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Tiere des Schreckens

Kurzgeschichten

von Ruth Herbst (Autor:in)
125 Seiten

Zusammenfassung

Elf tierische Schreckgeschichten sind in diesem Sammelband enthalten. Unter anderem über die Suche nach einer Riesenschlange auf dem verlassenen Rummelplatzgelände, den Hütedienst eines Papageis der zum Desaster wird oder über den Tod, der seine liebe Mühe hat, eine Katze zu holen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Die Schlange

Nico hatte diese Geschichte sicher schon hundert Mal gehört. Mal war es eine Spinne, dann waren es Zombies und jetzt also eine Schlange, die auf dem verlassenen Jahrmarktsgelände ihr Unwesen treiben sollte. Nico hörte Leon schweigend zu, während er noch einen Schluck von seinem Bier trank. Vor dem Fenster der Bar fielen die ersten Schneeflocken dieses Jahres und Nico hatte keine Lust, sich diese ewigen Gruselgeschichten über das verlassene Jahrmarktsgelände anzuhören. Er wollte einfach in Ruhe seinen Feierabend geniessen. Seit der Vergnügungspark vor über zehn Jahren geschlossen hatte, machten die wildesten Gerüchte die Runde. Zuerst hiess es, in der Geisterbahn sei es zu unheimlichen Begegnungen der dritten Art gekommen, später, eine Riesenspinne würde des Nachts über das Gelände wandeln. An Halloween hiess es, dort würden die lebenden Toten herumspazieren, was immer wieder Jugendliche anzog, was wiederum zu Unfällen führte, da diese auf den rostigen Bahnen herumkletterten. Darauf hiess es, die Geister hätten zu den Unfällen geführt, obwohl jeder mit ein bisschen gesundem Menschenverstand sich denken konnte, dass verrostete Bahnen nicht gerade ein sicheres Klettergerüst abgaben. Jeder hatte irgendeine Geschichte auf Lager, nur Nico hatte bis jetzt noch nie etwas Unheimliches in die Richtung erlebt. Das lag wahrscheinlich daran, dass er noch nie das Bedürfnis verspürt hatte, in der Nacht auf dem verlassenen Rummelplatz herumzuwandern. Wozu auch? Als Kind war er regelmässig auf dem Rummelplatz gewesen. Zuerst auf dem Kinderkarussell, später auf der tödlichen Achterbahn und der Geisterbahn und als er älter wurde, ging er hin und wieder mit einer Freundin auf das Riesenrad, damit er sie auf dem höchsten Punkt in Ruhe küssen konnte. Doch das war alles schon sehr lange her. Manchmal, wenn ihn die Nostalgie packte, besuchte er den verlassenen Park bei Tag, sah sich die verrosteten Fahrgestelle an und schwelgte in Erinnerungen. Maurus, der die Tageszeitung durchgeblättert hatte, hatte scheinbar gar nicht zugehört. „So viel sinnlose Gewalt“, meinte er seufzend, während er die Zeitung penibel zusammenfaltete. „Wann ist denn Gewalt schon nicht sinnlos?“ meinte Nico und nahm noch einen Schluck von seinem Bier. Maurus war nicht das hellste Licht im Kronleuchter, brauchte für alles etwas länger, doch er war ein lieber Kerl, herzlich, loyal und hilfsbereit, weshalb Nico ihn gut mochte. Er brauchte keine Intelligenzbestien als Kollegen. War ja selber auch keine. Nun schaute Maurus Nico gross an, liess sich dann die Frage durch den Kopf gehen und trug nun im Geiste seine Argumente für seine Aussage zusammen. Man konnte förmlich sehen, wie sich die Zahnrädchen in seinem Kopf drehten. Dann meinte er, „na, wenn man zum Beispiel einen Terroristen erschiesst. Oder einen Massenmörder zum Tode verurteilt. Wenn der dann so ganz langsam auf dem elektrischen Stuhl verbrutzelt.“ „Was soll das schon bringen? Da wird ein Terrorist erschossen und zwanzig andere warten bereits voller Vorfreude darauf, einen Vergeltungsschlag auszuüben. Ja, für die ist das doch nur ein Grund wieder zuzuschlagen. Dann können die auch noch dem bösen Westen, den Ungläubigen, die Schuld dafür geben. Und glaubst du im Ernst der elektrische Stuhl oder die Giftspritze haben je einen Mörder von seinen Taten abgehalten? Was bringt es, jemanden umzubringen, nachdem die Tat bereits geschehen ist?“ „Hey, Kriegstreiber, Pazifist, ehrlich jetzt, stopp! Habt ihr nun von der Schlange gehört oder nicht?“ „Welche Schlange?“ Maurus verstand überhaupt nichts mehr. Wieso schwafelte nun Leon plötzlich von einer Schlange? Sie hatten sich doch über die Gewalt in der Welt unterhalten? „Na die Schlange auf dem verlassenen Rummelplatz, zu Döskopf.“ „Und wieso soll eine Schlange auf dem Rummelplatz unser Problem sein?“ Maurus verstand immer weniger, Leon wurde immer ungeduldiger, während Nico dem hin und her schmunzelnd zuhörte. Manchmal waren seine Kollegen echt die Höhe. „Jetzt hör doch mal zu! Das ist nicht einfach irgendeine kleine Schlange. Nein, das soll eine zehn Meter lange Schlange sein. Dick wie ein Bodybuilderunterschenkel. Vielleicht auch dicker. Wenn sie ihr Maul aufreisst, kann sie locker einen Menschen mit einem Bissen verschlingen.“ Leons Gesicht hatte sich während seiner Ausführung stark gerötet, was entweder auf einen bevorstehenden Wutanfall deutete, oder auf sonstige grosse Erregung. Nico hoffte auf Letzteres. Leon hatte schon lange keinen Wutanfall mehr gehabt, aber der letzte war ihm noch viel zu deutlich im Gedächtnis. Es endete damit, dass er ihn irgendwann am nächsten Tag vom Polizeiposten abholen durfte, wo er zum Glück wieder merklich abgekühlt war. „Solche Schlangen gibt es doch gar nicht“, hielt Maurus stur dagegen, der nicht bemerkte, dass Leon sich total in etwas hineinsteigerte, was oft der Fall war. Nun sah sich Nico gezwungen, sich einzumischen. Er wollte nicht, dass dieser Abend im Desaster endete. Er wollte den Beginn des Wochenendes einfach ruhig geniessen. Seine Freundin war ein paar Tage weg, shoppen und wellnessen mit ihren Freundinnen, was für seltsame Freizeitbeschäftigungen, und er hatte die Bude für sich, was hiess, er konnte tun und lassen was er wollte und war niemandem Rechenschaft schuldig. „Woher hast du denn von dieser Geschichte gehört?“ stellte Nico die erste unverfängliche Frage, die ihm in den Sinn kam. „Na bei der Arbeit. Wir waren in der Nähe des Rummelplatzes, weil es Probleme mit einer Trafostation gab und immer wieder der Strom in dieser Gegend ausfiel. Da meinte Jörg, das könnte wegen der Schlange sein, die hier ihr Unwesen treibt.“ „Und dann?“ „Was, und dann? Fertig, aus, das war‘s.“ „Dann kann es ja tatsächlich einfach irgendeine kleine Schlange sein, eine Natter oder so, die irgendwo entflohen ist. Bei der Kälte wird sie wahrscheinlich eh nicht lange überleben.“ „Nein, das ist eine grosse Schlange! Eine Monsterschlange!“ „Hey, schrei mich nicht an!“ „Sorry“. Langsam kam Leon wieder herunter. Er hatte die unangenehme Angewohnheit etwas zu behaupten, ohne wirklich Argumente dafür zu haben. Sie hatten schon stundenlange Diskussionen, die mehr oder weniger so abliefen, „Ja, das ist so.“ „Nein, ist es nicht.“ „Doch“. „Nein“. „Doch“. Während diesen ‚Diskussionen‘ wurde dann Leon immer wütender. Maurus mochte ja manchmal etwas beschränkt sein, aber immerhin hatte er für alle seine Aussagen ein Argument parat. Das kam manchmal einfach erst nach einer halben Minute oder so. Manchmal dann, wenn die Diskussion schon wieder lief oder ein neues Thema angeschnitten wurde. Dann konnte er in aller Seelenruhe noch seine Argumente herunterlabbern, ohne darauf zu achten, dass er den andern einfach ins Wort fiel und total am Thema danebenredete. Nun rollte Maurus die Geschichte nochmals ruhig auf. „Also, Jörg dein Arbeitskollege hat dir gesagt, dass es auf dem Rummelplatz eine Schlange gibt. Und die soll über zehn Meter lang und wahnsinnig dick sein und könnte auch Menschen fressen, doch gesehen hat sie niemand. Richtig?“ „Richtig“, sagten Nico und Leon im Chor. „Aber woher weiss man dann von der Schlange, wenn sie niemand gesehen hatte?“ „Ach, nun hör schon auf! Du weisst ja wie das mit diesen unheimlichen Geschichten ist. Jemand sieht was, erzählt es weiter und der Nächste fügt noch etwas hinzu, und so weiter und so fort. Ein Gerücht nennt man das.“ „Mhhm“, knurrte Maurus und liess sich das durch den Kopf gehen. Doch, da könnte was dran sein. „Auf jeden Fall“, fuhr nun Leon fort, „möchte ich heute mal auf den Rummelplatz und sehen, ob da was Wahres dran ist.“ „Das ist jetzt aber nicht dein Ernst“, murrte Nico und schaute aus dem Fenster in das Schneetreiben, das immer dichter wurde. Bei diesem Wetter gab es keine angenehmere Art zum Verweilen als in einer schön warmen Bar, mit einem kalten Bier vor sich. „Du Memme! Willst du lieber einen Schneemann bauen?“ Nico musste bei dieser Anspielung grinsen. Er wusste ganz genau auf was dieser Spruch abzielte. Als er einmal zu Besuch bei seiner Schwester war, wünschte sich seine Nichte Amelie von ganzem Herzen, dass er mit in ‚die Eiskönigin‘ ins Kino kam. „Bitte, bitte Onkel Nico“, hatte sie gebettelt, wobei das ‚Bitte‘ eher wie ‚Bütte‘ geklungen hatte. „Bütte, bütte, dieser Film ist sooo cooool. Der ist auch voll lustig, ehrlich.“ „Und woher weisst du das alles?“ wollte Nico von ihr wissen, der keine Ahnung hatte, mit welcher Ausrede er sich aus dieser Affäre ziehen konnte. „Ich habe schon ein bisschen was davon im Fernseher gesehen. Und meine Freundin Mia hat den Film schon gesehen. Sie hat gesagt er ist sooo toll. Und Anna ist noch viel, viel hübscher als Elsa und der Schneemann verliert dann seinen Kopf und muss ihn wieder aufsetzen und das Rentier Sven kann sprechen und Kristoff ist auch ganz nett. Das ist ein Junge und der hilft Anna bei der Suche nach Elsa, aber die ist dann böse geworden und ist im Berg und macht Monster aus Schnee“, unter Gekicher kam dieser ganze Schwall von Worten aus Amelie und Nico verstand nicht die Hälfte von dem, was sie da erzählte. In dem Moment kam seine ältere Schwester Lily dazu. „Na komm schon, begleite uns doch, das macht doch Spass. Mal etwas anderes als Science Fiction und Horror.“ „Oh ja, bütte, bütte bütte.“ Amelie hüpfte wie ein Ball vor ihm rauf und runter. „Na gut“, liess sich Nico breitschlagen, worauf Amelie wie ein Wirbelwind durch das Haus fegte und dabei schrie, „Onkel Nico kommt mit, juhuuu! Darf ich den Zauberstab mitnehmen?“ Der Zauberstab blieb schlussendlich zu Hause. Im Kino musste er dann unbedingt neben Amelie sitzen. Darauf beharrte sie. Zudem musste er das Popcorn halten, durfte aber nicht zu viel davon essen. Er zählte die erwachsenen Männer und kam gerade mal auf vier. Doch man musste auch manchmal etwas tun, das einem nicht so in den Kram passte, um andern eine Freude zu machen. Amelie, auf jeden Fall überglücklich, stopfte sich haufenweise Popcorn in den Mund, und plauderte ununterbrochen, während die Krümel nur so flogen. Nico fand den Film gar nicht so schlecht. Immerhin wurde bei diesem Disneyfilm nicht von A bis Z in den höchsten Tönen gesungen. Zudem gab es lustige Szenen und dass diesmal am Schluss nicht ein Prinz mit seinem Kuss Anna vor dem Tod rettete, sondern die Geschwisterliebe, fand er richtig gut. Er selber hätte auch alles für Lily und seinen jüngeren Bruder Luca getan. Er wäre für sie durch Feuer und Eis gegangen. Gut, jetzt war er nicht mehr bei der Eiskönigin sondern bei Games of Thrones. Aber egal. Als ihn am nächsten Tag Leon fragte, was er gestern so getrieben habe, wollte Nico zuerst nicht mit der Wahrheit herausrücken. Als er ihm dann aber schlussendlich doch erzählte, dass er die Eiskönigin mit Amelie und seiner Schwester gesehen habe, war Leons Reaktion ganz unerwartet. Er begann laut zu lachen. Doch er lachte Nico nicht aus, sondern meinte zwischen zwei Lachern, „ich war auch dort. Letzte Woche. Mit Luana.“ Leon hatte sich nicht getraut, dies Nico zu erzählen, doch nun sprachen sie zwei doch tatsächlich über die Eiskönigin, bis Maurus dazu stiess. „Na, was gibt es Spannendes?“ wollte er wissen, während er sich auf den noch freien Stuhl plumpsen liess. „Ach nicht besonderes. Haben uns gerade über Schnee und Eis unterhalten.“ „Ach so“, meinte Maurus verwirrt und liess es dabei bewenden. Eis und Schnee konnten vielleicht ganz interessante Themen sein. Doch es gab Besseres. Nico, in seine Erinnerungen versunken, wurde sich nun bewusst, dass es halt manchmal einfach darum ging, mal etwas zu tun, um den anderen eine Freude zu machen, auch wenn man es nicht wirklich wollte. Zum Beispiel im Schneetreiben auf dem verlassenen Rummelplatz auf Schlangensuche zu gehen, während man lieber mit einem Bier in der Bar sitzen würde. Kopfschüttelnd meinte er deshalb nun, „na von mir aus“, und trank mit einem grossen Schluck sein Glas leer. „Echt jetzt?“ fragte Leon verwundert. Normalerweise war Nico die Spassbremse schlechthin in ihrer Truppe. Maurus, der praktisch immer für alles zu haben war, stand auf, nahm seine Jacke von der Stuhllehne und schlüpfte dann hinein. „Echt jetzt?“ fragte Leon noch einmal, immer noch sitzend, während nun auch Nico seine Jacke anzog. „Ja, ehrlich, komm endlich, bevor ich es mir anders überlege“, forderte ihn Nico auf und hoffte kurz, dass es vielleicht Leon war, der es sich noch anders überlegen würde. Doch leider stand der nun auch auf und zog seine Jacke über, während sie zur Türe gingen und der Bedienung zum Abschied winkten. „Tschau Jungs, schon Feierabend hier?“ fragte Sally verwundert. So früh hatten sie die Bar an einem Freitagabend noch nie verlassen. „Ja, müssen noch was erledigen. Bis bald“, meinte Leon, winkte noch einmal und dann waren sie draussen. Der kalte Wind fegte ihnen die Schneeflocken ins Gesicht. Nico verwünschte sich, dass er dem Vorschlag zugestimmt hatte, doch die anderen zwei stiefelten bereits durch den Schnee Richtung Rummelplatz. Kurzerhand schlug Nico den Kragen seiner Jacke hoch und folgte ihnen dann rasch. Der Rummelplatz war etwa zwanzig Minuten Fussmarsch vom Dorfkern entfernt, und sie gingen schnell, damit ihnen nicht zu kalt wurde. Schon bald blieb Maurus wie immer zurück. Er war nicht nur langsam im Reagieren, Denken und Sprechen, er hatte auch ein unglaublich langsames Gehtempo. Wäre er ein alter Mann oder hätte er ein Gebrechen, hätte Nico dafür Verständnis gehabt. Doch Maurus war ein gesunder zweiunddreissigjähriger Mann mit langen Beinen, der es aber einfach irgendwie nicht fertigbrachte schneller zu laufen. Nico war schon mit ihm unterwegs gewesen, da waren sie von Senioren mit ihren Laufstöcken und sogar von einer alten Frau mit Rollator überholt worden. Doch irgendwie ging es bei Maurus einfach nicht schneller. Leon war da rücksichtslos, der hielt sein Tempo einfach bei. Nico jedoch verlangsamte bis er neben Maurus ankam. „Mann, gib doch ein bisschen Gas. Es ist verdammt kalt, also das geht doch auch schneller.“ „Was habt ihr bloss für einen Stress“, meinte er nach einer ganzen Weile, in der Nico schon dachte, es würde gar keine Reaktion mehr kommen. Vielleicht musste er sich zu sehr auf das Gehen konzentrieren, so dass er nicht auch noch sprechen konnte. „Scheisse, wir gehen in der kältesten Nacht des Jahres auf einen verlassenen Rummelplatz um eine Riesenschlange zu suchen, die mit Sicherheit nicht existiert, also wieso sollte man da nicht stressen?“ „Komm schon, wie heisst das Sprichwort. Wart mal.“ Nico hatte keine Ahnung von welchem Sprichwort Maurus nun wieder sprach und liess ihn deshalb mal überlegen, während ihm die Kälte in die Knochen kroch. Nun blieb Maurus auch noch stehen. Gehen und sprechen war anscheinend wirklich zu viel für ihn. „Der Weg ist das Ziel“, meinte er mit stolzem Lächeln. „Maurus, was soll der Scheiss. Das mag ja sein, wenn man eine schöne Bergwanderung macht. Oder an einem See entlang geht. Oder durch eine Stadt schlendert. Aber dieses Sprichwort gilt nicht für heute. Heute gilt: Das Ziel ist das Ziel. Klar?“ Einen Moment überlegte Maurus, nickte dann, und setzte sich zu Nicos grosser Erleichterung endlich wieder in Bewegung. Doch sein Tempo war kein Deut schneller. Wenn das so weiterging, waren sie in einer Stunde noch nicht beim Rummelplatz. „Hey, ihr Schnecken, kommt ihr endlich?“ schrie nun Leon, der bereits einen beträchtlichen Vorsprung hatte. Nico warf all seine Loyalität über Bord und rief zurück, „komme schon“, und zog dann das Tempo endlich wieder an. Maurus ging nun zwar auch etwas schneller, doch er holte die zwei erst wieder ein, als diese vor dem Rummelplatz in der Kälte auf ihn warteten und murrten, weil der soooo langsam war. „So da wäre ich. Was wollen wir nun genau hier?“ wollte Maurus ausser Atem trottelig wissen. Das war wieder typisch Maurus. Man hätte ihm sagen können, „komm, gehen wir ein paar Autos demolieren“, er wäre ohne Widerrede hinterhergedackelt und hätte dann, wenn man das Messer hervornahm um die Autos zu zerkratzen und die Reifen zu zerstechen gefragt, „was macht ihr denn hier? Seid ihr noch bei Trost?“ Er kam einfach nie bei allem mit, was man ihm sagte. „Wir suchen die Riesenschlange“, meinte Leon ungeduldig. „Aber hier ist es doch stockdunkel“, murrte nun Maurus. Natürlich war es auf einem verlassenen Rummelplatz stockdunkel. Was hatte er denn erwartet? Dass Scheinwerfer und die Lichter der Bahnen brennen würden und fröhliche Neunzigerjahre Musik aus den Lautsprechern dudeln würde? Nico schüttelte nur den Kopf, nahm sein Handy aus der Jackentasche und schaltete die Taschenlampe ein. Die anderen taten es ihm gleich. Doch das Licht reichte höchstens mal zwei Meter. Die Fahrbahnen ragten wie riesige Relikte aus einer anderen Zeit vor ihnen auf, was sie ja auch waren. Nico überfiel plötzlich ein mulmiges Gefühl. Was sie hier taten war nicht gut. Gar nicht gut. Sie hatten hier überhaupt nichts verloren. Sie sollten hier schleunigst verschwinden, bevor noch etwas passierte. Doch Leon schien keinen solchen Gedanken zu haben und auch Maurus schien nicht auf diese Idee gekommen zu sein. Ausnahmsweise marschierte er als Erster los. „Irgendwie cool hier“, murmelte er, während ihn bereits die Dunkelheit verschluckte. Die anderen zwei beeilten sich, ihm zu folgen. „Warte doch“, rief ihm Leon hinterher, doch seine Stimme klang so unheimlich auf dem verlassenen Platz, dass er sofort wieder verstummte. Jeder Friedhof wäre fröhlicher, dort würden wenigstens ein paar Kerzen brennen, dachte Nico bei sich, folgte aber dem Licht von Leon. „Hey, Maurus, wo steckst du?“ rief nun Nico und erschrak über seine eigene Stimme, die viel zu laut durch die kalte Nacht hallte. „Hier drüben“, kam es zurück. Nun sahen sie wieder das Licht von Maurus Handy und eilten darauf zu. Hier, auf diesem offenen Gelände, schien es noch viel kälter. Der Wind zog über den Platz und liess einen das Gesicht einfrieren. Nico wünschte sich, er hätte eine Kappe und Handschuhe angezogen oder wenigstens eine Kapuze an der Jacke. Doch für einen einfachen Beizenbesuch hatte er es nicht für nötig befunden, sich warm anzuziehen. Zumal ihre Stammbeiz gerade mal gute zehn Gehminuten von seiner Wohnung entfernt lag. Als sie wieder zu dritt beieinander standen, direkt unter dem ausgemusterten Riesenrad, auf dem Nico so viele romantische Momente verbracht hatte, fragte Nico, „wo genau sollen wir nun die Schlange suchen?“ Leon zuckte mit den Schultern, was in dem schwachen Schein der Lichter eher zu erahnen war, als dass man es sah. „Na super, jetzt stehen wir hier und du weisst gar nicht, was wir hier eigentlich machen?“ murrte Nico. „Hör auf zu zicken! Natürlich weiss ich was ich hier mache! Ich will die Riesenschlange finden.“ „Und wie?“ „Laufen wir doch mal den Platz ab. Vielleicht gibt es irgendwo eine grosse Röhre oder etwas Ähnliches. Dort könnten wir vielleicht die Schlange finden.“ Planlos marschierten sie los, und irrten über den Rummelplatz, als könnten sie so eine Schlange finden. Maurus schlug sich den Kopf an einem herunterhängenden Teil bei der Achterbahn an und während Leon ihn auslachte und ihn als Trottel beschimpfte, stolperte er über ein Rösschen aus dem Karussell, das irgendein Witzbold herausgerissen und auf den Weg geworfen hatte. Fluchend rappelte Leon sich wieder auf, während Nico und Maurus grinsend dabei zu sahen, und gab dann dem Pferdchen noch einen kräftigen Stoss, wobei ein hässlich kratzendes Geräusch entstand, das wie Nägel auf einer Wandtafel klang und einem durch Mark und Bein ging. Danach ging Leon seinen Weg unbeirrt weiter. Als sie irgendwann wieder beim Riesenrad standen, hatten sie keine Schlange gesehen. Keine Zombies und keine Riesenspinne. Der Schnee fiel immer dichter. Nico fror und verlor langsam die Geduld. „Kommt schon, lasst uns abhauen und noch einen trinken.“ „Geht’s noch? Ich will diese Schlange sehen.“ „Mann, wie alt bist du eigentlich? Fünf? Ich will, ich will, ich will“, äffte Nico Leon wütend nach. Langsam wurde auch Maurus ungeduldig. „Ich würde auch lieber gehen. Ist doch öd hier.“ „Du hast hier gar nichts zu melden“, fauchte ihn Leon wütend an. In dem Moment hörten sie ein Geräusch. Woher es genau kam, war schwer zu sagen. Der Schnee, der schon eine dicke Decke hinterlassen hatte, dämpfte es. Trotzdem, da war ein Geräusch gewesen. Alle drei standen wie versteinert da. „Was war das?“ flüsterte Maurus. „“Das war die Schlange“, meinte Leon, nun ganz aufgeregt. „Kommt, ich glaub es kam von da.“ Dabei zeigte er auf das Funhouse, das mit seinen verlotterten Clowns am Eingang noch beängstigender wirkte als die Geisterbahn, von der nicht mehr viel übrig war. Zitternd vor Kälte begaben sie sich vorsichtig zum Funhouse, wobei sie immer mal eine kurze Pause einlegten um zu lauschen. Doch es war wieder totenstill auf dem Rummelplatz. Auf Grund des Schnees konnten sie jetzt wenigstens die Umgebung ein bisschen besser erkennen. Doch ob das ein Vorteil war, bezweifelte Nico. Überall waren Schatten und er sah Dinge, die wahrscheinlich bei hellem Tageslicht keinen Blick wert gewesen wären, nun aber unheimliche Formen annahmen. Da hörten sie wieder etwas. Es schien tatsächlich aus dem Funhouse zu kommen. Aus dem Funhouse. „Das ist echt unheimlich“, flüsterte nun Maurus und ging nun noch langsamer als sonst, was fast einem Stillstand gleichkam. In dem Moment sahen sie eine schnelle Bewegung. Nur den Hauch eines Schattens. „Hast du das gesehen?“ flüsterte nun Leon aufgeregt. „Ja“, raunte Nico zurück, „das hat aber nicht wie eine Schlange ausgesehen.“ Maurus musste darauf kichern, „nein, nicht wirklich.“ „Ach, hört schon auf und folgt mir.“ Langsam gingen sie auf das Funhouse zu. Als sie da angekommen waren, betrachtete Nico im schwachen Licht, das der Schnee erzeugte, die zwei Clowns. Bei einem ragte das rechte Auge an einer Feder aus der Augenhöhle und es sah fast so aus, als wollte der Clown so seine Umgebung näher heranzoomen. Dem anderen Clown fehlte ein Arm. Aus der leeren Schulter ragten ein paar dünne Drähte. Wahrscheinlich hatten diese zwei Clowns zu ihren aktiven Zeiten den Besucher einladend zugewunken. Zudem fehlte dem Clown mit nur einem Arm auch noch der Unterkiefer. Es sah so aus, als hätte irgendein Witzbold, vielleicht derselbe der auch das Karussellrössli herausgerissen hatte, sich an den Unterkiefer gehängt, bis dieser abgebrochen war. Hoffentlich hat er sich dabei so richtig den Kopf angeschlagen, dachte Nico. Er hasste es, wenn Menschen meinten, sie hätten das Recht, irgendwelche Dinge zu zerstören. Auch wenn es Dinge waren, die niemandem mehr gehörten oder eigentlich schon längst auf dem Müll hätten landen sollen. Doch das war ja noch lange kein Grund, etwas kaputt zu machen. Manchmal erinnerten ihn diese Menschen an Affen. Denn eigentlich unterschied doch die Disziplin den Menschen vom Affen, und Disziplin hatten diese Menschen ganz sicher keine. Nico warf noch einen letzten Blick auf die maroden Clowns, und wandte sich dann an Leon. „Und was jetzt?“ „Jetzt werden wir hier reingehen.“ „Scheisse, nein!“ wehrte Nico sofort ab. „Scheisse, doch“, erwiderte Leon, „oder, Maurus?“ Maurus, der ebenfalls die unheimlichen Clowns studiert und nicht zugehört hatte, sagte sicherheitshalber mal ja. Ohne weitere Einwände abzuwarten, machte sich Leon daran, die verschneiten Stufen zum Funhouse hochzusteigen. Das Drehkreuz war schon vor sehr langer Zeit abmontiert worden, so dass sie problemlos hineinkommen würden. Nico blieb währenddessen unentschlossen stehen. Er war ein selbstständig handelnder erwachsener Mann und konnte sich auch entscheiden, einfach umzudrehen und wieder in die Bar zurück oder nach Hause zu gehen. Doch irgendwie nahm es ihn schon wunder, was sich vorhin bewegt hatte, und wie dieses Funhouse in einer kalten verschneiten Nacht von Innen aussehen würde. Also folgte er den zweien mit entschlossenen Schritten. Am Ende der Treppe warteten Leon und Maurus auf ihn. Nico überholte sie und meinte, „na los, kommt schon, bringen wir es hinter uns.“ Dabei stand er auf die beweglichen Rollen, die früher den Eingang zum Funhouse gewesen waren, und nun unter einer dicken Schneeschicht verborgen waren. Obwohl sie sicher stark verrostet waren, drehten sie sich noch leicht, so dass Nico ins Schleudern kam und sich im letzten Moment noch an den Geländern rechts und links festhalten konnte. „Scheisse!“ rief er aus, und als er das Geländer richtig packte, schnitt er sich mit etwas die Handfläche auf. Wahrscheinlich ein Stückchen vom Stahl, das sich im Laufe der Zeit gelöst hatte. „Au!“ schrie er nun, zog schnell die Hand weg und kam wieder ins Schlittern, worauf er sich erneut festhalten musste, und sich nochmals schnitt. Die anderen zwei beobachteten seinen Affentanz grinsend. Als er endlich von den Rollen runter war, meinte er nur, „seid vorsichtig, hier ist es rutschig und das Geländer scharfkantig.“ „Danke, das hast du uns soeben bildlich vorgeführt“, wieherte Leon. Während Leon und Maurus vorsichtig über die Rollen stiegen, begutachtete Nico im Schein seines Handylichtes den Schnitt. Er tat höllisch weh, blutete aber nicht sehr stark und schien auch nicht sehr tief zu sein. Doch jedes Mal wenn er die Hand öffnete und schloss, hatte er das Gefühl, dass die Haut noch weiter aufriss. Also wischte er das Blut mit einem nicht ganz sauberen Taschentuch so gut es ging ab und ballte dann die Hand zur Faust. Das Innere des Funhouses war eine grosse Enttäuschung. Es bestand nur noch aus einem rostigen Stahlskelett, hatte keine Räume oder Aufgänge mehr. Wollte man nach oben, müsste man am rostigen Geländer hochklettern. Sie starrten in die traurige Ruine des Funhouses, als plötzlich eine fröhliche Melodie zu dudeln begann. Nico, auf dessen Handy der Anruf eingekommen war, liess das Ding vor Schreck fallen. Mit klopfendem Herzen hob er es wieder auf und sah auf den Display. ‚Schatz‘ stand da. „Da muss ich ran“, murmelte er und drückte auf den grünen Knopf. „Hallo Schatz“, meldete er sich fröhlicher, als er sich fühlte. „Hallo Bärchen.“ Bärchen nannte sie ihn nur, wenn sie einen Schwips hatte, denn sie wusste, dass er Bärchen hasste. „Alles gut bei dir? Wo treibst du dich gerade so rum?“ wollte sie wissen, während aus dem Hintergrund Gekicher zu hören war. „Alles bestens, hänge ein bisschen zu Hause rum.“ Nie, aber wirklich nie im Leben hätte er ihr gesagt, dass er gerade im Funhouse auf dem verlassenen Rummelplatzgelände war. Sie hätte ihn für verrückt gehalten. Und wenn er noch von der Suche nach der Riesenschlange erzählte hätte, hätte sie ihm das für den Rest ihres gemeinsamen Lebens unter die Nase gerieben. Also tat er etwas, was er in ihrer Beziehung noch nie getan hatte. Er log sie mit voller Absicht an. „Es ist so ruhig bei dir? Bist du alleine?“ „Nein, Leon und Maurus sind auch da. Und wie geht es euch? Geniesst ihr eure Zeit?“ „Ja, es ist super hier. Heute waren wir den ganzen Tag in der Stadt. Shoppen. Danach waren wir noch in der Sauna und im Whirlpool und jetzt gibt es dann gleich Nachtessen. Danach werden wir noch ein bisschen gemütlich in der Bar abhängen, einen trinken und so.“ So wie sie klang, hatte sie wahrscheinlich schon das eine oder andere Cüpli intus, doch er gönnte ihr diese Zeit und freute sich, den fröhlichen Klang ihrer Stimme auf diesem Rummelplatzfriedhof zu hören. „Dann wünsche ich euch noch viel Vergnügen. Man hört sich mein Schatz, bis bald.“ „Bis bald. Ich liebe dich.“ Es folgte noch ein Kussgeräusch, dann hatte sie das Gespräch beendet. „Ich liebe dich auch“, flüsterte er, während er auf das schwarze Display starrte. „So, alter Junge“, riss ihn Leon aus seinen Gedanken, „jetzt wäre das auch erledigt, dann kann ja die Schlangensuche weiter gehen.“ „Na klar“, murmelte Nico völlig unmotiviert. Trotzdem tastete er sich langsam weiter in das Innere des Funhouses vor. Überall hingen Drähte herunter und das Stahlgestell hatte jede Menge scharfe Kanten. Zudem war der Stahl eiskalt. Jedes Mal wenn er sich mit der verletzten Hand festhalten musste, durchzuckte ihn ein heftiger Schmerz. Plötzlich fiel ihm auf, dass er seine zwei Kollegen nicht mehr sah. Wo konnten sie bloss stecken? Die waren doch hoffentlich nicht auf die verrückte Idee gekommen und nach oben geklettert? „Leon? Maurus?“ rief er in die Stille der Nacht, und dann, als keine Antwort kam, lauter, „Leon! Maurus!“ Da hörte er ein leises Geräusch. „Hallo Jungs, seid ihr da?“ wollte er wissen, während er sich dem Geräusch näherte. Gerade als er sich um einen Pfosten herumhangeln wollte, um zu sehen, ob die zwei dahinter waren, tauchte vor ihm ein riesiger Schlangenkopf auf. Ein Schrei, der tief aus seinem Inneren kam, blieb ihm mitten im Hals stecken. Stattdessen kam nur ein leises Krächzen heraus. Gleichzeitig fuhr er zurück, so dass er fast gestolpert und nach hinten gefallen wäre. Im letzten Moment konnte er sich am Geländer hinter sich abstützen. Der Kopf der Schlange kam immer näher, die gespaltene Zunge fuhr aus dem Maul mit den spitzen Zähnen, vor und zurück, und die gelben Augen musterten ihn hypnotisierend. Schnell schloss Nico die Augen, in der Hoffnung, wenn er sie wieder öffnete, die Schlange verschwunden wäre. Doch als er die Augen wieder einen kleinen Spalt breit öffnete, war ihr Kopf direkt vor seinem Gesicht. Die Zunge fuhr weiter vor und zurück, berührte aber nun jedes Mal sanft seine Nasenspitze. Bei jeder Berührung hatte er das Gefühl, dass ihm jeden Moment die Galle hochkommen würde. Er versuchte noch weiter zurückzuweichen, doch das Geländer hinderte ihn daran. Trotzdem bog er seinen Oberkörper so weit wie möglich zurück und den Kopf legte er fast in den Nacken, um dieser ekligen Zunge irgendwie zu entkommen. Trotzdem kam der Schlangenkopf immer näher. „Er hat sie gefunden!“ schrie in dem Moment Maurus voller Begeisterung und der Kopf der Schlange zuckte nun weg von Nico und hin zu Maurus. „Hey, hau ab, du Scheissvieh!“ fluchte nun Maurus, während er verzweifelt mit der Hand vor seinem Gesicht herumfuchtelte, um die Schlange auf Abstand zu halten. „Heilige Scheisse, die ist ja noch grösser als erzählt wird“, erklang nun Leons Stimme aus dem Hintergrund und dann hörte man ein Klicken und noch eines. Die Schlange, leicht überfordert mit diesen drei Eindringlingen, wusste gar nicht, wo sie hinschauen sollte und ihr Kopf zuckte nervös hin und her. Nico nutzte die Gunst der Stunde und schlich sich langsam weg von der Schlange und stellte sich dann neben Leon, der die Schlange seelenruhig fotografierte oder filmte, und Maurus, der zitternd danebenstand. „Ich rufe die Polizei“, flüsterte Nico, während er vorsichtig sein Handy entsperrte. Jetzt bloss keine hektischen Bewegungen. In dem Moment stürzte sein Handy ab. Das Display blieb dunkel, so sehr er auch wischte und drückte. Neben sich hörte er Leon fluchen. „Mist, der Akku ist leer. Liegt sicher an der Kälte.“ „Nein, meines ist auch tot“, wisperte ihm Nico zu. „Maurus wie sieht es mit deinem aus?“ „Auch tot“, sagte er nach einer gefühlten Ewigkeit, obwohl er das wahrscheinlich schon nach fünf Sekunden hätte feststellen können. „Lasst uns abhauen“, schlug Leon, nun auch panisch, vor und wollte sich umdrehen. In dem Moment hörten sie ein Geräusch hinter sich. Als die drei nach hinten blickten, sahen sie zu ihrem grenzenlosen Entsetzen, dass die Clowns ihren Platz verlassen hatten und sie nun böse anstarrten. Derjenige mit dem kaputten Auge bewegte den Kopf nach links und rechts, so dass das Auge, welches heraushing, eklig hin und her baumelte. Der andere hob und senkte seinen einen noch vorhandenen Arm, als würde er hämmern. „Wie ist das möglich?“ fragte Maurus ganz verwirrt. Dieses Erlebnis überstieg seine Vorstellungen und machte ihm deshalb weniger Angst als den anderen zwei, die zwar nicht wussten wie das möglich war, aber ganz klar sahen, dass dies die Realität war. Die Clowns kamen mit langsamen und schwerfälligen Schritten näher. „Wir müssen hier weg, schnell!“ brüllte nun Leon und versuchte irgendwie sich an den zwei Clowns vorbeizuschlängeln, doch der mit nur einem Arm gab ihm einen unsanften Stoss, so dass er wie eine Puppe zurückflog. „Aua, du blödes Mistding“, fluchte Leon, während er sich mühsam wieder hochrappelte. Nico und Maurus eilten ihm zu Hilfe und zogen ihn vorsichtig auf die Beine. Schwankend blieb Leon stehen und schaute sich verwirrt um, während er sich den schmerzenden Kopf rieb. „Passiert das gerade wirklich?“ fragte er benommen und Nico meinte nur, „scheint so.“ Da hörten sie entfernt ein Läuten, wie von einer Kirchturmuhr, das unheimlich durch die Nacht hallte. Schweigend zählten sie die Schläge und kamen auf zwölf. „Wie ist das nur möglich? Es kann doch noch gar nicht Mitternacht sein“, meinte Nico verwirrt. Als er mit seiner Freundin telefoniert hatte, war es etwa halb acht gewesen. Das war höchstens eine halbe Stunde her. Doch hier schien alles anders zu laufen. Als der letzte Glockenklang verklungen war, ging plötzlich das Licht bei allen Bahnen an, disharmonische Musik ertönte, und die Fahrgeschäfte begannen zu laufen. Entsetzt schauten sie auf den Rummelplatz. Langsam drehte sich das rostige Riesenrad, das Karussell wirbelte wild im Kreis und der Wagen in der Achterbahn nahm an Fahrt auf. Maurus hielt sich vor Schrecken die Hand vor den Mund, Nico hätte sich fast in die Hosen gemacht und Leon blieb der Mund weit offenstehen, während ihn ein unangenehmes Frösteln erfasste, das nichts mit der Kälte der Winternacht zu tun hatte. „Sieh dir das bloss an“, flüsterte Leon nach einer Weile, während Nico dachte, wären wir doch bloss in der warmen Bar geblieben. Hinter uns eine Riesenschlange, vor uns zwei kaputte wandelnde Riesenclowns und verrostete Fahrgeschäfte, die von Geisterhand liefen. Und dann diese furchtbare Musik! Wenn doch nur wenigstens diese Musik nicht wäre. Mal war sie schnell, mal langsam, und wenn sie kurz aussetzte, war es am Schlimmsten, weil man wusste, sie würde gleich wieder weitergehen. Doch wenn sie geglaubt hätten, der Schrecken hätte seinen Höhepunkt erreicht, hatten sie sich geirrt. Nun begann sich der Rummelplatz zu bevölkern. Leider nicht mit fröhlichen Menschen, mit Familien, Jugendlichen und Pärchen. Nein, es waren verfaulte Personen. Zombies. Jeder Zustand der Verwesung war dabei. Vom leicht verfaulten Kadaver bis hin zum blanken Skelett. Was jedoch beim genaueren Betrachten, was leider unumgänglich war, auffiel, war, dass all diese wandelnden Toten einen körperlichen Makel hatten. Dabei war nicht die Verwesung gemeint. Nein, ein paar hatten nur noch einen Arm oder ein Bein, andere waren erstaunlich gross oder sehr klein, da waren sogar siamesische Zwillinge. Erstarrt von dem Geschehen, das vor ihren Augen ablief, hatten Nico, Leon und Maurus nicht bemerkt, dass sich die Schlange wieder angeschlichen hatte. Erst als sie sich um ihre Beine schlang und sich vor ihnen aufrichtete, konnten sie den Blick, gezwungenermassen, von dem Spektakel vor ihnen abwenden. „Wiessso ssstört ihr meine Ruhe?“ zischte die Schlange, während sie ihren Kopf hin und her bewegte. „Tut… tut uns leid“, flüsterte Maurus. „Ssso? Esss tut euch leid?“ zischte sie wieder. „Ich bin die Herrsssscherin über den Rummelplatz und ihr habt kein Recht, meine Ruhe zu ssstören.“ Nico wusste nicht mehr, was er denken sollte. Was er hier erlebte, war so surreal, so unglaublich, dass er hoffte zu träumen. Deshalb kniff er sich ganz leicht in den Arm. Und als die Schlange ihn immer noch fixierte und ihm nun interessiert beim Kneifen zuschaute, drückte er so fest zu, wie er nur konnte. Mit einem leisen „Au“, liess er es dann sein. „Du glaubssst, dass issst ein Traum?“ Dabei näherte sich ihm der Schlangenkopf wieder, so dass er einen verzweifelten Schritt nach hinten machte. „Ich… Ich…“, doch weiter kam Nico nicht. Ihm blieben die wenigen Worte, die er im Kopf noch formen konnte, im Hals stecken. „Duuuuu“, die Schlange drehte ihren riesigen Kopf und schaute nun wieder Leon und dann Maurus an. „Iiihr. Wiessso ssseit ihr hier?“ „Wir wollten doch bloss die Schlange sehen“, murmelte Maurus, der einzige, der noch ganze Sätze zustande brachte. Es konnte auch Vorteile haben, nicht das hellste Licht im Kronleuchter zu sein. „Hier bin ich!“ sagte die Schlange und richtete sich nun zu ihrer ganzen Grösse auf. Sie war weit länger als nur zehn Meter. Ihr Durchmesser war weit dicker als der Oberschenkel eines Bodybuilders. „Wieso… Wieso kannst du sprechen?“ stotterte Maurus. „Wiessso ssssollte ich nicht sssprechen können, wenn du esss doch auch kannssst“, fauchte sie ihn an und ihr Kopf schnellte zu ihm vor. Doch er bewegte sich keinen Zentimeter. Die Schlange wich erstaunt zurück. Dass seine fehlende Reaktion nichts mit Furchtlosigkeit, sondern einfach mit seiner Langsamkeit zu tun hatte, konnte die Schlange ja nicht wissen. „Ich bin die Herrsssscherin über diessse Sssshow hier“, dabei drehte sie sich um, um stolz über den nun hell erleuchteten und bevölkerten Rummelplatz zu blicken. „Aber ich kann auch die Gessstalt wechssseln, wenn euch dasss lieber issst.“ Die Schlange begann zu zucken, aus ihrem eben noch glatten Körper kamen nun hässliche Beine hervor. Haarige Beine. Schwarze Beine. Immer mehr und mehr. Die Beine wurden länger und länger. Dann zog sich die Schlange zusammen, zu einem schwarzen, kugeligen, haarigen Körper und wurde nach und nach zu einer riesigen, absolut hässlichen Spinne. Sie überragte die drei bei weitem. Um nicht nur ihre Beine zu sehen, mussten sie den Kopf in den Nacken legen. Starr vor Schreck hatten sie der Verwandlung zugeschaut. Nico, der eigentlich nur vor einem Tier wirklich Angst hatte, und das waren grosse schwarze Spinnen, glaubte bei diesem Anblick in Ohnmacht zu fallen. Noch nie hatte er so sehr das Gefühl gehabt gleich den Verstand zu verlieren. Mühsam atmend stand er da, die Augen fest zugekniffen und stellte sich Anna und Elsa beim Schneemannbauen vor, bloss um nicht an diese haarige, riesige, hässliche Spinne, die da vor ihm aufragte, denken zu müssen. Die Stimme, heiser und tief, schien nun von weit her zu kommen. „Na Jungs, gefällt euch das besser? Oder was wäre hiermit?“ Nun begann die nächste Verwandlung. Die Beine zogen sich langsam in den Körper zurück, bis nur noch zwei übrig blieben. Diese verloren ihre Haare und wurden dicker. Der Körper zog sich in die Länge und schrumpfte dann zusammen. Schlussendlich kamen noch zwei Arme hervor und ein menschlicher Kopf erschien. Leon, der von Nicos panischer Angst vor grossen schwarzen Spinnen wusste, stiess ihn an und raunte ihm dann zu, „du kannst die Augen wieder aufmachen.“ Vorsichtig blinzelte Nico die Gestalt vor sich an. Er hatte alles erwartet, nur nicht das, was er sah. Eine ältliche dickliche Frau, die grauen Haare zu einem Dutt hochgesteckt, stand vor ihnen. Sie erinnerte Nico irgendwie an Mrs Doubtfire. Nur war diese Frau hier noch ein paar Jährchen älter. „Und, was denkt ihr jetzt, Jungs?“ fragte die ergraute Frau vor ihnen mit einer leicht zittrigen Altfrauenstimme. Sie war grau in grau gekleidet, mit einer grauen Wollweste, grauem Wollrock, dicken grauen Strümpfen und grauen Stiefeln. „Wow, das ist ja besser als David Copperfield“, staunte Maurus, der immer weniger verstand. Die anderen zwei schwiegen wie versteinert. „Wollt ihr wissen, was es damit auf sich hat? Soll ich es euch erklären?“ fragte sie, da keine weitere Reaktion auf ihre Verwandlung kam, und zeigte dabei auf das Geschehen vor ihnen. „Ja gerne“, meinte Maurus interessiert. Die anderen zwei nickten, mehr aus Schreck, denn als dass es sie interessiert hätte. Sie hatten absolut null Interesse was hier vor sich ging, sie wollten bloss noch weg. Weg von diesem unheimlichen Geschehen, weg von dieser Kälte und dem nicht enden wollenden Schneefall. „Das hier, das ist meine Freakshow.“ Und dann bekam ihr Blick einen entrückten Ausdruck und sie begann zu erzählen. „Am Anfang des letzten Jahrhunderts waren Freakshows sehr beliebt gewesen. Und ich, ich hatte die grösste und interessanteste von allen. Ich hatte zusammengewachsene Zwillinge, ein Mann ohne Gesicht, sehr grosse und sehr kleine Menschen, ich hatte jede Menge Menschen, die missgestaltet auf die Welt gekommen waren und bei mir ein neues Zuhause fanden. Zudem sammelte ich Embryonen, die nicht richtig wuchsen. Ich hatte sogar einen Embryo, aus dessen Auge der Arm seines Zwillings gewachsen war. Ich zog umher, in ganz Europa, war die Attraktion. Die Menschen verkauften mir gerne ihre missgestalteten Kinder oder Verwandten. Wusste jemand etwas von einem Freak, bekam ich eine Nachricht, ging dorthin, bot viel Geld und kam dann mit meiner neusten Attraktion zurück. Diese Gestalten hatten es immer gut bei mir. Sie waren nur je zu zweit in einem Käfig und bekamen täglich Essen und frisches Wasser. Den Kessel für die Notdurft wurde ebenfalls täglich geleert. Wenn ich daran denke, wie da manche Tiere im Zirkus gehalten wurden, war ich immer stolz auf mein Fahrgeschäft. Irgendwann wurde mir das Herumreisen zu mühevoll. Ich suchte einen Platz, auf dem ich eine feste Bleibe finden konnte. Mit viel Geld konnte ich diesen Platz hier kaufen. Zudem kaufte ich auch noch Fahrgestelle, denn meine Attraktionen würden irgendwann ja langweilig, wenn man immer am selben Ort war. Hier im Dorf gab es auch ein Waisenhaus. Von dort liess ich die Kinder kommen, die mir beim Aufbau meines Rummelplatzes helfen sollten. Sie arbeiteten gerne für mich. Denn es gab jeden Tag eine heisse Suppe für sie. Leider war es zuerst ein sehr heisser Sommer, dann ein sehr kalter Winter, so dass wir viele Kinder verloren. Aber ich war bereit, dieses Opfer zu bringen. Hinter dem Rummelplatz gab es eine Grube, dort legten wir die Leichname ab. Als alle Fahrgestelle endlich standen, kamen zuerst viele Besucher. Doch der Gestank der vermodernden Kadaver sowie die immer gleichen Freaks, hielten bald schon die Leute von einem Besuch ab. Ich wollte mir neue Ausstellungsstücke anschaffen, doch leider waren die Menschen immer weniger dazu bereit, ihre entstellten Kinder abzugeben. Da mir die Freaks nur noch Arbeit machten und nichts mehr einbrachten, gab ich ihnen entsprechend weniger zu essen und zu trinken. Ich konnte diese nun nutzlosen Kreaturen nicht mehr durchfüttern. So lösten sich meine Probleme von alleine. Einer nach dem anderen starb und als der nächste kalte Winter hereinbrach, starb auch mein letztes Ausstellungsstück, ein junger zäher Zwerg. Diesen warf ich als letzter in die Grube, bevor ich sie dann definitiv zuschaufelte. Ich war verzweifelt, wusste nicht, wie es weiter gehen sollte. Ich sass auf einem Haufen Schulden, auf Fahrgestelle, die langsam auseinanderfielen, hatte kaum noch zu essen und es war bitterkalt. Da suchte mich ein Herr auf. Gut aussehend und elegant gekleidet. Er sagte, er würde mir den Platz samt Fahrgestelle abkaufen, wenn ich für ihn arbeiten würde. Keine harte Arbeit, versprach er mir. Ich wäre die Herrscherin über den Rummelplatz, müsste nur für Ordnung sorgen. Er aber wäre der Besitzer von alldem. Froh über diesen Vorschlag, schlug ich ein. Als ich seine trockene, heisse Hand berührte, spürte ich, dass etwas nicht stimmte. Er hielt meine Hand länger als nötig und je länger er sie hielt, desto mehr fühlte ich, wie sich etwas aus meinem Inneren löste. ‚Ich habe deine verfaulte Seele geholt, Miststück‘, zischte er mir zu und liess dann die Hand los. ‚Folge mir!‘ befahl er mir dann und ob ich es wollte oder nicht, ich musste ihm folgen. Wir gingen zu der Grube mit den Kadavern. Dann drückte er mir eine Schaufel in die Hand und meinte mit einem zynischen Lächeln, ‚grab alle aus‘. Die Erde war steifgefroren, doch er liess nicht locker. Ich buddelte tagelang. Von Hand musste ich jede einzelne Leiche herausholen. Er gab mit nichts zu essen und nichts zu trinken. Meine Hände waren bis auf die Knochen aufgerissen. Ich konnte den Schmerz spüren, den Hunger den Durst. Und obwohl ich hunderte Male gestorben war, war ich doch nicht tot. Als alle Leichen aus der Grube heraus waren, befahl mein Meister ihnen, sich zu erheben. Diejenigen, die noch Augen hatten, schlugen sie auf, die anderen bewegten einfach ihre Glieder und begannen umherzuwandern. Mein Meister meinte nun, dass ich verdammt sei, auf ewig mit meinen Opfern zusammen zu sein. Damit ich nicht auf dumme Gedanken kam, liess er zwei Clowns anfertigen. Sie sind die Bewacher, die darauf achten, dass sich nie etwas ändern wird. Solange der Fuhrpark noch betrieben wurde, lebten wir in einer Parallelwelt. Die Besucher des Rummelplatzes wussten nichts von uns, bekamen uns nie zu Gesicht. Doch wir, wir lebten da, jeden verdammten Tag. Sahen den fröhlichen Menschen zu und vegetierten vor uns hin. Als dann der Fuhrpark vor ein paar Jahren Konkurs ging, wurde die Wand zwischen dieser Welt und unserer Parallelwelt immer dünner. Immer öfters waren wir mal dort und dann wieder hier. Und heute, ja heute habt ihr mich gerufen. Wieso habt ihr mich gerufen?“ Nico, Leon und Maurus hatten ihrer Gruselgeschichte mit weit aufgerissenen Augen und Mündern gelauscht. Sie hatten sich die armen missgebildeten Menschen vorgestellt, die dieses Weibsstück wie Tiere gehalten hatte. Die armen Kinder, die Waisen, ohne jemanden, der ihnen geholfen hätte. Die sich zu Tode geschuftet hatten. „Aber… Aber wir haben doch gar niemanden gerufen“, stotterte Maurus verwirrt. Die Geschichte war ihm etwas zu schnell gegangen. Irgendwas von entstellten Kindern und Leichen, die etwas mit diesem Rummelplatz zu tun hatten. Oder so ähnlich. Die letzte Frage hatte er sich jedoch merken können und sie sich nochmals genau durch den Kopf gehen lassen können. Ja, sie hatten die Schlange gesucht. Aber gerufen? „Ihr habt euer Blut auf mein Mal getropft. Ihr habt mich gerufen!“ Ihre Stimme glich nun immer mehr einem Kreischen. Die drei verstanden immer noch nicht. Doch dann spürte Nico seine schmerzende Handfläche. Vorsichtig öffnete er seine Faust und schaute auf den Riss. Das Blut war in der Zwischenzeit eingetrocknet, doch natürlich war etwas heruntergetropft. Leon hatte seine Reaktion beobachtet. Er dachte genau dasselbe wie Nico. Wütend schlug er ihm auf den Hinterkopf. „Idiot!“ fluchte er. „Hey, konnte ich wissen, dass ich wegen ein paar Tröpfchen Blut gleich ganz Zombieland erwecke?“ „Was wollt ihr von mir!“ nun kreischte die Alte vor ihnen wie wild. Sie zeigte mit ihrem knochigen Zeigfinger ins Innere des Funhouses. „Ihr habt euer Blut auf das Mal getröpfelt. Was wollt ihr?!“ Sie klang immer mehr wie eine Sirene. Jemand, der gleich den Verstand verlieren würde. Obwohl sie den wahrscheinlich schon zu Lebzeiten verloren gehabt hatte. Nico konnte sich bildlich vorstellen, wie diese Furie die armen missgestalteten Geschöpfe und Kinder angeschrien hatte. Wie sie getobt hatte. Wie sie sie gequält hatte. Da kam ihm plötzlich ein Gedanke. „Ich habe dich gerufen, damit du von hier verschwindest. Fahr zur Hölle, alte Schachtel!“ Maurus, der schon etwas sagen wollte, wurde von Leon zum Schweigen gebracht, indem er ihm die Hand auf den Arm legte und vehement den Kopf schüttelte. „Du hast nicht diese Macht über mich“, kreischte nun die Alte und stiess ein irres Lachen aus. „Ich habe dich gerufen“, sagte Nico gebieterisch, während er ihr die verwundete Handfläche hinstreckte. „Und ich befehle dir, von hier zu verschwinden. Weiche.“ Wieder kreischte sie etwas, doch sie wich tatsächlich einen Schritt zurück. Nico machte den nächsten Schritt auf sie zu, seine Handfläche wie ein schützendes Zeichen vor sich ausgestreckt. Sie wich noch weiter zurück. „Nein!“ kreischte sie. „Oh doch. Los jetzt, hau ab von hier, ich befehle es dir als deinen Gebieter.“ „Du bist nicht mein Gebieter!“ Mist, sie hat meinen Plan durchschaut, dachte Nico, doch dann fiel ihm auf, dass die missgestalteten Zombies auf die Szene aufmerksam geworden waren. Sie näherten sich langsam. „Holt sie euch!“ befahl Nico, während er ihnen seine Handfläche zeigte. „Rächt ihre Taten!“ brüllte er weiter und kam sich vor wie ein Aufrührer bei einer Demonstration. Die Menge näherte sich der alten Frau. Nico stachelte sie weiter an, sich an ihr zu rächen. Sie solle büssen, für das, was sie getan hatte. Ihm kam plötzlich das Gespräch von heute Abend mit Maurus in der Beiz in den Sinn. Es sei nicht gut, Gewalt mit Gegengewalt zu lösen, hatte er selber noch gemeint. Nun kam es ihm vor, als wäre das schon ewig her und nicht erst ein paar Stunden. Und er war nun nur zu gerne bereit, diese alte gewalttätige Schachtel mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Als die Menge die ‚Herrscherin‘ packen wollte, griffen die Clowns ein. Sie schleuderten die Zombies weg, so wie sie vorhin Leon weggeschleudert hatten. „Haltet ein!“, schrie Nico sie nun an. „Ich befehle euch, haltet ein!“ Die Clowns sahen ihn erstaunt an, doch sie wichen tatsächlich zurück, als sie seine Wunde auf der Handfläche sahen. Die Wunde, aus der das Blut kam, mit dem sie gerufen worden waren. „Nun rächt euch schon!“ schrie Nico wieder der Menge zu und diese näherte sich der Alten von neuem. Diesmal hielt sie niemand zurück. Sie packten sie, und rissen sie mit sich. Aus der Menge ertönte ein ohrenbetäubendes Kreischen, das von der Alten kommen musste, und das immer leiser wurde. Die Fahrgeschäfte drehten sich immer langsamer, die Musik wurde immer leiser, dann ging das Licht aus und Nico, Leon und Maurus standen wieder in fast vollkommener Dunkelheit und Stille. „Scheisse, was war das denn eben?“ fluchte Leon und haute Nico auf die Schulter, dass dieser schon befürchtete, er hätte sie ihm ausgerenkt. „Du bist ein richtiger Teufelskerl. Hast es der alten Schachtel so richtig gezeigt.“ „Wer hätte gedacht, dass ich dieses ganze Theater heraufbeschworen habe mit diesem kleinen Riss in der Handfläche. Musste mir natürlich ausgerechnet dort passieren, wo die auch noch ihr ‚Mal‘ hatte. Bin ich froh ist das endlich vorbei! Aber ehrlich, ich komme nie mehr mit auf Schlangensuche. Egal, ob bei Tag oder Nacht, Sommer oder Winter. Ganz sicher, nie mehr! Und jetzt lasst uns abhauen.“ Als sie eilig den Rummelplatz überquerten bemerkten sie nicht, dass ihnen in einigem Abstand ein paar Gestalten folgen. Maurus verstand überhaupt nichts mehr, doch jetzt hatte er das ganze Wochenende Zeit, sich mit dem Geschehenen zu beschäftigen. „Wollen wir noch etwas trinken?“ wollte Leon wissen. „Nein danke, ich gehe jetzt nach Hause, desinfiziere meine Hand und gehe dann ins Bett. Hoffentlich kann ich je wieder ruhig schlafen.“ Maurus war natürlich noch für ein Bier zu haben. So trennten sie sich vor der Bar und Nico eilte nach Hause. Komischerweise war ihm gar nicht mehr kalt. Im Gegenteil, er fühlte eine angenehm wohlige Wärme in sich und fragte sich, ob er sich vielleicht eine Erkältung geholt hatte und er bereits das Fieber spüren würde. Doch für eine Grippe fühlte er sich viel zu gut. Schnell öffnete er die Wohnung und trat ein. Erleichtert schloss er ab und atmete tief den vertrauten Duft nach Holz und Putzmittel ein. Nachdem er Schuhe und Jacke ausgezogen hatte, ging er ins Bad, um die Wunde zu desinfizieren. Als er sie genauer betrachtete, fiel ihm auf, dass es nicht nur ein einfacher Schnitt war, sondern fast schon wie ein Gesicht aussah. Er war so was von durch den Wind. Er sprayte etwas Merfen auf die Wunde und wartete auf das Brennen, doch er spürte keinen Schmerz. Auch gut. Dann schlurfte er ins Wohnzimmer und liess sich völlig erledigt auf das Sofa fallen. Da ertönte eine kindliche Stimme vom Türrahmen, die ihn auffahren liess. „Gebieter, wie können wir dir dienen?“ fragte ein zerlumptes, halbverfaultes Kind, das von weiteren halbverfaulten Gestalten umgeben war. Vor Schreck fuhr Nico hoch und starrte die Gestalten in seiner Wohnung ganz entgeistert an. Mist, was hatte er da bloss angerichtet!

Die Dinosaurier

Zitternd lag sie im Bett und lauschte dem Geschrei und dem Klirren, das aus den Gassen zu ihr ins Zimmer drang. Ihre Mami hatte ihr gesagt, dass dies Dinosaurier seien, die da draussen wüteten. Da sie nicht gewusst hatte, was Dinosaurier sind, hatte sie im dicken Lexikon im Wohnzimmer das Wort nachgeschlagen, als ihre Mami einmal nicht dagewesen war. Lesen konnte sie noch nicht so gut, da sie erst sieben war. Doch unter D hatte sie das Wort gefunden und auch ein Bild dazu. Ein grusliges Tier war abgebildet. Es stand aufrecht auf grossen Füssen mit langen Krallen, hatte kurze Arme mit nur zwei Fingern, die ebenfalls lange Krallen hatten. Sein Maul stand offen und man sah die grossen spitzen Zähne darin. Nachdem sie das Bild genau betrachtet hatte, schloss sie das schwere Buch, stellte es mit zitternden Händen zurück ins Regal und wollte nun gar nicht mehr wissen, wie diese Tiere, die vor ihrem Fenster wüteten, in Wirklichkeit aussahen. Seither hatte sie in der Nacht noch mehr Angst, wenn sie die Schreie hörte. Sie stellte sich das Bild vor und wie diese Ungeheuer durch die Gassen wandelten und alles kaputtschlugen. Manchmal hörte man auch die Schreie von Menschen. Dies war am Schlimmsten für sie. Wenn sie es vor Angst nicht mehr aushielt, schlich sie sich jeweils im Dunkeln ins Schlafzimmer ihrer Mami. Mami hatte ihr eingebläut, dass sie, sobald es dunkel war, das Licht nicht mehr einschalten durfte. Jetzt, da die Tage kürzer wurden, schlossen sie alle Fensterläden und sassen dann bei Kerzenschein zusammen. Oft erzählte ihr Mami dann eine Geschichte. Schöne Geschichten, von glücklichen Menschen. Aber manchmal kam eine böse Hexe vor, die der Prinzessin etwas tun wollte. Aber es gab immer ein glückliches Ende, meistens mit einer Hochzeit. Wenn sie dann nach einer solchen Geschichte im Bett lag, träumte sie davon, dass ein Prinz kommen würde, um sie vor den Dinosaurier zu befreien. Dieser Wunsch war manchmal so gross, dass sie weinen musste. Doch bis jetzt war noch kein Prinz gekommen, um sie zu retten. Einmal, als sie schlaflos neben ihrer ebenfalls schlaflosen Mami im Bett lag, fragte sie sie, wann denn der Prinz nun endlich kommen würde. „Welcher Prinz, mein Schatz?“ „Der Prinz, der uns von den Dinosaurier befreit.“ Ihre Mami hatte darauf nichts gesagt, aber sie glaubte, sie weinen zu hören. Sie spürte das leichte Zucken ihres warmen Körpers. Da hatte sie ihre Mami in den Arm genommen und gemeint, „der kommt sicher bald. Aber bis dahin haben wir ja uns.“ „Ja, mein Schatz, das haben wir“, hatte sie darauf mit erstickter Stimme geantwortet und ihr über das Haar gestrichen. Danach hatte sie nie mehr gefragt, wann wohl der Prinz kommen würde oder wie lange die Dinosaurier noch dableiben würden. Doch sie hatte jeden Abend begonnen, ein Gebet zu sprechen, in dem sie den lieben Gott bat, er möge bald einen Prinzen schicken. Oder dass er selber herunterkommen könnte, und die Dinosaurier in die Hölle werfen würde. Ja, das wünschte sie sich. Sie wünschte diesen Ungeheuern, die ihr so viel Angst machten und die so viel Unheil anrichteten, dass sie im ewigen Höllenfeuer braten würden. Vom ewigen Höllenfeuer hatte sie im Religionsunterricht gehört. Damals hatte sie sich gefragt, wieso es so etwas wie die Hölle den brauchen würde. Welcher Mensch würde es nicht verdienen, in den Himmel zu kommen? Doch dann waren die Dinosaurier gekommen und sie wusste nun, wieso es eine Hölle brauchte. Einmal hatte sie den alten Gemüsehändler Peter, der in derselben Gasse sein Geschäft hatte wie sie wohnten, und der ihr immer einen frischen Apfel oder manchmal eine Mandarine geschenkt hatte, weinend vor dem verwüsteten Geschäft stehen sehen. Sie war zu ihm gegangen, hatte seine Hand genommen und mit ihm zusammen auf den zerstörten Laden geschaut. Doch dann hatte sie gemeint, „komm, ich helfe dir sauber machen.“ Da hatte er lächeln müssen und sie hatten zusammen aufgeräumt. Doch eine Woche später war wieder alles kaputt geschlagen gewesen. Da hatte er sein Geschäft geschlossen und war weggezogen. So war es auch noch anderen ergangen. In ihrer Gasse, in der es früher ein Geschäft am anderen gab, waren nur noch die Buchhandlung und der Stoffladen übrig geblieben. Doch sie hatte gehört, wie ihre Mami mit Frau Klemmer vom Stoffladen gesprochen hatte und diese gemeint hätte, sie würde dies nicht mehr lange mitmachen. Als sie danach wieder zu Hause waren, hatte sie ihre Mami gefragt, ob sie auch wegziehen würden. Doch ihre Mami hatte nur bekümmert den Kopf geschüttelt. „Ach, Schatz, wo sollten wir denn hin.“ Da war ihr ein grosser Stein vom Herzen gefallen. Trotz der Dinosaurier wollte sie nicht weg von hier. Hier konnte sie mit ihren Freundinnen Sara und Kristina spielen und manchmal war auch Dominik dabei. Doch der war noch klein und vergass manchmal zu sagen, wenn er auf die Toilette musste und dann einfach in die Hose machte. Das war so eklig! Doch viele andere waren bereits weggezogen. Betty, die immer so verrückte Ideen gehabt hatte und sogar mit einem einfachen Ästchen die spannendsten Spiele aushecken konnte. Die blonde Alessa, die sich immer für etwas Besseres hielt und losheulte, wenn sie bei einem Spiel verlor. Sophie, die Furchtlose. Viola, die Tapfere. Leona, die Treue. Und dann die Jungs, die sie immer geärgert hatten. Elias, Yanik, Kilian, Oliver und Matteo. Alle weg. Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel und bahnte sich einen Weg die erhitzte Wange herab. Doch sie getraute sich nicht sie wegzuwischen. Sie getraute überhaupt nicht sich zu bewegen. Wie gerne wäre sie jetzt zu Mami ins Bett gekrochen. In das warme, grosse Bett. Doch Mami hatte heute dringend weg gemusst. Sie hatte versprochen, dass sie morgen früh, sobald es hell war, wieder zurück sein würde. Ob sie sich getrauen würde, alleine zu Hause zu bleiben? Sie hatte tapfer genickt, was bei Tageslicht und ohne das Geschrei der Dinosaurier einfach gewesen war. Doch jetzt, wo diese furchtbaren Laute in ihr dunkles Zimmer hereindrangen, wünschte sie sich, sie hätte den Kopf geschüttelt. Ihre Mami hatte ihr erklärt, dass sie aufs Land fahren würde. Sie könnte vielleicht frische Esswaren besorgen. Aber dazu brauchte sie einen Tag. Mami hatte gefragt, ob sie lieber bei einem ihrer Nachbarn für eine Nacht schlafen wolle, doch in ihrem Haus wohnten nur noch der alte Herr Konrad mit seinem Hündchen und die junge Emma, die irgendwie bekloppt war. Den alten Herr Konrad mochte sie nicht, der roch immer so komisch und das Hündchen kläffte dauernd und schnappte immer nach ihr, wenn sie es streicheln wollte. Und Emma redete immer selber mit sich, was komisch war. Einmal hatte sie Emma gefragt, was sie sich denn erzählen würde. Sie hatte gedacht, vielleicht sei es eine interessante Geschichte, die ihr auch gefallen würde. Doch da war Emma wütend geworden und hatte gesagt sie solle sich zum Teufel scheren. Das hatte sie sehr erschreckt. Danach hatte sie am Abend jeweils gebetet, dass der Teufel sie doch bitte, bitte nicht holen möge. Mami mochte die zwei auch nicht sonderlich, weshalb sie froh gewesen war, als sie gesagt hatte, sie würde lieber alleine zu Hause bleiben. Ein lautes Poltern an der Haustüre riss sie aus ihren Gedanken. Ihr Herzchen klopfte wie verrückt. Kamen die Dinosaurier um sie zu holen? Wussten sie, dass ihre Mami nicht zu Hause war? Plötzlich musste sie ganz dringend auf die Toilette. Sie wusste, sie würde es nicht mehr lange zurückhalten können. Ein weiteres Poltern an der Haustüre liess sie ein paar Tröpfchen Pipi verlieren. Schnell und ohne zu überlegen schlüpfte sie unter der Bettdecke hervor und rannte zur Toilette, riss sich die Pyjamahose herunter und liess sich erleichtert auf den Toilettensitz fallen. Ein bisschen war danebengegangen, aber das war nicht so schlimm. Viel schlimmer wäre gewesen, wenn sie ins Bett gemacht und ihre Mami das am nächsten Tag herausgefunden hätte. Sie wollte doch ihrer Mami nicht noch mehr Sorgen bereiten. Sie war doch schon ein grosses Mädchen. Das Poltern und Rumoren an der Haustüre nahm zu. Sie wusste, dass die Haustüre nicht sehr stark war. Manchmal fiel sie auch nicht richtig ins Schloss. Man musste sie fest zuziehen, damit sie richtig schloss. Doch Herr Konrad und vor allem Emma machten das nicht immer richtig, so dass man auch ohne Schlüssel ins Haus kommen konnte. Einmal hatten sie ihr dafür die Schuld gegeben, dass die Türe nie richtig geschlossen wäre. Ihre Mami hatte sie deswegen ausgescholten. Das hatte sie wütend gemacht. Ein lautes Krachen liess sie auffahren. Zu spülen getraute sie sich nicht, das würde vielleicht die Dinosaurier auf sie aufmerksam machen. Doch sie wischte im Dunkeln mit dem kratzigen Toilettenpapier über den Toilettensitz um die fehlgeleiten Spritzer zu entfernen und wusch sich dann schnell die Hände. In dem Moment hörte sie Getrampel auf der alten Holztreppe. Die Dinosaurier kamen! Doch dann vernahm sie Stimmen. Sie konnte zwar nicht verstehen, was sie sagten, doch es waren menschliche Stimmen. Vor Erleichterung hätte sie weinen mögen. Nun endlich kam der Prinz, um sie zu retten! Und ausgerechnet heute war ihre Mami nicht zu Hause, um das mitzuerleben. Doch sie würde mit dem Prinzen im Wohnzimmer auf sie warten und ihr die ganze Rettungsaktion bis ins kleinste Detail erzählen. Doch dann hörte sie ein Klirren und dann laute Schreie, die aus der Wohnung unter ihr kamen. Es waren die Schreie von Emma. Sie schrie, sie brüllte, sie weinte. Es war grauenvoll. Vielleicht war das doch nicht der Prinz, der sie retten würde. Vielleicht konnten die Dinosaurier sprechen wie die Menschen? Die Schreie von Emma waren in ein Wimmern übergegangen, durchbrochen von Schluchzern. Ihre Angst wuchs, bei jedem Schluchzer, der aus der Wohnung unter ihr kam. Sie war so verängstigt, dass sie nicht einmal zu weinen wagte. Vorsichtig setzte sie einen Fuss vor den anderen. In diesem Haus, mit den alten Holzdielen, hörte man jedes Geräusch. So würden die Dinosaurier auch hören, wie sie hier oben herumging. Doch bei dem Gewimmer von Emma würden sie vielleicht doch nichts hören. Als sie das Fenster erreicht hatte, warf sie zum ersten Mal, seit die Überfälle der Dinosaurier begonnen hatten, einen Blick durch den Spalt in den Fensterläden auf das Geschehen. Was sie sah, war erschreckender als alles, was sie sich vorgestellt hatte. Da draussen waren keine Dinosaurier. Da draussen waren Menschen! Schwarz gekleidete Menschen mit Kapuzen über den Köpfen. Obwohl sie nicht viel erkennen konnte, die Gasse war nicht beleuchtet, sah sie doch die bleichen Gesichter dieser Menschen, die wüteten und schrien. In dem Moment begann sie unkontrolliert zu zittern. Völlig kraftlos sank sie auf den kalten Boden. Dann verbarg sie das Gesicht auf ihren Knien und weinte lautlos bis das Gepolter von Schritten sie wieder aus ihrer Trauer riss. Das waren Menschen! Keine Dinosaurier. Nein, Menschen. Ihre Gedanken konnten nichts mehr anderes denken. Sie dachte an den alten Gemüsehändler Peter und wie sein Geschäft verwüstet worden war. Von Menschen! All die anderen verwüsteten Geschäfte. Von Menschen! Die Schreie von Emma. Das waren Menschen, die ihr wehtaten! Und sie würden auch ihr wehtun. Vielleicht würde sie sterben müssen, so wie ihre Lehrerin vor einiger Zeit gestorben war. So wie Kilian gestorben war. Und Barbara, Julia, Tara, Claudia, Paul. So wie die vierköpfige Familie eine Gasse weiter gestorben war. So wie wahrscheinlich Emma sterben würde, wenn sie noch nicht gestorben war. Und das wegen Menschen! Sie stellte sich vor, wie sie tot daliegen würde, wenn Mami am nächsten Tag nach Hause kommen würde. Wie sie zuerst an der toten Emma vorbeigehen müsste, um zu ihr zu gelangen. Wie sie viele frische Lebensmittel dabei haben würde, die sie nie mehr zusammen essen würden. Da begann sie wieder zu weinen. Sie würde ein Engelchen sein und sehen, wie ihre Mami um sie weinen würde. Das Weinen wurde schlimmer, die Stimmen und Schritte kamen näher. Stopp! Sie würde überleben. Für ihre Mami. Schnell eilte sie ins Schlafzimmer und wollte sich schon unter dem Bett verstecken, als ihr in den Sinn kam, dass dort wahrscheinlich als Erstes nach ihr gesucht würde. Hektisch schaute sie sich nach einem passenden Versteck um. Da kam ihr der Schrank im Schlafzimmer ihrer Mami in den Sinn. Im oberen Regalfach lagen die Bettbezüge, darunter würde sie sich verstecken. Sie hörte wie die Schritte und Stimmen ihre Wohnung nun fast erreicht hatten. Panisch wollte sie aus ihrem Schlafzimmer rennen, als ihr Blick auf das ungemachte Bett fiel. Würden die Menschen das sehen, würden sie wissen, dass bis vor kurzem noch jemand hier geschlafen hatte. In aller Hast machte sie das Bett, schüttelte kurz die Decke und das Kissen und klopfe beides nochmals vorsichtig, nachdem sie es fein säuberlich hingelegt hatte, so wie ihre Mami es immer tat. Als sie an der Garderobe vorbei in Mamis Schlafzimmer sausen wollte, sah sie ihre Jacke und die Schuhe. Auch das würde doch darauf hindeuten, dass noch jemand da sein musste. Denn dort standen auch die Hausschuhe ihrer Mami. Schnell schlüpfte sie aus ihren Hausschuhen, stellte sie hin, packte die Jacke und die Schuhe und verschwand dann im Schlafzimmer ihrer Mami. In dem Moment hörte sie das Krachen und Poltern an der Wohnungstüre. Diese Türe würde noch viel weniger lang standhalten als die Haustüre. Denn diese war nur eine dünne Spanplattentüre. Als sie leise die Schranktüre öffnete, in der sie sich verstecken wollte, sah sie mit Schrecken, dass das obere Regalfach für sie viel zu hoch war. Sie kam knapp an das Regalbrett heran, wenn sie sich streckte, doch als sie sich daran hochziehen wollte, kippte die Platte in ihre Richtung und die Bettbezüge darauf begannen zu rutschen. Schnell liess sie das Brett los und hörte das leise Klicken, als es wieder zurück in die Halterung fiel. Mit pochendem Herzen lauschte sie, ob die Angreifer etwas bemerkt hätten. Doch die mühten sich immer noch brüllend an der Türe ab, die scheinbar stabiler war, als sie schien. Trotzdem blieb ihr nicht mehr viel Zeit, um sich irgendwo zu verstecken. Im unteren Teil des Schrankes ging nicht, da hingen die Mäntel und Jacke ihrer Mami, da hätte man ihre Beine gesehen. Der andere Teil des Schrankes hatte zwar auch Regalfächer, die waren aber sogar für sie viel zu klein. Da fiel ihr Blick auf den Holzstuhl, auf dem Ihre Mami normalerweise ihre Kleider für den nächsten Tag hinlegte. Schnell zog sie ihn heran, kletterte flink hinauf, warf ihre Schuhe und die Jacke auf die Bettwäsche und zog sich dann auf das Regalbrett. Sie betete so inbrünstig wie noch nie, dass bitte das Regalfach ihr Gewicht tragen möge und dass die Menschen sie hier nicht finden würden. Das Regalbrett wackelte zwar ein bisschen, schien aber zu halten. Als sie sich jedoch nach vorne beugte, um den Stuhl vom Schrank wegzuschieben, fühlte sie, wie das Brett zu kippen drohte. Sie versuchte mit den Beinen ein Gegenwicht zu geben und schaffte es tatsächlich, die Stuhllehne zu packen und dem Stuhl einen leichten Stoss zu geben, so dass er Richtung Fenster schlitterte. Im selben Moment hörte sie das Splittern der Türe und die Stimmen, die sich nun in der Wohnung befanden. Schnell zog sie sich zurück, packte die Schranktüre und zog sie soweit zu wie möglich. Sie konnte die Türe sogar noch von innen ein bisschen arretieren, so dass man nicht auf Anhieb sah, dass die Türe nicht wirklich geschlossen war. Dann rollte sie sich ganz an die Schrankwand und türmte die Bettwäsche um sich auf, und hoffte, dass so nichts mehr von ihr zu sehen sein würde. Mit laut klopfendem Herzen lag sie da, die Augen fest verschlossen und stumm betend. Sie konnte nun die Stimmen ganz deutlich hören. „Scheisse, die Schlampe unten scheint die Wahrheit gesagt zu haben. Da ist tatsächlich niemand.“ „Verdammt! Da lebt doch sonst die heisse Braut mit den grossen Titten und dem kleinen Mädchen. Die hätte ich beide gerne genommen.“ Dreckiges Gelächter. „Ach hör schon auf. Die Alte ist doch sicher schon total ausgeleiert. Die treibt es doch sicher mit jedem. Aber ich hätte gerne ihre Schreie gehört, wenn wir sie langsam aufgeschlitzt hätten.“ Weiteres Gelächter, das nun näher kam. In ihrem Versteckt hörte sie Scheppern und das Zerbrechen von Glas. „Hast du schon überall nachgesehen?“ „Nein, Wohnzimmer, Kinderzimmer, Bad und Küche ist leer. Jetzt noch das Schlafzimmer der Alten. Vielleicht liegt sie ja unter dem Bett.“ Die Stimmen erreichten das Schlafzimmer. Kurzes Schweigen. „Nein, da ist sie auch nicht.“ In ihrem Versteck stiess sie einen leichten Seufzer aus, froh darüber, dass sie die Idee verworfen hatte, sich unter dem Bett zu verstecken. Schnell hielt sie sich jedoch die Hand vor den Mund. Mit einem Ruck wurde die Schranktüre aufgerissen. „Schau dir das an“, sagte in dem Moment eine Stimme von der anderen Seite des Raumes. „Wow, heiss! Na ja, Reizwäsche ist was anderes. Hätte ihr trotzdem gerne diese Liebestöter vom Körper geschnitten.“ Wieder Lachen. Dann Schritte, die sich erneut dem Schrank näherten. Hände, die die Mäntel wegschoben. Hände die sich dem oberen Regalfach näherten. Fast hätte sie geschrien, dachte dann aber wieder an ihre Mami und biss sich stattdessen in den Zeigfinger, damit auch ja kein Laut aus ihrem Mund kam. Die Hände kamen näher, dann wieder die andere Stimme, „da ist wirklich niemand. Lass uns abhauen.“ „Ja, komm schon.“ Die Hand, die wieder verschwand. Die zweite Schrankhälfte, die geöffnet wurde. In dem Moment spürte sie, wie das Regal unter ihr nachzugeben drohte. Es begann zu rutschen. Voller Panik krallte sie sich in die Bettwäsche, doch das würde rein gar nichts bringen, wenn das Regalfach nach unten krachen würde. Ihre Gebete wurden nun inniger, verzweifelter. In dem Moment entfernten sich die Stimmen und Schritte. Als sie hörte wie nun oben gewütet wurde, als sie die Schreie von Herr Konrad hörte und das hilflose Fiepen seines Hündchens, konnte sie nicht mehr anders als Schluchzen und immer wieder Gott danken, dass er sie gerettet hatte. Und dass es auch so bleiben möge. Als Herr Konrad und sein Hund verstummt waren, kamen die Schritte wieder herunter, gingen an der eingeschlagenen Wohnungstüre vorbei und verliessen dann das Wohnhaus. Stocksteif lag sie da. Das Regalbrett knarrte zwar und bewegte sich zwischendurch so komisch, doch es hielt. Die ganze restliche Nacht lag sie da, wach, ängstlich, voller Panik, nicht fähig, sich zu bewegen. Als sie durch die offene Schranktüre die ersten Sonnenstrahlen sah, die sich durch die Fensterläden schlichen, wusste sie, dass sie es geschafft hatte. Dass es vorbei sein würde. Trotzdem lag sie da, bis sie schnelle Schritte im Treppenhaus hörte. Dann den entsetzten Schrei ihrer Mami und dann wieder hastige Schritte und einen weiteren Schrei. „Nein! Schatz, bist du da?!“ Sie hörte wie ihre Mami panisch durch die Wohnung rannte und immer wieder verzweifelt nach ihr schrie. Da liess sie sich vom Regal gleiten, wobei sie mit einem heftigen Knall auf den Boden fiel. Das Regalbrett und die Wäsche fielen auf sie drauf. Doch sie achtete nicht auf die Schmerzen, die sie dabei verspürte, schüttelte das Brett und die Wäsche von sich ab und rannte dann in die Arme ihrer Mami, die in dem Moment voller Angst das Schlafzimmer betrat. Schluchzend fielen sie sich in die Arme und blieben lange so stehen. Als sie sich etwas beruhigt hatten, führte ihre Mami sie ins Wohnzimmer und sie setzten sich auf das alte Sofa. Die Wohnung war verwüstet, doch sie sahen nur sich. Schluchzend erzählte sie ihrer Mami was sich zugetragen hatte. Noch am selben Tag packten sie die Koffer und zogen zu einer entfernten Verwandten aufs Land.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739483948
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Februar)
Schlagworte
Spukgeschichten Unheimliches Horror Sammelband Kurzgeschichten Gruselgeschichten Krimi Thriller Spannung Erzählungen

Autor

  • Ruth Herbst (Autor:in)

Ruth Herbst lebt und arbeitet in der Schweiz. Nach den Kurzgeschichten-Bänden Dinge des Schreckens und Orte des Schreckens ist nun der dritte Schreckgeschichten-Band Tiere des Schreckens erschienen.
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Titel: Tiere des Schreckens