.“

Sadie zögerte kurz, aber dann fragte sie. „Warum nicht?“

„Er ist kein guter Mensch. Ich meine, er ist nicht gewalttätig oder so, aber er hat schon vier Frauen und ...“ Sie schüttelte wieder heftig den Kopf. Sadie konnte ihr so gut nachfühlen, wie ihr zumute war.

„Du hattest Angst“, vermutete Sadie.

„Ja, auch ... ich wollte einfach nicht. Das ging nicht.“

„Aber du musstest.“

Liberty nickte. „Meine Mutter hat meinen Vater so angefleht, es sich zu überlegen, aber das hat er natürlich nicht. Ich meine, ich sollte ja seinen Bruder heiraten.“

Sadie schluckte hart. „Verstehe.“

Liberty stemmte sich mit den Armen gegen die Bank und starrte auf ihre baumelnden Beine. Sie trug einfache Sandalen, der Jahreszeit völlig unangemessen. Trotzdem schien sie nicht zu frieren.

„Kannst du mir helfen?“, fragte Liberty plötzlich. „Bitte lass nicht zu, dass ich zurück muss.“

„Das musst du nicht“, behauptete Sadie, obwohl sie da gar nicht sicher war. Wenn Liberty eine Mutter hatte, hatte die auch das Sorgerecht. Sie und ihr Vater. Das brachte sie auf einen Gedanken.

„Weiß deine Mutter davon, dass du weggelaufen bist?“

Liberty nickte. „Sicher. Es war ja ihre Idee.“

„Hat deine Mutter dir dabei geholfen, wegzulaufen?“

Das Mädchen nickte bejahend. „Sie weiß, wie das ist. Sie wollte nicht, dass es mir auch so geht.“

„Warum hat deine Mutter dich nicht begleitet?“

„Das ging nicht. Das wäre aufgefallen.“

„Sie muss ja sicher gewesen sein, dass es dir hier gut geht.“

Liberty zuckte mit den Schultern. „Alles ist besser als das, was mich dort erwartet hätte.“

„Hast du deinen Onkel gefürchtet?“

„Gefürchtet ... ich weiß nicht. Aber ich fühle mich noch zu jung zum Heiraten. Ich will das noch nicht. Du hast auch erst vor zwei Jahren geheiratet und du bist so viel älter ...“

„Ich kannte meinen Mann vorher auch schon gut“, sagte Sadie.

„Okay.“ Liberty nickte verstehend und starrte erneut auf ihre Füße. „Aber hier draußen ist es schon so, dass man nicht erst heiratet, um ...“

Erst erwartete Sadie, dass Liberty den Satz noch vervollständigte, aber als nichts kam, fragte sie auch nicht nach. Sie verstand das Mädchen auch so.

„Das ist ganz unterschiedlich“, sagte sie. „Manche warten bis zur Ehe und andere nicht.“

„Oh. Das wusste ich nicht“, gab Liberty zu.

„Sie haben euch etwas anderes erzählt, oder?“

Liberty nickte. „Wir haben gelernt, dass Männer und Frauen sich nur nah kommen dürfen, wenn sie verheiratet sind oder ... ja. Alles andere ist Sünde. Hier draußen ist Sünde.“

„Was hältst du davon?“, fragte Sadie.

„Weiß ich nicht“, gab Liberty zu. „Aber ich wollte das nicht. Auch nicht, wenn ich verheiratet bin. Nicht mit meinem Onkel ...“

„Das wollte ich in deinem Alter auch nicht“, gab Sadie zu. Das war nicht mal gelogen, mit vierzehn hätte sie keinen Angehörigen des männlichen Geschlechts an sich herangelassen. Die einzigen, die sie damals nicht gefürchtet hatte, waren Norman und Gary gewesen.

„Hast du ... nein.“ Liberty unterbrach sich selbst.

„Was denn?“, fragte Sadie.

„Das geht mich nichts an.“

„Du kannst mich ruhig fragen.“

„Nein“, wiederholte Liberty und sagte dann: „Hast du Kinder?“

Sadie schüttelte den Kopf. „Noch nicht.“

„Willst du welche?“

Sadie wusste nicht gleich, was sie erwidern sollte, aber dann nickte sie. „Ja, eigentlich schon. Mittlerweile.“

„Warum wolltest du vorher keine?“

„Das hatte verschiedene Gründe“, sagte Sadie ausweichend.

„Bestimmt auch deine Arbeit, oder? Ich meine, Serienmörder ...“

„Offensichtlich hast du schon davon gehört.“

„Ich kenne keinen“, sagte Liberty. „Aber ich weiß ja, was Mord ist. Und ja, warum sollten manche Menschen nicht immer wieder morden? Es gibt so viel Böses auf der Welt.“

„Und trotzdem bist du hier draußen.“

„Ja, weil ich Hoffnung hatte, dass es hier gar nicht so schlecht ist.“

„Wie denkst du jetzt darüber?“, fragte Sadie.

„Es ist nicht schlecht. Es gibt Menschen wie dich. Du jagst solche Verbrecher. Und irgendwie kümmerst du dich jetzt um mich. Wie hängt das eine mit dem anderen zusammen?“

„Ich habe während meiner Arbeit immer wieder mit Menschen zu tun, die Schlimmes erlebt haben. Überlebende Opfer dieser Serientäter zum Beispiel. Ich muss mit ihnen sprechen, um Erkenntnisse zu gewinnen und habe mich dafür speziell ausbilden lassen.“

„Und deshalb bist du jetzt hier bei mir“, sagte Liberty, die den Zusammenhang ganz offensichtlich verstand.

„Genau. Die Kollegen dachten, dass ich besser damit zurechtkomme.“

„Du bist auch ganz anders als sie.“ Liberty kniff die Augen zusammen und blinzelte von der Seite zu Sadie hoch. „Man macht doch nicht grundlos so eine Arbeit.“

„Nein“, sagte Sadie.

„Warum machst du das?“

„Das ist eine lange Geschichte“, wich Sadie aus.

„Erzählst du sie mir?“

„Es geht doch hier nicht um mich.“

„Ich will es aber hören“, beharrte Liberty.

„Das würde jetzt zu weit führen.“

„Aber du hast vorhin gesagt, du weißt, wie es ist, wenn man sich fremd in der Welt fühlt. Hat das etwas damit zu tun?“

„Schon, ja. Aber das würde jetzt wirklich zu weit führen.“

Liberty verschränkte die Arme vor der Brust und machte ein beleidigtes Gesicht. „Ich verstehe schon. Ich soll alles verraten und du verrätst nichts.“

„Nein, Liberty, das hat damit überhaupt nichts zu tun. Ich ...“

„Aber ich soll dir vertrauen!“, unterbrach Liberty sie wütend.

„Das kannst du doch auch ...“

„Du horchst mich doch auch nur aus wie alle anderen.“ Patzig wandte Liberty den Blick ab und gab Sadie damit zu verstehen, dass sie nicht mehr bereit war, noch etwas zu sagen.

„Ich horche dich doch nicht aus ...“ begann Sadie erneut.

„Du hattest Recht. Man kann dem FBI nicht vertrauen.“

Es war nur ein Instinkt, der Sadie verriet, was nun geschehen würde. Sie stand auf und stellte sich vor Liberty – nur Sekundenbruchteile, bevor Liberty selbst aufstand und gehetzt zu Sadie aufblickte. Am liebsten wäre sie weggelaufen, das konnte Sadie ihr ansehen.

„Gibt es hier Schwierigkeiten?“, riss SSA Clarksons Stimme Sadie aus ihren Gedanken. Sie fuhr herum und sah den ranghöheren Agent überrascht an. Sie hätte es wissen müssen – er war die ganze Zeit irgendwo in der Nähe gewesen und sie hatte es nicht gemerkt. Liberty hatte für sich genommen Recht, dem FBI konnte man manchmal wirklich nicht vertrauen. Entsprechend erschrocken schaute auch Liberty ihn an.

„Sie haben uns belauscht“, warf Sadie ihm an den Kopf.

„Sie glauben doch nicht wirklich, dass ich Sie unbeobachtet mit unserer Zeugin hier draußen herumlaufen lasse?“

„Nein, eigentlich nicht.“ Sadie verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn erwartungsvoll an.

„Wenn Sie hier nicht weiterkommen, kann ich das auch selbst übernehmen“, schnappte Clarkson.

Sadie kniff die Augen zusammen und gab sich keine Mühe, ihre Wut zu verbergen. „Nur zu, ich halte Sie nicht auf. Sie haben alles gehört, nehme ich an?“

„Das Meiste“, gab Clarkson unverhohlen zu. „Es geht hier um Zwangsehen Minderjähriger, wenn ich das richtig verstanden habe?“

„Was ist denn hier los?“, fragte Liberty vollkommen verunsichert und machte einen Schritt zurück.

„Du kommst jetzt wieder mit mir ins Büro“, sagte Clarkson und ging an Sadie vorbei, um Liberty an der Schulter zu fassen.

„Lassen Sie mich los!“, schrie Liberty und schlug seine Hand weg, woraufhin er sie unsanft am Oberarm packte und in Richtung des Gebäudes zerrte.

„Entschuldigen Sie die Unterbrechung Ihres freien Tages, Agent Whitman, wir kommen dann jetzt wieder allein zurecht“, rief Clarkson über seine Schulter, während er mit Liberty in Richtung Haupteingang verschwand. Fassungslos starrte Sadie ihm hinterher und überlegte, was sie tun sollte.

Das hätte nicht passieren dürfen. Sie konnte Liberty ja verstehen, sie suchte Halt und Orientierung und sie wollte immer noch wissen, ob sie Sadie vertrauen konnte. Natürlich hatte sie auch Fragen, die sie beantwortet wissen wollte.

Viel wütender machte sie jedoch, dass Clarkson ihr die ganze Zeit misstraut hatte. Er hatte doch hinter irgendeinem Baum gestanden und sie mit einem Richtmikrofon belauscht. So konnte sie nicht arbeiten, das widerstrebte ihrem gesamten Arbeitsethos.

Und jetzt war es sowieso egal, denn Liberty war weg und Clarkson hatte sie abgesägt. Sie hatte es sich mit ihm schon verscherzt, als sie mit Liberty nach draußen gegangen war. Das hatte ihm offensichtlich so wenig geschmeckt, dass er auf die erste Gelegenheit gewartet hatte, Sadie wieder vor die Tür zu setzen.

Wenn das so war, dann würde sie jetzt gehen. Dann war es ab jetzt auch nicht mehr ihr Problem.

Verärgert ging sie gleich Richtung Parkplatz und zog den Autoschlüssel aus der Tasche. Das war doch wirklich nicht zu fassen. An der Academy lernte man doch einiges über Verhaltensforschung und Psychologie, bevor man sich spezialisierte. Und trotzdem begegneten ihr immer wieder so alte Knochen beim FBI, die ihr Arbeitsfeld für Hokuspokus hielten.

Oder vielleicht war es auch wirklich nur, dass sie sich ihm widersetzt hatte. Eigentlich konnte es ihr egal sein, aber das war es nicht. Sie war ja auch grundsätzlich bereit, Liberty etwas von sich zu erzählen, aber nicht jetzt und nicht so. Das brauchte auch wirklich zu viel Zeit, es war nicht der richtige Augenblick. Aber Clarkson war das gleich, ihm ging es auch gar nicht um Libertys Befindlichkeiten, sondern nur darum, dass sie ihm etwas erzählen konnte. Das würde nicht funktionieren, Sadie wusste es.

Aber so schwer es ihr auch fiel, es ging sie nun nichts mehr an. Sie konnte Liberty jetzt nicht mehr davor beschützen, vom FBI für seine Zwecke eingesetzt zu werden.

Während sie zum Challenger ging, zwang sie sich dazu, nicht mehr darüber nachzudenken. Sie musste loslassen, auch wenn es ihr schwer fiel. Liberty war ihr nicht gleichgültig, aber wie so oft hatte Clarkson sie dazu geholt, weil irgendjemand das zwar für eine gute Idee gehalten hatte, er aber nicht davon überzeugt war. Sie hasste es, wenn die Kollegen ihre Arbeit für Hokuspokus hielten.

Wütend setzte sie sich in den Challenger, schaltete das Radio ein und versuchte, es zu vergessen. Clarkson würde schon sehen, was er davon hatte. Nur für Liberty tat es ihr leid.

Der Verkehr war dicht, aber sie erreichte Culver City ohne größere Probleme. Kurzerhand parkte sie den Challenger vor der Garage, ging ins Haus und warf die Tür hinter sich zu. Erwartungsgemäß fand sie Matt oben vor seinem Rechner, aber er war mit keinem Spiel beschäftigt, sondern surfte im Internet. Sie vernahm leise Musik aus den Boxen.

„Schon wieder da?“, fragte Matt und drehte sich überrascht zu ihr um.

„Frag nicht.“ Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte sie am Türrahmen und sah ihn missmutig an.

„Ist nicht so gut gelaufen?“

Sie lachte kurz. „Clarkson ist ein Idiot. Traut mir nicht und hat mich bei der erstbesten Gelegenheit wieder weggeschickt. Er käme dann jetzt wieder allein zurecht.“

Fragend zog Matt die Brauen in die Höhe. „Ist ja toll. Weiß da wieder jemand nicht, was Profiler können?“

„Vielleicht ... aber ich vermute eher, dass ihm meine Arbeitsweise nicht gepasst hat.“ Sadie führte diese Vermutung noch ein wenig aus, so dass Matt sich vorstellen konnte, was geschehen war. Er verdrehte die Augen und stöhnte.

„Das liebe ich manchmal so an der Behörde. Jeder weiß alles besser und keiner traut dem anderen über den Weg.“

„Es tut mir so leid für das Mädchen“, sagte Sadie. „Wir waren auf einem guten Weg. Sie hätte mir eine Menge erzählt, aber sie will natürlich mehr als nur ein Stichwortgeber sein. Ich verstehe auch, dass sie wissen will, mit wem sie es zu tun hat ... Aber das erzähle ich ihr doch nicht, wenn Clarkson uns belauscht.“

„Nein, bestimmt nicht. Er wird noch sehen, was er davon hat.“

„Wie meinst du das?“, fragte Sadie.

Matt setzte einen spöttischen Blick auf. „Allein kommt der doch nicht weit.“

„Glaube ich ja auch nicht, aber ...“

„Was?“, fragte Matt.

„Das wird er nie zugeben.“

„Irgendwann wird er das müssen. Ich bin gespannt ... davon hast du nicht zum letzten Mal gehört.“

„Na, ich weiß nicht.“

„Ich schon“, sagte Matt trocken und grinste.

„Tja, jedenfalls ... hier bin ich wieder.“

„Umso besser für mich.“ Matt streckte die Hand nach Sadie aus und nachdem sie nur einen Schritt auf ihn zu gemacht hatte, zog er sie auf seinen Schoß und hielt sie an sich gedrückt.

„Meine wundervolle Frau“, sagte er und strich ihr über den Rücken. Sadie lächelte und genoss seine Zuneigung einfach nur. Schließlich stand sie doch wieder auf und ging in die Küche, um sich zu überlegen, was man abends mit Amelia und Phil kochen konnte. Zum Glück hatten sie noch einige Zutaten da und schließlich hatte sie sich auch etwas ausgesucht. Danach setzte sie sich mit einem Buch aufs Sofa und wunderte sich nicht darüber, dass Figaro sie bald besuchen kam. Der Kater legte sich neben sie und ließ sich kraulen, während Sadie las. Dabei fielen ihr immer wieder fast die Augen zu. Sie verstand nicht, warum sie auf einmal so müde war, denn eigentlich hatte sie nachts gut geschlafen.

Sie war allein mit dem Kater. Mittens war ausgeflogen, was nicht weiter ungewöhnlich war, aber auch Matt ließ sich nicht blicken. Das wiederum überraschte sie mehr, auch wenn das im Augenblick gar nicht so ungewöhnlich war. In letzter Zeit war er häufiger allein, was Sadie verstehen konnte und auch nicht in Frage stellte. Trotzdem beobachtete sie es auch mit Sorge. Er hatte sich verändert und sie fragte sich, ob es je wieder werden würde wie früher. Es war nicht, dass es ihr etwas ausmachte, aber er schien nicht glücklich zu sein und das beschäftigte sie.

Vielleicht wäre eine Veränderung keine schlechte Idee gewesen. Ein Urlaub. Irgendwas ... Hauptsache es riss Matt aus seiner Verschwiegenheit und Grübelei. Eigentlich war er immer der Fröhlichere von ihnen beiden gewesen, aber das war vorbei. Und es war nicht nur, dass es Sadie fehlte – es machte sie wahnsinnig, sich vorzustellen, wie es dazu gekommen war.

Schließlich ging sie wieder nach oben, um nach ihm zu sehen. Als er sie hinter sich hörte, schloss er ein Fenster am Bildschirm und drehte sich zu ihr um. Sadie entging nicht, dass sie da etwas nicht sehen sollte, aber sie beschloss, ihn nicht darauf anzusprechen. Sie würde ohnehin keine Antwort bekommen.

„Ich bin so allein unten“, sagte sie und musterte ihn gespannt.

„Das geht natürlich nicht, Mrs. Whitman“, sagte er, stand auf und schaltete flink den PC aus, bevor er Sadie nach unten begleitete.

 

„Das war wieder einmal ganz hervorragend“, sagte Phil und strich sich über den theatralisch herausgestreckten Bauch. Er hatte sich bequem zurückgelehnt und seufzte tief.

„Das war wirklich gut“, fand auch Matt. Sadie lächelte und lobte die Gäste für ihre aktive Mithilfe.

„Ein angenehmes Programm für den Boxing Day“, fand Phil. „Und ich muss erst übermorgen wieder arbeiten! Wie ist das bei euch?“

„Ich war ja heute sogar mal kurz“, sagte Sadie.

„Ach was. Wie denn das?“

Sadie erklärte kurz, was vorgefallen war und erntete prompt ein Kopfschütteln von Phil.

„Dass es hier doch echt immer wieder Idioten gibt, die dein Potenzial so komplett unterschätzen“, sagte er. „Natürlich arbeitest du nicht nach Schema F! Ein Mädchen aus einer weltfremden Sekte in einem Verhörraum vor der Kamera befragen ... das ist wieder typisch für die Vorschriften. Und natürlich völlig nutzlos.“

„Habe ich auch gesagt“, stimmte Matt zu.

„Es ging ihnen ja nie um das Mädchen. Die wollen nur eine Zeugin“, sagte Sadie mürrisch.

„Wirklich typisch“, fand Phil. Als Sadie Anstalten machte, aufzustehen und den Tisch abzuräumen, war Phil gleich zur Stelle und ging ihr zur Hand. Amelia ging auf die Terrasse, um Ausschau nach den Katzen zu halten und wurde dabei von Matt begleitet.

Phil reichte Sadie die Teller für die Spülmaschine an und spähte in Richtung der Terrassentür.

„Wie geht es Matt?“, fragte er.

Sadie zuckte mit den Schultern. „Weihnachten war schwierig für ihn.“

„Er kann nicht damit abschließen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Er konnte Norman und Tessa kaum in die Augen schauen.“

„Ihr wart auch in Patterson, oder?“

„Das war kaum besser“, sagte Sadie.

Erneut linste Phil Richtung Tür. „Soll ich mit ihm reden?“

„Ich hatte schon darüber nachgedacht ... Du weißt am ehesten, wie es ihm geht.“

„Ja, wobei es nur juristisch betrachtet beides Mord ist“, sagte Phil leise. „Bei mir war es in einem Sekundenbruchteil vorbei. Aber er muss das Gefühl haben, dass Blut an seinen Händen klebt.“

Sadie nickte. „Man kann es kaum vergleichen.“

„Ich weiß. Trotzdem ist das kein Zustand. Er kann es nicht mehr ändern, also was will er machen? Entweder er ruiniert alles oder er lebt damit.“

„Sag das nicht mir“, erwiderte Sadie.

„Ja, schon klar.“ Phil seufzte. „Ehrlich, hätte ich doch nur deine Waffe nicht verloren.“

„Du willst wirklich immer jeden erschießen.“

„Nein, aber ich hätte es gekonnt und gedurft. Sie hätte ihn gar nicht mehr verletzen können. Aber nein, mir musste ja die Waffe aus der Tasche fallen.“

„Das Fenster war winzig.“

„Trotzdem.“ Phil machte ein mürrisches Gesicht. „Das hat etwas mit ihm gemacht.“

Sadie nickte. „Das hat es. Zwischen uns ist zwar alles okay, aber er hadert so mit sich selbst.“

„Er hält sich jetzt für einen schlechten Menschen“, folgerte Phil. „Ich gehe gleich mal zu ihm.“

„Ja, bitte“, sagte Sadie und lächelte. „Bist ein Schatz.“

Phil grinste. „So hast du mich auch noch nie genannt.“

„Das ist mein Ernst.“

Er klopfte ihr auf die Schulter. „Die Landeier müssen doch zusammenhalten.“

Sadie grinste ebenfalls, denn sie wusste, wie er das meinte. Zwar hatte sie sich auch schon in Waterford mit ihm verstanden, als sie noch zusammen Streife gefahren waren, aber wirklich gute Freunde waren sie eigentlich erst geworden, als diese Phase geendet hatte. Der Fall Martin Grimes damals in Waterford hatte alles für Sadie geändert – eigentlich für sie alle. Auch für Matt und Phil hatte damals ein neuer Abschnitt begonnen.

Phil schnappte sich zwei Bierdosen und ging damit nach draußen. Es dauerte nur ein paar Augenblicke, bis Amelia wieder im Haus war. Sie zog die Terrassentür halb hinter sich zu und ging zu Sadie in die Küche.

„Keine Katze auffindbar“, sagte sie.

„Frechheit“, sagte Sadie augenzwinkernd. „Vielleicht sind die Mäuse bei den Nachbarn heute besonders lecker?“

Amelia lachte. „Wer weiß. Ich hätte auch gern ein Haustier, aber in einer Dachgeschosswohnung ... ich weiß nicht. Und Phil hat so unregelmäßige Arbeitszeiten.“

„Die Schurken in dieser Stadt schlafen nie.“

„Nein, wohl wahr.“ Amelia lehnte sich gegen die Arbeitsplatte. „Phil wollte mit Matt reden.“

„Hat er das gesagt?“, fragte Sadie.

„Ja, vorhin schon, bevor wir hergekommen sind.“

Sadie lächelte gedankenversunken. Das ganze Problem beschäftigte Phil stärker, als sie erwartet hatte.

„Geht es Matt denn gut?“, fragte Amelia.

„Eigentlich schon“, behauptete Sadie. „Ich meine, er wurde von einer Frau verfolgt, gekidnappt, gegen seinen Willen festgehalten und fast umgebracht. Genauso wie er dachte, ich sei tot. Ich weiß, was das psychisch mit jemandem machen kann.“

„Spricht er mit dir darüber?“

„Manchmal“, sagte Sadie. „Vielleicht ist es wirklich besser, wenn er mal mit Phil spricht.“

„Lassen wir sie allein“, sagte Amelia. Sadie lächelte und war froh, dass Amelia eine so einfühlsame Person war. Das schätzte sie ebenso wie Phil.

„Aber sonst ist alles gut bei euch?“, erkundigte Amelia sich. Sadie bejahte und erkundigte sich bei Amelia, wie ihre Hochzeitspläne mit Phil voranschritten.

„Ich denke, wir werden im Mai oder Juni heiraten“, sagte Amelia. „Wir wissen noch nicht ganz, wie und wo wir feiern wollen, aber ich weiß, dass ich in einer Kirche heiraten will und von einem schönen weißen Kleid träume ich auch ...“

Sadie lächelte. „Matt sagte auch mal zu mir, er hätte es gern, wenn ich ein richtiges weißes Hochzeitskleid trage. Was draus geworden ist, weißt du ja.“

„Ach, das macht doch überhaupt nichts. Bei euch ging es doch auch um etwas ganz Anderes.“

„Ja ... aber ich hätte mir trotzdem nicht träumen lassen, dass ich mal so heirate. Jahrelang bin ich davon ausgegangen, dass ich überhaupt nicht heirate“, gab Sadie zu.

„Glaub ich dir. Aber mit Matt hast du wirklich großes Glück.“

„Ich weiß“, sagte Sadie und rang sich mühevoll ein Lächeln ab. Eigentlich wusste sie das, aber im Moment machte sie sich einfach immerzu Sorgen um ihn.

Gemeinsam mit Amelia ging sie ins Wohnzimmer und beobachtete durch die Terrassentür die schattenhaften Umrisse von Matt und Phil. Sie war Phil unendlich dankbar und sie war sehr froh, ihn zu haben. Er war wirklich ein echter Freund.

Drinnen konnte sie nicht verstehen, worüber die beiden sich unterhielten, zumal sie in ein Gespräch mit Amelia vertieft war. Es dauerte jedoch nicht lang, bis Matt und Phil wieder hereinkamen. Es fiel Sadie schwer, Matts Gesichtsausdruck zu deuten, aber er lächelte ihr zu, bevor er sich ihr gegenübersetzte. Vielleicht konnte Phil ihm wirklich helfen. Sie hoffte es so sehr.

Sie sprachen gerade über ihre Urlaubspläne, als plötzlich Sadies Handy klingelte. Sie erkannte die Nummer sofort wieder, es war SSA Clarkson. Während sie sich noch fragte, ob sie sich wundern oder lachen sollte, entschuldigte sie sich bei den anderen und ging in den Flur, um zu telefonieren.

„Agent Whitman“, begrüßte er sie mit einem hörbar kleinlauten Unterton. „Ich weiß, ich bin der Letzte, der Sie jetzt um etwas bitten darf, aber ich brauche Ihre Hilfe.“

Sadie spähte kurz zum Sofa und überlegte, was sie antworten sollte, aber dann beschloss sie, ihn ein wenig zappeln zu lassen.

„Da haben Sie Recht, SSA Clarkson.“ Sie sagte das mit aller gebotenen Höflichkeit, aber auch sehr direkt.

„Ich weiß, ich hätte Ihnen mehr vertrauen sollen. Mir ist jetzt völlig klar, warum man mir geraten hat, Sie um Hilfe zu bitten. Es ist nur, dass ich ...“

„Was ist passiert?“, unterbrach Sadie seine wortreichen Entschuldigungsversuche.

„Ich weiß nicht, was ich mit ihr machen soll. Sie wollte nicht mit uns reden. Ich meine, wenn das alles wäre ... Erst hat sie geweint. Dann hat sie geschrien. Dann wieder geweint ... Wir haben unser Möglichstes versucht, aber ohne Erfolg. Wir haben schließlich den Kindernotdienst beim Jugendamt verständigt, aber das war eine völlige Katastrophe. Sie ist regelrecht ausgerastet und bevor sie vorhin schluchzend zusammengebrochen ist, hat sie immer wieder Ihren Namen genannt.“

Sadie seufzte tief. So etwas hatte ja kommen müssen. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr – kurz nach halb neun. Da hatten sie aber lange durchgehalten.

„Ich weiß ehrlich nicht, was ich noch tun soll“, gab Clarkson kleinlaut zu.

„Am besten gar nichts“, sagte Sadie. „Ich bin unterwegs.“

„Danke, Special Agent Whitman. Ich weiß gar nicht, wie ich ...“

„Bis gleich.“ Sie wollte ihm und sich diese Peinlichkeit ersparen, steckte ihr Handy wieder weg und kehrte zu den anderen zurück. Phil warf ihr einen fragenden Blick zu, wohingegen Matts Gesichtsausdruck verriet, dass er wusste, mit wem Sadie gesprochen hatte.

„Es tut mir wahnsinnig leid, aber ich muss ins Büro“, sagte Sadie.

„Was ist passiert?“, fragte Phil.

„Das Mädchen ... sie kommen nicht mehr weiter mit ihr.“ Ihr Tonfall verriet, wie Sadie darüber dachte.

„War doch klar“, murmelte Phil trocken. „Zeig denen mal, wo der Hammer hängt.“

„Es tut mir wirklich leid. Lasst euch einfach nicht davon beirren, dass ich weg bin, okay?“

„Ich komme schon mit den beiden klar“, sagte Matt augenzwinkernd in ihre Richtung.

„Habt noch viel Spaß“, sagte Sadie. Im Moment trug sie eine schlichte Jeans und einen Pullover – das musste reichen, sie hatte nicht vor, sich noch umzuziehen. Dazu passend schlüpfte sie schnell in ein Paar Sneaker, griff wieder nach Matts Autoschlüssel und verließ das Haus. Es tat ihr wirklich wahnsinnig leid für ihre Gäste, aber sie wusste, Phil und Amelia hatten Verständnis dafür.

Depeche Mode schallten aus der Soundanlage des Challengers, während Sadie ihn über die Interstate zum FBI jagte. Um diese Zeit war nicht viel Verkehr, weshalb sie den Weg in zwanzig Minuten geschafft hatte. Im Gebäude war nicht mehr viel Betrieb, sie plauderte kurz mit den Kollegen an der Sicherheitsschleuse und fuhr dann in die vierte Etage zu Clarkson und seinen Kollegen. Das konnte ja noch heiter werden.

Diesmal erwartete Agent Clarkson Sadie persönlich. Sie hatte das Büro noch gar nicht ganz betreten, als er gleich zu ihr ging und ihr die Hand schüttelte.

„Ich weiß es wirklich sehr zu schätzen, dass Sie so schnell kommen konnten“, sagte er. „Ich muss zugeben, heute Mittag war mir nicht klar, was Sie mit Ihrer Methode bezwecken wollen ... aber ich habe gesehen, dass das durchaus seine Berechtigung hatte. Wir alle tun uns jedenfalls wieder sehr schwer mit dem Mädchen.“

„Wo ist sie?“, fragte Sadie.

„Nebenan.“

„Etwa wieder in dem Verhörraum?“

„Wir haben ihr etwas zu essen und zu trinken gebracht ...“

Sadie verkniff sich jeden Kommentar. Er wusste wohl wirklich nicht, worum es ihr ging.

„Ich bin nicht gut in solchen Dingen“, gab Clarkson zu.

„Ist okay. Ich würde dann jetzt zu ihr gehen.“

Er nickte und machte keinerlei Anstalten, ihr zu folgen, als sie zu dem Verhörraum ging. Sie klopfte und war wenig überrascht, Agent Watts an dem Tisch zu finden – allein. Liberty saß zusammengekauert in einer Ecke und hatte das Gesicht hinter den Armen verborgen. Sadie seufzte und schloss die Tür hinter sich.

„Liberty?“, sagte sie. „Ich bin wieder ...“

Sie hatte den Satz noch nicht ganz ausgesprochen, als Liberty aufblickte und einen Schrei ausstieß. Innerhalb von Sekundenbruchteilen war sie aufgesprungen und rannte zu Sadie. Völlig überrumpelt, aber nach außen dennoch halbwegs gefasst ließ Sadie es zu, dass Liberty sich in ihre Arme warf und sich an ihr festklammerte, als gäbe es kein Morgen.

„Hey“, sagte sie und legte vorsichtig von hinten eine Hand auf Libertys Schulter. „Ich bin jetzt wieder hier.“

„Sadie ... du bist zurück ...“ murmelte Liberty gegen Sadies Schulter. Agent Watts gab Sadie mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie den Raum verlassen würde, und Sadie nickte.

„Es tut mir leid, dass ich nicht bei dir war“, sagte Sadie zu Liberty, die sie immer noch nicht loslassen wollte.

„Wenigstens bist du wieder da ...“

„Darüber bin ich auch sehr froh.“

Langsam ließ Liberty sie los und blickte zu ihr auf, dann machte sie einen Schritt zurück. „Entschuldigung, ich wollte nicht unhöflich sein ...“

„Es ist alles in Ordnung“, sagte Sadie, der die Tränenspuren auf Libertys Wangen nicht verborgen blieben. Sie war blass, ihre Augen gerötet.

„Gar nichts ist in Ordnung! Alle waren so ... alle sind so anders als du.“

Sadie lächelte. „Das darfst du ihnen nicht zum Vorwurf machen.“

„Ich habe immer wieder nach dir gefragt. Immer wieder ... bei dir habe ich keine Angst.“

„Die musst du auch nicht haben.“

„Sie wollten so viel wissen ... so viele Dinge ... ob ich noch Jungfrau wäre ...“

Sadie versteinerte und sah Liberty ernst an. „Wer hat das gefragt?“

„Der Agent ... er wollte wissen, ob mich jemand angefasst hat. Mein Onkel oder so ... er hat so viele Fragen gestellt ...“

„Das hört jetzt auf“, sagte Sadie und meinte es so. Sie konnte sich ungefähr vorstellen, was Liberty durchgestanden hatte. Seufzend schaute sie sich um, dann streckte sie die Hand nach Liberty aus und sagte: „Komm mit.“

Liberty verstand die Geste, fasste Sadie an der Hand und folgte ihr aus dem Raum in das fast völlig verlassene Großraumbüro der Ermittlungseinheit. Clarkson starrte sie ungläubig aus seinem Büro heraus an und beobachtete sie, blieb aber, wo er war. In der Nähe der Tür stand ein Sofa unter einem Fernseher. Solche Wartezonen kannte Sadie auch aus den anderen Büros. Sie setzte sich mit Liberty auf dieses Sofa und überlegte kurz.

„Du weißt sicher, dass meine Kollegen sich Informationen von dir erhoffen“, sagte sie.

„Ja ... das war ziemlich offensichtlich.“

„Wenn du dir etwas wünschen könntest, was wäre das?“

Liberty holte tief Luft. „Ich wünschte, ich könnte irgendwo mit meiner Mutter leben, ganz weit weg von allem, was wir kennen.“

„Okay“, sagte Sadie. „Deine Mutter ist aber immer noch dort.“

„Ja, ich denke schon. Dort habe ich sie zuletzt gesehen.“

„Weiß sie denn, wohin du gehen willst? Sie hat dir doch etwas gesagt, oder?“

„Sie hat mir einen Namen genannt.“

„Okay ... und sie würde vermuten, dass du dort bist?“

Liberty zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Vielleicht. Kannst du dafür sorgen, dass meine Mutter von dort fortkommt?“

„Ich kann es versuchen“, sagte Sadie. „Das würde tatsächlich besser funktionieren, wenn meine Kollegen und ich etwas von dir erfahren würden, das uns helfen könnte. Etwas, das zum Beispiel einen Durchsuchungsbefehl rechtfertigt. Etwas, das uns eine Handhabe gegen die Gemeinschaft liefert.“

Das Mädchen nickte ernst. „Das verstehe ich.“

„Würdest du mir von deinem Leben dort erzählen? Alles, was dir einfällt. Alles, was uns helfen könnte. Ich verspreche dir, ich kümmere mich um dich, bis wir deine Mutter gefunden haben und du wieder bei ihr bist. Ich helfe dir. Du kannst mir vertrauen.“

Liberty nickte, ohne zu zögern, und zwar ziemlich heftig. Sadie wunderte sich nicht darüber; sie war schlicht und ergreifend die beste Option, die Liberty gerade hatte, und das wusste Liberty jetzt auch. Insofern war Clarksons Aktion vielleicht gar nicht so unvorteilhaft, sondern hatte Sadies Arbeit spürbar vereinfacht.

„Es war jemand vom Jugendamt hier. Sie wollten mich in ein Heim bringen“, sagte Liberty dann. Unglücklich suchte sie Sadies Blick. „Kannst du das verhindern? Das macht mir Angst ...“

Sadie seufzte. „Ich werde mal sehen, was ich tun kann.“

Als sie aufblickte, begegnete ihr Blick dem von Clarkson und sie gab ihm einen Wink. Tatsächlich kam er auch sofort zu ihnen. Sadie entging nicht, dass Liberty ein wenig unbehaglich neben ihr herumrutschte, aber sie sagte nichts.

„Was gibt es?“, fragte Clarkson.

„Liberty hat Angst vor der Unterbringung in einem Heim“, sagte Sadie.

„Ja, ich weiß. Aber wir haben hier eine Minderjährige ohne Aufsichtsperson, für die gesorgt sein muss.“

„Gibt es keine anderen Möglichkeiten?“, fragte Sadie.

„Alles andere wäre erheblich komplizierter“, sagte Clarkson. „Schon aus rechtlichen Gründen muss Liberty unter Aufsicht gestellt werden, aber mir persönlich wäre auch wohler dabei. Vielleicht wird sie schon gesucht.“

„Dann sollten wir sie doch erst recht nicht in ein Heim bringen, in dem man sie finden kann“, wandte Sadie ein. Clarkson seufzte und wollte schon etwas sagen, aber dann tat er es nicht.

„Was ist los?“, fragte Sadie.

„Kann ich nicht bei ihr bleiben?“, platzte Liberty plötzlich heraus und blickte von Clarkson zu Sadie.

„Was, bei mir?“, fragte Sadie.

„Bitte“, flehte Liberty händeringend. „Bitte schick mich nicht weg ...“

„Das können wir nicht machen“, murmelte Clarkson.

Sadie brauchte einen Moment, um sich zu fangen und ihre Überraschung zu verdauen, aber dann sagte sie: „Warum eigentlich nicht?“

„Sie muss unter richtige Aufsicht gestellt werden, mit autorisiertem Personal, in einer offiziellen Einrichtung ...“

„Würden Sie ein traumatisiertes Entführungsopfer zu fremden Kindern und Jugendlichen stecken?“, fragte Sadie, der plötzlich tausend Dinge durch den Kopf gingen. „So wie Jaycee Lee Dugard?“

„Nein, natürlich nicht“, sagte Clarkson und wollte noch etwas hinzufügen, aber Sadie war schneller.

„So ähnlich müssen Sie sich das hier vorstellen. Liberty kommt ebenfalls aus einer völlig anderen Welt. Sie haben gesehen, was passiert, wenn wir sie zu schnell mit dem konfrontieren, was wir kennen und für normal halten.“

„Ich kann Sie nicht bei Ihnen lassen. Dann eher Schutzhaft.“

Sadie seufzte. „Liberty vertraut mir. Sie hat mir versprochen, dass sie mir alles über ihr Leben in der FLDS erzählen wird.“

Liberty nickte sofort, dann fuhr Sadie fort.

„Ich weiß, dass das mehr als ungewöhnlich ist und einen enormen bürokratischen Aufwand bedeutet, aber es wäre in jeder Hinsicht das Beste.“

„Na, ich weiß nicht“, sagte Clarkson. „Lassen Sie mich darüber nachdenken.“

„Nur zu“, sagte Sadie und sah zu, wie er wieder in sein Büro ging. Dort angekommen, griff er zum Hörer und es dauerte nur Augenblicke, bis Agent Watts auftauchte. Liberty und Sadie beobachteten das Geschehen erst schweigend.

„Denkst du, er ist einverstanden?“, fragte Liberty leise.

„Schon möglich“, sagte Sadie.

„Und du würdest das wollen?“

Sadie musste nicht lang überlegen, sondern nickte ziemlich schnell. „Irgendwo musst du hin, Liberty. Du kannst nicht allein bleiben, aber ich sehe keine gute Option für dich. Es muss jemand auf dich aufpassen, der dich versteht.“

„Du verstehst mich“, sagte Liberty gleich.

„Ich versuche es ... aber ich muss meinen Mann fragen, ob er einverstanden ist.“

„Oh. Ja. Natürlich.“ Daran hatte Liberty nicht gedacht, das konnte Sadie ihr ansehen.

„Ich bin mal telefonieren“, sagte Sadie und zückte ihr Handy. Sie ging damit vor die Tür auf den verlassenen Flur und suchte Matts Nummer heraus. Es dauerte nicht lang, bis er in der Leitung war.

„Hey“, sagte er. „Was gibt es?“

„Tut mir leid, dass ich euch störe, aber ich muss dich etwas fragen“, sagte Sadie.

„Okay. Worum geht’s?“, fragte er, während Sadie im Hintergrund die Stimmen von Phil und Amelia hören konnte.

„Clarkson denkt noch darüber nach, aber im Moment steht die Frage im Raum, wo Liberty jetzt untergebracht werden soll ... über Nacht und generell. Zu mir hat sie Vertrauen gefasst und sie hat mich gefragt, ob sie nicht bei mir bleiben kann.“

Erst hörte sie Matt nur schwer atmen, dann sagte er: „Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet.“

„Matt, du musst das nicht machen. Ja, es wäre für sie und den Fall bestimmt das Beste, aber du musst nicht.“

„Na ja ... ich nehme nicht an, dass es viele andere Möglichkeiten gibt.“

„Keine guten“, sagte Sadie. „Ich weiß auch noch nicht genau, was mich erwartet, aber ich würde es ausprobieren wollen.“

„Ich vertraue dir da, Sadie. Ich stehe hinter dir – so wie du hinter mir.“

„Danke“, sagte sie und lächelte, dann beendete sie das Gespräch und kehrte zu Liberty zurück.

„Was hat er gesagt?“, fragte das Mädchen mit großen Augen.

„Er ist einverstanden“, sagte Sadie.

Liberty strahlte und blickte nervös hinüber zu Clarksons Büro. „Wenn er nur ja sagt ...“

„Viele Möglichkeiten hat er nicht“, stellte Sadie fest.

„Ich bin so erleichtert, dass du einverstanden bist.“ Liberty sagte das so offen und ehrlich, dass es Sadie ein Lächeln entlockte.

„Ich bin ja froh, dass du mir vertraust.“

„Ja“, sagte Liberty gleich. „Du bist anders als alle anderen. Ich denke, du meinst es gut mit mir. Wenn du da bist, habe ich nicht solche Angst ...“

„Wie schön“, fand Sadie.

„Aber jetzt falle ich dir zur Last.“

„Nein, tust du nicht. Wir haben ein schönes Gästezimmer zu Hause und du weißt, ich habe zwei Katzen. Die beiden mögen Besuch.“

„Das klingt schön“, fand Liberty. „Ich mag Tiere. Wie heißen die beiden?“

„Mittens und Figaro.“

„Woher kommen die Namen?“

„Sie stammen aus Filmen“, sagte Sadie.

Liberty zog die Schultern hoch. „Ich habe noch nie einen Film gesehen.“

Sadie nickte verstehend. Sie hatte nichts anderes erwartet.

„Wie heißt dein Mann?“, fragte Liberty.

„Sein Name ist Matt.“

„Hast du ein Foto von ihm?“

Sadie nickte und griff erneut nach ihrem Handy, wo sie Liberty das ältere Foto heraussuchte, das Norman damals von ihr und Matt geschossen hatte. Noch in Waterford, bevor sie überhaupt nach Virginia gegangen waren.

Liberty lächelte, als sie das Foto sah. „Er sieht nett aus. Ihr scheint glücklich zu sein.“

„Sind wir“, sagte Sadie. In diesem Moment ging die Tür auf und Clarkson kam wieder auf sie zu.

„Also schön“, sagte er. „Ich gestehe, mir ist nicht ganz wohl bei der Sache, aber ich sehe auch nicht, dass wir eine andere Möglichkeit hätten. Wenn Sie also damit einverstanden sind, Agent Whitman ...“

Liberty strahlte bereits übers ganze Gesicht, während Sadie nickte. „Danke, SSA Clarkson. Machen Sie sich keine Sorgen, wir bekommen das schon hin.“

„Ich bin gespannt“, sagte Clarkson. „In der Hauptsache müssen Sie einverstanden sein. Wenn Sie sich das zutrauen, dann machen wir das, auch wenn es sehr unkonventionell ist.“

„Sie werden nicht enttäuscht sein“, sagte Sadie und stand auf. Liberty tat es ihr gleich.

„Gut, also ... ich denke, wir hören dann morgen voneinander“, sagte Clarkson.

Sadie nickte. „Ich melde mich bei Ihnen, damit wir das weitere Vorgehen besprechen können.“

„Einverstanden.“ Clarkson schüttelte ihr die Hand und nickte Liberty zu, dann machten Sadie und das Mädchen sind auf den Weg zum Aufzug. Während sie warteten, schrieb Sadie Matt schnell eine Nachricht, dass sie unterwegs waren. Das musste er schließlich wissen.

Schweigend folgte Liberty Sadie auf den Parkplatz und staunte, als Sadie den Challenger mit dem Funkschlüssel entriegelte.

„Du kannst auf der Beifahrerseite einsteigen“, sagte Sadie. Liberty nickte und setzte sich ganz zaghaft und vorsichtig auf den Sitz. Sie schnallte sich an und beobachtete staunend, wie Sadie den Motor startete und losfuhr.

„Ich fahre ja nicht zum ersten Mal in einem Auto“, sagte Liberty, „aber ich habe ehrlich gesagt noch nie eine Frau gesehen, die Auto fährt.“

„Tatsächlich?“, fragte Sadie überrascht.

„Ja ... manche Männer lernen bei uns das Autofahren, aber keine Frau. Frauen bleiben zu Hause und kümmern sich um die Familie. Da müssen sie nicht mit dem Auto fahren können.“

„Verstehe.“

„Aber du ... du machst solche Dinge einfach.“

„Das ist sogar Matts Auto“, sagte Sadie.

„Das überlässt er dir?“

„Sicher, warum nicht?“

Liberty lachte kurz. „Das würde bei uns niemand tun.“

Sadie nickte ernst. „Ich denke, ich kann mir vorstellen, warum du weggelaufen bist.“

 

Es entging Sadie nicht, dass Liberty ihr die ganze Zeit über staunend zusah. Sadie versuchte, nicht darüber nachzudenken. Für Liberty war das alles neu – das große, moderne Auto, gefahren von einer Frau in einer so großen Stadt. Immer wieder schaute das Mädchen auch aus dem Fenster und bestaunte die nächtliche Skyline.

„Was denkst du?“, fragte Sadie ins Schweigen hinein.

„Dass das alles die ganze Zeit hier war und ich es nicht wusste.“

„Du bist wirklich nie rausgekommen?“

„Nur, als ich klein war und wir hergezogen sind. Geboren bin ich ja in Short Creek.“

„Durftet ihr nicht raus?“

„Nicht grundlos. Und eigentlich gab es nie Gründe. Wohin hätte ich gehen sollen? Ohne unsere Eltern durften wir Kinder sowieso nirgends hin und eigentlich gab es ja alles in unserer Siedlung. Kleidung, Essen, eigentlich alles, was wir gebraucht haben.“

„Hat dir das gefehlt?“

„Schon irgendwie“, sagte Liberty. „Ich habe mich immer gefragt, wie die Welt so ist. Ich wusste es ja nicht. Bei uns gab es kein Fernsehen oder Radio oder auch nur Zeitungen. Alles Ungläubige und Lügen, das hat man uns gesagt. Ich hab das immer geglaubt, als ich klein war.“

„Du hattest keinen Grund, es anzuzweifeln.“

„Vielleicht ... aber es war vor etwas über einem Jahr, als ich mich gefragt habe, ob das alles ist.“

„Ist es nicht“, sagte Sadie.

„Zeigst du es mir?“

Sadie lächelte. „Kann ich machen. Alles, was du willst.“

„Du bist ein guter Mensch, Sadie“, sagte Liberty. „Sie haben uns gesagt, hier draußen gäbe es keine guten Menschen. Das stimmt nicht. Du bist gut zu mir, obwohl du es nicht müsstest.“

„Vielleicht“, sagte Sadie. „Aber ich weiß, wie dir zumute ist.“

„Wieso?“

Sadie seufzte tief. „Weil ich auch plötzlich keine Familie mehr hatte.“

„Oh“, machte Liberty. „Was ist passiert?“

„Als meine Familie gestorben ist, hat mich mein Onkel in seiner Familie aufgenommen. Deshalb kenne ich das Gefühl, das man hat, wenn man allein ist und nicht weiß, wohin man gehört.“

„Deine ganze Familie ist gestorben? Wie?“

„Sie wurde ermordet“, sagte Sadie und biss sich auf die Lippen. Jetzt lag das schon so lang zurück und es tat immer noch weh, darüber zu reden.

„Deshalb bist du beim FBI“, murmelte Liberty verstehend.

„Unter anderem, ja.“

„Das ist schlimm.“

„Damals war es das“, gab Sadie zu, während sie den Freeway verließ.

„Das hat man uns gesagt. Dass es hier draußen so sein kann.“

„Kann es wirklich“, gab Sadie offen zu. „Aber es gibt auch viele gute Dinge hier.“

„Ja, bestimmt“, sagte Liberty zuversichtlich und drückte sich fast die Nase an der Scheibe platt, während sie die vom orangen Licht erhellten Straßenzüge in Augenschein nahm.

„Ist das alles sehr fremd für dich?“, fragte Sadie.

„Ich weiß nicht ... ich meine ... von vielen Dingen habe ich gehört. Wir leben zwar sehr abgeschieden, aber manche von uns waren ja schon draußen. Manche von meinen Freunden sind auch schon abgehauen und konnten mir erzählen, wie es draußen ist. Ich sehe, dass sie Recht hatten. Ich hatte nur keine Ahnung, wie sich das wirklich anfühlt.“

„Nein, woher auch.“ Sadie hielt an einer roten Ampel und trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum.

„Ich glaube, hier draußen lebt man freier als Frau“, sagte Liberty.

„Ich weiß gar nicht so viel über die FLDS“, sagte Sadie. „Aber wenn es so ist, wie ich es mir vorstelle, ist es nichts, was ich gutheißen würde.“

„Nein, wie gesagt ... ich sollte meinen Onkel heiraten und wurde gar nicht gefragt. Und er hat schon andere Frauen. Das ist ...“ Liberty schüttelte den Kopf. „Das wurde uns zwar immer so beigebracht, aber ich will das nicht.“

„Glaube ich dir“, sagte Sadie. Die Ampel wurde wieder grün und sie fuhren weiter. Augenblicke später bog Sadie in die Keystone Avenue ab und stellte schließlich fest, dass Amelia und Phil gegangen waren. Das Auto stand nicht mehr vor dem Haus.

Sie stellte den Challenger vor der Garage ab und stieg aus. Liberty folgte ihr nur langsam und betrachtete staunend das Haus.

„Das ist schön“, sagte sie.

Sadie lächelte. „Komm mit.“ Sie ging voran und schloss die Haustür auf. Liberty machte nur kleine, zögerliche Schritte.

„Matt?“, rief Sadie. Sie konnte hören, dass der Fernseher eingeschaltet war, aber die Geräusche verstummten und Augenblicke später stand Matt neben dem Sofa. Sadie schloss die Tür hinter Liberty und lächelte ihr ermutigend zu.

„Das ist Matt“, sagte sie zu ihr und blickte dann zu ihrem Mann. „Matt, das ist Liberty.“

„Willkommen“, sagte Matt und lächelte Liberty zu. „Komm doch rein.“

Liberty lächelte scheu, aber als Sadie vorausging, folgte das Mädchen ihr bis ins Wohnzimmer. Sie waren noch gar nicht ganz angekommen, als Figaro maunzend von hinten herangeschossen kam und Sadie um die Beine strich.

„Na, wen haben wir denn da“, sagte Sadie und schnappte sich den Kater. Als er bequem auf ihrem Arm lag, zeigte sie ihn Liberty.

„Das ist Figaro.“

„Hallo, Figaro“, sagte Liberty und streichelte ihn sanft am Kopf. Der Kater schloss genüsslich die Augen und drückte seinen Kopf gegen ihre Hand.

„Er ist ganz lieb“, sagte Sadie.

„Ist Mittens auch da?“, fragte Liberty.

„Nee, die hat zu tun. Mäusejagd“, sagte Matt augenzwinkernd.

„Danke, dass ich hier sein darf“, richtete Liberty sich an ihn.

„Gern“, erwiderte er. „Möchtest du etwas trinken?“

„Habt ihr Cola?“, fragte Liberty.

„Ja, irgendwo in einem der Schränke“, sagte Matt und ging gleich nachsehen. Liberty lächelte kurz.

„Die gab es bei uns so gut wie nie. Nur, wenn sie jemand heimlich von außen mitgebracht hat.“

„Setzen wir uns doch“, schlug Sadie vor. Sie hatte gerade mit Liberty und dem Kater Platz auf dem Sofa genommen, als Matt mit einem Glas Cola dazukam und sich den beiden schräg gegenüber setzte. Mit großen Augen schaute Liberty sich um, bevor ihr Blick auf Figaro hängenblieb. Der lag immer noch gemütlich auf Sadies Arm und schnurrte. Liberty griff nach dem Glas und nahm einen Schluck. Das entlockte ihr ein zufriedenes Lächeln.

„Es ist schön hier“, sagte sie leise. „Ich freue mich so, dass ihr nichts dagegen habt, mich hier aufzunehmen.“

„Es ist alles gut“, sagte Sadie und beobachtete, wie Liberty immer noch alles in Augenschein nahm. Schließlich stand sie auf und ging zur gegenüberliegenden Wand, an der Matt und Sadie einige Fotos von sich aufgehängt hatten.

Augenblicke später drehte sie sich zu Matt um. „Du bist auch beim FBI.“

Er nickte. „Sadie hat mich dorthin gebracht.“

„Und was machst du? Arbeitest du mit ihr zusammen?“

„Manchmal. Ich hatte schon mehrere Undercover-Einsätze; solche Dinge.“

Liberty nickte und schaute wieder zu den Fotos. „Las Vegas“, murmelte sie ehrfürchtig.

„Dort haben wir geheiratet“, erzählte Sadie.

„Das ist bei uns eine ganz verrufene Stadt!“

„Kann ich mir vorstellen. Aber so schlimm ist es nicht.“

„Ist das Foto von eurer Hochzeit?“, fragte Liberty, was Sadie bejahte. „Aber du trägst gar kein Hochzeitskleid.“

„Nein, das war eine spontane Idee von mir“, sagte Matt. „Es gibt kleine Heiratskapellen in Las Vegas, wo man eigentlich sofort heiraten kann, wenn man das will.“

Sadie entging nicht, dass er auch gleich die Dinge so erklärte, dass auch Liberty sie verstand. Er ging nicht davon aus, dass sie davon je gehört hatte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739395975
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Dezember)
Schlagworte
Profiler Psychothriller Thriller FLDS Polygamie Razzia Sekte Flucht FBI Missbrauch Krimi Ermittler

Autor

  • Dania Dicken (Autor:in)

Dania Dicken, Jahrgang 1985, schreibt seit der Kindheit. Die in Krefeld lebende Autorin hat in Duisburg Psychologie und Informatik studiert und als Online-Redakteurin gearbeitet. Mit den Grundlagen aus dem Psychologiestudium setzte sie ein langgehegtes Vorhaben in die Tat um und schreibt seitdem Psychothriller mit Profiling als zentralem Thema. 2014 hat sie ihre ersten Psychothriller und Fantasyromane im Selfpublishing veröffentlicht; ab Herbst 2016 erscheint die Profiler-Reihe bei Bastei Lübbe.
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Titel: Die Seele des Bösen - Flucht in die Freiheit