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Die Seele des Bösen - Nachts kommt der Tod

Sadie Scott 13

von Dania Dicken (Autor:in)
330 Seiten
Reihe: Sadie Scott, Band 13

Zusammenfassung

Ein Amtshilfegesuch vom LAPD erreicht FBI-Profilerin Sadie: Eine junge Frau wurde brutal in ihrer Wohnung ermordet und ihr Sohn hat den Täter gesehen – aber er ist zu traumatisiert, um der Polizei zu helfen. Als Sadie sich der Sache annimmt, erkennt sie schnell, dass der Killer sich den berühmten BTK-Killer zum Vorbild genommen hat. Sie findet heraus, dass das nicht seine erste Tat war und weiß, dass es auch nicht die letzte sein wird. Während ihr Familienleben dabei ist, sich komplett auf den Kopf zu stellen, ermittelt sie mit LAPD-Detective Nathan Morris gegen den arroganten Killer. Er nimmt immer wieder Briefkontakt mit den Ermittlern auf und lässt sie wissen, dass er gar nicht daran denkt, das Morden sein zu lassen – und die Ermittler haben keine Spur …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

Dania Dicken

 

Die Seele des Bösen

Nachts kommt der Tod

 

Sadie Scott 13

 

Psychothriller

 

 

 

Hass ist die Rache des Feiglings dafür, dass er eingeschüchtert ist.

George Bernard Shaw

 

 

 

 

Für Eliana

 

 

Freitag, 27. Januar

 

Allein der Anblick des Schulgebäudes machte ihn nervös. 

Dabei ging es ja gar nicht um dieses spezielle Schulgebäude. Er hasste die Schule an sich. Das Eingepferchtsein über Stunden mit anderen Kindern. Das hatte er immer verabscheut. Verstohlene Blick auf dem Schulhof. Gekicher. Getuschel. 

All das kam wieder in ihm hoch, als er auf die Basketballkörbe und die Sitzbänke auf dem Schulhof der Junior High blickte. Im Augenblick war der Hof zwar noch verlassen, aber das würde sich bald ändern, wie er wusste. Nur noch Minuten, bis der Schultag zu Ende war. Und dann ...

Es war eine gute Idee, davon war er überzeugt. Sein Erscheinungsbild würde einen immensen Vorteil darstellen, auch das stand fest. Eigentlich konnte überhaupt nichts schiefgehen. 

Jetzt brauchte er nur noch jemanden für die Durchführung seines schönen Plans.

Es dauerte tatsächlich nicht mehr lang, bis eine melodische Tonabfolge das Ende des Schultages einläutete. Der letzte Ton des Gongs war noch nicht verklungen, als die ersten Schüler unter lautem Geschrei aus dem Gebäude strömten und sich auf den Weg zu den gelben Schulbussen machten, die überall vor der Schule parkten. 

Auf diese Kids achtete er jedoch nicht. Er brauchte eins, das seinen Schulweg allein bestritt. Ein Mädchen im richtigen Alter. Das alles wollte sorgfältig geklärt sein, bevor es losging. Das Alter musste stimmen und auch ihr Aussehen. Das alles war von immenser Bedeutung.

Er beobachtete Grüppchen von Kindern, die das Schulgelände verließen und die unterschiedlichsten Ziele hatten. Manche fuhren mit ihren Fahrrädern davon. Minuten später ebbte das bunte Treiben ab und es kamen nur noch vereinzelt Kinder aus der Schule. Er hoffte, dass diesmal die Richtige dabei sein würde. Ein junges, unschuldiges Mädchen, das die Pubertät noch nicht erreicht hatte. Mit dunklen Haaren ...

Aufmerksam betrachtete er die Kids. Sein Puls beschleunigte sich, als er ein Mädchen mit langen braunen Haaren sah, zwölf oder dreizehn Jahre alt. Das war perfekt. Vielleicht fand er mehr über sie heraus.

Als er sah, dass sie den Heimweg zu Fuß fortsetzte, stieg er schnell aus seinem Wagen und folgte ihr. Auf diesem Weg bemerkte sie ihn hoffentlich nicht. Im Auto konnte er sie schlecht verfolgen.

Arglos lief sie vor ihm her und wirkte dabei so unschuldig. Ihre Haare wehten im Wind. Zwar sah er sie fast nur von hinten, aber er wusste schon jetzt, dass sie perfekt war. Sie war jung. Sie war hübsch. Wie wunderschön würde sie sein, wenn sie starb?

Der Gedanke beruhigte ihn. Sie würde nie eine dieser Gören werden, die jemanden wie ihn ausgrenzten und verspotteten. Dazu würde es nicht mehr kommen. Stattdessen würde sie einem höheren Zweck dienen. Daran konnte er nichts Verwerfliches finden.

Sie hatte einen leicht wiegenden Gang. Ihr Körper war eher noch kindlich denn weiblich, aber das gefiel ihm. Sie war mit Sicherheit noch Jungfrau. Das war wirklich grandios ... vor ihrem Tod würde sie nur ihm gehören. Er wusste ja bereits, was er mit ihr tun wollte.

Tatsächlich hatte sie keinen weiten Weg. Einige Blocks weiter bog sie in eine ruhige Straße ab. Moderne Häuser, Doppelgaragen. Hier wohnten keine armen Leute. Die Eltern dieses Mädchens waren mit Sicherheit wohlhabender als seine es je gewesen waren.

Das machte sie nur noch reizvoller. Ja, je länger er sie betrachtete, desto sicherer wurde er in seiner Wahl.

Schließlich hatte sie ihr Elternhaus erreicht. Sie schloss die Haustür auf und wurde von einem kleinen Hund begrüßt. Dann fiel die Tür ins Schloss.

Während er weiter ging, prägte er sich die Hausnummer und die gesamte Fassade ein. Vor der Tür stand ein Familienvan.

Der Gedanke daran, was er dieser Familie antun würde, ließ ihn seltsam kalt. Er würde Leben nehmen, Leben zerstören.

Er würde sich dieses Mädchen, dessen Namen er noch nicht wusste, schnappen und sie verschleppen. Er würde ihr weh tun. Sie würde weinen und schreien und ihn anflehen, ihr nichts zu tun. Das stellte er sich schon jetzt unwiderstehlich vor.

Natürlich würde er es trotzdem tun. Er würde sie schlagen, sie fesseln, ihr die Kleidung vom Leib reißen und über sie herfallen. Er würde sich Zeit lassen. Ja, damit würde er seine Mordserie beginnen.

Und er konnte es kaum erwarten.

 

 

Samstag, 18. März

 

„Wisst ihr denn schon, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird?“

Sadie schüttelte den Kopf. „Nein, noch nicht. Es ist uns aber auch ganz egal.“

„Das stimmt - Hauptsache gesund“, stellte die Nachbarin fest, die nun ganz in ihrem Element war. Während Matt in der Auffahrt sein Auto polierte und Sadie das schöne Wetter am Samstagvormittag für ein paar Gartenarbeiten nutzen wollte, hatte die Nachbarin sich angeschlichen und Sadie im Handumdrehen in ein Gespräch verwickelt. Bei der Frage, was es Neues gab, hatte Sadie auch etwas zu berichten gehabt, was die Nachbarin sichtlich mit Aufregung erfüllte.

„Hach, ist das schön, dann ist bald noch mehr Leben bei euch im Haus“, sagte sie. „Ich muss zugeben, ich habe mich ja immer gefragt, ob und wann ihr loslegen wollt, aber danach zu fragen finde ich ja unmöglich. Das gehört sich nicht.“

„Das weiß ich zu schätzen“, sagte Sadie und meinte es so. Die Familienplanung anderer ging ja schließlich niemanden etwas an.

„Wie geht Libby damit um?“

„Sie freut sich mit uns “, sagte Sadie. „Zwischen den Kindern wird es keine Konkurrenz geben. Ich glaube, Libby sieht sich da eher als große Schwester.“

„Das ist doch schön.“

Sadie wollte noch etwas ergänzen, als sie vom Klingeln ihres Handys unterbrochen wurde. Als sie Nathans Namen auf dem Display entdeckte, entschuldigte sie sich. „Da muss ich rangehen.“

„Kein Problem, bis später!“ Schon war ihre Nachbarin wieder verschwunden.

„Hey, Nathan“, meldete Sadie sich am Handy. „Schön, von dir zu hören!“

„Du weißt noch nicht, weshalb ich anrufe“, entgegnete er amüsiert.

„Du wirst es mir bestimmt gleich sagen.“

„Klar, aber zuerst muss ich wissen, wie es dir geht. Alles in Ordnung?“

„Alles bestens. Jetzt, da ich wieder frühstücken kann, ohne dass gleich alles wieder hochkommt ...“ Sie verdrehte noch nachträglich die Augen.

„Ihr Frauen seid wirklich nicht zu beneiden. Bei Matt auch alles in Ordnung?“

„Ja“, sagte Sadie, ohne sich über die Frage zu wundern. Sie und Matt hatten Nathan vor einigen Wochen zum Essen eingeladen und ihn auf den neuesten Stand gebracht. Er wusste von Sadies Schwangerschaft und Matt hatte ihm schließlich selbst erzählt, welche Schwierigkeiten er gehabt hatte. Nathan hatte auch Libby kennengelernt und war somit über alles im Bilde.

„Schön zu hören“, sagte Nathan. „Kommen wir zum unangenehmen Teil: Ich brauche deine Hilfe.“

Sadie grinste wenig überrascht. „Worum geht es?“

„Ich komme gerade von einem sehr unschönen Tatort. Heute Nacht wurde eine junge Frau in ihrem Bett erstickt. Sie war gefesselt und hatte eine Plastiktüte über dem Kopf.“

„Ein Sexualmord?“, fragte Sadie.

„Wissen wir noch nicht sicher, aber der Coroner meinte, es gäbe keine Hinweise auf eine Vergewaltigung.“

„Nicht? Interessant.“

„Fand ich auch. Aber das Interessanteste an dem Fall ist, dass wir einen Zeugen haben.“

„Ach was“, sagte Sadie.

„Der Sohn des Opfers. Er ist kein direkter Tatzeuge, aber der Täter hat ihn im Bad eingesperrt und ich hoffe, dass er uns etwas über den Täter verraten kann.“

„Hast du ihn gefragt?“

„Genau das ist das Problem“, sagte Nathan. „Der Kleine ist völlig traumatisiert. Acht Jahre alt und augenscheinlich unverletzt, aber er steht unter Schock. Wir wurden gerufen, weil er die halbe Nacht lang durchgeschrien hat und die Nachbarn sich gewundert haben. Wir haben ihn dann im Bad und seine tote Mutter auf dem Bett gefunden.“

„Und jetzt weißt du gar nicht, was das Kind alles gesehen hat.“

„Nein, keine Ahnung. Er sitzt hier bei uns und eine meiner Kolleginnen kümmert sich um ihn, aber er hat bis jetzt noch kein Wort gesagt. Wir brauchen jemanden mit psychologischen Kenntnissen. Ich weiß, es ist Wochenende ...“

„Bin schon unterwegs“, fiel Sadie ihm grinsend ins Wort.

„Du bist ein Engel“, sagte Nathan. „Bis gleich.“

Sadie legte auf und blickte nachdenklich ins Nichts. Nathans Schilderung erinnerte sie an etwas.

„Was ist los?“, fragte Matt, der mit einem Blick in den Flur feststellte, dass Sadie immer noch dort stand.

 „Das war Nathan. Heute Nacht wurde eine Frau ermordet und ihr Kind hat den Täter möglicherweise gesehen.“

„Oh ... armes Kind.“

„Mich erinnert Nathans Schilderung an etwas", murmelte sie.

„Wieso?“

„Die Frau wurde gefesselt, erstickt und das Kind ins Bad gesperrt.“ Sadie rieb sich mit den Fingern über die Schläfen, dann plötzlich zeichnete sich Erkenntnis in ihrem Gesicht ab. „Der BTK-Killer.“

„Oh“, machte Matt.

„Ich muss an den Computer.“

Matt nickte bloß und sagte nichts weiter. So etwas kannte er ja schon von seiner Frau. Sadie lief nach oben ins Büro und fuhr ihren Rechner hoch, wo sie auch einen Zugang zu VICAP hatte. Als alles bereit war, öffnete Sadie die Datenbank und gab den Namen Dennis Lynn Rader ein. Sie erinnerte sich nicht auf Anhieb an den Namen des Opfers, aber wenn sie an ins Bad gesperrte Kinder dachte, zog ihre Erinnerung automatisch die Verbindung zum BTK-Killer. Der Datenbankeintrag zu Dennis Rader wurde geöffnet und Sadie scrollte durch die Auflistung von Raders Opfern. Sie war noch nicht weit gekommen, als sie innehielt.

1977 war Shirley Vian Relford ermordet aufgefunden worden. Ihre drei Kinder hatten die Polizei alarmiert, nachdem sie sich aus dem Bad befreit hatten, in dem Rader sie eingesperrt hatte. Der Killer hatte Shirley gefesselt und mit einer Plastiktüte erstickt.

Weil sie Nathan versprochen hatte, bald da zu sein und weil sie sich außerdem nicht verrennen wollte, schloss sie VICAP wieder und ging nach unten.

„Ist es in Ordnung, wenn ich zu Nathan ins Büro fahre?“, fragte sie Matt.

Er nickte bloß. „Sicher. Mach dir deshalb keine Gedanken. Fahr ruhig mit meinem Auto.“

Sadie lächelte und gab ihm einen Kuss, bevor sie in den Flur lief und sich den Schlüssel vom Challenger schnappte. Sie fuhr über die Interstate 10 ins Zentrum von Los Angeles, was sie aber bald bereute, denn kurz vor dem Ziel geriet sie in einen Stau. Nur langsam rollte die Blechlawine auf ihre Ausfahrt zu, so dass sie schließlich ein Stück des Standstreifens benutzte, um schneller zu sein.

Sie war schon länger nicht in Downtown gewesen und wusste angesichts des hektischen Verkehrs auch gleich, warum sie es überhaupt nicht vermisst hatte. Beim Erreichen des Polizeigebäudes zeigte sie am Parkhaus nur kurz ihren Ausweis und wurde sofort eingelassen. Manchmal vereinfachte es Dinge wirklich, wenn man beim FBI war.

Keine halbe Stunde nach Nathans Anruf war sie auf dem Weg in sein Büro. Sie fand ihn an seinem Schreibtisch, wo er gerade mit seinem Partner Roy in eine Diskussion vertieft war, aber sofort aufschaute, als er sie bemerkte.

„Da bist du ja schon“, sagte er hocherfreut und begrüßte Sadie mit einer halben Umarmung. Sadie schüttelte Roy zur Begrüßung die Hand.

„Gut, dass du hier bist“, sagte Roy. „Bei diesem Tatort mussten wir heute Morgen gleich beide an dich denken.“

„Jetzt bin ich gespannt“, murmelte Sadie.

„Es ist nicht schön“, verriet Nathan vorab und wandte sich seinem Rechner zu. Sadie beobachtete, wie er einen Ordner mit Fotos öffnete, die er ihr nacheinander zeigte.

Es war in einer völlig normalen, durchschnittlichen Wohnung passiert. Sadie erkannte einen verwohnten Teppich und Möbel älteren Datums. Kinderspielzeug lag herum. Schon eins der ersten Fotos zeigte den Leichnam einer Frau auf dem Bett im Schlafzimmer. Sadie stützte sich auf Nathans Schreibtisch und betrachtete die Fotos konzentriert, wechselte über die Tastatur zwischen ihnen hin und her.

Die Tote war nackt, was Sadie wieder zu der Frage zurückführte, ob es ein sexuelles Motiv gab. Der Täter hatte Angela an Händen und Füßen mit Stricken und zusätzlich mit schmalem schwarzem Klebeband gefesselt. Über dem Kopf trug sie eine ebenfalls verschnürte Plastiktüte.

Auf einem der späteren Fotos war die Tüte entfernt worden und Sadie erkannte sowohl Würgemale als auch die charakteristischen Einblutungen in den Augen der Frau. Sie schluckte kurz, als sie das sah, denn das kannte sie schließlich aus eigener Erfahrung – wenn auch nicht ganz so schlimm. Aber gerade erst vor einer Woche hatte sich ihre Entführung durch Sean zum zweiten Mal gejährt.

Entschlossen schob sie den Gedanken beiseite und konzentrierte sich wieder auf die Fotos. Die tote Frau hatte die Hände auf dem Rücken gefesselt, ihr Gesicht war furchtbar verzerrt. Die Tüte war innen beschlagen und feucht. Die Fotos zeigten aber auch Aufnahmen ihres Unterleibs, die tatsächlich keinerlei Hinweise auf sexuelle Übergriffe lieferten – zumindest keine offensichtlichen wie Blutergüsse.

Plötzlich wechselte die Szene und Sadie sah Aufnahmen aus dem Bad. Auf dem Boden lagen eine Decke und Spielzeug, außen am Türgriff baumelte noch ein Strick herab, mit dem die Tür von außen verschlossen worden war. Hier hatte der Killer also das Kind eingesperrt.

„Die Tote ist Angela Radford, zweiunddreißig“, erklärte Nathan schließlich. „Ihr Sohn Martin ist acht und sitzt drüben mit einer Kollegin. Ich glaube, er hat immer noch kein Wort gesagt.“

„Er war da mittendrin, Nathan“, sagte Sadie und deutete auf den Bildschirm. „Wir wissen nicht, wieviel er mitbekommen hat. Was der Täter zu ihm gesagt hat. Er wird vermutlich kein direkter Zeuge des Mordes sein, aber das ist sicherlich auch besser für ihn.“

„Er muss mir auch nichts über die Tat erzählen, sondern nur über den Täter“, knurrte Nathan.

„Das kriegen wir hin. Lass es mich mal versuchen.“

„Natürlich, deshalb habe ich dich ja angerufen. In der Hauptsache wegen des Kindes ... und weil sich das Szenario für mich wie ein Profiler-Fall anfühlt.“

„Wenn du wüsstest“, sagte Sadie augenzwinkernd.

„Was soll das nun wieder heißen?“, fragte der Polizist stirnrunzelnd.

„Bevor ich gekommen bin, habe ich mir einen ähnlichen Fall in der Datenbank angesehen.“

„Ist nicht dein Ernst.“

„Und ob es das ist”, sagte Sadie. „Aber lass mich erst mal mit diesem Fall vertraut werden. Vielleicht ist das alles nur Zufall.“

„Natürlich“, sagte Nathan. „Ich bringe dich zu dem Jungen.“

Sadie folgte ihm in einen der nahen Besprechungsräume, wo eine junge Streifenpolizistin mit einem Teddy vor einem kleinen Jungen saß. Apathisch starrte er an ihr vorbei und blickte nicht einmal auf, als Sadie und Nathan erschienen.

„Danke, Annie“, sagte Nathan und nickte der Kollegin zu, die verstand und den Raum verließ. Den Teddy ließ sie dort. Martin saß in einer Ecke des Raumes auf dem Boden und rührte sich nicht. Nathan hielt sich im Hintergrund, während Sadie den Teddy nahm und sich in achtsamem Abstand zu Martin im Schneidersitz auf den Boden setzte.

„Ich bin Sadie“, stellte sie sich vor. „Mein Kollege von der Polizei hat mir gesagt, dass du Martin heißt. Hier bei uns bist du in Sicherheit. Du musst jetzt keine Angst mehr haben, aber ich verstehe, dass du noch an die Dinge denken musst, die heute Nacht passiert sind.“

Sie machte eine Pause und wartete auf eine Reaktion, die jedoch nicht kam.

„Du hattest wahrscheinlich große Angst, nicht wahr? Ich weiß, dass dich ein Fremder im Bad eingesperrt hat. Und du wusstest ja, dass er nichts Gutes im Schilde führen kann. Jetzt fragst du dich, ob das alles wirklich passiert ist und ob du nicht irgendetwas hättest tun können, aber das konntest du nicht. Du bist noch ein Kind, Martin.“

Der Junge reagierte immer noch nicht. Sadie setzte den Teddy ein Stück vor sich ab und rutschte auf Martin zu.

„Ich bin beim FBI und es ist mein Job, solche Verbrecher zu suchen. Ich habe bisher jeden gefunden, den ich gesucht habe und jetzt will ich den Mann finden, der bei dir und deiner Mum eingebrochen ist. Du kannst mir dabei helfen, Martin. Zumindest das kannst du jetzt tun. Willst du mir helfen?“

Plötzlich sah er sie doch an. Sein Blick war leer und verzweifelt zugleich, in seinen Augen glitzerten Tränen.

„Du musst müde sein. Hast du Hunger? Durst?“, fragte Sadie weiter, doch es kam keine weitere Reaktion. Dennoch entging ihr nicht, wie aufmerksam der Junge sie musterte. Sie griff in ihre Tasche und zog ihren Ausweis heraus.

„Da kannst du sehen, wer ich bin“, sagte sie und hielt Martin die Karte vors Gesicht. Er bewegte sich nicht, aber er betrachtete ihren Ausweis genau.

„Ich bin ein bisschen jünger als deine Mum und zum FBI gegangen, um Verbrecher zu stoppen und zur Rechenschaft zu ziehen. Das ist eine gute Sache. Ich habe auch schon so etwas gesehen wie das, was heute Nacht bei euch passiert ist.“ Für einen Moment zögerte sie, aber dann beschloss sie, sich doch weit aus dem Fenster zu lehnen. „Ich verspreche dir, ich finde den Mann, der das getan hat. Hilfst du mir?“

Martin starrte sie immer noch an.

 

Irgendwann hatte Sadie sich doch einen Blick auf ihre Armbanduhr erlaubt und festgestellt, dass sie nun schon seit anderthalb Stunden auf den Jungen einredete. Es war nicht, dass er katatonisch war – er war interessiert, er musterte sie, aber er sprach nicht mit ihr. Irgendwann hatte Sadie ihn dazu gebracht, den Teddy und eine kleine Flasche mit Schokomilch zu nehmen. Darin steckte ein Strohhalm, an dem er immer wieder trank. Nathan saß hinter ihr auf einem Stuhl und beobachtete das Geschehen die ganze Zeit. Sadie wusste, dass auch eine Kamera lief, aber das störte sie nicht und Martin achtete gar nicht darauf.

Sie hatte dem Jungen viel von sich erzählt, damit er Vertrauen fasste. Sie sprach von ihren Katzen, beschrieb ihr Haus und erzählte, dass sie verheiratet war. Auch von Libby erzählte sie und sah, dass er sich allmählich immer mehr entspannte. Sie konnte sich nur allzu gut vorstellen, wie ihm zumute sein musste. Er wusste ja, dass seine Mutter tot war – ermordet von einem Fremden. Vielleicht hatte er gehört, wie sie starb.

Jedenfalls musste jetzt alles surreal für ihn sein. Wie das war, wusste sie selbst, aber sie hatte nicht die Absicht, ihre eigene Geschichte anzubringen. Das war nicht nötig, Martin hörte ihr auch so zu. Es war nur eine Frage der Zeit, wann er antworten würde. Dass er überhaupt mit ihr interagierte, war ein Fortschritt. Aber sie gab ihm die nötige Zeit.

„Wir kümmern uns darum, dass du ein neues Zuhause findest“, sagte Sadie. „Hast du vielleicht Verwandte, bei denen du leben könntest? Jemand, der sich um dich kümmern kann? Oder dein Vater?“

Martin vergrub seine kleinen Finger in dem Teddybär. Eine Träne löste sich aus seinem Auge.

„Es ist okay. Du kannst mir alles sagen. Du musst nicht ... aber du kannst. Ich bin für dich da und höre dir zu. Wir können nicht ungeschehen machen, was passiert ist, aber ich kann dafür sorgen, dass der Mann nicht davonkommt. Wenn du mir sagst, wie er ausgesehen hat ...“

Martin atmete schwer. In ihm arbeitete es. Sadie wusste, es konnte nicht mehr lang dauern.

„Egal, was er dir gesagt hat: Dir kann nichts passieren. Wenn er dir gesagt hat, dass du ihn nicht verraten sollst – natürlich will er das nicht. Er hofft, dass du ihn nicht verrätst. Aber er kann dich nicht finden und dir etwas tun. Wir sind dafür da, um das zu verhindern, und das werden wir auch. Du bist sicher bei uns.“

Immer noch schaute Martin sie an und rang mit sich. Sadie wusste, in ihm arbeitete keine absichtliche oder bewusste Blockade. Er wollte reden, aber er konnte noch nicht. Deshalb versuchte sie, ihn von den traumatischen Bildern in seinem Kopf abzulenken, ihm die Furcht zu nehmen und dafür zu sorgen, dass er Vertrauen zu ihr fasste.

„Hast du immer noch keinen Hunger?“, fragte sie weiter. „Hier gibt es ganz tolle Sandwiches. Möchtest du eins?“

Martin sah ihr direkt in die Augen, dann nickte er. Sofort stand Nathan auf und Sadie fragte: „Was magst du am liebsten? Käse? Salami?“

„Salami“, sagte Martin leise.

„Bin schon unterwegs“, sagte Nathan und verließ den Raum. Sadie lächelte Martin an und nickte zufrieden.

„Das machst du super. Du bist sehr mutig. Kann ich sonst noch etwas für dich tun?“

Langsam schüttelte der Junge den Kopf. Augenblicke später kehrte Nathan schon mit einem Salamisandwich zurück. Er gab es Sadie, die es Martin weiterreichte. Der Junge holte es selbst aus der Packung und begann zu essen. Sadie tauschte einen kurzen, zufriedenen Blick mit Nathan. Das ging doch einigermaßen voran. Allerdings war Sadie auch sicher, dass ein Polizist ohne ihre Ausbildung sich an dem Jungen völlig die Zähne ausgebissen hätte. Traumatisierte Verbrechensopfer waren an sich schon ein Problem, aber Kinder?

Sadie wartete, bis Martin fertig war und fragte dann: „War das gut?“

Der Junge nickte. „Danke.“

„Brauchst du sonst noch etwas?“

„Meine Mum“, sagte Martin ohne nachzudenken.

Sadie seufzte tief. „Ich wünschte, ich könnte dir diesen Wunsch erfüllen.“

„Warum hat der Mann sie umgebracht?“ In Martins Frage lag ein unendlicher Schmerz.

„Das weiß ich noch nicht. Hat er dir etwas gesagt?“

Martin schüttelte den Kopf. „Er hat nur gesagt, dass ich brav und still sein soll, wenn ich nicht will, dass etwas Schlimmes passiert ... und ich war brav. Aber ...“

„Er hat dich angelogen“, sagte Sadie verstehend.

Der Junge nickte. Erneut kamen ihm die Tränen. „Meine Mum ... ich habe sie gehört. Als hätte sie geschrien. Und dann war es still.“

„Das hat dir bestimmt Angst gemacht.“

Ein heftiges Schluchzen war die Antwort. „Ich wollte nach ihr rufen, ich wollte wissen, ob es ihr gut geht ... aber ich habe mich nicht getraut. Ich hatte so Angst.“

„Du warst wirklich tapfer. Bist du jetzt auch“, sagte Sadie ermutigend.

„Aber meine Mum ... sie kommt nie wieder, oder?“

Langsam schüttelte Sadie den Kopf. „Nein.“

Schluchzend beugte Martin sich über den Teddy. „Mum ...“

„Es tut mir so leid“, sagte Sadie.

„Irgendwann stand der Mann dann wieder vor der Tür. Ich konnte ihn verstehen. Er hat mir gesagt, dass ich still sein soll und niemandem etwas über ihn sagen darf, weil er sonst zurückkommt und mir weh tut. Aber du hast gesagt ...“

Sadie nickte sofort. „Das kann er nicht tun, Martin. Wir passen auf dich auf, versprochen.“

„Ich hab dann gewartet, bis ich sicher war, dass er weg ist, und dann habe ich ganz viel Lärm gemacht. Ich habe nach meiner Mum gerufen und gegen die Tür getreten und alles versucht ...“

„Das hast du gut gemacht.“

„Aber meine Mum ist trotzdem nicht mehr da!“, rief der Junge unter Tränen.

„Es tut mir so leid, Martin. So wahnsinnig leid“, sagte Sadie ehrlich. „Kannst du mir sagen, wie es angefangen hat?“

Er nickte heftig. „Ich sollte eigentlich gerade ins Bett gehen, als jemand an der Tür geklopft hat. Meine Mum hat nachgesehen, wer es ist und dann hat sie auch die Tür geöffnet. Es war ein Polizist. Zumindest hat er das gesagt, er hatte auch so eine Marke in der Hand wie du.“

Sadie nickte. Das war ein populärer Trick unter solchen Tätern: Sie gaukelten vor, eine vertrauenswürdige, offizielle Person zu sein. Und es war nicht schwierig, denn Polizeimarken bekam man auch in Spielzeug- oder Kostümläden. Von weitem konnten die täuschend echt aussehen.

„Trug er denn eine Uniform?“, fragte Sadie.

Martin schüttelte den Kopf. „Eine Jeans und eine Lederjacke. Mum hat ihn reingelassen und er sagte, er würde in der Nachbarschaft nach einem Einbrecher Ausschau halten. Er wollte sich ansehen, ob unsere Fenster gesichert sind. Mum hat sich nichts dabei gedacht und ich habe ihm auch geglaubt.“ Der Junge klang traurig, als er das sagte.

„Was hat er dann gemacht?“, fragte Sadie.

„Er ist herumgegangen und Mum ist ihm gefolgt. Das war erst überhaupt nicht seltsam. Aber dann ...“ Martin begann wieder zu weinen. „Er hatte dann plötzlich eine Pistole. Ich weiß nicht, woher. Er hat Mum damit bedroht und gesagt, sie soll sich nicht bewegen. Ich hab dann geschrien, deshalb hat er mich angebrüllt. Er meinte, ich soll still sein und ins Bad gehen, wenn ich nicht will, dass Mum etwas passiert. Mum sagte, ich soll es machen. Ich wollte nicht, aber ich habe es dann gemacht. Ihr sollte ja nichts passieren. Ich bin ins Bad gegangen und er hat die Tür von außen irgendwie verriegelt. Ich hab versucht rauszukommen, aber das ging nicht. Ich konnte die Tür nicht öffnen. Ich habe dann ihre Stimmen gehört und dass Mum geweint hat. Geschrien hat sie nicht.“

Als Martin eine Pause machte, murmelte Sadie: „Bestimmt hat er sie bedroht.“

„Ja ... Er hat dann die Tür nochmal aufgemacht und mir die Sachen ins Bad gelegt. Ich wollte raus und an ihm vorbei zu Mum. Sie saß am Tisch. Ich glaube, er hatte ihre Hände zusammengebunden. Sie hat geweint und als sie mich gesehen hat, sagte sie, ich soll ganz brav sein und bleiben, wo ich bin. Ich wusste nicht, was ich machen soll, aber dann hat er mich wieder eingeschlossen. Ich hab an der Tür gesessen und versucht, etwas zu verstehen.“

„Konntest du?“

Martin schüttelte den Kopf. „Sie haben geredet. Mum hat geweint ... ich weiß nicht, was er ihr gesagt hat. Das ging ein bisschen so. Irgendwann sind sie dann weggegangen, ich glaube in Mums Zimmer. Und dann ...“ Erneut begann der Junge, heftig zu weinen. Sadie legte ihre Hand auf seine Schulter und versuchte, ihn zu beruhigen.

„Schon gut“, sagte sie. „Ich verstehe dich.“

„Ich hatte solche Angst, dass er ihr weh tut. Und dann irgendwann stand er wieder vor der Tür und sagte mir, er würde jetzt gehen und ich müsste weiterhin still sein. Er hat mir verboten, jemandem etwas zu sagen. Dann war er weg. Da wollte ich Hilfe holen.“

„Das hast du gut gemacht, Martin. Das war genau richtig. Jemand musste dir doch helfen.“

„Ich hab auch immer nach Mum gerufen, aber da kam nie eine Antwort ...“

Als der Junge immer heftiger zu weinen begann, setzte Sadie sich neben ihn und legte einen Arm um seine schmalen Schultern. Mit Nathan tauschte sie einen ernsten Blick. Er nickte ihr zu und lächelte sanft, um sie zu bestärken.

Irgendwie ging ihr das in diesem Moment sehr nah. Das hatte sie so noch nie empfunden. Das verzweifelt weinende Kind traf sie mitten ins Herz. Sie schluckte hart und kämpfte schließlich selbst mit den Tränen, aber Nathan warf ihr weiterhin einen ermutigenden Blick zu.

„Martin, könntest du den Mann beschreiben?“, fragte Sadie dann.

„Ja ... kommt dann jemand, um ihn zu zeichnen?“, fragte der Junge.

Sie antwortete mit einem Nicken. „Genau. Wir haben hier einen Phantombildexperten, dem du beschreiben kannst, wie der Mann ausgesehen hat. Wir können aber auch Fotos ansehen.“

„Ich muss das machen“, sagte Martin entschlossen und schniefte. „Der hat meiner Mum weh getan.“

„Wir werden ihn finden, Martin. Du machst das ganz toll.“

„Welche Haarfarbe hatte der Mann?“, fragte Nathan von hinten.

„Er hatte so dunkle Haare. Dunkelbraun“, sagte Martin. „Er hatte sie ungefähr so geschnitten wie Charlie Sheen.“

Sadie lächelte. „Das ist doch eine gute Beschreibung.“

Martin schloss die Augen und tastete nach Sadies Hand. „Er war ziemlich groß. Größer als meine Mum, einen halben Kopf. Sonst sah er ganz normal aus, nicht besonders dick oder dünn. Er hatte Turnschuhe an, die mit dem Nike-Zeichen. Sie waren weiß. Die Jeans war dunkel und was er unter der Lederjacke hatte, weiß ich nicht. Aber er hatte ganz dunkle Augen.“

„Ein Weißer?“, fragte Nathan.

Martin nickte. „Eigentlich ein ganz normaler Mann.“

„Willst du Bilder ansehen?“

Der Junge war einverstanden, deshalb brachten sie ihn zu Nathans Rechner. Er setzte sich davor und Nathan suchte nach Vorbestraften, die den Merkmalen entsprachen, die Martin genannt hatte. Nathan bat den Jungen noch, das Alter des Mannes zu schätzen, aber da tat Martin sich sehr schwer. Schließlich zeigte Nathan ihm exemplarisch einige Bilder, um es einzugrenzen und sie landeten schließlich bei einem Mann Mitte Zwanzig, was auch statistisch gepasst hätte. Dann begannen sie, Fotos durchzugehen.

Martin war tapfer und hielt lange durch, aber irgendwann wurde er müde und es war auch absehbar, dass das keinen Erfolg haben würde. Sadie holte ihm eine Flasche Apfelsaft und einen Schokoriegel und dann brachten sie ihn zu dem Kollegen, der Phantombilder anfertigte. Zusammen mit Nathan blieb sie die ganze Zeit dabei und beide waren gleichermaßen erstaunt von der guten Auffassungsgabe und den Beschreibungskünsten des Jungen. Er konnte gut artikulieren, wie der Mann ausgesehen hatte und half dem Officer tatkräftig, das Phantombild zu komplettieren. Sadie hatte keine Ahnung, ob sie das in seinem Alter so gut gemeistert hätte.

Zwischendurch erschien Roy und winkte Nathan und Sadie zu sich auf den Flur. Die beiden gesellten sich zu ihm und waren gespannt, was er zu berichten hatte.

„Der Vater des Jungen lebt in Tucson, Arizona. Wir konnten ihn bisher nicht erreiche”, sagte Roy. „Ich konnte aber seine Großeltern ausfindig machen – mütterlicherseits gibt es nur noch einen pflegebedürftigen Opa, aber die Großeltern väterlicherseits wohnen in Palm Springs und sind unterwegs. Sie wollen ihn mindestens vorübergehend nehmen.“

„Immerhin“, sagte Nathan zufrieden. „Ich hätte den Kleinen ungern dem Kindernotdienst übergeben.“

„Nein, nicht nötig. Sie sollten bald hier sein. Und wie geht es voran?“

Nathan brachte Roy kurz auf den aktuellen Stand der Dinge und kehrte dann mit Sadie zu Martin zurück. Das Phantombild war so gut wie fertig und vor allem Nathan lobte Martin ehrlich für seine tolle Mithilfe.

„So kann man sich den Mann gut vorstellen“, sagte er. „Das hast du prima gemacht.“

„Bitte finden Sie ihn“, sagte Martin hoffnungsvoll.

„Das schaffen wir schon.” Sadie versuchte, Zuversicht zu verbreiten.  

Der Junge lächelte zu ihr hoch. „Du kannst das bestimmt.“

„Klar.“ Sadie erwiderte sein Lächeln. Wenig später begleitete Martin sie wieder an Nathans Schreibtisch, wo sie gemeinsam auf die Großeltern des Jungen warteten. Sadie versuchte, ihren Hunger zu ignorieren, denn die Mittagspause war längst vorbei und das Frühstück lag erst recht eine Weile zurück. Aber zum Glück dauerte es nicht allzu lang, bis Martins Großeltern eintrafen und Nathan sich ihrer annahm. Natürlich hatten sie zahllose Fragen, die er geduldig zu beantworten versuchte und er bat sie, sich zur Verfügung zu halten. Schließlich nahmen die Großeltern den Jungen in ihre Obhut und verließen das Revier.

Kurzerhand blickte Nathan zu Sadie. „Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich stehe kurz vorm Hungertod.“

„Geht mir nicht anders“, stimmte sie zu.

„Roy?“, rief Nathan quer durchs Großraumbüro zu seinem Kollegen. „Lunch?“

„Immer“, erwiderte Roy und gesellte sich zu den beiden. Nathan schlug vor, ins benachbarte Diner zu gehen, das Sadie schon kannte, und die anderen waren einverstanden. Gemeinsam verließen sie das Polizeigebäude und gingen zum Lieblingsdiner der Polizisten in einer der Nebenstraßen.

„Das lief doch schon mal gut“, sagte Nathan, nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatten. „Ich wusste, dass du das hinkriegst, Sadie. Als der Kleine heute Morgen in aller Herrgottsfrühe vor uns stand, wusste ich, dass ich dich hier brauche. Und nicht nur, um den Jungen zum Reden zu bringen.“

Fragend zog Sadie eine Augenbraue hoch. „Ihr habt doch mit den Ermittlungen noch gar nicht angefangen.“

„Nein, schon klar, aber das hier ist eine große Nummer. Der Täter hat ganz ohne Not einen Zeugen am Leben gelassen. Er hat sich ihm gezeigt, er hat ihn dort gelassen, ihm kein Haar gekrümmt ... warum zum Teufel? Das ist irrational.“

„Auf den ersten Blick schon“, stimmte Sadie zu.

„Es sei denn, er macht das nicht zum ersten Mal und ist jetzt leicht größenwahnsinnig“, sagte Roy.

Sadie nickte sofort. „Das ist es. Er macht das nicht zum ersten Mal und er verfolgt auch ein bestimmtes Ziel.“

„Du sagtest vorhin, das hat dich an einen ähnlichen Fall erinnert“, sagte Nathan. „Ist das immer noch so?“

„Und wie. Genaugenommen hat sich dieser Eindruck noch verstärkt“, sagte Sadie.

„Ach was, und um welchen Fall geht es hier?“, fragte Roy.

„Nagelt mich jetzt bitte nicht drauf fest, ich muss das erst noch im Detail abgleichen ... aber damals bei BTK gab es einen Fall, der diesem hier schon sehr ähnelt.“

„Der BTK-Killer aus Kansas?“ Roy war erstaunt.

Sadie nickte. „Dennis Rader hat 1977 eine Frau in ihrer eigenen Wohnung erstickt und ihre drei Kinder derweil im Bad eingesperrt.“

„Interessant“, fand Nathan. „Das ist eine Parallele, aber wie deutlich findest du sie?“

„Verdammt deutlich“, sagte Sadie. „Ich muss gleich noch mal genauer in VICAP nachlesen, aber das Opfer war auch gefesselt und wurde mit einer Tüte erstickt. Ich bin gespannt auf den Bericht des Gerichtsmediziners ... Raders Spezialität war es, seine Opfer immer wieder bewusstlos zu würgen und erneut zu wecken, bevor er sie letztlich getötet und auf ihre Leichen masturbiert hat. Vielleicht gibt es hier auch solche Spuren.“

„Ist ja krank“, murmelte Roy pikiert.

„Ich bin gespannt auf die Details“, sagte Nathan. „Kennst du noch mehr Parallelen?“

„Ja ... zumindest eine: Rader hat den Kindern auch Decken und Spielzeug ins Bad gelegt. Das war hier bei Martin genauso.“

„Okay, aber was hätte jemand davon, einen berühmten Serienkiller nachzuahmen?“

„Ich kenne jemanden, den ich dazu befragen kann“, sagte Sadie. „Eine britische Profilerin, die tatsächlich schon mal einen solchen Fall hatte.“

„Ach was. Das gibt’s?“

„Ja, scheinbar schon. Beunruhigender finde ich hier den Umstand, dass er wohl schon eine gewisse Erfahrung mitbringt.“

„Allerdings.” Roy nickte zustimmen. „Das macht die Sache nicht einfacher.“

„Vielleicht schon“, sagte Sadie. „Ich bin gern an Bord und erstelle euch ein Profil.“

„Du kannst Gedanken lesen“, sagte Nathan grinsend. Wenig später kam ihr Essen und das Gespräch erlahmte vorübergehend.

„Meinen Glückwunsch übrigens zum baldigen Familienzuwachs“, sagte Roy schließlich.

„Danke, lieb von dir.“ Sadie lächelte.

„Zu sehen ist ja noch nichts.“

„Nein, ich bin erst im vierten Monat. Ende August ist es soweit.“

„Das dauert ja noch etwas. Aber ich sage dir, Kinder sind etwas Wunderbares!“

So wechselte das Gesprächsthema im Handumdrehen, wofür Sadie während des Essens nicht undankbar war. Sie sehnte sich nicht sehr danach, mit den beiden am Tisch die unschönen Details der BTK-Morde zu erörtern. Die wollte sie sich zudem selbst an Nathans Computer noch einmal ansehen, bevor sie weiter überlegte., aber irgendetwas an diesem Fall war eigenartig.

Als sie mit dem Essen fertig waren, bezahlte Nathan für sie alle und sie machten sich auf den Rückweg ins Department. Im Büro angekommen, scharten sie sich um seinen Computer, wo er VICAP öffnete und die Maus Sadie überließ. Erneut gab sie den Namen Dennis Rader ein und öffnete die BTK-Fallakte.

Dieser Fall war ziemlich außergewöhnlich. Zwischen Dennis Raders erstem Mord 1974 und seiner Festnahme 2005 lagen drei Jahrzehnte ergebnisloser und frustrierender Polizeiarbeit. Es hatte mit der Ermordung einer ganzen Familie begonnen: Rader hatte Joseph und Julie Otero und zwei ihrer Kinder in Wichita, Kansas umgebracht, zwei Monate später hatte es dort Kathryn Bright getroffen. Er war immer in die Häuser seiner Opfer eingedrungen und hatte sie erstickt oder erstochen. Aber das war ihm nicht genug, er hatte Kontakt mit Polizei und Medien aufgenommen und Briefe geschrieben, in denen er nach der Aufmerksamkeit verlangte, die ihm seiner Meinung nach zustand. Er hatte sich selbst BTK-Killer getauft und als Absender Bill Thomas Killman auf die Briefe geschrieben, hinterher jedoch erklärt, wofür die Abkürzung BTK wirklich stand: bind, torture, kill.

1977 hatte er Shirley Vian Relford und Nancy Fox ermordet, 1985 und 1986 zwei weitere Frauen und das letzte Opfer schließlich 1991. Doch obwohl es Sperma- und andere Spuren gegeben hatte, hatte die Polizei nie Hinweise auf Rader gehabt. Erst, als er 2004 und 2005 wieder Kontakt mit Behörden und Medien aufnahm, fand die Polizei in einem Päckchen die entscheidenden Hinweise auf den Täter. Darin befand sich eine Diskette, deren forensische Auswertung Hinweise auf ihre Herkunft und ihren Urheber verrieten. Auf diese Weise konnte Rader ermittelt und gefasst werden und hatte nach seiner Festnahme auch alle Morde gestanden. Trotzdem würde er das Gefängnis nie wieder verlassen.

Nathan und Roy schauten ihr über die Schulter, während sie zu den Informationen über Shirley Vian Relford scrollte. Sie war ein reines Zufallsopfer gewesen, eigentlich hatte Rader jemand anderen im Visier gehabt. Als das nicht funktioniert hatte und ihm zufällig Shirleys Sohn begegnete, war er dem Jungen gefolgt. Er hatte sich als Privatdetektiv ausgegeben, eine Pistole gezogen und so alle in seine Gewalt gebracht. Sadie las, dass Shirley und Rader die drei Kinder gemeinsam im Bad eingesperrt hatten. Sie hatten den Kindern Decken und Spielzeug hineingelegt und die Badezimmertür mit einem Seil verschlossen – genau wie im Falle des kleinen Martin.

Gebannt lasen Sadie und die beiden Polizisten, wie Rader und Shirley interagiert hatten. Er hatte sie bedroht, sie hatte sich vor lauter Angst übergeben und versucht, sich mit einer Zigarette zu beruhigen. Rader hatte ihr gesagt, er hätte Probleme mit sexuellen Fantasien, die er an ihr ausleben wollte, so dass sie ihn für einen Vergewaltiger gehalten hatte. Sie hatte nie geahnt, dass er eigentlich plante, sie zu töten.

Er hatte sie dann auf dem Bett gefesselt, eine Tüte über ihren Kopf gestülpt und sie immer wieder gewürgt, ihr einen Strick um den Hals gewickelt und sie damit qualvoll erstickt. Allerdings geriet er später in Hektik, da die Kinder im Bad Lärm machten und das Telefon klingelte, weshalb er seine Sachen zusammengesucht hatte und verschwunden war.

Schließlich erschienen auf dem Bildschirm Tatortfotos und Aufnahmen von Shirley Vian Relford. Sadie entging nicht, dass den Polizisten neben ihr der Atem stockte.

„Das sieht ja genauso aus wie bei Angela Radford“, stellte schließlich Nathan fest, der sich zuerst wieder gefasst hatte.

„Haargenau“, murmelte Roy. Auch Shirley Vian lag fast nackt auf dem Bett, war an Händen und Füßen mit schmalem schwarzem Klebeband gefesselt und zusätzlich mit Stricken. Er hatte ihr die Hände auf dem Rücken gefesselt und sie langsam und qualvoll getötet. Auch vom Bad gab es Fotos, die sie ebenso unweigerlich an ihren eigenen Tatort erinnerten.

„Ist ja unfassbar“, entfuhr es Roy. „Wenn man mal außer Acht lässt, dass es hier nur um ein einzelnes Kind ging ... das ist fast gleich.“

„Und Rader ist auch einfach gegangen und hat die Kinder zurückgelassen“, sagte Nathan.

Sadie drehte sich zu den beiden um. „Deshalb musste ich gleich an Rader denken.“

„Kein Wunder“, sagte Nathan. Als Sadie wieder nach oben scrollte, tippte Roy auf den Bildschirm. „Seht euch das Datum an.“

Sadie brauchte nur einen kurzen Blick, um zu sehen, worauf er hinaus wollte: Shirley Vian Relford war am 17. März 1974 ermordet worden. Und jetzt war der 18. März.

„Das gibt es doch nicht“, sagte Nathan kopfschüttelnd. „Selbst das Datum stimmt.“

„Noch irgendwelche Fragen?“ Sadie grinste.

„Sogar der Nachname ist ähnlich!“, stellte Roy ungläubig fest.

„Dieser Täter ahmt BTK nach“, sagte Sadie.

„Ziemlich offensichtlich“, stimmte Nathan zu. „Und jetzt sag uns, warum.“

Diese Bitte entlockte Sadie ein kurzes Lachen. „Nicht so schnell ... Ich werde erst mal in Europa anrufen und mit der Profilerin sprechen müssen, aber um die Zeit geht das kaum noch. Viel interessanter ist jetzt, die Obduktionsergebnisse zu erfahren und herauszufinden, ob weitere Taten auf das Konto dieses Täters gehen. Ich gehe jede Wette ein, dass es so ist.“

„Aber warum ahmt er BTK nach? Müssen wir jetzt sämtliche Todesdaten der BTK-Opfer überprüfen?“, fragte Nathan.

„Vielleicht. Ich denke, er tritt in die Fußstapfen eines berühmten Killers, weil er selbst berühmt sein will. Darüber werde ich mit Andrea Thornton sprechen. Aber wir können mal sehen, ob wir noch weitere Verbindungen finden.“

Nathan und Roy waren einverstanden und so begannen sie, Morde an sämtlichen Todesdaten weiterer Opfer von BTK ausfindig zu machen und abzugleichen. Er hatte immerhin zehn Morde begangen, deren Grausamkeit Sadie das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sie suchten nach ermordeten Familien, nach Frauen, nach allem, was halbwegs ähnlich schien. Allerdings entdeckten sie nichts, was wirklich passte.

„Ich denke weiter darüber nach und werde gleich noch eine Mail nach London schicken, damit ich morgen mit Andrea sprechen kann. Vielleicht hat sie noch gute Tipps für uns. Du hältst mich auf dem Laufenden, Nathan?“

„Mit absoluter Sicherheit“, sagte er. „Danke für deine Hilfe. Es war ja offensichtlich richtig, dich anzurufen.“

Sadie lächelte. „Mit solchen Fällen kenne ich mich nun mal aus.“

 

 

Sonntag, 19. März

 

Nach dem Aufstehen hatte Sadie eine Mail von Andrea Thornton gefunden, in der sie ein Telefonat um elf Uhr vorschlug. Das passte Sadie gut, denn so konnte sie vorher noch in Ruhe frühstücken. Andrea hielt wie immer Wort und pünktlich um elf klingelte das Telefon.

„Hallo, Andrea. Ich hätte fast guten Morgen gesagt!“, begrüßte Sadie sie.

Die britische Profilerin lachte. „Für dich stimmt das. Ich hatte vorhin schon den ganz typischen britischen Nachmittagstee ...“

„Diese Zeitverschiebung macht es uns wirklich nicht gerade leicht! Wie geht es dir?“

„Hier ist alles beim Alten. Ich gewöhne mich an den Gedanken, dass meine Tochter flügge wird und ich unterrichte die Profiler von morgen. Viel interessanter wäre jetzt, wie es dir geht!“

Sadie lächelte ergeben. „Diese Frage höre ich täglich fünf Mal. Mindestens. Bestimmt kennst du das noch!“

„Sicher, du hast völlig Recht. Man ist schwanger und plötzlich steht man im Mittelpunkt.“

„Was nicht immer schön ist. Aber es geht mir sehr gut. Ich könnte mich an diesen Zustand gewöhnen!“

„So ging es mir auch die meiste Zeit. Nur am Ende denkt man, man hätte einen Medizinball verschluckt ... ich hoffe, es wird nicht zu beschwerlich für dich.“

„Danke, das ist lieb. Bislang sieht man ja kaum etwas.“

„Das kann sehr schnell gehen, glaub mir. Matt geht es auch gut?“

Die beiden nahmen sich ein wenig Zeit für Smalltalk, was Sadie immer sehr nett fand. Schließlich sagte Andrea: „Weißt du eigentlich, dass wir uns seit zwei Jahren nicht gesehen haben?“

Sadie nickte. „Daran habe ich auch gerade noch gedacht. Ich muss immer noch nach Europa kommen!“

„Die Einladung steht. Dabei klingt es nicht so, als würde dich noch beschäftigen, was damals passiert ist.“

„Nicht wirklich. Aber du weißt ja, wie das ist. Man rappelt sich auf und blickt nach vorn.“

„Ja, durchaus. Ich wollte jetzt auch nicht die dumme Standardfrage stellen.“

„Nein, ich weiß. Hatte ich nicht so verstanden.“

„Dann ist gut. Aber nun zurück zum Thema: Du hast geschrieben, du wolltest mit mir über Nachahmungstäter sprechen. Was ist da los?“

„Ich habe hier einen Täter, der den BTK-Killer nachzuahmen scheint“, sagte Sadie.

„Auch noch die ganz hohe Prominenz. Hast du ein paar Fakten für mich?“

Sadie hatte alles Wichtige noch im Kopf und konnte Andrea problemlos schildern, was sich zugetragen hatte und welche Parallelen zu BTK ihr aufgefallen waren. Andrea hörte die ganze Zeit aufmerksam zu, bis Sadie geendet hatte.

„Die Parallelen sind nicht von der Hand zu weisen“, sagte die Engländerin dann. „Das ähnelt meinem Nachahmer-Fall sehr. Da hatte ich auch sehr schnell das Gefühl, dass die Tatumstände mich an etwas erinnern. Das war ähnlich wie hier.“

„Meine Frage ist jetzt: Welche Schlüsse hast du daraus für das Profil gezogen? Warum hat der Täter berühmte Vorbilder nachgeahmt?“, überlegte Sadie.

„Joshua und ich hatten angenommen, dass er gehemmt ist. Bei uns ging es ja um einen homosexuellen Täter und wir haben vermutet, dass er seine Neigungen nicht akzeptieren kann. Dass er andere Täter nachahmt, um so ein Ventil für seine Neigungen zu finden und sein Selbstbewusstsein zu stärken. Indirekt hat er uns das später auch bestätigt. Vielleicht passt das ja bei dir auch?“

Sadie atmete tief durch. „Er hat sich also Vorbilder gesucht?“

„Sozusagen. So, als sollte ihm das bei seiner Selbstfindung helfen.“

„Interessant“, fand Sadie. „In eine ähnliche Richtung hatte ich auch schon gedacht. Allerdings habe ich mir auch überlegt, dass das, was wir hier haben, unmöglich der erste Fall sein kann. Dafür war das zu abgebrüht und zu organisiert.“

„Hört sich so an. Hast du denn schon nach anderen Fällen gesucht?“

„Ja, ich habe alles abgesucht, was irgendwie nach BTK aussieht.“

„Ah, verstehe. Bei mir war es damals so, dass der Täter verschiedene Vorbilder nachgeahmt hat. Vielleicht ist das hier auch so?“

Sadie verdrehte die Augen. „Natürlich ... bisher dachte ich, er ahmt speziell BTK nach. Aber wer sagt das?“

„Ganz genau. Bei mir war es so, dass der Täter speziell homosexuelle Täter nachgeahmt hat. Vielleicht habt ihr auch einen Nachahmungstäter, der verschiedene Vorbilder bemüht, die alle eine Gemeinsamkeit haben.“

„Hm ...“ Sadie begann zu überlegen. „BTK war Sadist. Fetischist. Er hat Menschen erwürgt.“

„Stimmt, aber vielleicht ist es das gar nicht. BTK war auch sehr mitteilungsbedürftig. Vielleicht ist euer Täter ja auch so?“

„Bisher hat er sich noch nicht geäußert ... nicht, dass ich wüsste. Aber du bringst mich wirklich auf was. Vielleicht muss ich nach anderen Kriterien suchen!“

„Schön, wenn ich helfen konnte“, sagte Andrea. „Du weißt, wenn etwas ist, kannst du mich immer fragen.“

„Ja, sicher. Danke dafür! Bestimmt finde ich jetzt etwas.“

„Das denke ich auch. Halte mich auf dem Laufenden“, bat Andrea.

„Werde ich machen. Ich bin gespannt, was ich hier rausfinde. Davon muss ich Nathan berichten!“

„Viel Erfolg und viele Grüße an Matt.“

„Danke. Bis dann“, verabschiedete Sadie sich und atmete tief durch. Wie immer half es, sich mit einem Kollegen auszutauschen. Das erweiterte den Horizont und brachte einen auf Ideen, die man allein nie gehabt hätte.

Während sie noch überlegte, ob sie Nathan anrufen oder ihm eine Mail schreiben sollte, fiel ihr die zwar gedämpfte, aber nichtsdestotrotz laute Musik aus Libbys Zimmer auf. Scheinbar hatte ihre Pflegetochter sich gleich nach dem Frühstück dort verkrochen. Im Augenblick war sie etwas schweigsam, was Sadie nicht kalt ließ. Nicht, dass es doch wegen der Schwangerschaft war ...

Sie klopfte an die Tür zu Libbys Zimmer, aber als keine Antwort kam, öffnete sie die Tür einfach und fand das Mädchen bäuchlings auf dem Bett vor ihrem Tagebuch. Als sie zu Sadie aufblickte, entging Sadie der frustrierte Gesichtsausdruck nicht für eine Sekunde.

„Alles in Ordnung?“, fragte sie. Aus der Stereoanlage dröhnte One Republic.

Libby lächelte kurz. „Es gibt nichts, was du tun könntest.“

Sadie drehte die Musik ein wenig leiser und ging hinüber zu Libby, die ihr Tagebuch zuklappte. Langsam setzte Sadie sich zu ihr auf die Bettkante.

„Was ist los?“, fragte sie.

Libby stöhnte und setzte sich in den Schneidersitz. „Ich hätte nicht gedacht, dass es hier draußen so anstrengend sein kann.“

„Oh, das kann es durchaus. Das weiß ich. Als ich so alt war wie du, habe ich mich wie ein Marsmensch auf der Erde gefühlt.“

Libby grinste kurz. „Das ist nicht die schlechteste Beschreibung.“

„Was hast du auf dem Herzen?“

„Ach ... das ist doch bestimmt alles albern.” Libby machte eine wegwerfende Handbewegung.

Sadie schüttelte den Kopf. „Sag sowas nicht. Warum sollte ich deine Sorgen nicht ernst nehmen?“

„Verglichen mit anderen Problemen ist das doch nur Kinderkram.“

„Nein, ach was. Was ist los?“

Libby seufzte. „Der Unterricht ist ja okay. Aber in den Pausen ... dann sind da die anderen Kids. Ich kann mich gar nicht mit denen unterhalten.“

„Warum nicht?“

„Da sind einige, die sich darüber lustig machen, was ich alles nicht kenne. Ich kenne ja keine Filme oder Bands. Ich höre den anderen zwar gern zu, um alles kennenzulernen, aber ich kann gar nichts dazu beisteuern. Und wenn sie über das Internet reden, ist es ganz vorbei.“

„Aber du hast doch deinen Computer hier“, sagte Sadie und deutete auf den Laptop auf Libbys Schreibtisch. „Finde es heraus!“

„Das tue ich ja, aber die anderen sind damit groß geworden. Für mich ist das alles neu. Sie finden mich langweilig.“

„Und was ist mit Mary?“

Libby seufzte erneut. „Von ihr kann ich ja auch nichts lernen. Im Gegenteil ... sie will ja gläubig sein. Ich will davon nichts mehr wissen und sie spricht von der Sonntagsmesse und all diesen Dingen. Das will ich auch nicht.“

„Verstehe“, sagte Sadie und nickte ernst. Libby lebte nun seit gut drei Monaten bei ihnen und ging seit ein paar Wochen zur Schule. Die kalifornische Schulbehörde hatte sich etwas schwer mit ihrem Fall getan. In Utah kannte man es schon, dass Kinder von Sektenmitgliedern plötzlich normal zur Schule gehen wollten und mussten, aber das Schulamt in Los Angeles wusste nicht viel mit Libby anzufangen. Erst war wochenlang gar nichts passiert und dann hatte man sie immerhin zu einem Einstufungstest bestellt, der ergeben hatte, dass sie ein Schuljahr tiefer eingestuft werden musste, als es ihrem Alter entsprach. Deshalb hatte sie nun noch etwas über ein Jahr Middle School vor sich und soweit Sadie das beurteilen konnte, erbrachte Libby in ihrem zugeteilten Jahrgang fast ausnahmslos gute Leistungen. Sie war fleißig und engagiert und ließ sich von einigen Wissenslücken auch nicht abbringen. Problematischer als ihr Wissensstand waren eher ihre Kontakte zu ihren Mitschülern – ein Problem, das Sadie ihr mehr als gut nachfühlen konnte. Auch sie hatte, abgesehen von Tessa, jahrelang kaum Freunde in der Schule gehabt. Tessa hatte sich sofort auf sie eingeschossen und war von sich aus auf sie zu- und eingegangen, sonst hätte Sadie auch nicht gewusst, wie sie auf ihren neuen Mitschülern begegnen sollte.

Genau dieses Problem hatte Libby jetzt. Sie war ein Jahr älter als die meisten ihrer Mitschüler, aber deutlich unerfahrener. Schließlich kam sie aus einer ganz anderen Welt, hatte einen völlig anderen Hintergrund. Sie war plötzlich mitten im Schuljahr aufgetaucht und naturgemäß gehemmt im Umgang mit den anderen, weil ihre bisherigen Lebensumstände vollkommen andere gewesen waren.

Zwar lernte sie schnell – Sadie hatte schon in der Zeit, bevor Libby wieder zur Schule gegangen war, dafür Sorge getragen, dass sie einen Computer bekam, nach Lust und Laune fernsehen konnte und sie hatte sich auch mit ihr hingesetzt, um sie mit dem Internet vertraut zu machen.

Aber all das ersetzte nicht das Leben in Freiheit und die normale Kindheit, die Libbys Mitschüler gekannt hatten. Libby musste immer wieder nachfragen und kam sich deshalb dumm vor. Zusammen mit ihren neuen Lehrern hatten sie sich zwar darauf geeinigt, mit offenen Karten zu spielen und zu sagen, dass Libby bislang in einer Sekte gelebt hatte und alles neu für sie war. Aber Sadie konnte sich vorstellen, dass es trotz aller Bemühungen der wirklich netten Lehrer schwierig für Libby war, Anschluss an ihre Mitschüler zu finden.

„Ich kann gern noch einmal für dich mit Mr. Hammond sprechen“, schlug Sadie vor. „Vielleicht weiß er noch jemanden, mit dem du dich gut verstehen würdest.“

„Aber das muss ich doch selber können!“, begehrte Libby auf. In diesem Moment erschien Matt in der Tür und lächelte den beiden zu.

„Na, Kriegsrat?“, fragte er unbefangen.

„Vielleicht hast du ja einen guten Rat für uns“, sagte Sadie zu ihm, woraufhin er das Zimmer betrat und sich den beiden gegenüber auf Libbys Schreibtischstuhl setzte.

„Worum geht es?“

„Du warst doch später so beliebt in der Schule. Wie kam das?“

Matt grinste. „Blöd gesagt, kam das durch meinen Wachstumsschub. Plötzlich war ich die absolute Sportskanone und Mutter Natur war der Meinung, dass ich ganz ansehnlich aussehen sollte ... der Rest kam von selbst. Wer gut im Sport ist, ist meist automatisch beliebt.“

„Das hilft jetzt wenig“, fand Sadie.

„Was ist denn das Problem?“

„Ich kann mit meinen Mitschülern überhaupt nicht reden“, beklagte Libby sich. „Ich kenne doch nichts von dem, worüber sie sprechen. Klar habe ich jetzt auch Internet und kann mir Filme ansehen, aber das ist doch nicht dasselbe. Für mich ist das alles neu und fremd und das merken sie.“

„Klar“, sagte Matt trocken. „Ich stelle mir vor, wie du immer daneben stehst und versuchst, alles mitzukriegen und aufzuholen, aber das geht kaum und natürlich merken sie es. Da kommt man sich blöd vor, oder?“

„Total“, murrte Libby.

„Wie wäre es denn, wenn wir einige deiner Mitschüler zu einer Party einladen, wenn du Geburtstag hast? Die, die du oft siehst und die du nett findest. Dann können sie sehen, wie du lebst und ihr könnt euch ein bisschen besser kennenlernen.“

Erwartungsvoll sah Matt sie an, aber Libby wusste nicht, wie sie reagieren sollte.

„Ich finde die Idee gut“, sagte Sadie deshalb.

„Von mir aus“, murrte Libby unentschlossen.

„Hey, jetzt lass dich nicht so runterreißen. Du kannst nicht ändern, wer du bist und woher du kommst. Es hat auch keinen Sinn, das zu verschweigen. Wenn du ein Geheimnis aus allem machst, bist du den anderen nur suspekt“, sagte Matt.

„Mache ich ja gar nicht.“

„Nein, ich weiß. Solltest du auch nicht. Aber vielleicht fehlt den anderen bislang die Möglichkeit, dich kennenzulernen. Wahrscheinlich bist du für sie bis jetzt das Mädchen aus der Sekte, das von nichts eine Ahnung hat. Das sollten wir ändern, meinst du nicht?“

Libby lächelte kurz. „Es klingt so einfach, wenn du das sagst.“

„Ich weiß. Ist es nicht. Aber das mit der Party sollten wir machen und vielleicht solltest du auch mal jemanden, den du nett findest, ins Kino einladen oder so. Du solltest dich auch wirklich einem der Schulclubs anschließen, denn da siehst du noch mal neue Gesichter und hast andere Möglichkeiten, auf die Leute zuzugehen.“

„Aber ich traue mich nicht ...“

„Ich weiß, aber du musst. Sieh es mal so: Die anderen waren schon da. Für die hat auch ohne dich alles funktioniert. Aber für dich funktioniert nichts ohne sie, deshalb bist du jetzt am Zug.“

„Ich kann aber gar nicht mit denen reden!“, begehrte Libby auf.

„Du weißt auch Dinge. Hast du nicht früher gern gesungen? Die Schule hat doch einen Chor. Oder beherrschst du ein Instrument? Interessierst du dich für Astronomie? Basketball?“ Matt hätte seine Aufzählung ewig fortführen können.

„Schon ...“ murmelte Libby.

„Eben. Das wird schon. Davon abgesehen hat niemand behauptet, dass in der Schule alles einfach ist. Die Kids hier draußen sind anders, was?“

„Ganz anders“, fand Libby.

„Aber du hast auch Dinge zu bieten. Ich weiß, du siehst immer nur deine Schwächen, wenn du dich mit den anderen vergleichst. Du kennst vieles nicht, was sie kennen. Dafür weißt du aber auch vieles, was sie nicht wissen. Du kannst richtig gut kochen und kommst mit vielen Dingen zurecht, die die anderen noch nicht können; das kannst du mir glauben. In vielerlei Hinsicht bist du sehr selbstständig. Und überleg mal, wie mutig du warst. Du bist ganz allein in eine fremde Welt geflohen. Da können die anderen überhaupt nicht mitreden!“

„Die Glücklichen“, brummte Libby.

„Frag doch morgen jemanden, den du nett findest, ob er am Wochenende mit dir ins Kino geht. Und bis du Geburtstag hast, überlegen wir uns, wie deine Party aussehen könnte“, schlug Matt vor.

„Okay.“ Noch klang Libby unschlüssig.

„Außerdem sind deine Pflegeeltern total cool, weil sie beim FBI sind. Hat auch nicht jeder.“

Darüber mussten sowohl Libby als auch Sadie lachen.

„Du bist unmöglich“, sagte Sadie kopfschüttelnd. „Wenn sie das sagt, hat doch jeder Angst vor uns.“

„Meinst du? Ich hätte das cool gefunden. Wir sind ja auch nett und verhaften nicht gleich jeden.“

„Das wäre ja auch noch schöner.“

Matt lächelte Libby zu. „Das wird schon. Du bist jetzt erst seit ein paar Wochen in der Schule. Niemand findet sofort Freunde.“

„Das sagst du doch jetzt nur so", murrte Libby.

„Nein, das stimmt schon. Ich habe damals auch lange gebraucht“, eilte Sadie Matt zu Hilfe.

„Also gut ... wenn ihr meint“, brummte Libby. „Aber in solchen Momenten wünsche ich mir, ich wäre nicht weggelaufen.“

„Das glaube ich dir, aber vergiss nie, was die Alternative gewesen wäre“, erinnerte Sadie sie. „Es ist jetzt vielleicht nicht ganz einfach, aber zusammen schaffen wir das.“

„Hoffentlich habt ihr Recht.”

„Klar, ich kenne mich aus!“, sagte Matt nicht ganz ernst gemeint und ließ die beiden wieder allein.

Sadie fühlte sich Libby in vielerlei Hinsicht sehr nah, denn sie war auch als junges Mädchen in eine neue Familie und eine neue Stadt gekommen, sogar unter einem neuen Namen. Eigentlich hatte sie sich die ganze Schulzeit hindurch wie ein Fremdkörper gefühlt, aber das würde sie Libby nicht sagen. Stattdessen wollte sie ihr eine Freundin sein und ihr zur Seite stehen. Libby war so wissbegierig und warmherzig. Matt hatte Recht: Wenn sie es jetzt schaffte, auf ihre Mitschüler zuzugehen und ihnen zu beweisen, dass sie Qualitäten hatte, würden sie es schon merken. Sie würde Freunde finden.

Zumindest hoffte Sadie es.

Später kam Libby wie so oft mit einem ihrer Schulbücher und richtete ein paar Fragen an Matt und Sadie. Das tat sie öfter. Diesmal traf es Chemie – eins der Fächer, in denen Libby die größten Wissenslücken hatte. In den Naturwissenschaften generell war sie nicht gut aufgestellt, was Matt und Sadie schon in den Wochen vor ihrem Schuleintritt aufzufangen versucht hatten. Aber darüber hinaus unterstützten sie auch die Lehrer an der Schule, die ihr angeboten hatten, jederzeit nach dem Unterricht in der Lernphase zu ihnen zu kommen, was Libby auch rege nutzte. So bekam sie eine Art persönliche Nachhilfe, was sehr hilfreich für sie war.

Anschließend ging sie wieder nach oben, um ein bisschen im Internet zu surfen, wie sie sagte. Sadie wusste, sie würde auch nicht sehr spät ins Bett gehen. Das hatte sich nie geändert, Libby war es von früher so gewöhnt, früh schlafen zu gehen. Tatsächlich fand Sadie das sehr angenehm, denn sie hatte unverändert viel Zeit, die sie mit Matt allein verbringen konnte.

Und danach war ihr in letzter Zeit sehr zumute.

Als Libby wieder nach oben gegangen war, versuchte Sadie, Nathan zu erreichen, aber sie hatte keinen Erfolg. Wahrscheinlich hatte er zu tun. Sie schickte ihm eine kurze Mail mit der Bitte, dass er sich melden sollte, und setzte sich dann zu Matt aufs Sofa. Er legte einen Arm um ihre Schultern und drückte einen Kuss auf ihre Stirn.

„Schon verrückt“, sagte er. „Ein Kind haben wir schon und demnächst dann ein zweites. Plötzlich Familie!“

„Allerdings“, sagte Sadie. „Wobei ich Libby nicht als mein Kind betrachte. Eher als meinen Schützling.“

„Trotzdem haben wir jetzt ein richtiges Familienleben mit Schulkind.“

„Das stimmt. Und in einem halben Jahr haben wir keinen Schlaf mehr.“

Matt grinste. „Tausche Schlaf gegen Baby. Aber ich freue mich drauf.“

„Ich mich inzwischen auch“, sagte Sadie und meinte es so.

„Hätte nie gedacht, dass du das mal sagen würdest.“

„Ich auch nicht“, gab Sadie offen zu. „Aber jetzt, wo es soweit ist, fühlt es sich anders an.“

„Dabei merkst du doch noch gar nichts.“

„Nicht das Baby, nein. Aber so viele andere Dinge.“ Anfangs war Sadie oft übel gewesen und sie hätte anfallsartig wie ein Murmeltier schlafen können, aber das hatte sich nach drei Monaten gelegt. Inzwischen war es eher, dass sie literweise Milch trinken wollte und verstärkt auf Streicheleinheiten von Matt aus war, was er gar nicht schlimm fand. Und tatsächlich, wenn sie nackt vor dem Spiegel stand, konnte sie schon einen kleinen Bauchansatz sehen und ihre Unterwäsche passte inzwischen auch nur noch schlecht. Das machte es echt. Sie würde ein Kind bekommen.

Matt legte seine Hand auf ihren Bauch. „Ich bin schon so gespannt, wie es sich anfühlt.“

„Ich auch“, sagte Sadie und legte ihre Hand auf seine. „Irgendwie ist das alles ein Wunder. Ich freue mich so darauf, zu sehen, wie dieser kleine Mensch sein wird. Und ich möchte ihn ständig beschützen.“

„Geht mir auch so. Vor allem dich. Klar, eigentlich wollte ich das immer ... aber jetzt erst recht. Und ich freue mich so, dass du keine Angst mehr hast.“

„Nein, irgendwie nicht. Ich habe mir immer so viel Schlimmes vorgestellt, aber das ist doch Quatsch. Ich bin nicht wie mein Vater, also muss mein Kind es auch nicht sein. Ich habe mich da in etwas reingesteigert. Jetzt ist wirklich alles anders.“

Besonders seit der letzten Ultraschalluntersuchung hatte sich Sadies Einstellung zum Thema verändert. Als sie auf dem Bildschirm den kleinen Körper des Babys gesehen hatte, mit Armen und Beinen und voll funktionstüchtig, hatte sie sich regelrecht verliebt. Da war ein kleiner Mensch in ihrem Bauch. Ein gemeinsames Kind von ihr und Matt. Und irgendwie war sie stolz auf sich, dass sie dazu in der Lage war, dieses kleine Leben zustande zu bringen. Weggeblasen waren alle Ängste und Zweifel. Vielleicht war sie auch längst ein Opfer ihrer eigenen Hormone – wenn sie Matts Nähe suchte oder ihm unverhohlen zu verstehen gab, dass sie wieder mit ihm ins Bett gehen wollte, behauptete er das jedenfalls.

Aber ihm gab es auch einiges. Sie setzten sich noch immer regelmäßig an einem Abend in der Woche zusammen und redeten, manchmal auch an einem zweiten Abend, wenn es sich einrichten ließ. Inzwischen hatte er den Bogen raus und nutzte die Gelegenheit, sich alles von der Seele zu reden. Sadie ließ ihn einfach machen und hörte ihm zu. Er sprach dann darüber, was er sich immer von seinem Leben erhofft hatte: Erfolg im Beruf, das Dingfestmachen von Verbrechern, der Kampf für die richtige Sache. Deshalb hatte es ihn so hart getroffen, sich plötzlich selbst als jemanden sehen zu müssen, dem alle Sicherungen durchbrennen konnten und der sich auch mit Gewalt wehren konnte. Mit zu viel Gewalt. Er hatte lang mit sich gehadert und gefürchtet, dass das wieder passieren konnte und Sadie oder das Kind etwas von ihm zu befürchten hatten, aber diese Angst hatte Sadie ihm genommen. Sie hatte ihm psychologische Abwehrmechanismen erklärt und viele andere Dinge, die ihm dabei halfen, sich selbst besser zu verstehen. Und er versuchte jetzt, mit der Schuld umgehen zu lernen, die er auf sich geladen hatte. Inzwischen hatte er verstanden, dass er keine Wahl hatte, weil alles andere schlimmer gewesen wäre. Verzeihen konnte er es sich trotzdem nicht.

Aber sie waren auf dem richtigen Weg, das wusste Sadie. Tatsächlich machte das kleine Wesen, das in ihrem Bauch heranwuchs, ihm Mut und er schaute inzwischen wirklich wieder nach vorn. Mehr wollte sie eigentlich gar nicht.

 

 

Montag, 20. März

 

Beschwingt und guter Dinge betrat Sadie am nächsten Morgen ihr Büro. Sie schätzte es vor allem, emotional völlig stabil und ausgeglichen zu sein. Daran hätte sie sich gewöhnen können. Eine Schwangerschaft brachte so viele positive Dinge mit sich, von denen sie zuvor nie gewusst hatte. Sie hatte nur Angst vor den Schmerzen einer Geburt und der Verantwortung für ein Kind gehabt, aber inzwischen war sie da positiv gestimmt.

Nachdem ihr Rechner hochgefahren war und sie sich etwas zu trinken geholt hatte, setzte sie sich an den Schreibtisch. Cassandra war an diesem Tag auswärts unterwegs, deshalb war es einsam und ruhig an ihrem Arbeitsplatz.

Sie saß kaum auf ihrem Stuhl, als ihre Telefon klingelte. Sie erkannte Nathans Nummer und meldete sich gleich.

„Guten Morgen“, sagte sie. „Soll ich zuerst oder du?“

„Mir egal“, erwiderte er. „Die Obduktion ist schon durch.“

„Was kam dabei heraus?“

„Du hast doch prophezeit, dass man eventuell Spermaspuren auf der Leiche finden würde.“ Nathan machte eine bedeutungsvolle Pause.

„Und?“

„So ist es. Die DNA-Analyse läuft bereits, aber noch haben wir kein Ergebnis. Nichtsdestotrotz hattest du Recht, er hat es genau gemacht wie BTK. Außerdem meinte der Gerichtsmediziner, die Verletzungen ließen darauf schließen, dass die arme Frau immer wieder stranguliert wurde – auch genau wie bei BTK. Der Täter hat sich Zeit gelassen und sie entweder ewig gewürgt oder es ständig wiederholt.“

„Liebe Güte“, murmelte Sadie. „Manchmal hasse ich es, Recht zu behalten.“

„Da sagst du was ... das hat der Pathologe mir heute Nacht noch in einer Mail geschrieben und das wollte ich dir direkt mitteilen. Was gibt es bei dir?“

„Ich habe gestern mit der britischen Profilerin telefoniert und sie hat mir von ihrem Fall erzählt. Dort hat der Täter berühmte Vorbilder nachgeahmt, weil er gehemmt war. Sie hat immer vermutet, das hat ihm geholfen, sich selbst zu finden.“

„Oh, klingt esoterisch ...“ scherzte Nathan.

„Ich frage mich, ob das hier auch so ist. Und wir haben einen Denkfehler gemacht. Wir haben ja nur nach Fällen gesucht, die BTK ähnlich sind. Andrea meinte, wir sollen mal überprüfen, ob es nicht auch Ähnlichkeiten zu irgendwelchen anderen Tätern geben könnte.“

„Keine schlechte Idee.“

„Hast du noch andere Fälle, die ich mir ansehen kann?“

„Wo sollen wir anfangen?“ Nathan lachte.

„Ich weiß es nicht. Wenn ihr noch ungeklärte Fälle habt, die irgendwie in dieses Schema passen, sehe ich mir die an.“

„Und wie ist das Schema?“

Sadie überlegte kurz. „Ungeklärte Gewaltverbrechen. Morde, die brutal sind. Vielleicht wurde jemand erwürgt oder erstochen, es gibt vielleicht sadistische oder sexuelle Motive. Irgendwas, was nach Serienmord aussieht, also niemand, der beim Diebstahl seiner Brieftasche erschossen wurde. Ich würde auch mal behaupten, dass die Opfer wahrscheinlich eher weiblich sind ... ehrlich gesagt habe ich noch nicht drüber nachgedacht.“

„Okay ... ich frage mal unter den Kollegen herum, spontan fällt mir nichts ein. Aber vielleicht ist da ja was.“

„Hervorragend. Weißt du was, ich komme eben vorbei und wir gehen zusammen auf die Suche, was meinst du?“

„Hört sich gut an! Bis gleich.“

Sadie verabschiedete sich und legte auf. Sie freute sich auf die Zusammenarbeit mit Nathan und schnappte sich beschwingt den Schlüssel für einen Dienstwagen. Geduldig kämpfte sie sich durch den zähen Verkehr nach Downtown. In Nathans Büro angekommen, fand sie ihn neben der Tür im Gespräch mit einem Kollegen. Er blickte sofort auf und winkte sie zu sich.

„Da ist sie ja“, sagte er. „Ich habe gerade mit Carl über dich gesprochen, Sadie. Die Kollegen gehen ihre Fälle durch und geben uns dann Bescheid.“

„Ist doch großartig“, fand Sadie.

„Schön, Sie mal kennenzulernen“, sagte der dunkelhaarige Detective neben Nathan und reichte Sadie zur Begrüßung die Hand. „Nathan hat schon viel von Ihnen erzählt. So oft arbeiten wir ja tatsächlich nicht mit dem FBI zusammen.“

„Bedauerlicherweise“, warf Nathan von der Seite ein und blickte wieder zu Sadie. „Carl kommt von der Sitte und bearbeitet hier bei der Mordkommission vorrangig Sexualmorde.“

„Wird leider nie langweilig“, sagte der Kollege mit bedauernder Miene.

„Kann ich mir vorstellen“, sagte Sadie.

„Also dann, ich schaue mal nach und melde mich“, sagte Carl und verschwand in Richtung seines Schreibtischs. Sadie und Nathan gingen ebenfalls zu seinem Schreibtisch, wo er ihr einen Kaffee anbot, und setzten sich.

„Irgendeine Ahnung, wo wir anfangen sollen?“, fragte er dann.

„Darüber habe ich unterwegs schon nachgedacht. Andrea meinte, vielleicht gibt es Zusammenhänge und Ähnlichkeiten mit anderen Tätern, aber hast du eine Ahnung, wie viele auch nur halbwegs bekannte Serienmörder es gibt?“ Sadie sah ihn desillusioniert an.

„Zu viele“, sagte Nathan trocken.

„Wahrscheinlich weiß ich es erst, wenn ich es sehe. Sollen wir einfach mal mit deinen Fällen anfangen?“

„Können wir machen. Die Kollegen suchen auch schon. Ich bin mal gespannt, was wir finden.“

Sadie lächelte und schaute Nathan über die Schulter, während er ihr die offenen Fälle präsentierte, die sich bei ihm in der letzten Zeit angesammelt hatten. Zur Sicherheit ging er fünf Jahre zurück und Sadie war beeindruckt, wie wenig offene Fälle er tatsächlich noch auf dem Tisch hatte. Sie kam auch nicht umhin, sich alles etwas genauer anzuschauen und die eine oder andere Frage zu stellen, die Nathan mit wachsendem Interesse und zunehmender Begeisterung annahm.

„Da sind gute Denkanstöße bei“, fand er. „Ich hätte dir das längst zeigen sollen.“

„Ich stelle nur die üblichen kleinen und nervigen Profiler-Fragen“, sagte Sadie nüchtern.

„Ja, aber du betrachtest alles aus einem anderen Blickwinkel. Du interpretierst psychologisch. Ich bin da viel zu nüchtern und faktenorientiert. Die Brieftasche fehlt, also war es ein Raubmord. Dass der Täter vielleicht ein Souvenir behalten wollte, fällt mir nicht gleich ein.“

„Du hast einen ganz anderen Hintergrund, Nathan. Den hatte ich auch. Ich war auch erst auf der Polizeiakademie, bevor ich in Quantico das Handwerk eines Profilers erlernt habe.“

„Aber hast du nicht auch Psychologie studiert?“

„Ja, am College. Psychologie und Kriminologie. Aber wirklich den Blick geschärft hat mir erst Quantico.“

„Okay“, murmelte Nathan und öffnete den nächsten Fall. Sie waren noch nicht weit gekommen, als eine junge Frau vor ihnen stand.

„Guten Morgen, Kate“, begrüßte Nathan sie freundlich. „Was kann ich für dich tun?“

„Sieh mal“, sagte die Kollegin und hielt ihm einen Briefumschlag vor die Nase. „Der ist wohl für dich.“

„Lass mal sehen“, sagte Nathan und nahm ihr den Umschlag ab. Er war ans LAPD adressiert – „an den ermittelnden Detective im Mordfall Angela Radford“.

„Hm“, machte Nathan und öffnete den Umschlag kurzerhand, nachdem er festgestellt hatte, dass er keinen Absender trug. Er wollte den Brief schon herausziehen, als Sadie eine Hand auf seinen Unterarm legte.

„Hast du Handschuhe hier?“

Nathan hielt kurz inne. „Hast Recht.“

Er öffnete seine Schreibtischschublade und holte eine Packung mit Einmalhandschuhen heraus, von denen er sich ein Paar überstreifte. Erst dann zog er den Brief aus dem Umschlag und hielt kurz inne. Sadie spähte ihm aufmerksam über die Schulter.

 

Ihr wisst nicht, mit wem ihr es zu tun habt, nicht wahr? Ist niemand bei euch, der versteht, wer ich bin und was ich zu sagen versuche? Ich bin nicht einfach irgendwer, ihr werdet schon sehen. Und ihr werdet darüber in den Nachrichten berichten und ihr werdet Namen für mich haben. Den Echo Park-Strangler vielleicht ... oder den Sohn des Nightstalkers vielleicht. Euch fällt bestimmt etwas ein. Vielleicht auch der Bondage Strangler? Das wurde bei BTK ja nie benutzt.

Aber ich bin es, der Angela Radford getötet hat. Diese ahnungslose Frau, deren Angst so gut geduftet hat ... Ich habe ihr gesagt, dass ich Fantasien habe. Schlimme Fantasien. Und dass ich sie ausleben muss. Dass ihr nichts passieren wird, wenn sie kooperiert. Ihr nicht und auch dem kleinen Martin nicht. Sie hatte Angst, sie wollte nicht, dass ich dem Jungen etwas tue. Deshalb hat sie tatsächlich kooperiert. Übel wurde ihr nicht, obwohl ich damit gerechnet hatte. Sie ließ sich sogar von mir fesseln, hatte immer Angst um ihr Kind.

Ich habe sie immer wieder gewürgt und wenn sie bewusstlos wurde, habe ich sie wieder aufgeweckt. Irgendwann ist mir das nicht mehr gelungen, sie war tot. Aber sie hatte ihre Aufgabe erfüllt.

Versteht ihr es jetzt? Seht ihr die Zeichen? Ich habe gerade erst begonnen. Das ist nicht mein erster Mord und es wird nicht mein letzter gewesen sein.

 

When you wake in pain at 8am

to my metal bed you are tied

you struggle so I take my index finger

and jab it several times into your eye

 

Als Nathan den Brief langsam sinken ließ, trafen sich die Blicke der beiden. Nathan schluckte und sein Blick verriet, dass er damit nicht gerechnet hatte.

„Das ist von ihm“, sagte Sadie nüchtern.

„Das sehe ich auch. Das ist Täterwissen.“

Sadie nickte. „Jetzt schreibt er uns Briefe. Das kann uns helfen.“

„Was zum Teufel ist das? Ein Gedicht? Das ist ja geisteskrank!“

„Das hat BTK auch getan. Er hat auch Gedichte in seinen Briefen verschickt. Der Täter spricht sogar von ihm! Bondage Strangler ... BTK hat den Medien und Ermittlern ja selbst Vorschläge gemacht, wie man ihn nennen könnte. Das war einer davon.“ Erneut gab Sadie ein paar Suchbegriffe ein und zeigte Nathan Briefe von Dennis Rader, die im Internet frei verfügbar waren.

„Das ist total verrückt, Sadie. Was ist hier los?“

„Lass mich mal sehen“, bat sie und überflog den Brief erneut. „Das unten ist aber kein Text von ihm. Acht Uhr morgens ... das passt nicht. Vielleicht zitiert er jemanden.“

„Kann sein“, sagte Nathan und fütterte eine Suchmaschine mit dem vermeintlichen Gedichttext. Es stellte sich heraus, dass es eigentlich ein Liedtext war: Diary of Torture von Macabre, einer Death Metal-Band.

„Na, das passt ja“, brummte er.

Sadie war wieder in das Schreiben vertieft. „Echo Park ... hat Angela Radford dort gelebt?“

„Ja, in einer winzigen Wohnung.“

„Okay, also wissen wir, warum er das vorschlägt", sagte Sadie. „Echo Park-Strangler verstehe ich als Anspielung auf die Hillside Stranglers. Die waren ja auch hier aktiv.“

„Meine Güte, Sadie ...“

Doch sie ließ sich nicht bremsen. „Die Ähnlichkeiten zum Nightstalker sehe ich auch, den sollten wir uns ansehen. Und dann beschreibt er den Ablauf des Mordes.“

Nathan rückte zur Seite, als Sadie erneut nach der Tastatur griff und VICAP öffnete. Sie suchte nach Dennis Rader und zeigte ihm das Protokoll der Aussage über den Mord an Shirley Vian Relford.

„Sieh mal ... Rader hat ihr auch gesagt, er hätte ein Problem mit Fantasien. Er hat sich ihr als Vergewaltiger dargestellt, so dass sie geglaubt hat, sie würde überleben, wenn sie kooperiert. Natürlich hatte sie keine Ahnung, dass es ihm die ganze Zeit darum ging, sie zu töten.“

„Er ahmt ihn wirklich nach ...“ murmelte Nathan fasziniert.

„Natürlich tut er das, und hier steht auch, dass er nicht aufhören wird. Hier steht ebenso, dass es bereits andere Morde gibt! Wir müssen sie finden, Nathan.“

„Ich fasse es nicht, dass er uns wirklich Briefe schreibt", sagte er kopfschüttelnd.

„Das könnte wirklich die Parallele sein. Die Gemeinsamkeit zu anderen Fällen!“, sagte Sadie aufgeregt. „Vielleicht haben die Kollegen auch Fälle, in denen sie Briefe bekommen haben?“

„Ich habe das definitiv nicht“, sagte Nathan und widmete sich wieder dem Fall, den sie sich zuletzt angeschaut hatten. Dann überlegte er. „Nein, wirklich nicht. Aber Carl hatte letztens noch so einen.“

„Ach was.“

Nathan stand auf und Sadie folgte ihm automatisch. Sie gingen hinüber ans andere Ende des Büros, wo der Kollege gerade mit der Nase in einer Aktenkiste steckte.

„Der Fall Emily Bryant ... hast du nicht gesagt, du hast da Post bekommen?“, fragte Nathan.

„Stimmt“, sagte Carl und stand auf, um einen Karton aus dem Regal hinter sich zu ziehen. Er wühlte ein wenig darin herum und förderte dann eine Klarsichthülle mit einem Brief zutage. Er überreichte die Hülle Nathan, der sie Sadie zeigte. Sie begannen zu lesen.

 

Es hat begonnen. Vermutlich wisst ihr noch nicht, wer ich bin und was ich plane, aber lasst euch gesagt sein: Es wird eine große Sache. Eine sehr große. Erkennt ihr die Zeichen? Ich bin ein Killer. Und ich habe gerade erst angefangen.

 

Hello darkness, my old friend

I’ve come to talk with you again

Because a vision, softly creeping

Left its seeds while I was sleeping

 

„Carl, das ist derselbe Killer“, sagte Nathan, bevor Sadie überhaupt den Text zu Ende gelesen hatte.

„Der Text sagt mir was“, murmelte sie dann.

Sound of Silence von Simon and Garfunkel“, sagte Carl.

„Der Brief ist genauso aufgebaut wie der neue“, sagte Sadie. „Was war los in dem Fall?“

„Die zwölfjährige Emily Bryant ist von ihrem Schulgelände verschwunden – spurlos.“ Carl holte ein Foto des Mädchens aus dem Karton. „Das war am 9. Februar. Ein paar Tage später wurde sie tot in einem Schweinestall etwa dreißig Meilen von hier außerhalb der Stadt gefunden.“

Sadie betrachtete konzentriert das Foto des dunkelhaarigen Mädchens. „Sie wurde vergewaltigt und im Schlamm erstickt?“

„Äh ... ja, genau“, antwortete Carl verdutzt.

„Gab es DNA?“, fragte Sadie.

„Ja, wir haben sie analysieren lassen, aber es gab keinen Treffer.“

„Bis jetzt“, murmelte Nathan. „Wenn ich die Ergebnisse meiner aktuellen Analyse habe, wird das sofort verglichen.“

„Wie kamen Sie darauf, dass Emily erstickt wurde?“, fragte Carl Sadie.

„Warten Sie.“ Sadie öffnete an Carls Rechner VICAP. Als sie in die Datenbank den Namen Theodore Bundy eingab, tauschten Nathan und Carl sprachlose Blicke. Sadie scrollte ein wenig herunter, bis sie das Foto eines Mädchens vor sich sahen: Ein kindliches Gesicht, lange dunkle Haare, ein freundliches Lächeln. Sie war Emily sehr ähnlich.

„Du willst mir jetzt nicht sagen, dass du die Opfer sämtlicher Serienmörder im Kopf hast, was?“, fragte Nathan mit hochgezogener Augenbraue.

Sadie grinste. „Das nicht, aber Kimberly Leach war Ted Bundys letztes Opfer. Als Carl gerade von Schweinestall sprach, war mir alles klar. Kimberly war auch zwölf, genau wie Emily.“

„Und es war am 9. Februar“, stellte er mit Blick auf VICAP fest.

„Das hätte ich jetzt nicht gewusst, aber seht mal, wie ähnlich Kimberly und Emily sich sehen”, sagte Sadie. „Emily hat dieselben dunklen Haare, fast denselben Haarschnitt. Bundy hatte ein Faible für dunkelhaarige Frauen mit Mittelscheitel, da hat er keine Ausnahme gemacht. Das hat es mir jetzt erleichtert.“

„Sie sind ja VICAP in Menschengestalt“, sagte Carl staunend.

„Sie weiß wirklich einiges“, stimmte Nathan zu.

Sadie stemmte die Hände in die Seiten. „Wir haben hier einen Serienkiller, der berühmte Vorbilder nachahmt. Und nicht irgendwelche. Wir haben Ted Bundy und den BTK-Killer. Er ist mitteilsam, offensichtlich ziemlich akkurat ... Mit den Infos, die wir haben, müsste ich schon ein Profil zusammenkriegen.“

„Wenn es denn wirklich derselbe ist“, sagte Carl.

„Die DNA-Analyse wird es zeigen“, sagte Nathan. „Ich bin gespannt ...“

„Ich auch“, stimmte Carl zu.

Sadie zog sich einen Stuhl heran und begann, in den Akten zu Emily Bryants Mordfall herumzustöbern. Das Mädchen war noch vor Schulbeginn am 9. Februar verschwunden – vom Schulgelände. Überwachungskameras in der Nähe hatten sie kurz vor Schulbeginn aufgenommen, was in ihrem Fall eine Stunde später war als üblich, weil ein Lehrer gefehlt hatte. Deshalb war es am Schulgelände ruhig gewesen. Niemand hatte gesehen, wie und wohin sie verschwunden war.

Man hatte sie fünf Tage später nackt und tot in einem Schweinestall am Fuß der San Gabriel Mountains gefunden. Sie war vergewaltigt worden, man hatte Sperma sichergestellt, der Täter hatte sie erstickt. Auch in ihrer Lunge hatte man Schlammpartikel gefunden, genau wie bei Kimberly.

Sadie sah ein, dass die Details des Falles sehr speziell waren. Es war nicht anzunehmen, dass ein Polizist wie Carl oder Nathan die Ähnlichkeiten zu Ted Bundy erkannte, aber Sadie kannte den Fall Bundy recht gut – vor allem den seines letzten Opfers Kimberly Leach, der ihn letztlich auch zu Fall gebracht hatte. Ihr hatte die Info mit dem Schweinestall tatsächlich gereicht, um sich daran zu erinnern.

Sie vermutete, dass der Täter bewusst prominente Fälle nachstellte, weil er hoffte, dass die Parallelen erkannt wurden. Warum er das überhaupt tat, konnte sie nicht sagen. Fest stand nur, dass er Symbolik liebte. Theatralik geradezu.

Und Ted Bundy war nun mal einer der prominentesten Killer der USA. Als unehelicher Sohn einer jungen Frau geboren, wuchs er halb geächtet auf und lernte seinen Vater nie kennen. Allerdings war er sehr gutaussehend, was es ihm erleichterte, seine Opfer anzusprechen.

Als Sadie Emilys Obduktionsbericht überflog, erkannte sie noch mehr Parallelen. Sie war anal penetriert worden – genau wie Bundy es bevorzugt mit seinen Opfern gemacht hatte. Er hatte seine Opfer angesprochen, weggelockt, brutal niedergeschlagen und sie missbraucht, bevor er sie erwürgte oder erschlug. Oder eben erstickte, so wie Kimberly. Er hatte ihren Kopf in den Schlamm gepresst.

Manche Leichen hatte er nach langen Transportwegen zerstückelt. Zu manchen war er immer wieder zurückgekehrt, um sich an ihnen zu vergehen und zu befriedigen. Innerhalb von vier Jahren hatte er achtundzwanzig Menschen getötet, vermutet wurden sogar bis zu sechzig, gestanden hatte er gar hundert Morde. Er hatte in verschiedensten Bundesstaaten gemordet und Frauen unterschiedlichen Alters getötet, solange sie nur seinem Typ entsprachen. Man hatte ihn sogar zwischendurch geschnappt und ihm war die Flucht gelungen, worauf weitere Opfer gefolgt waren. Identifiziert hatte man ihn hinterher durch Bisswunden am Po eines Opfers. 1989 hatte man ihn auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet.

Sadie hatte seinen Fall an der Academy ziemlich genau studiert, weil er ein Sexualsadist war wie ihr Vater. Sie hatte immer versucht, solche Täter zu verstehen.

„Was machen wir jetzt?“, riss Nathan sie aus ihren Gedanken.

„Dieser Täter ist ziemlich abgebrüht“, sagte Sadie. „Vielleicht finden wir weitere Fälle. Es gibt so viele berühmte Täter, die er nachahmen könnte. Ich muss mir überlegen, warum er das tut und was er als Nächstes plant.“

„Kann ich irgendwie helfen?“, fragte Carl.

„Am besten versuchen wir, in der Datenbank nach Fällen zu suchen, die vom Datum her zu berühmten Fällen passen.“

„Definiere berühmt“, sagte Nathan.

„Eben solche Namen wie Bundy oder BTK. Das müsste die Datenbank doch können, oder?“, überlegte Sadie.

„Keine Ahnung“, sagte Carl. „Mal sehen ...“

Sie setzten sich zusammen vor den Computer und versuchten, über allerhand Einstellungen passende Ergebnisse zu generieren. Allerdings stellten sie schnell fest, dass die Datenbank nicht generell zu einem Datumsabgleich in der Lage war. Sie zeigte nur die Fälle zu einzelnen Daten an, wenn man sie präzise eingab.

Sadie bat darum, telefonieren zu dürfen und rief in der IT-Abteilung beim FBI an. Sie kannte dort einen netten Kollegen, mit dem sie all ihre Computerfragen besprach.

„Sadie“, begrüßte Jake sie freundlich. „Was kann ich denn heute für dich tun?“

„Ich habe eine Frage zu VICAP“, sagte sie. „Ich würde mir gern Fälle ausgeben lassen, die eine Gleichheit im Datum mit berühmten Fällen aufweisen. Wie es scheint, haben wir hier einen Nachahmungstäter, der am enstprechenden Datum seine Opfer im Stil seiner berühmten Vorbilder wie BTK und Bundy tötet.“

Der Kollege lachte. „Du kommst ja immer mit Fällen, das ist eine Pracht. Aber ich kann dir eine Datenbankabfrage dafür schreiben, ist kein Problem. Lass mich mal ein bisschen basteln, ich sag dir dann Bescheid.“

„Das ist toll, danke. Du erreichst mich auf meinem Handy.“

„Ist gut. Bis später.“

Sadie legte wieder auf und nickte den Polizisten zu. „Mein Nerd-Kollege programmiert was für uns. Dann erfahren wir, ob es noch andere Fälle gibt, ohne sie jetzt tagelang mühsam suchen zu müssen.“

„Wenn uns das überhaupt ans Ziel führt“, sagte Nathan.

„Die Idee ist gut“, fand Carl.

„Ja, absolut“, stimmte Nathan zu. „Mich tritt ja ein Pferd, wenn wir beide denselben Täter jagen. Das ist schon ziemlich krank ...“

Sadie überlegte kurz. „Er hat bis jetzt am 9. Februar und am 17. März zugeschlagen. Jeden Monat einmal.“

„Denkst du, das ist ein Muster?“

„Könnte doch sein.“

„Dann müssen wir in jedem anderen Monat nach Opfern suchen“, schlug Carl vor.

„Vor allem nach den zukünftigen“, sagte Sadie. „Vielleicht ist es Mitte April wieder soweit und es gelingt uns, vorab zu bestimmen, was passieren könnte.“

„Grandios“, sagte Nathan voller Tatendrang. „Kriegst du damit ein Profil hin?“

Sadie nickte. „Sollte klappen!“

 

Während der IT-Kollege noch mit Programmieren beschäftigt war, gab Sadie die Todesdaten aller Opfer von Ted Bundy, dem BTK-Killer und auch dem Nightstalker Richard Ramirez ein, nur um sicherzugehen. Tatsächlich fand sie auch vereinzelte Morde, aber entweder lagen die viel zu lang zurück, waren schon längst aufgeklärt oder passten überhaupt nicht zu dem, was sie suchten.

„Ob die kleine Emily wirklich die Erste war?“, überlegte Nathan laut.

„Sieht schon fast so aus“, sagte Sadie. „Denkst du, er hebt wirklich auf Ramirez ab?“

„Er hat ihn angesprochen. Wir sollten das nicht außer Acht lassen. Ramirez hat im März, April, Juni, Juli und August in zwei Jahren gemordet. Da könnte noch etwas passieren.“

„Aber nützt es uns etwas, das zu wissen? Wie sollen wir ihn aufhalten?“

Das fragte Sadie sich auch. In diesem Moment klingelte ihr Handy.

„Whitman“, meldete sie sich.

„Ich bin es, Jake“, meldete sich der Kollege aus der IT-Abteilung. „Ich war so frei, VICAP auf deinem Rechner entsprechend zu programmieren, dass du jetzt einerseits bestimmte Täter auswählen kannst, deren Tatzeitpunkte dann mit anderen Taten in der Datenbank abgeglichen werden, aber andererseits kannst du dir auch generell Morde anzeigen lassen, die im Datum mit anderen Taten übereinstimmen. So war das doch gemeint?“

„Genau so war das gemeint. Perfekt, danke. Ich komme wieder rüber und schaue mir das mal an!“

„Wenn du noch was brauchst, meld dich.“

„Das mache ich. Danke, Jake.“

Sie verabschiedeten sich und Sadie legte auf. „Der Kollege hat VICAP in meinem Computer entsprechend konfiguriert.“

„Also ziehen wir um“, schloss Nathan

„Müssen wir wohl.“

„Kein Problem, das hatten wir ja auch noch nicht.“

„Also los.“ Sadie griff nach ihrer Jacke, was Nathan ihr gleich tat. Dann gingen sie in die Tiefgarage und Nathan folgte Sadie in einem eigenen Dienstwagen zum FBI. Als er dort angekommen an der Sicherheitsschleuse seine Dienstmarke zeigte, erhielt er einen Besucherausweis und folgte Sadie in ihr Büro.

„Dich im Büro zu besuchen ist definitiv komplizierter als umgekehrt“, sagte er, während sie im Aufzug standen.

„Wahrscheinlich haben wir das deshalb noch nie gemacht.“

„Vermutlich. Irgendwie riecht es hier so offiziell!“

Sadie grinste. „Du warst noch nie in Quantico. Bis du da im Büro bist, wurdest du hundertmal gefilzt.“

„Ich kann es mir vorstellen. Wie lang warst du dort?“

„Nur etwas über ein halbes Jahr“, sagte Sadie. „Dann ist Sean aufgetaucht und hat alles zerstört.“

In diesem Moment blieb der Aufzug stehen und sie stiegen aus. Nathan folgte Sadie mit betroffener Miene.

„Gut, dass ich das nicht miterleben musste“, sagte er.

„Da sagst du was. Das ist ziemlich genau zwei Jahre her.“

„Du kannst stolz auf dich sein.“

Sadie lächelte, während sie die Eingangstür zum Büro öffnete, sagte allerdings nichts. Nathan folgte ihr zu ihrem Arbeitsplatz und Sadie war überrascht, dort Cassandra vorzufinden.

„Was machst du denn hier?“, fragte sie.

„Ich arbeite hier“, erwiderte Cassandra trocken und lachte.

„Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du schon zurück bist.“

„Doch, tatsächlich. Jetzt würde ich mich am liebsten vorm Berichteschreiben drücken.“

„Super, dann hilf uns doch einfach.“ Sadie zog einen Stuhl für Nathan heran, dann scharten sie sich um ihren Rechner.

„Gern. Worum geht es?“, fragte Cassandra, so dass Sadie ihr einen kurzen Abriss des Falles schilderte. Schließlich pfiff Cassandra durch die Zähne.

„Wird ja nicht langweilig bei euch ... also ein Nachahmer von BTK und anderen Berühmtheiten.“

„Genau, und jetzt will ich in VICAP sehen, ob es vielleicht noch andere Fälle gibt. Jake hat es mir vorhin entsprechend modifiziert.“ Sadie schaltete ihren Rechner wieder an und sah, dass VICAP noch offen war. Es wurde von einem kleinen Suchfenster überlagert, das Jake schnell für sie programmiert hatte.

„Dann fangen wir mal klein an und picken uns bestimmte Täter raus, die wir abgleichen“, sagte Sadie. „Bundy, BTK und den Nightstalker haben wir vorhin schon manuell gemacht.“

„Da fallen mir noch der Green River Killer, John Wayne Gacy, Jeffrey Dahmer, Larry Eyler, Edmund Kemper, die Hillside Stranglers, Son of Sam und der Zodiac-Killer ein“, überlegte Cassandra.

„Oh, auch noch ungelöste Fälle“, murmelte Sadie.

„Warum nicht? Zodiac ist auch bekannt.“

„Sicher ... wäre nur fürs Profil nicht so nett.“ Trotzdem gab Sadie die Namen alle ein und erhielt auch zahlreiche Ergebnisse in der Datenbank. Cassandra half ihr unter Nathans staunenden Blicken dabei, die gefundenen Fälle mit den berühmten Vorbildern abzugleichen, doch sie fanden keine Ähnlichkeiten oder Überschneidungen.

Sadie warf einen Blick auf die Uhr. „Auf leeren Magen erstelle ich hier niemandem ein Profil.“

„Du hast Recht“, sagte Cassandra. „Lass uns in die Kantine gehen.“

Nathan fand die Idee ebenfalls großartig, deshalb machten sie sich auf den Weg dorthin. Als sie dort eintrafen, entdeckte Sadie an einem Tisch Matt und Jason, die bereits beim Essen saßen. Sie beeilten sich, dazu zu stoßen und Matt machte große Augen, als er Nathan sah.

„Du hier?“

„Ich kann auch wieder gehen“, scherzte Nathan.

„Nein, ist doch toll! Setz dich zu uns. Kennst du Jason Wheeler?“

Matt stellte sie einander vor, während auch Sadie und Cassandra Platz nahmen. Dann erkundigte er sich bei Nathan für den Grund seiner Anwesenheit.

„Eure IT hat hier etwas gezaubert, das uns bei der Suche nach unserem Nachahmungstäter hilft“, sagte Nathan und schilderte kurz, was sie gebraucht hatten.

„Also ist das eine große Sache“, schloss Matt.

„Der Täter hat nicht nur BTK nachgeahmt, sondern auch Ted Bundy“, erklärte Sadie.

Matt machte ein wissendes Gesicht. „Klingt ja wieder allerliebst.“

Sadie grinste. „Und wie.“

„Sadie hat vorhin meinen Kollegen schockiert, weil sie uns auf den Kopf zugesagt hat, dass der andere Mordfall nach dem Vorbild von Bundy geschehen ist“, erzählte Nathan.

„Ja, meine Angetraute ist ein wandelndes Lexikon“, stimmte Matt grinsend zu.

Sie unterhielten sich beim Essen ganz unbefangen, was Sadie sehr genoss. Das erinnerte sie an ihre erste Zusammenarbeit mit Nathan.

Schließlich verabschiedete Matt sich ins Büro und auch Sadie und Nathan gingen wieder nach oben, während Cassandra noch bei Jason blieb, um etwas Privates mit ihm zu besprechen. Als Sadie sich mit Nathan wieder vor ihren Rechner setzte, lächelte er ihr zu.

„Matt scheint wieder ganz der Alte zu sein.“

„So ziemlich“, sagte Sadie. „Aber es gibt auch neue Aufgaben. Wir haben jetzt ein Pflegekind und bald ein eigenes. Das beschäftigt ihn.“

„Naturgemäß! Aber darüber bin ich froh. Das ist mir alles sehr nah gegangen, das muss ich schon sagen. Und auch, wenn einiges falsch gelaufen ist, habe ich mir das für ihn nicht gewünscht.“

Sadie lächelte. „Nett, das du das sagst.“

„Nein, es ist wirklich so. Ich denke, uns ist klar, dass wir alle eigentlich anders hätten handeln müssen, aber es ist jetzt nicht so, als wäre dieser Weg bedeutend leichter gewesen.“

„Nein, wirklich nicht“, sagte Sadie. Schließlich startete sie eine neue Suche und ließ sich alle Fälle mit Datumsgleichheiten ausgeben – diejenigen ausgeschlossen, die sie sich bereits angeschaut hatten. In der Zwischenzeit war Cassandra wieder zu ihnen gestoßen und half tatkräftig mit. Doch auch hier konnten sie schnell sehen, dass es nichts für sie gab.

„Also stehen wir noch am Anfang“, schloss Nathan.

„Sieht ganz so aus“, sagte Sadie. „Bleibt die Frage, wer er ist und warum er das tut.“

„Du hast doch mit Andrea Thornton telefoniert“, sagte Cassandra. „Was meinte sie denn dazu?“

Sadie holte ihren Notizblock aus der Schublade und begann, Informationen zusammenzutragen. „Sie sagte, ihr Nachahmungstäter sei gehemmt gewesen und habe bekannte Täter nachgeahmt, um sich ein Ventil für seine geheimen Neigungen zu suchen. Er war ja homosexuell. Ich weiß nicht, ob es das hier ist ... aber wer bekannte Täter nachahmt, sonnt sich in ihrem Ruhm. Er will davon ein Stück für sich.“

„Ich denke auch ... zumal er mit uns kommuniziert. Das tut niemand, dem es an Selbstbewusstsein mangelt“, sagte Cassandra.

„Wäre er einfach gern wie die Täter, die er nachahmt?“, überlegte Nathan.

„Vermutlich. Und er bringt Vorerfahrungen mit“, überlegte Sadie.

Sie sammelten fleißig Ideen, bis Sadie schließlich einige gute Stichworte gesammelt hatte. Sie waren sich einig, dass der Täter entgegen der Ursprungsannahme möglicherweise gar nicht gehemmt war, sondern – ganz im Gegenteil – eine übersteigerte Meinung von sich hatte. Ihr Fall lag etwas anders als der, über den Sadie mit Andrea gesprochen hatte. Hier hatten sie es mit keinem Homosexuellen zu tun, der seine Neigung tarnen musste, sondern er war ein intelligenter Mann, der seine Vorbilder äußerst detailliert nachahmte. Zwar mochte er Vorerfahrungen haben, aber er scheute sich auch nicht, DNA-Spuren zurückzulassen, weil er wusste, dass ihm dadurch nichts drohte. Er suchte definitiv ein Ventil für seine Neigungen und vielleicht stärkte es auch sein Selbstbewusstsein, wenn er bekannte Täter nachahmte.

Dass er sich die Mühe machte, sich all die nötigen Informationen über seine Vorbilder zu besorgen und sie so akkurat umzusetzen, sprach für seine Intelligenz. Sadie schrieb daneben, dass er vielleicht deshalb berühmte Täter nachahmte, um seine eigenen Spuren zu verwischen und wenig Aufschluss über sich selbst zu liefern.

Er wollte eine Botschaft überbringen, das wurde auch in seinen Briefen klar. Mit der Auswahl und Präsentation der dichterischen Zeilen spottete er über die Ermittler, er wollte ihnen ein Gefühl vermitteln und damit demonstrieren, dass er das Sagen hatte.

„Er lässt sich von seinen berühmten Vorbildern inspirieren“, sagte Sadie, während sie nachdenklich mit ihrem Kugelschreiber gegen die Lippen trommelte. „Er ist sehr intelligent und organisiert, sonst wüssten wir mehr über ihn. Aber mit der Auswahl und Imitation berühmter Verbrechen vertuscht er nicht nur, er beweist auch, was er auf dem Kasten hat. Und trotzdem glaube ich, dass er noch sehr jung ist, sonst würde er sich nicht als Nachahmer präsentieren.“

„Klingt schlüssig“, fand Nathan.

„Ich glaube auch, dass er noch jung ist. Aber er hat das schon lange geplant und sich genau überlegt, was er vorhat. Er findet Symbole ungemein wichtig, deshalb wählt er die nachzuahmenden Taten ganz bewusst aus und natürlich auch die Texte, die er uns in seinen Briefen präsentiert“, sagte Cassandra.

„Vielleicht lässt er sich auch von seinen Vorbildern inspirieren und emanzipiert sich noch“, überlegte Sadie.

„Klar ist, dass er mit jeder erfolgreichen Tat selbstbewusster wird. Wahrscheinlich auch nachlässiger.“

Sadie nickte. „Davon ist auszugehen. Und er ist ein Sadist, sonst hätte er kaum die entsprechenden Taten zur Nachahmung ausgewählt und so kaltschnäuzig durchgezogen.“

„Wie sollen wir ihn denn aufgrund dieser Feststellungen finden?“, fragte Nathan.

Sadie dachte kurz nach. „Der hat nicht erst gestern angefangen. Bisher hat er Täter gewählt, die zur sexuellen Befriedigung gemordet haben. Das wird sein Ding sein. Wie gesagt, ich denke, dass er noch jung ist – vielleicht ist er schon durch sexuelle Übergriffe aufgefallen. Seine DNA werden wir nicht haben, sonst wäre er nicht so freigiebig damit. Aber wahrscheinlich hat er die klassische Karriere hinter sich mit geklauten Slips der Nachbarn und aufgeschlitzten Haustieren.“

„Man hört, dass ihr das öfter macht“, kommentierte Nathan trocken.

„Durchaus“, sagte Cassandra unbeeindruckt.

„Wir können auch festhalten, dass er ein Weißer ist. Die meisten Serientäter morden in ihrer eigenen ethnischen Gruppe und Martin hat ihn als einen Weißen beschrieben“, sagte Sadie. „Er ist jung, clever und vermutlich gelangweilt. Vielleicht ist er in seinem Job unterfordert und überlegt sich dort, wen er als Nächstes wie töten könnte. Wen er nachahmen könnte. Er will, dass wir das anerkennen und ihn auf einer Stufe mit seinen Vorbildern sehen. Deshalb bemüht er sich beim Morden um Perfektion. Ich nehme an, dass er auch weiter mit uns kommunizieren wird. Das sollten wir nutzen, vielleicht klassisch über die Zeitung oder das Fernsehen. Er könnte antworten.“

„Gute Idee“, fand Nathan. „Vielleicht bringen wir ihn irgendwann mit seiner eigenen Überheblichkeit zu Fall.“

„Könnte schon sein“, sagte Sadie.

„Trotzdem wird er es uns erschweren, ihn zu finden. Auch wenn er Vorerfahrungen hat, heißt das nicht, dass er vorbestraft ist. Vielleicht hat er auch zuvor schon einen Mord begangen, den wir nicht finden, weil er noch nicht den Kriterien entsprach.“

„Das wird also ein harter Knochen“, sagte Nathan.

„Dann müssen wir ihn über seinen Kommunikationsdrang kriegen“, sagte Sadie. „Lasst mich mal über eine Antwort auf seinen Brief nachdenken. Wir berufen für morgen eine Pressekonferenz ein und hängen das ganz groß auf. Dann steht er zwar im Rampenlicht, aber wir geben ihm keinen Namen. Das wird ihn provozieren.“

„Interessant“, fand Nathan.

Cassandra nickte konzentriert. „Klingt gescheit. So machen wir es!“

Nathan klemmte sich ans Telefon und rief Roy an, um ihn zu bitten, Sadie Scans von den Briefen des Täters zu schicken. Minuten später hatte sie zwei Bilder der Briefe in der Mailbox, die sie aufrief und immer wieder las. Derweil organisierte Nathan eine Pressekonferenz für den nächsten Tag und Cassandra unterstützte Sadie.

„Wir sollten seine Intelligenz hervorheben“, sagte Sadie. „Das wird ihm schmeicheln, das wünscht er sich. Wir werden betonen, wie perfekt er berühmte Täter nachahmt.“

„Wie kommt er zu diesem Faible für Songtexte?“, überlegte Cassandra. „Vielleicht ist er Musiker.“

„Könnte sein“, stimmte Sadie zu. „Wir sollten seine Vorbilder erwähnen und zeigen, dass wir ihn verstanden haben. Das wird ihm wichtig sein.“

„Denke ich auch. Aber womit provozieren wir ihn? Doch nicht nur damit, dass wir ihm keinen Namen geben.“

„Nein ... wir sollten zwar zeigen, dass wir Ehrfurcht vor ihm haben, aber keine Angst. Das wird ihn ärgern. Vielleicht sollten wir auch bewusst falsche Informationen über ihn verbreiten.“

„Ja ... wir behaupten einfach, er sei gehemmt, weshalb er keine eigenen Szenarien entwirft.“

Sadie nickte. „Wir müssen ihn irgendwie degradieren. Das wird er hassen.“

„Ich bin gespannt, ob und wie er reagiert. Das kann ich mir noch nicht ganz vorstellen.“

„Ich mir auch nicht“, gab Sadie zu. „Aber wir werden ihn schon kriegen.“

 

Freitag, 17. März

 

Diesmal schnellte sein Puls nicht so sehr in die Höhe. Es war ja nicht das erste Mal. Und er war schon einmal davongekommen.

Er konnte es schaffen. Sein Plan konnte aufgehen. Es war ein komplexer Plan, der einiges erforderte. Viel Vorbereitung, Vorsicht und Geschick bei der Durchführung. Er durfte sich nicht erwischen lassen, aber bislang sah es nicht danach aus.

In einer schnellen Handbewegung zog er unbemerkt seine Waffe aus der Tasche, entsicherte sie und hielt sie der völlig überraschten Angela ohne Vorwarnung vor die Nase. Die Augen der jungen Frau weiteten sich, sie stand starr vor Schock.

„Nicht bewegen“, sagte er, was fast von dem anschwellenden Geschrei des kleinen Jungen übertönt wurde. Genervt und aggressiv zugleich starrte er ihn an.

„Ins Bad mit dir, oder ich tue deiner Mum weh“, schnauzte er. „Willst du, dass ihr etwas passiert?“

Während der Kleine ihn noch mit großen Augen anstarrte, nickte Angela heftig. „Sei lieb, Martin. Tu, was der Mann gesagt hat und geh ins Bad.“

„Nein“, murrte Martin halbherzig und zögerte, aber dann tat er es. Endlich. Weg war der kleine Junge. Darauf hatte er doch die ganze Zeit gewartet.

Jetzt war die Mutter dran.

Er sorgte dafür, dass der Kleine nicht aus dem Bad ausbrechen und für unangenehme Überraschungen sorgen konnte, was dem Jungen natürlich überhaupt nicht gefiel. Er protestierte, randalierte, trat gegen die Tür. Am liebsten hätte er ihn umgebracht.

Frecher kleiner Rotzbengel.

Aber jetzt war es endlich soweit. Er konnte sich der Mutter zuwenden. Sie war ganz schön attraktiv ... zu schade, dass er sich ihr nicht mit voller Inbrunst widmen durfte. Das hätte er zu gern getan. Aber der Plan erforderte etwas anderes.

„Setz dich da auf einen Stuhl“, knurrte er und scheuchte sie mit der Waffe in der Hand hinüber zum Tisch. Verängstigt gehorchte Angela und setzte sich tatsächlich. Sie zitterte am ganzen Leib. In ihren Augen standen Tränen.

„Also ... wir machen das jetzt so“, begann er. „Ich werde dich fesseln und du wirst dich nicht wehren, wenn du nicht willst, dass deinem Jungen etwas passiert. Ich kann da jederzeit reingehen und ihm wehtun, wenn du nicht kooperierst.“

„Was willst du?“, fragte Angela mit zitternder Stimme. „Wer bist du überhaupt?“

„Ist doch egal“, sagte er.

„Ich tue alles, was du willst, wenn du meinen Jungen gehen lässt“, flehte sie mit von Tränen erstickter Stimme.

„Na dann.“

Flehend blickte sie ihn an. „Bitte bring uns nicht um.“

„Hängt ganz von dir ab“, erwiderte er kalt. Verzweifelt begann sie zu schluchzen. Der Junge machte immer noch Geräusche im Bad, aber das war nicht der einzige Grund dafür, dass er ihm Spielzeug hineinlegte. Spielzeug und eine Decke. Er war ganz konzentriert, als er es zusammensuchte und die Tür öffnete. Mit großen Augen blickte der Junge zu ihm auf und wollte schon losrennen, um zu fliehen, aber er fing den Kleinen ab.

„Nicht“, sagte Angela von hinten. „Bleib einfach im Bad, ja? Sei ein lieber Junge und warte ab. Bald ist es vorbei.“

Sie hatte es also begriffen. Sie kooperierte. Das machte es einfacher, aber er hatte auch nichts anderes erwartet.

Nachdem er die Badezimmertür wieder verriegelt hatte, kehrte er langsam zu ihr zurück. Sie saß gespannt wie eine Feder auf dem Stuhl und beobachtete jede seiner Bewegungen mit Tränen in den Augen.

„Nicht“, flehte sie verzweifelt. „Bitte nicht ... was willst du von uns?“

„Von euch will ich gar nichts“, erwiderte er. „Du reichst mir völlig.“

Sie schluchzte laut und begann erneut zu zittern. „Bitte tu mir nicht weh ...“

„Das kommt darauf an, wie du das definierst“, sagte er. „Wir werden gleich ins Schlafzimmer gehen und dort legst du dich aufs Bett. Es hängt von dir ab, ob es dir weh tut oder nicht.“

„Nein ...“ Sie schüttelte heftig den Kopf und sah ihn verängstigt an. „Bitte tu das nicht!“

„Denk immer an deinen Sohn“, sagte er, während er seinen Blick auf die Pistole in seiner Hand wandern ließ. Sie weinte immer noch.

Inzwischen wusste er, dass es ihm gefiel. Sie glaubte nun, dass er sie vergewaltigen wollte, dabei ging es diesmal gar nicht darum.

Diesmal würde er sie gleich töten.

„Ich habe Probleme mit sexuellen Fantasien“, sagte er. „Ich muss sie ausleben ... mit jemandem. An jemandem. Das ist alles. Du solltest kooperieren.“

Angela schloss die Augen und biss sich wimmernd auf die Lippen. „Nein ...“

Er machte eine schnelle Kopfbewegung. „Komm mit. Je früher wir anfangen, desto eher ist es auch wieder vorbei für dich.“

Sie schluchzte immer noch verzweifelt und er spürte, dass es ihm zunehmend schwer fallen würde, sich zusammenzureißen.

Wobei er das gar nicht musste. Das Szenario erforderte ja, dass er DNA-Spuren zurückließ. Die mussten ja irgendwie da hinkommen.

„Los“, herrschte er Angela an, die leise weinte und nicht aufstehen wollte. Schließlich packte er sie und schleifte sie wortlos ins Schlafzimmer, wo er sie bäuchlings aufs Bett warf.

Er hatte sich alles eingeprägt. Er musste es jetzt genau so machen. Sie entsprechend fesseln ... sie ausziehen ... sie erwürgen. Das würde anstrengend sein, aber es war wichtig. Irgendjemand musste doch erkennen, dass er nicht umsonst einen so bekannten Täter nachahmte. Einen, der wirklich als Vorbild fungieren konnte. Nur musste er sehen, dass er sich nicht so dumm erwischen ließ wie Dennis Rader.

Nein, er war schlauer als Rader. Und er war brutaler. Los Angeles würde ihn zu fürchten wissen, ganz so wie den Nightstalker vor über dreißig Jahren.

Der Anblick der wehrlosen Angela auf dem Bett machte ihn richtig an. Zu schade, dass er keinen Sex mit ihr haben durfte. Er durfte sie nur erwürgen.

Er musste.

Er musste morden. Er konnte nicht mehr anders. Wenigstens auf diese Art konnte er sich Gehör verschaffen.

Jetzt musste er sie nur noch richtig fesseln, ihr die Tüte über den Kopf ziehen ...

Und sie töten. Sie mehrmals würgen, wecken, wieder würgen ...

Bei der bloßen Vorstellung wallte Erregung in ihm auf. Das Blut schoss in seine Lenden, als er Angela weinen hörte.

 

 

Dienstag, 21. März

 

In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie solche Schmerzen erlebt. Als ein weiterer Krampf sie ergriff, schrie sie den Schmerz aus voller Kehle heraus. Sie krallte sich an Matts Hand fest und biss die Zähne zusammen.

„Aufs Atmen konzentrieren“, drang eine Stimme in ihr Bewusstsein vor. „Ganz tief einatmen, dann lässt der Schmerz nach.“

„Nein!“, schrie sie und spürte, wie ihr mehr Tränen über die Wangen liefen.

Es war ein Fehler gewesen. Ein schrecklicher Fehler.

„Sie schaffen das. So viele Frauen haben das vor Ihnen geschafft!“

Aber das war ihr gleich. Wie sollte diese Aussage ihr helfen? Das tat sie nicht.

Als Sadie eine Berührung spürte, zuckte sie zusammen und öffnete die Augen wieder. Die Hebamme stand zwischen ihren Beinen und tastete nach dem Kopf des Kindes.

„Es geht kaum voran“, sagte sie.

„Das soll aufhören ...“ Sadie wähnte sich am Ende ihrer Kräfte. Sie hatte das Gefühl, das keine weitere Minute mehr durchstehen zu können. Dass Matt hinter ihr saß und ihr beruhigend über den Kopf strich, spürte sie kaum.

Die Hebamme sprach mit dem Arzt. Sadie versuchte, etwas zu verstehen, aber es gelang ihr nicht. Dann sah sie, wie der Arzt zu einem Skalpell griff. Die Hebamme trat zur Seite.

„Was haben Sie vor?“, fragte Sadie mit heiserer Stimme. Sie hatte schon zu viel und zu laut geschrien.

Doch der Arzt antwortete nicht. Stattdessen wies er die Hebamme an, Sadie festzuhalten.

„Was tun Sie da?“, schrie Sadie. Der Arzt hatte sich bedrohlich über ihr aufgebaut und sie wollte ihn wegtreten, aber die Hebamme hielt sie an den Füßen fest.

„Matt, hilf mir“, stieß Sadie unter Tränen hervor. Doch es kam keine Antwort. Nichts geschah, um den drohenden Schmerz abzuwenden. Matt streichelte ihr nur über den Kopf.

Dann begriff sie, dass er es wirklich tat und sie gerade nur geträumt hatte. Schlagartig öffnete sie die Augen.

„Hey“, sagte Matt sanft. Er hatte seine Leselampe eingeschaltet und eine Hand auf Sadies schweißnasse Stirn gelegt. „Was träumst du nur wieder?“

Sadie atmete tief durch und tastete nach ihrem Bauch. Er war immer noch flach. Die kleine Erhebung spürte sie im Liegen fast gar nicht.

Sie schloss die Augen und schluckte. „Ich habe von der Geburt geträumt.“

„Komm her.“ Matt rückte näher an sie heran und legte einen Arm um sie. „Das ist erst im Sommer. Du hast noch ein paar Monate Zeit. Alles wird gut gehen.“

„Ich habe geträumt, ich wäre in einem Krankenhaus und da war ein Arzt mit einem Skalpell ...“ Eine Träne löste sich aus ihrem Auge.

Zärtlich küsste Matt sie auf die Stirn. „Niemand tut dir weh. Dafür werde ich sorgen.“

Flüchtig wischte Sadie sich die Tränen weg. „Als er das Skalpell in der Hand hatte, musste ich an Sean denken.“

„Süße, du gehst gar nicht ins Krankenhaus. Nicht, wenn es nicht unbedingt sein muss. Bei den Hebammen bist du in den besten Händen.“

Wortlos schmiegte Sadie sich an ihn und legte einen Arm um ihn. Matt verstand und zog sie dicht an sich, so dass sie sich sicher und geborgen fühlte. Das brauchte sie in diesem Augenblick.

Nein, natürlich bereute sie ihre Schwangerschaft nicht. Aber offensichtlich machten ihr die Ängste aus ihrem Unterbewusstsein immer noch zu schaffen. Sie hatte mit Sandra und Joanna über ihre Geburten im Krankenhaus gesprochen und sich darin bestärkt gesehen, ihr Kind nicht im Krankenhaus bekommen zu wollen. Zu groß war ihre Angst vor Eingriffen, die sie nicht wollte.

Ihre Frauenärztin hatte Verständnis gezeigt und ihr das Geburtszentrum in Santa Monica empfohlen, das sie sich gleich angesehen hatte. Im Vorgespräch war der Hebamme gleich aufgefallen, dass Sadie unglaublich nervös war und sie hatte vorsichtig und respektvoll nachgehakt, warum das so war. Sadie hatten erst die Worte gefehlt, aber nachdem Matt für sie angesetzt hatte, war es regelrecht aus ihr herausgebrochen. Sie hatte der Hebamme plötzlich mit überraschend klaren Worten davon erzählt, dass sie entführt und vergewaltigt worden war und deshalb enorme Angst davor hatte, dass jemand sie gegen ihren Willen berührte oder – schlimmer noch – irgendwelche Eingriffe vornahm.

Insofern wunderte sie das Bild des Arztes mit dem Skalpell aus ihrem Traum nicht. Sie hatte eine traumatische Erinnerung daran, wie Sean sie mit dem Messer traktiert hatte. Seitdem hatte sie panische Angst vor jeder intimen Berührung und vor Messern – und ihre Horrorvorstellung war, dass jemand sie in ihrem Intimbereich verletzte, auch wenn Sean nur damit gedroht und es gar nicht wirklich getan hatte.

Die Hebamme hatte versucht, ihr diese Sorge zu nehmen und ihr erklärt, dass die Geburten im Geburtszentrum so interventionsfrei wie möglich abliefen und niemand jemals etwas gegen ihren Willen tun würde. Dabei hatte sie so ruhig und besonnen gesprochen, dass Sadie ihr geglaubt hatte. Sie hatte der Hebamme ihre Erfahrung und auch einen gewissen Respekt angemerkt, der sie beruhigt hatte.

Man würde sie lassen, das hatte man ihr versprochen. Wenn sie während der Wehen herumlaufen wollte, konnte sie das tun. Sie würde ein Bad nehmen können, sie würde nach Lust und Laune essen und trinken können und niemand würde sie ohne ihre Zustimmung anfassen. Die Hebamme hatte ihre Hochachtung für Sadies kurzen Bericht ausgesprochen und ihr signalisiert, dass sie das Problem nicht nur verstand, sondern auch damit umzugehen wusste.

Das hatte Sadie einige Furcht genommen, aber offensichtlich war sie nicht ganz verschwunden. Schließlich bestand immer noch die Möglichkeit, dass Komplikationen auftraten und sie doch ins Krankenhaus gehen musste. Davor hatte sie immer noch furchtbare Angst. Besonders Joanna hatte ihr so viel über Schnitte und Nähte erzählt, dass sie danach die halbe Nacht wachgelegen hatte. Sie war einfach nicht sicher, dass sie mit ihrer Vorgeschichte in einem normalen Krankenhaus gut aufgehoben war. So robust fühlte sie sich nicht.

Am meisten beruhigte es sie, dass Matt uneingeschränktes Verständnis für diese Ängste hatte. Er hatte ihr immer wieder versichert, dass er ihr beistehen und jeden Weg mit ihr gehen würde, den sie sich wünschte. Inzwischen waren sie beide von einer Geburt ihres Kindes außerhalb eines Krankenhauses überzeugt, denn die Hebamme hatte ihnen anschaulich erklärt, dass bei einem gesunden Schwangerschaftsverlauf meist auch bei der Geburt kaum oder gar keine Eingriffe nötig waren.

Das machte Sadie Mut. Sie scheute nicht die Schmerzen, die auf sie zukamen. Das würde sie schon schaffen. Sie hatte nur Angst davor, dass sie nicht mehr frei bestimmen konnte. Das sollte nie wieder passieren.

Und so kam es, dass sie sich nicht nur über ihre Schwangerschaft freute, sondern sie ihr auch immer wieder Angst machte. Sie konnte eben nicht alles kontrollieren. Sie war hin- und hergerissen zwischen großer Vorfreude auf ihr gemeinsames Baby mit Matt, das sie als etwas ganz Besonderes empfand, und der Furcht vor der Urgewalt einer Geburt. Sie war stolz und glücklich, dass sich bislang alles gut entwickelte, aber am liebsten wäre es ihr gewesen, das Kind wäre schon da. Und trotzdem kam auch kein Kaiserschnitt für sie in Frage. Sie wollte das schaffen. Mit der Unterstützung der Hebammen würde sie das auch.

„Alles okay?“, fragte Matt leise.

„Geht schon wieder", erwiderte Sadie.

„Ich bin immer für dich da, das weißt du.“

„Danke ...“

„Ich verstehe deine Angst und ich werde dich beschützen.“

Diese Worte trafen Sadie mitten ins Herz und rührten sie fast zu Tränen. Sie lächelte mit geschlossenen Augen und schmiegte sich ganz dicht an ihn. Matt hielt sie wortlos fest und strich ihr weiter übers Haar.

„Danke für dein Verständnis“, sagte sie schließlich unter Tränen.

„Hey, wie gut kenne ich dich? Und du veränderst dich auch, das sehe ich.“

„Tue ich das?“

„Ja, du bist ... sanft. Liebevoll. Ein bisschen empfindlicher vielleicht, aber du bist immer gut gelaunt. Du strahlst richtig!“

„Findest du?“

Er nickte. „Ja, das sieht man. Und deine süßen Sommersprossen kommen richtig zum Vorschein!“

„Ja“, brummte Sadie.

„Was denn? Die sind wunderbar! Ich mag sie.“

„Hm“, machte sie wenig überzeugt. Aber ihr war das auch schon aufgefallen. Sonst zeigten sie sich immer erst im Sommer stärker, aber jetzt waren sie deutlich sichtbar. Es veränderte sich so vieles und sie fand das faszinierend.

Matt küsste sie in den Nacken und arbeitete sich zärtlich bis zu ihrer Brust vor. „Hier hast du dich auch verändert ...“

Sie grinste ergeben. „Das bedauerst du natürlich besonders.“

„Du weißt, dass ich dich gerade ziemlich heiß finde“, sagte er ungeniert.

Sadie legte den Kopf in den Nacken und schielte auf ihren Wecker. „Es ist Viertel nach fünf und du kommst mir damit!“

„Du bist auch um Viertel nach fünf heiß“, murmelte Matt unbeeindruckt und küsste sie dann wieder in den Nacken.

„Und ich bin hellwach.“

„Ich auch“, stimmte Matt zu. „Aber was soll’s.“

Sadie griff nach ihrem Handy, auf dem sie ein Foto von der letzten Ultraschallaufnahme vor ein paar Wochen gespeichert hatte, und schaute es sich noch einmal an. Das Originalbild lag unten bei ihren ärztlichen Unterlagen und sie hatte keine Lust, es zu holen.

Zwar war das, was dort zu sehen war, noch winzig – nur ein paar Zentimeter groß. Aber es waren schon ein Kopf und ein kleiner Körper mit Gliedmaßen zu erkennen. Es lag sicher geschützt in ihrem Bauch und wuchs dort fleißig.

Matt betrachtete das Bild ebenfalls. „War toll, das live zu sehen.“

Sadie lächelte. „Ja ... das macht es irgendwie echter, oder?“

Er nickte. „Wir werden Eltern, Sadie. Das ist unser Baby.“

„Ich kann mir trotzdem noch nicht vorstellen, wie das wird.“

„Ich schon. Das wird grandios. Ich freue mich darauf.“

„Ich mich auch“, sagte Sadie und lächelte. Sie freute sich auch schon darauf, die ersten Bewegungen des Babys zu spüren.

Die beiden blieben einfach noch eine Weile aneinandergekuschelt liegen, bevor sie aufstanden und sich langsam für den Tag vorbereiteten. Sie genehmigten sich ein ausführliches Frühstück, zu dem irgendwann Libby dazustieß.

Das Mädchen war ein völlig anderer Mensch als noch in dem Moment, als sie bei ihnen eingezogen war. Sie hatte sich die Haare hübsch frisiert, sie trug Hüftjeans und, wie so oft, ein rotes T-Shirt. An diesem Tag wurden fünfundzwanzig Grad erwartet, was um diese Jahreszeit in Los Angeles nicht allzu ungewöhnlich war.

Libby setzte sich an den Tisch, füllte ihre Schale mit Cornflakes und goss Milch darüber, dann begann sie zu essen. Um ihr rechtes Handgelenk trug sie zahlreiche selbstgeflochtene Armbänder. Sie trug auch ein schlichtes Lederband mit Anhänger um den Hals und unterschied sich so zumindest äußerlich kaum von ihren Mitschülern. Allerdings benutzte sie immer noch kein Make-up. Sadie war überrascht, es hätte sie auch nicht gewundert, wenn Libby es absichtlich und aus Trotz getan hätte, weil sie es zuvor nicht gedurft hatte. Aber sie wollte überhaupt nicht.

„Seit wann seid ihr auf?“, fragte sie.

„Viel zu früh“, brummte Sadie.

„Stimmt etwas nicht?“

„Ich habe nur schlecht geträumt.“

„Oh“, machte Libby anteilnehmend. „Ist es wegen damals?“

„Indirekt“, sagte Sadie. „Manchmal mache ich mir immer noch Sorgen wegen der Geburt.“

„Klar“, sagte Libby sofort und ließ den Löffel wieder sinken. „Wäre bei mir genauso. Ich muss doch bloß an meine Mum denken. Aber ich glaube, du musst keine Angst haben. Meine Mum war noch viel zu jung. Und außerdem hast du Matt.“ Sie grinste breit in seine Richtung und aß dann weiter. Sadie musste über ihre altkluge Art lächeln.

„Das meine ich doch auch“, stimmte Matt zu.

„Ich weiß“, sagte Sadie. „Ihr seid beide wirklich lieb.“

„Das wird cool“, sagte Libby mit halbvollem Mund. „Ich wollte immer Geschwister. Jetzt kriege ich eins.“

„Solange du dich nicht zu alt dafür fühlst“, sagte Matt.

„Nö. So kann ich mich doch wenigstens nützlich machen und helfen.“

„Was du immer noch nicht musst“, sagte Sadie.

„Ach was. Ich wohne jetzt auch hier. Wir sind doch eine Familie.“ Libby grinste und aß weiter, dann sagte sie: „Ich wüsste ja zu gern, was es wird. Junge oder Mädchen ...“

„Vielleicht erfahre ich es beim nächsten Ultraschall“, sagte Sadie.

„Das wäre toll. Es ist echt cool, dass man damit in den Bauch gucken kann! Irgendwann will ich das auch mal.“

„Aber bitte nicht zu früh“, mahnte Matt mit einem väterlichen Unterton.

„Nein, bloß nicht. Nicht so wie bei uns früher ... außerdem wird das nix ohne einen Jungen.“ Libby grinste.

„Nimm dich bloß in Acht vor deinen Altersgenossen!“

„Die Kids in Libbys Jahrgang sind doch alle jünger“, erinnerte Sadie ihn.

„Das heißt doch nichts. Mit dreizehn oder vierzehn fängt man als Junge schon an, Mädchen plötzlich wahnsinnig interessant zu finden. Ich weiß, wovon ich rede.“ Herzhaft biss Matt in seinen Toast.

„Du warst doch irgendwann sowieso ein Herzensbrecher.“

„Ja. Irgendwann.“ Matt zwinkerte ihr zu.

Sie lachten und scherzten beim Frühstück, bis Libby sich auf den Weg zur Schule machte. Sie machte das alles allein, zog ihre Sweatjacke über und schulterte ihre Umhängetasche. Wenn sie das tat, sah es aus, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Sadie freute sich, dass Libby auf dem richtigen Weg war. Sie würde das schon alles schaffen, da war Sadie sich sicher.

Schließlich machte auch sie sich mit Matt auf den Weg zum FBI. Dort würde sie sich allerdings nicht lang aufhalten, denn auf sie wartete die Pressekonferenz bei der Polizei.

Während Sadie verträumt und müde aus dem Fenster starrte, tastete Matt nach ihrer Hand und drückte sie.

„Es war vorhin schon verdammt schwer, die Finger von dir zu lassen, weißt du das?“

Sadie wandte ihm den Kopf zu und lächelte. „Das habe ich gemerkt.“

„Ich weiß, du warst nicht in Stimmung. Leider.“

Sie lächelte. „Ich verstehe. Du willst herausfinden, wie deine Chancen stehen.“

„Ich ...“ begann Matt, zu seiner Verteidigung anzusetzen, doch dann schwieg er und grinste. „Wie stehen sie denn?“

„Gut“, sagte Sadie und meinte es so. In der ersten Zeit ihrer Schwangerschaft hatte sie das schwierig gefunden – entweder sie hätte ihn mit Haut und Haaren fressen mögen oder ihr war zu übel gewesen, um überhaupt darüber nachzudenken. Aber im Augenblick war sie durchaus an Zärtlichkeiten interessiert.

„Zum Glück geht Libby ja immer früh schlafen“, fügte sie dann noch hinzu.

„Was durchaus praktisch ist“, sagte Matt. Sadie spielte mit ihren Fingern an seinen herum und lächelte nachdenklich. Ja, je mehr sie darüber nachdachte ...

Als sie nichts mehr sagte, fragte Matt: „Alles in Ordnung?“

„Sicher, warum fragst du?“

„Ich wollte dich nicht unter Druck setzen.“

„Tust du nicht. Im Gegenteil ... ich bin froh, weil ich das Gefühl habe, dass alles wieder in Ordnung ist.“

„Mit mir?“, fragte er.

„Ja. Inzwischen ist es wieder so, als wärst du ganz der Alte.“

„So fühle ich mich auch“, sagte Matt. „Die Erinnerung verblasst langsam. So, wie du sagtest. Und niemand verhält sich mir gegenüber seltsam, das macht es auch einfacher. Sagtest du nicht, dass selbst Libby es weiß?“

„Sie hat uns zugehört. Später hat sie einmal mit mir darüber gesprochen und sonst nie wieder.“

„Sie ist ein außergewöhnliches Mädchen. Genauso gut könnte sie Angst vor mir haben.“

„Sie kennt dich besser, Matt. Überhaupt hat sie eine ziemlich gute Menschenkenntnis.“

„Das stimmt. Aber ja ... es ist alles in Ordnung. Ich meine, wir werden ein Kind haben! Da ist keine Zeit, um Trübsal zu blasen.“

Sadie hatte dem nichts hinzuzufügen, denn sie fand, dass Matt das schön gesagt hatte.

Wenig später trafen sie beim FBI ein, wo sie sich voneinander verabschiedeten. Sadie ging nur kurz in ihr Büro, um dort Cassandra abzuholen und mit ihr zur Polizei zu fahren. Sadie war schon gespannt auf die Pressekonferenz, sie hatte länger keine mehr gehabt. Besonders vermisst hatte sie es allerdings auch nicht.

„Guten Morgen, ihr beiden“, begrüßte Nathan sie, als sie bei ihm im Büro standen. „Ich hoffe, der Schlachtplan steht?“

„Das tut er“, sagte Sadie. „Ich werde vorsichtig wohldosierte Infos bekanntgeben und mich vor allem an ihn richten, wenn auch nur indirekt. Bestenfalls lockt ihn das aus der Reserve.“

„Ich bin gespannt“, sagte Nathan. „Eigentlich rechne ich auch jederzeit mit einem Eintreffen der DNA-Ergebnisse unseres Täters, die hatte ich schon für gestern Abend erwartet.“

„Ich bin gespannt, ob es eine Übereinstimmung gibt“, sagte Sadie.

Allerdings dauerte es nicht mehr lang, bis Nathan tatsächlich eine Mail vom Gerichtsmediziner erhielt, die sowohl die Auswertung der DNA-Analyse enthielt als auch den Hinweis, dass das Profil in die Datenbank eingespielt wurde.

„Na bitte“, sagte Nathan zufrieden und klemmte sich dahinter, das DNA-Profil von Angela Radfords Mörder mit dem DNA-Profil im Mordfall Emily Bryant zu vergleichen. Der gezielte Einzelabgleich dauerte nur ein paar Augenblicke, dann verkündete ein kleines Fenster eine hundertprozentige Übereinstimmung der beiden DNA-Profile.

„Da haben wir es doch“, sagte Nathan und griff aus Bequemlichkeit zum Telefon, um Carl am anderen Ende des Büros anzurufen und ihm die Neuigkeit mitzuteilen. Als er das erledigt hatte, begann er, das Profil mit den anderen in der Datenbank gespeicherten Profilen zu vergleichen. Dieser Durchlauf dauerte bedeutend länger, erzeugte aber auch kein Ergebnis. Vor dem Mord an Emily Bryant war die DNA noch nie gespeichert worden.

Sie gingen alles noch einmal durch und trafen letzte Vorbereitungen, bis die Pressekonferenz um elf Uhr begann. Es hatten sich Zeitungsjournalisten und viele Lokalreporter eingefunden, überall wimmelte es vor Kameras. Nathan setzte sich dennoch seelenruhig vor die Kameras und begrüßte die Anwesenden.  

„Es freut mich, dass Sie alle hergefunden haben“, sagte er in die Runde. „Es geht um zwei Mordfälle in der Gegend, zwischen denen wir nun eine Verbindung herstellen konnten. Am Freitag wurde in Echo Park eine junge Frau ermordet, ihr Name war Angela Radford. Zum Tatzeitpunkt war auch ihr Sohn in der Wohnung, der uns inzwischen eine Beschreibung des Täters liefern konnte. Wir werden gleich das Phantombild zeigen und möchten Sie bitten, es in den Medien zu verbreiten.“

Nathan nahm einen Schluck Wasser und fuhr dann fort. „Wir wissen inzwischen, dass der Täter sich bei Angela Radford als Polizist ausgegeben hat. Er hat sie mit einer Waffe bedroht und das Kind ins Bad gesperrt, bevor er die Frau in seine Gewalt gebracht und im Schlafzimmer stranguliert hat. Obwohl es keine Hinweise auf einen sexuellen Übergriff gibt, konnten wir Spermaspuren sichern und haben das Profil in der Datenbank abgeglichen. Dabei hat sich herausgestellt, dass derselbe Täter auch am neunten Februar die zwölfjährige Emily Bryant an ihrer Schule entführt und wenig später ermordet hat.“

Ein Blitzlichtgewitter ergoss sich über Nathan, als er das Phantombild des Täters aufrief. „Angela Radfords Sohn hat uns den Mann als Weißen beschrieben, etwa 1,85 Meter groß, mit dunkelbraunem Haar und dunkelbraunen Augen. Zum Tatzeitpunkt trug er dunkle Jeans und eine Lederjacke. Schätzungsweise ist der Mann Anfang bis Mitte Zwanzig. Ein genauere Einschätzung hat meine FBI-Kollegin Special Agent Sadie Whitman für Sie.“

Sadie lächelte ihm zu und übernahm das Mikrofon. „Meine Kollegin Cassandra Williams und ich begleiten die Ermittlungen, weil einiges darauf hindeutet, dass dieser Täter weitere Verbrechen plant. In beiden Fällen hat er den Ermittlern Briefe zukommen lassen, in denen er seine Motivation und seine Absichten deutlich zum Ausdruck gebracht hat. Im Mordfall Angela Radford hat er sich mit dem BTK-Killer Dennis Rader in Verbindung gebracht und die Ermordung Emily Bryants ähnelt sehr dem Tod des letzten Opfers von Ted Bundy.“

Ein Raunen wurde laut und Sadie wartete kurz, bevor sie fortfuhr. „Die Tatsache, dass der Täter Verbrechen berühmter Vorbilder bis ins Detail sauber nachstellt, verrät uns viel über seine Psyche. Wir halten ihn für sehr intelligent, aber auch gehemmt. Durch seine perfekte Planung und Durchführung seiner detailliert nachgestellten Taten wissen wir, dass er organisiert ist und gut planen kann. Dennoch ist er nicht in der Lage, Verbrechen nach einem eigenen Muster zu begehen.“ Mit dieser Behauptung wollte Sadie ihn provozieren und aus der Reserve locken.

„Wir halten den Täter für sehr jung, glauben aber, dass er bereits einschlägige Erfahrungen gesammelt hat und nicht erwischt wurde. Das rührt vermutlich daher, dass er sich sozial angepasst und unauffällig gibt. Allerdings ist er sehr gewaltbereit. Deshalb unser Aufruf an die Bevölkerung: Wenn jemand einen Mann kennt, auf den diese Beschreibung passt, soll er sich bitte an die Polizei wenden.“

Nathan übernahm wieder, um die Kontaktdaten der Polizei durchzugeben. Sadie hatte bewusst ein leicht abgewandeltes Profil bekanntgegeben, um eine Reaktion des Täters zu provozieren. Das würde klappen, dessen war sie sich ziemlich sicher.

Außerdem hoffte sie es auch, denn obwohl sie viele Informationen über den Täter hatten, kamen sie ihm nicht näher. Sie hatten seine DNA, seine Fingerabdrücke, ein Phantombild ... und trotzdem war er genau das für sie: ein Phantom.  

Sadie hoffte, dass sie gute Hinweise aus der Bevölkerung erhielten und dass der Täter sich wirklich wieder meldete, so dass sie mehr über ihn erfuhren.

Irgendwie erinnerte sie das an Andreas allerersten Fall. Dort war die Datenlage auch nicht schlecht gewesen, aber trotzdem war es den Ermittlern nicht gelungen, den Täter rechtzeitig zu schnappen. Sie hoffte, dass es ihnen hier nicht so erging und sie ihn fanden, bevor noch jemand starb.

Mut machte ihr die Tatsache, dass sie bislang noch jeden Täter gefunden hatte, hinter dem sie her gewesen war. Aber wann würde es diesmal der Fall sein?

 

An diesem Abend hatten sie sich zu dritt Pizza bestellt und einen Film angeschaut. Libby machte das unheimlich gern, es war für sie der Inbegriff eines freien Lebens in der amerikanischen Gesellschaft. Vorher hatte sie so etwas nicht gekannt. Inzwischen hatte sie schon einige Lieblingsfilme und -schauspieler und konnte sich vor allem zu Matts Freude sehr für Actionfilme begeistern. Je lauter es knallte und je unrealistischer es aussah, desto besser. An diesem Abend hatten sie sich den neuesten Fast and Furious-Film angesehen und Libby bewunderte immer die freigeistigen und ungezwungenen jungen Frauen, die sie dort zu sehen bekam.

Während der Abspann lief, leerte Libby ihr Glas. „Macht echt Spaß, sich das anzusehen.“

„Das soll es auch“, sagte Matt. „Ich glaube, nicht mehr als das.“

„Ich bin froh, dass ich das jetzt machen kann. Hier draußen ist nicht alles einfach, aber es ist immer noch besser als in unserer Gemeinde.“

„Das glaube ich dir aufs Wort“, sagte Sadie.

„In der Schule war es heute auch ganz gut. Auch wenn ich die Probleme der anderen nicht immer verstehe.“

„Was war denn los?“

„Elaine hat sich darüber aufgeregt, dass ihre Eltern sie nicht mit einem Jungen ins Kino gehen lassen ... in den Spätfilm.“

Fragend zog Sadie die Brauen hoch. „Elaine ist doch erst dreizehn!“

„Ja, eben. Das fällt mir bei den Kids hier wirklich auf. Eigentlich dürfen die schon alles, aber es reicht ihnen gar nicht.“

Sadie lächelte. „Du bist also zufrieden?“

„Na ja, ihr lasst mich doch machen.“

„Was auch daran liegt, dass du keine extravaganten Wünsche hast“, sagte Matt.

„Nein ... mir reicht das, was ich habe.“

Sadie wusste, dass Libby es so meinte. Sie blieb noch ein wenig sitzen und schaute sich mit Sadie und Matt die Nachrichten an, bevor sie beiden eine gute Nacht wünschte und in ihr Zimmer ging.

„So ein pflegeleichter Teenager wär ich auch gern mal gewesen“, sagte Matt nicht ganz ernst gemeint.

„Warst du nicht?“

„Ich hatte immer einen gewissen Fluchtimpuls. Ich wollte immer raus. Am liebsten aus Patterson, aber das ging ja schlecht. Und mein Dad hat mir wortlos eine Packung Kondome in die Hand gedrückt, als ich meine erste Freundin hatte ...“

„Ist doch nett“, fand Sadie.

„Ja, schon, aber ich wollte nicht, dass mein Dad sich vorstellt, wie ich Sex habe. Mit meiner Freundin. Das war einfach nichts, was bei uns ein Thema gewesen wäre.“

„Dein Dad ist doch nicht prüde.“

„Nein ... aber ich war es damals. Zumindest in dem Kontext. Man will sein erstes Mal doch heimlich haben!“

Sadie zuckte mit den Schultern. „Da kann ich nicht mitreden. Ich wollte in dem Alter überhaupt keinen Sex. Erst fand ich Männer unheimlich und dann nicht sonderlich interessant. Ich war schon mit der Schule fertig, als mir dämmerte, dass ich etwas verpasse. Und damals auf dem College ... da hätte ich es toll gefunden, einen Freund zu haben.“

„Jetzt hast du sogar einen Ehemann.“ Matt griff nach ihrer Hand und führte sie galant an seine Lippen.

Sadie lächelte. „Ich kann mir gar nichts anderes mehr vorstellen.“

„Ich mir auch nicht“, sagte Matt. „Ich hatte nie eine konkrete Idee, wie wohl die Frau sein soll, die ich mal heiraten will ... aber als wir dann zusammen waren, war mir alles klar. Du bist einfach etwas Besonderes.“

„Besonders verkorkst“, sagte Sadie nicht ganz ernst gemeint.

„Ach, jetzt hör schon auf. Ich liebe dich.“ Matt drückte ihr einen Kuss auf die Wange und legte eine Hand auf ihren Oberschenkel. Sadie wandte sich ihm zu, legte eine Hand an seine Seite und küsste ihn noch leidenschaftlicher.

„Was ist denn mit dir los?“, fragte Matt überrascht.

„Ich dachte, du willst mich auf den Geschmack bringen“, sagte Sadie.

„War gerade gar nicht so gemeint ...“

„Wir können trotzdem nach oben gehen.“

Das ließ Matt sich nicht zweimal sagen. Inzwischen wussten sie, dass Libby einen recht tiefen Schlaf hatte, deshalb machten sie sich keine Sorgen. Sadie wusste aber auch, dass Libby es niemals kommentiert hätte.

Sie verschwanden mucksmäuschenstill im Schlafzimmer. Sadie hatte kaum die Tür hinter sich geschlossen, als Matt sie rücklings dagegen drückte und sie am ganzen Körper berührte, während er sie küsste. Dann streifte er ihr Oberteil ab und küsste sie in die Halsbeuge. Sadie schloss die Augen und ließ ihn gewähren. Inzwischen war sie wenigstens in Stimmung. Am Morgen war sie das natürlich nicht gewesen, aber sie konnte nicht leugnen, dass sie im Moment generell empfänglicher für Zärtlichkeiten war. In ihrem Körper veränderte sich so vieles und das blieb nicht unbemerkt.

Im Handumdrehen hatte Matt ihr die Hose abgestreift und entledigte sich auch selbst seiner Kleidung, dann gab er ihr einen liebevollen Stoß Richtung Bett und warf sich selbst daneben. Als sie einfach nebeneinander lagen, blickte Sadie stumm zu ihm auf und musterte ihn verliebt.

Matt legte eine Hand auf ihren Bauch und streichelte ihn sanft. „Das haben wir gut hinbekommen.“

„Nicht wahr?“ Sadie lächelte. „Und neun Monate lang keine Gedanken an Verhütung!“

Matt grinste und beugte sich zu ihr hinab, um sie zu küssen. Er legte einen Arm um sie, stützte sich mit dem anderen ab und küsste sie.

„Du bist wirklich unwiderstehlich“, raunte er ihr mit geschlossenen Augen zu. Sadie lächelte und schloss ebenfalls die Augen. Sie wollte sich einfach ganz darauf einlassen.

Matt strich mit der Hand durch ihr Haar und küßte sie in die Halsbeuge, während er seine Hand über ihren Körper gleiten ließ und den Saum ihres Slips nachfuhr. Sadie bekam eine Gänsehaut. Unter Küssen arbeitete er sich bis zu ihren Brüsten vor und streifte ihr langsam den BH von den Schultern. Als er sie zärtlich küsste und streichelte, stöhnte Sadie leise.

„Psst“, machte Matt grinsend.

„Das ist so schön ...“

„Na dann.“ Belustigt liebkoste er sie weiter und nahm amüsiert zur Kenntnis, wie sie sich an ihn krallte und sich auf die Lippen biss. Davon fühlte er sich umso mehr angespornt und machte damit weiter, Sadie in den Wahnsinn zu treiben. Schließlich nahm er eine Hand zur Seite und ließ sie in ihrem Slip verschwinden. Sadie knurrte ungeduldig und versteifte am ganzen Körper, als er sie lustvoll zu streicheln begann.

„Bist du fies“, raunte sie.

„Du kannst es ja heute gar nicht erwarten“, stellte er trocken fest.

„Beschwer dich doch“, schoss Sadie zurück.

„Ach, weißt du ...“ Mit diesen Worten entledigte er sich seiner Shorts, raubte ihr den Slip und zog sie bis an die Bettkante. Dann kniete er sich davor und beugte sich über sie.

„Soll ich?“

„Matt!“, rief Sadie halb empört und lachte.

„Du bist aber wirklich gierig“, sagte er und wurde eins mit ihr. „Gefällt mir.“

Sadie biss sich auf die Lippen und lächelte. Als sie sich aufrichtete, zog Matt sie an sich und versank in einem innigen Kuss mit ihr.

Sie bemühten sich, leise zu sein, aber besonders Sadie fiel das wahnsinnig schwer. Mit einer diebischen Freude streichelte und liebkoste Matt sie überall und trieb sie so genüsslich in den Wahnsinn. Es dauerte gar nicht lang, bis Sadie mit einem erstickten Schrei zusammenzuckte und sich zitternd an ihm festhielt. Matt blinzelte mit einem Auge und grinste. Augenblicke später ließ er sich mitreißen und drückte Sadie an sich.

„Wusste gar nicht, dass Schwangere so gierig werden können ...“ murmelte er augenzwinkernd.

„Ich auch nicht“, sagte Sadie atemlos. „Aber es ist einfach großartig!“

„Es freut mich, dass du glücklich bist.“ Mit diesen Worten löste er sich langsam von ihr und ging auf der Suche nach seinen Shorts. Sadie stand ebenfalls auf, suchte nach ihrem Nachthemd und huschte für einen Moment ins Badezimmer.

Schließlich lagen sie beide wieder im Bett und kuschelten sich aneinander. Sadie hatte sich seitlich an Matt geschmiegt und fuhr mit den Fingerspitzen über die Narbe auf seiner Brust.

„Ich liebe dich“, sagte sie.

Matt lächelte. „Ich dich auch. Und nicht nur dich.“ Er strich mit der Hand über ihren Bauch. „Du merkst aber noch nichts, oder?“

Sadie grinste. „Nein, es ist noch ziemlich früh. Aber kommt bestimmt bald.“

„Ich bin so froh, dass du es jetzt doch willst.“

Sie blickte zu ihm auf. „Du hast immer gesagt, es ist dir egal, ob wir Kinder haben.“

„Ja, war es auch. War es wirklich. Aber jetzt ist das anders.“ Er zögerte einen Moment. „Das rettet mich wirklich.“

„Ich weiß. Vor zwei Jahren hast du mich gerettet.“

Wortlos küsste Matt sie auf die Stirn.

 

 

Samstag, 25. März

 

Libby war schon auf den Beinen, als Sadie und Matt aufstanden. Sie hatte die Katzen gefüttert, die Blumen gegossen und sah fern, als Sadie unten erschien.

„Guten Morgen“, begrüßte Sadie sie gut gelaunt.

„Hey“, sagte Libby erfreut. „Wenn Matt auch kommt, mache ich uns Rührei.“

„Du bist einfach großartig“, sagte Sadie mit ehrlicher Freude.

„Ich mache das gern! Ich fühle mich so wohl bei euch. Danke, dass ihr das macht.“

„Oh, sag das nochmal, wenn das Baby da ist ...“ murmelte Sadie grinsend.

„Ach, Babygeschrei kenne ich. Das ist nicht schlimm, weißt du?“

„Wenn du das sagst.“

Weil Augenblicke später auch Matt erschien, bereiteten sie gemeinsam das Frühstück vor und setzten sich schließlich mit Rührei an den Tisch. Das Radio spielte leise und sie beratschlagten gemeinsam, ob sie nicht vielleicht abends ins Kino gehen wollten.

Sadie fand es toll, Libby bei sich zu haben. Sie hatten ein respektvolles und freundschaftliches Verhältnis und es freute sie, dass Libby sich wohl fühlte.

Sadie hatte gerade den letzten Teller in die Spülmaschine gestellt, als das Telefon klingelte. Es war Nathan.

„Guten Morgen“, sagte sie. „Was gibt es Neues?“

„Ich bin gerade im Büro, die Post ist da. Er hat tatsächlich schon geantwortet.“

„Soll ich vorbeikommen?“

„Nein, nicht nötig. Ich will nur, dass du Bescheid weißt. Er geht dich ziemlich an.“

„Das war ja zu erwarten“, sagte Sadie unbeeindruckt.

„Ich habe dir den Brief bereits gescannt und geschickt.“

„Danke, ich schaue ihn mir an.“ Mit dem Hörer in der Hand ging Sadie in die obere Etage und betrat das Arbeitszimmer. Noch war es nicht an der Zeit, ein Kinderzimmer einzurichten, deshalb hatte sich noch niemand damit auseinandergesetzt.

Sie fuhr ihren Rechner hoch und loggte sich mit ihren FBI-Zugangsdaten ein.

„Er war schnell“, sagte sie, während sie ihr Mailprogramm startete.

„Er scheint darauf gewartet zu haben.“

„Das ist gut für uns ... er scheint narzisstisch veranlagt zu sein und will, dass wir ihn richtig einschätzen und bewundern. Darüber können wir ihn kriegen.“

„Ich hoffe es. Wäre gut, wenn er sich irgendwie verrät.“

„Augenblick noch ...“ Sadie rief ihre Mails ab und fand Nathans Mail auf Anhieb. Sie öffnete den Anhang und vergrößerte das Bild, dann begann sie zu lesen.

 

Es geht doch voran. Endlich beschäftigt sich jemand mit dem Fall, der auch etwas davon versteht. Profiler des FBI sind ja nicht zu unterschätzen, aber in manchen Dingen lag Agent Whitman mit ihren Annahmen falsch. Wie kommt sie dazu, zu denken, ich kopiere BTK und Bundy, weil ich Hemmungen habe? Sie sollte es besser wissen, oder hat sie sich Angela nicht angesehen? Hemmungen sind nun wirklich das Letzte, was ich habe.

Aber sie hat mich ja auf Ideen gebracht. Auch der Oregon Strangler ist ja jemand, der sich gut nachahmen ließe! Hat das nicht der Pittsburgh Strangler getan? Sie inspiriert mich sehr! Ich frage mich ja immer, wie viel Vorstellungskraft ein Profiler mitbringt und ob sie weiß, wie es sich anfühlt, jemandem wie mir gegenüberzustehen und ihm ausgeliefert zu sein. Das würde ich sie gern fragen!

Ebenso wüsste ich zu gern, ob sie ahnt, was mein nächstes Szenario sein wird. Ich habe es bereits gründlich geplant. Mitte April wird jemand sterben und ich denke nicht, dass sie es verhindern kann. Sie durchschaut meinen Plan nicht. Nur soviel: Ich bin BTK und Bundy ebenbürtig.

 

You’re only young but you’re gonna die

I won’t take no prisoners, won’t spare no lives

Nobody’s putting up a fight

I got my bell, I’m gonna take you to hell

I’m gonna get ya, satan get ya ...

 

„Da ist aber jemand wirklich sehr von sich überzeugt“, sagte Sadie unbeeindruckt.

„Erkennst du den Text?“

„Er kommt mir bekannt vor ...“

„Das ist Hells Bells von AC/DC.“

„Makaberer Humor“, fand Sadie.

„Was sagst du dazu?“

Sadie las den Brief erneut. „Er hat voll angebissen, deshalb auch diese prompte Reaktion. Er musste mich ja unbedingt korrigieren, aber das beweist, dass wir richtig liegen. Er ist in die Falle getappt, aber er hat auch nichts anderes mehr korrigiert. Wahrscheinlich, weil es nicht nötig war.“

„Gut, aber haben wir etwas Neues?“

„Er hat sich natürlich angesehen, wer ich bin. Damit habe ich gerechnet, das lieben solche Typen. Das ist die Logik einer klassischen Erzählung: Es braucht einen Helden und einen Gegenspieler.“

„Sadie, wenn du jetzt deshalb in Gefahr bist ...“

„Ich weiß, was ich tue, Nathan”, unterbrach sie ihn. „Wir kriegen ihn, bevor er auf dumme Gedanken kommt.“

„Ich könnte es mir niemals verzeihen, wenn dir jetzt etwas passiert! Gerade jetzt!“

Sie verdrehte die Augen. „Ich bin vielleicht schwanger, aber ich mache trotzdem meine Arbeit. Soll er doch über mich Bescheid wissen.“

„Er hat angedeutet, dass es ihn interessieren würde, Kontakt mit dir aufzunehmen", beharrte Nathan.

„Genau das wollen wir doch! Er ist so überheblich, dass er in unsere Falle tappen kann. Das ist doch gut!“

Nathan seufzte. „Hast du denn eine Idee, was er als Nächstes vorhat?“

„Er spricht von Mitte April“, sagte Sadie. „Ich kann versuchen, herauszufinden, welche Mordfälle es im April gibt.“

„Aber wie halten wir ihn auf?“

„Habt ihr schon Hinweise bekommen?“

„Es geht einiges ein, aber wir prüfen es noch.“

„Wir werden ihn schon finden, Nathan. Er ist zu überheblich, das lässt ihn zu viel riskieren. Ich habe keine Angst vor dem Kerl.“

„Nun gut, wenn du das sagst ...“ Nathan klang nicht überzeugt.

„Wir brauchen mehr Hinweise auf ihn. Ich werde nachprüfen, welche Fälle im April in Frage kommen, aber selbst wenn wir das wissen, hilft uns das nicht konkret weiter.“

„Ich weiß ... das ist irre. Du hast so schnell die Verbindung zwischen den Fällen gefunden und ein Profil erstellt, aber das soll uns jetzt gar nicht helfen?“

„Ich rede am Montag mit Cassandra. Ich kann auch mit der BAU in Quantico sprechen. Mach dir keine Sorgen, Nathan, wir kriegen den Kerl. Ich habe bislang jeden Fall aufgeklärt.“

„Ich hoffe, du hast Recht“, sagte Nathan. „Danke, Sadie. Bis Montag.“

Als sie sich verabschiedet und aufgelegt hatte, merkte sie, dass Matt hinter ihr in der Tür stand.

„Nathan?“, fragte er.

Sadie nickte. „Der Täter hat wieder einen Brief geschickt.“

„Oh“, machte Matt und stellte sich neben Sadie, um sich den Brief anzusehen. Irgendwann verschränkte er die Arme vor der Brust und sah Sadie unwirsch an.

„Er interessiert sich für dich. Muss ich mir jetzt Sorgen machen?“

„Der will uns nur Angst machen, Matt.“

„Wir haben Sean damals auch unterschätzt.“

„Er hat schon längst seine Pläne geschmiedet. Darin komme ich nicht vor.“

„Ja, noch nicht. Wer weiß, ob sich das ändert?“

Sie seufzte. „Ich bin immer bewaffnet. Du bist da ... außerdem muss er mich doch erst mal finden und wie will er das tun?“

„Das gefällt mir nicht. Überhaupt nicht”, beharrte Matt.

„Was ist los?“, fragte Libby vom Flur aus.

„In meinem aktuellen Fall gibt der Täter das überlegene Großmaul und jetzt machen Nathan und Matt sich Sorgen, mir könnte etwas passieren“, erklärte Sadie.

„Aber das wäre doch möglich?“

„Dazu müsste ich erst mal in seinen Plan passen. Er ist besessen von Plänen!“

„Er hat Zeit“, sagte Matt.

„Er gibt nur an", widersprach Sadie.

„Wie kannst du das wissen?“

„Der Kerl kann nicht anders.“

„Wie auch immer ... jetzt ist es sowieso zu spät“, murmelte Matt. „Er hat dich gesehen und wenn ich jetzt ein Auge auf dich haben muss, tue ich das.“

„Meinetwegen“, sagte Sadie unbeeindruckt. Sie fürchtete diesen Täter nicht, denn er hatte sich längst einen Plan zurechtgelegt. Er wollte ihr nur Angst machen, das hatte sie im Gefühl. Ihm war an einem Katz- und Maus-Spiel gelegen. Solche Täter gab es auch: Sie begingen ihre Taten und hatten eine diebische Freude daran, sich mit den Ermittlern zu duellieren. So einer war das hier auch.

„Was musst du auch immer Serienkiller jagen“, sagte Matt unwirsch. „Aber mein Job ist kaum besser, ich weiß ...“

„Wollte ich gerade sagen“, murmelte Sadie mit hochgezogener Augenbraue.

„Halt mich auf dem Laufenden, ja? Ich bin mal in der Garage, die kaputte Lampe am Challenger wechseln.“

„Okay“, sagte Sadie und stützte den Kopf in die Hand. Im Augenwinkel sah sie, dass Libby näher kam.

„Was ist los?“, fragte Sadie.

„Ich war nur neugierig“, sagte Libby. „Sonst bekomme ich ja nichts von deiner Arbeit mit ... ich meine, ich kenne deine Arbeit ja schon, aber nur im Hinblick auf mich. Das ist ja jetzt schon etwas anderes.“

„Das ist das, was ich meistens mache. Serienkiller jagen.“ Sadie sagte das unbefangener, als es gemeint war.

„Und du machst dir da jetzt gar keine Sorgen? Warum nicht?“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739403762
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (März)
Schlagworte
Serienkiller Profiling Profiler Ermittler Thriller Serienmörder Spannung Sadismus FBI Psychothriller Krimi

Autor

  • Dania Dicken (Autor:in)

Dania Dicken, Jahrgang 1985, schreibt seit der Kindheit. Die in Krefeld lebende Autorin hat in Duisburg Psychologie und Informatik studiert und als Online-Redakteurin gearbeitet. Mit den Grundlagen aus dem Psychologiestudium setzte sie ein langgehegtes Vorhaben in die Tat um und schreibt seitdem Psychothriller mit Profiling als zentralem Thema. 2014 hat sie ihre ersten Psychothriller und Fantasyromane im Selfpublishing veröffentlicht; ab Herbst 2016 erscheint die Profiler-Reihe bei Bastei Lübbe.
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Titel: Die Seele des Bösen - Nachts kommt der Tod