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Skyland II

von Ruth Herbst (Autor:in)
250 Seiten

Zusammenfassung

Patrizia kann sich an ihr Abenteuer in Skyland nicht mehr erinnern. Dies ändert sich, als David bei ihr auftaucht und ehe sie sich versieht, steckt sie schon wieder mitten in einer Weltrettungsaktion. Die Bösen haben einen Weg gefunden, von Skyland auf die Erde zu gelangen. Nun verseuchen sie das Wasser, sodass die Menschen depressiv werden. Patrizia muss wieder einmal den Skyländern helfen die Bösen zu stoppen. Doch nicht immer kann sie das Böse vom Guten unterscheiden und neben dem Kampf gegen die Bösen läuft auch in ihrem Leben nicht alles rund. Zum Glück kann sie diesmal auch ihre Freunde als Hilfe mit ins Boot nehmen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog

Das Klingeln des Weckers riss ihn aus einem wirren Traum, den er vergass, kaum hatte er die Augen geöffnet. Zufrieden drehte er sich auf den Rücken und streckte sich. Voller Vorfreude dachte er an den kommenden Tag. Heute stand ein wichtiges Kundengespräch an und er konnte es förmlich fühlen, wie er diesen fetten Fisch an Land ziehen würde. Dann hätte er sich endlich auch einen dieser Boni verdient, die seine Kollegen regelmässig einsackten, um dann mit ihren Luxusferien, Luxusautos und Luxusuhren zu prahlen. Während er dalag, träumte er davon, wie sein neues Leben aussehen würde. Doch dann rief er sich zur Vernunft, dass er zuerst das Gespräch erfolgreich hinter sich bringen musste. Bevor er das Bett verliess, drehte er sich zu seiner Frau um, von der nur die Nase und die dichten schwarzen Locken zu sehen waren. Als er sie nun so betrachtete, wurde ihm bewusst, wie sehr er sie liebte. Er beugte sich über sie, und küsste sie sanft auf die Nasenspitze. Dann stand er leise auf, nahm seine Kleider vom Stuhl neben dem Bett und ging damit ins Bad. Nachdem er eiskalt geduscht hatte, rasierte er sich mehr recht als schlecht, gelte dafür aber umso penibler seine Haare zurück. In der Küche stellte er die Kaffeemaschine ein und holte die Zeitung aus dem Briefkasten, ganz in Gedanken versunken, mit welchen Argumenten er beim heutigen Gespräch überzeugen konnte. Auf dem Weg vom Briefkasten zurück ins Haus wurde ihm bewusst, wie durstig er war. Bevor er seinen Kaffee trinken würde, brauchte er unbedingt ein grosses Glas Wasser. Seine Zunge war pelzig, wahrscheinlich von der gestrigen Pizza Diavolo. Einen Moment dachte er, wie schön es gestern gewesen war: Er mit seiner Frau in der gemütlichen Pizzeria um die Ecke, ein feines Glas Wein, ein gutes Gespräch und eine romantische Atmosphäre. Was war er doch für ein Glückspilz! Mit grossen Schlucken trank er das Glas leer. Das Wasser schmeckte nach Kupfer und hinterliess einen seltsamen Geschmack in seinem Mund. Es war eklig und erinnerte ihn an den Geschmack von Blut, obwohl er natürlich noch nie Blut getrunken hatte. Er drehte den Wasserhahn nochmals auf und roch am Wasser, doch er konnte nur das Abwaschmittel riechen das neben der Spüle stand. Wahrscheinlich kam der Geruch von den alten Rohren in ihrem Haus. Würde es nicht bessern, müsste er den Sanitärinstallateur bestellen. Die Rohre auszutauschen würde einen rechten Batzen Geld kosten, aber wenn das Wasser weiterhin diesen Geschmack im Mund hinterliess, musste etwas getan werden. Er trank einen Schluck Kaffee, in der Hoffnung, den unangenehmen Geschmack damit loszuwerden. Während er die Zeitung aufschlug, überkam ihn plötzlich eine seltsame Leere und Traurigkeit. Er las all die Horrormeldungen, von denen in der Zeitung berichtet wurde. Krieg, Mord, Massaker, Vergewaltigungen, Prügeleien und vielem mehr. Es fand keinen aufmunternden, positiven Artikel. Als er zu den Todesanzeigen kam und sie überflog, fielen ihm drei auf, bei denen die Verstorbenen scheinbar Selbstmord begangen hatten. Alle drei Menschen waren noch jung gewesen und bei allen hiess es „wir akzeptieren deinen letzten Wunsch“ oder so ähnlich. Ihm erschien alles so sinnlos. Seltsam, eben noch hatte er sich auf den heutigen Tag gefreut und nun sah er gar keinen Sinn mehr in seinem Leben. Was würde es ihm bringen, wenn er einen neuen Kunden akquirieren konnte? Was würde ihm das ganze Geld bringen, das er dafür erhalten würde? Was würde es ihm bringen, wenn er eine liebe Frau hatte? Was, wenn er ein eigenes Haus hatte? Er würde doch sowieso eines Tages sterben. Vielleicht sogar mal an einer schweren Krankheit, unter Qualen. Dann würde ihm all dies sowieso nichts mehr nützen. Gehen musste jeder schlussendlich alleine. Und mitnehmen konnte man auch nichts. Vielleicht hatte seine Frau sowieso schon längst einen Neuen und wartete nur darauf, bis er abkratzte? Vielleicht hasste sie ihn ja in Wirklichkeit und spielte ihm die ganze Zeit nur die grosse Liebe vor? Er nahm den letzten Schluck Kaffee, stellte die Tasse in die Abwaschmaschine und ging dann zurück ins Bad, um sich noch die Zähne zu putzen, obwohl ihm auch das sinnlos erschien, es war mehr die tägliche Routine, die ihn dazu zwang. Wenigstens war jetzt der Kupfergeschmack im Mund weg. Doch das war ihm egal. Alles war ihm egal. Er zog sich wie in Trance die Schuhe und den Mantel an. Dann nahm er seine Aktenmappe und den Autoschlüssel aus der Schale im Gang und verliess das Haus. Draussen war es eisig kalt. Der Wind blies ihm ins Gesicht und trieb ihm Tränen in die Augen. Doch das bemerkte er kaum. Wie ein Roboter öffnete er die Garagentüre, stieg ins Auto und fuhr davon. Den Verkehr nahm er kaum wahr. Was wollte er eigentlich noch auf dieser Erde? Wozu brauchte es ihn noch? Er hatte keine Kinder und seine Eltern waren bereits tot. Seine Arbeitskollegen wären sicher froh, wenn er nicht mehr da wäre, dann hätten sie einen Konkurrenten weniger und ein anderer könnte mit dem Kunden verhandeln. Die würden sich sicher darum reissen. Und je mehr er darüber nachdachte, war er ganz sicher überzeugt davon, dass seine Frau längst einen anderen, einen besseren Mann gefunden hatte. Er fuhr über eine rote Ampel, bemerkte es jedoch nicht, nicht einmal als ein empörter Autofahrer, dem er den Weg abgeschnitten hatte, hupte. Die Strassen waren trocken, kein Schnee und kein Eis. Vor ihm kam eine grosse Kurve, die er immer gerne mit Schuss nahm. Sie war grosszügig ausgebaut und nur bei eisiger Strasse gefährlich. Doch heute kam er auf die Kurve zu, sah sie jedoch nicht. Er sah überhaupt nichts und tat überhaupt nichts. Anstatt das Lenkrad zu drehen, fuhr er einfach gerade aus. Er schoss auf die Leitplanke zu, welche er mit hohem Tempo durchbrach. Kein Schrei entfuhr ihm, spürte weder Angst noch Schmerzen. Dann überschlug sich das Auto mehrmals, bevor es am Ende des Abhanges von einem grossen Baum gestoppt wurde.

Kapitel 1

Laute Stimmen vor meinem Fenster weckten mich. Was war das für ein verdammter Radau? Wütend zog ich mir die Decke über den Kopf. Es war Samstag, ich könnte ausschlafen und nun wurde ich von irgendwelchen gedankenlosen Menschen, welche in unnatürlicher Lautstärke sprachen, geweckt. Noch halb im Schlaf streckte ich den Arm auf die rechte Seite des Bettes aus. Erst dann wurde mir bewusst, dass Jens nicht mehr bei mir war. Ich spürte einen Stich im Herz. Nicht mal ein ganzes Jahr waren wir zusammen gewesen. Ich hatte immer gewusst, dass ich kein Beziehungsmensch bin, doch irgendwie hatte ich die Hoffnung gehabt, mit Jens den Mann fürs Leben gefunden zu haben. Ich hatte geglaubt, wenn man etwas wirklich will, es auch zu schaffen. Doch es hatte nicht geklappt. Jens hatte sich vor der Trennung aber auch ziemlich seltsam benommen. Schnell schob ich alle Gedanken an Jens beiseite. Der Gedanke an ihn tat immer noch weh. Zudem hatte ich immer das Gefühl des Versagens, wenn ich an ihn dachte. Alle führten Beziehungen, nur ich brachte nicht mal das fertig. Plötzlich fragte ich mich, wieso ich eigentlich immer noch nur auf der linken Seite des Bettes lag, da ich doch nun wieder das ganze Bett für mich alleine zur Verfügung hatte. Ich rollte mich in die Mitte, doch als ich die kalte Matratze unter mir spürte, rollte ich mich schnell wieder zurück und streckte den Arm aus, um das Radio einzuschalten. Dabei streifte ich den Wecker, welcher auf den Boden fiel. Was war heute bloss los? Entnervt strampelte ich die Bettdecke weg, nahm den Wecker unter dem Bett hervor, schaute nach, ob er noch funktionierte, was er tat und stellte ihn dann wieder auf das Nachttischchen. Dann stellte ich das Radio ein und legte mich zurück ins Bett. Es kam gerade ein Song von Michael learns to rock, dessen Titel mir zwar im Moment nicht in den Sinn kam, ich jedoch den Text kannte, so dass ich, im Bett liegend, laut mitsang. Als der Song fertig war, gab es Werbung und ich stellte meine Ohren auf Durchzug. Was sollte ich heute machen? Am liebsten wäre ich zur Arbeit gegangen. Jetzt, da ich ausgeschlafen hatte, wäre es mir egal gewesen. Seit Jens weg war, fühlte ich mich oft einsam. Das war mir früher nie passiert. Ich war glücklich gewesen, wenn ich möglichst viel alleine war. Doch mit Jens hatte ich immer sehr viel unternommen und nun war es schwierig, wieder mit dem vorherigen Leben weiterzufahren. Wenigstens hatte ich eine neue Stelle, bei der ich sehr gerne arbeitete. Mir wäre es egal gewesen, wären es 100% gewesen, doch ich arbeitete nur 80%. Den zusätzlichen Freitag wusste ich in letzter Zeit kaum rumzubringen. Ich versuchte Pläne zu machen, doch mir fiel gar nichts ein. Dabei hätte es schon das eine oder andere gegeben, das ich hätte tun können. Doch für alles fehlte mir die Motivation. Komischerweise hatte ich früher mit meiner wenigen Freizeit viel eher etwas anzufangen gewusst. Während der letzten Tage war es sehr kalt gewesen, also mochte ich mich nicht mit der Digitalkamera draussen rumzutreiben. Kleider shoppen konnte ich auch nicht, das hatte ich letztes Wochenende schon getan und mit meinem 80%-Lohn lagen regelmässige Shoppingtouren sowieso nicht mehr drin. Zudem war mein Schrank derart voll, dass ich nach dem Waschen Mühe hatte, all die Kleider wieder zu verstauen. Vielleicht könnte ich wieder einmal mit meiner Mutter abmachen. Ich hatte sie schon eine Weile nicht mehr gesehen, da in der Schreinerei meines Vaters reger Betrieb herrschte und sie mit den administrativen Aufgaben voll ausgelastet war. Ich hatte ihr mal meine Hilfe angeboten, doch davon wollte sie nichts wissen. Ich hätte doch sicher sonst schon viel um die Ohren, hatte sie gemeint. Als ich das verneinte, glaubte sie nur, ich würde ihr etwas vormachen. Sie glaubte, alle jungen Menschen haben viel um die Ohren. Dabei sollte sie doch eigentlich ihre eigene Tochter besser kennen. Aber ich beharrte nicht darauf und liess es sein. Nun kamen im Radio die Nachrichten und ich hörte aufmerksam zu. In der Gegend hatte sich ein schwerer Autounfall ereignet. Obwohl die Strassen trocken und es eine übersichtliche Kurve war, war gestern Morgen ein junger Mann mit dem Auto einfach geradeaus einen Abhang heruntergefahren. Der Mann verstarb bei diesem schweren Unfall. Nun suchte die Polizei Zeugen. Ich fragte mich, ob dieser Mann wohl eine Familie hatte. Das war schon tragisch. Da stand man am Morgen nichts ahnend auf und plötzlich war nichts mehr so, wie es war. Aber das war das Problem mit dem Schicksal. Es schlug einfach zu und fragte nicht lange, ob es heute passen würde. Da würde es ja nie passen. Mit halbem Ohr hörte ich noch die Wettervorhersage. Der Sprecher erzählte etwas von weiterhin kaltem Wetter. Im Unterland mit Nebel in den Bergen mit schönstem Sonnenschein. Wenigstens hatten die Wintersportorte etwas von diesen kalten Tagen. Aber bei uns unten war es schon sehr trostlos. Und das bereits seit über zwei Wochen. Ich stand auf, da es mir im Bett langsam langweilig wurde und stellte mich unter die Dusche. Dann zog ich mich warm an, packte meine Handtasche und machte mich auf den Weg in die Stadt. Ich hatte mich entschlossen, wieder einmal in die grosse Bücherei zu gehen. Sicher würde ich dort ein gutes Buch finden, ich fand eigentlich immer eins. Vor dem Haus fuhr gerade die Nachbarin ihr Auto rückwärts aus dem Parkplatz. Ich hielt einen grossen Sicherheitsabstand und wartete, bis sie definitiv fortfahren würde. Rückwärtsfahrenden Autofahrerinnen traute ich nie. Obwohl ich selber Auto fuhr, oder gerade deshalb. Ich war auch oft unberechenbar. Bei den Frauen war das immer seltsam. Sie machten meistens Unfälle bei den ungefährlichsten Manövern, zum Beispiel beim Ein- oder Ausparkieren. Männer hingegen brachten eher mit ihrem Machogehabe die anderen Verkehrsteilnehmer in Gefahr. Die Nachbarin war immer noch am Manövrieren. Sie fuhr ein bisschen Rückwärts. Bremste. Schaltete, dass es laut und deutlich zu hören war. Dann wieder ein Stück vorwärts. Bremsen. Räder in die andere Richtung einschlagen. Wieder ein Stück rückwärts. Bremsen. Räder in die andere Richtung einschlagen. Vorwärtsgang, dass es knirschte. Fahren. Bremsen. Noch etwas rückwärts. Wieder bremsen. Wieder Vorwärtsgang. Als ich schon glaubte, bis zum jüngsten Tag hier stehen zu müssen, hörte ich plötzlich eine scheue Stimme hinter mir, die mir bekannt vorkam. „Hallo Patrizia“. Es war eine Frauenstimme und ich drehte mich um. Da stand doch tatsächlich Paula. Ganz entgeistert starrte ich sie an. Paula war mal eine gute Kollegin von mir gewesen, bis sie sich in einen gewissen Paolo verliebt hatte, der sich dann als Krimineller entpuppt hatte. Da sie sich für ihn und gegen mich entschiede hatte, hatte ich ihr die Freundschaft gekündigt. Früher war Paula eine kräftige kleine Frau mit kurzen schwarzen Haaren und einem ernsten Gesicht gewesen. Doch jetzt war sie ganz dünn, hatte dunkle Augenringe und ihre Haare fielen ihr in fettigen Strähnen auf die knochigen Schultern. Sie sah erbarmungswürdig aus, trotzdem tat sie mir nicht leid. Mir kam unser letztes Gespräch in den Sinn, bei dem sie mich schwer beleidigt hatte, was mich sehr verletzt hatte. Obwohl ich an unserem damaligen Streit auch nicht ganz unbeteiligt gewesen war. Aber das spielte jetzt keine Rolle. Sie war die mit dem kriminellen Freund gewesen, nicht ich. Ich ersparte ihr und mir eine Begrüssung und schaute sie nur an. Auch sie schien nicht recht zu wissen, was sie sagen sollte, denn sie schwieg nun ebenfalls. Ich gab ihr zehn Sekunden, dann würde ich davonlaufen. Eigentlich war sie immer eine liebenswürdige Person gewesen. Sicher hatte dieser Paolo sie zu diesem bösartigen Menschen gemacht und plötzlich verspürte ich Mitleid mit ihr. Ich glaube fest daran, dass in jedem Mensch etwas Gutes steckt, aber auch immer etwas Böses. Jeder Mensch kam gut auf die Welt, also weiss und rein, doch dann entwickelte sich das Schwarze, das Böse. Bei einigen blieb es ein kleiner unbedeutender Fleck, bei anderen jedoch verschlang es das Weisse regelrecht. Paula, da war ich mir sicher, war immer noch mehr weiss als schwarz. Doch Paolo war sicher fast nur noch schwarz mit einem winzigen Pünktchen weiss. Das Pünktchen war wahrscheinlich so klein, dass es nicht mal mit einer Lupe, sondern nur mit einem Spezialmikroskop zu finden war. Mist, bei diesen ganzen Gedanken hatte ich vergessen auf zehn zu zählen. War die Zeit schon um, dass ich davonlaufen würde? Gerade eben wollte ich mit dem Zählen beginnen, als Paula den Mund aufmachte. Sie hatte gerötete Wangen, was sicher nicht nur vom kalten Wind kam. „Patrizia. Ich möchte mich entschuldigen für unseren Streit. Es tut mir echt leid, was ich damals gesagt habe. Ich meinte das echt nicht so, gar nichts von alledem. Ehrlich!“ Sie schaute mich flehentlich an, doch ich schwieg immer noch. Was hätte ich schon sagen sollen? Es wäre entweder etwas Verletzendes gewesen oder einer meiner blöden, unpassenden Sprüche. Plötzlich sagte sie „Achtung!“ und zog mich zur Seite. Der freie Parkplatz meiner Nachbarin war nun von einer anderen Autofahrerin entdeckt worden, die nun weit ausholte, um auch sicher einparkieren zu können. Nur hatte sie ausser Acht gelassen, dass da noch zwei Frauen standen, die miteinander sprachen. Zumindest eine sprach. Ich machte schnell einen Schritt zur Seite, die Autofahrerin hatte davon immer noch nichts mitbekommen und dann sah ich wieder Paula an. „Puh, danke! Ja, du warst echt fies zu mir. Du weisst gar nicht wie sehr mich das verletzt hatte. Vor allem weil du doch sonst nicht so bist.“ Sie schaute mich verlegen an, wollte soeben etwas sagen, doch dann drehte sie sich um und brüllte die Autofahrerin, die nun ausgestiegen war, an, „wozu hast du eigentlich Augen im Kopf? Bist du blind oder was?“ Die Autofahrerin schaute genauso überrascht, wie ich mich fühlte. „Was ist denn los?“ fragte sie Paula. „Du hast uns fast über den Haufen gefahren! Hast du deinen Fahrausweis im Lotto gewonnen?“ und murmelnd fügte sie noch hinzu, „blöde Kuh“. Die Autofahrerin schien immer noch nichts zu begreifen, trotzdem sagte sie, „tut mir leid, aber ich habe euch nicht bemerkt. Tut mir wirklich leid.“ „Ja das haben wir auch bemerkt“, erwiderte Paula schnippisch. Die Autofahrerin schaute uns beide verängstigt an. Wahrscheinlich dachte sie, dass wir gleich Waffen aus unseren Jacken zaubern und uns auf sie stürzen würden. Oder was auch immer. Paula winkte nur böse ab und sagte nichts mehr. Dann drehte sie sich wieder mir zu. Ich klappte meinen offenen Mund wieder zu. So kannte ich Paula überhaupt nicht. Früher war sie eine ruhige, introvertierte Frau gewesen, die etwa so temperamentvoll war, wie eine Fledermaus am Tag. Doch jetzt war sie regelrecht zur Furie geworden und ich schämte mich dafür, mit ihr hier zu stehen und zu sprechen. Wahrscheinlich wurde ich nun in den gleichen Topf wie sie geworfen. Ihre Augen funkelten immer noch wütend, doch plötzlich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. „Tut mir leid, aber die ignorante Art einiger Leute geht mir so auf die Nerven! Diese Frau hätten wahrscheinlich nicht einmal bemerkt, dass sie uns überfahren hat, wenn wir an ihrem Auto geklebt hätten.“ Wider Willen musste ich lachen, als ich mir diese Szene vorstellte, wie wir am Auto kleben würden und die Autofahrerin seelenruhig davonlaufen würde. Und wenn sie dann wieder zurückkäme, würde sie sich beim Abfahren wundern, weshalb das Auto so holprig fuhr. Paula lächelte nun ebenfalls. „Hast du vielleicht Zeit für einen Kaffee?“ fragte sie nun schüchtern. Bei dieser Frage hatte ich sofort ein Déjà-vu. Genau das hatte sie mich vor etwa anderthalb Jahren auch gefragt. Und dann war die Situation eskaliert und ich hatte Paula bis jetzt nicht mehr gesehen. Gerne hätte ich ‚nein‘ gesagt, doch mit welcher Begründung? Dass ich noch schnell in die Buchhandlung müsse und danach den Rest des Wochenendes in meiner Wohnung versauern würde? Natürlich hätte ich mir auch eine gute Lüge einfallen lassen können, doch Lügen war nicht meine Stärke. Meistens erzählte ich viel zu viel, plapperte sinnlos drauflos, so dass meine Lügen sofort durchschaut wurden. „Na gut“, sagte ich wenig überzeugt. Ich fügte mich dem Schicksal. Nun würde ich wenigstens einmal an diesem Wochenende mit jemandem ein normales Gespräch führen. „Super!“ Ein Strahlen zog über Paulas Gesicht, das sie komischerweise noch schlechter aussehen liess. Ihre Haut war wie Pergament und knitterte seltsame, als sie nun lächelte. „Und, wo möchtest du hin?“ fragte ich sie. Diesmal wollte ich nicht entscheiden. „Wir könnten doch in die Stadt. Ein bisschen Laufen tut mir gut und zudem liebe ich dieses kalte Wetter, es ist herrlich, wenn einem der Wind ins Gesicht bläst und man sich dann wieder aufwärmen kann.“ Ich nickte zustimmend. Das ging mir jeweils genauso. Es war heimelig, wenn man draussen in der Kälte war und dann wieder in die Wärme konnte, anstatt den ganzen Tag in der Wärme zu verbringen. Also spazierten wir los und schwiegen einander an. Ich hatte nicht das Bedürfnis etwas zu sagen und sie anscheinend auch nicht. Als wir an einem Café vorbeiliefen, sahen wir, dass es drinnen noch freie Tische hatte. Wir kehrten um und gingen hinein. Beim Eintreten empfing uns eine mollige Wärme. Wir setzten uns an einen Tisch am Fenster, ich bestellte einen Latte Macchiato und ein Gipfeli, Paula einen Cappuccino. Wir schwiegen weiterhin und Paula begann erst zu sprechen, als die Kellnerin unsere Bestellung brachte. Sofort begann ich den Schaum meines Latte Macchiatos oben ab zu löffeln, während Paula fragte, „bist du immer noch böse auf mich?“ Einen kurzen Moment überlegte ich. War ich das? Wahrscheinlich schon. Vor allem verletzt. Aber mir machte auch etwas anderes zu schaffen. Ich hatte grottenschlechte Menschenkenntnisse. Paula kannte ich doch schon eine ganze Weile, oder glaubte sie zumindest zu kennen und dann enttäuschte sie mich derart. Das machte mir Angst. Wem konnte ich denn noch trauen? Aber natürlich waren die Menschen unberechenbar. Ich würde einen Menschen nie wirklich kennenlernen. Die meisten Menschen kannten ja nicht einmal sich selbst richtig. Offen schaute ich Paula an. „Irgendwie schon. Du hast mich einfach enttäuscht. Das war echt schlimm und ich hatte mir gewünscht, dich nie mehr wiederzusehen“, sagte ich ehrlich. Sie schaute mich ganz bestürzt an. „Ist das wahr?“ „Ja, aber irgendwie kann ich dir auch nicht richtig böse sein, dazu kennen wir uns zu lange und ich weiss, dass du eigentlich eine ganz liebenswürdige Person bist.“ Sie entspannte sich ein bisschen, um sich bei meiner nächsten Frage gleich wieder zu verkrampfen. „Wie geht es denn Paolo?“ wollte ich nun wissen. Sie schwieg eine ganze Weile, spielte mit ihrem Löffel und schaute auf die Tischplatte. Dann hob sie den Kopf und schaute mir direkt in die Augen. „Ich weiss es nicht. Als er ins Gefängnis musste, habe ich ihn noch ein paar Mal besucht. Doch ich habe dadurch all meine Freunde verloren, sogar meine Familie wollte nichts mehr von mir wissen. Erst da merkte ich, dass Paolo das nicht wert ist. Doch jetzt ist es schon zu spät. Meine Familie hasst mich und ich fühle mich so einsam.“ Eine Träne rollte ihr über die Wange und sie wischte sie schnell weg. „Tut mir leid. Ich sollte hier nicht rumheulen, immerhin habe ich mir dieses Schlamassel selber zu verdanken.“ Wie wahr, dachte ich sarkastisch, sagte aber, „ist es wirklich so schlimm?“ „Ja“, hauchte sie nur. Meine Frage war eigentlich überflüssig gewesen, ich brauchte sie mir nur anzuschauen. „Zum Glück habe ich noch meine Arbeit, dann bin ich wenigstens um Menschen.“ Plötzlich fielen mir unsere Parallelen auf. Auch ich war oft alleine, nur hasste mich meine Familie nicht und ich hatte immerhin noch Regula, auch wenn die in letzter Zeit meistens mit Markus, ihrem Ehemann, beschäftigt war. „Wie lange muss Paolo noch im Gefängnis bleiben?“ wollte ich nun wissen. Ich hoffte, noch den Rest seines Lebens, doch das war hier in der Schweiz leider sicher nicht der Fall. „Noch etwa fünf Jahre, je nachdem. Du weisst ja wie das ist.“ Nein, das wusste ich nicht, doch ich wollte nicht nachhaken. Wir hatten gar keine gemeinsamen Themen mehr. Früher plauderten wir stundenlang über Bücher, Filme, Schauspieler und Promis, doch jetzt erschien mir dies alles zu banal. Ich mochte nicht mit ihr über einen Film sprechen, während ich wusste, dass ihr damaliger Freund versucht hatte, eine Frau zu vergewaltigen. „Und sonst so? Was Neues? Du hast ziemlich abgenommen“, versuchte ich das Gespräch wieder zum Laufen zu bringen, da auch sie scheinbar keine Gesprächsthemen hatte, obwohl sie ja auch mal hätte fragen können, wie es mir ginge. Aber das schien ihr nicht in den Sinn zu kommen. „Danke, aber es geht mir nicht gut. Ich esse kaum noch etwas. Weisst du wie oft ich mich gefragt habe, was aus mir geworden wäre, wenn ich auf dich gehört hätte? Dann wäre jetzt alles noch beim Alten.“ Verlegen schaute ich sie an. Meine damaligen Worte waren also doch nicht spurlos an ihr vorbeigezogen. Wie oft hatte ich sie vor diesem Paolo gewarnt, doch sie glaubte doch tatsächlich, ich hätte es auf ihn abgesehen! „Ach komm schon. Du solltest auch nicht auf mich hören. Ich lasse den lieben langen Tag so viel Mist raus, da ist es gut, wenn das meiste nicht gross beachtet wird.“ Ich lächelte sie an worauf sie mein Lächeln erwiderte. „Ich würde so gerne wieder öfters mit dir abmachen“, sagte sie, fast schon bittend. Das war eigentlich das Letzte was ich wollte, doch ich würde mich sicher wieder mit ihr treffen. Vielleicht würde es sogar wieder wie früher. Und ich war ja nicht mit vielen Freunden beschenkt, da konnte ich froh sein um jeden, der mich mal treffen wollte. „Klar, wir könnten doch wieder mal zusammen essen gehen, so wie früher. Weisst du, ich arbeite jetzt nur noch 80%, da habe ich auch längeren Mittag.“ „Aber wieso arbeitest du nur noch 80%? Musste dein Pensum abgebaut werden?“ fragte sie ganz erstaunt und mir kam in den Sinn, dass sie gar nichts von meinem Stellenwechsel wusste. „Nein, ich habe letzten Sommer die Stelle gewechselt, es war einfach nichts mehr für mich. Ich hasste es dort zu arbeiten. Und nun bin ich bei einer Sicherheitsfirma angestellt und schmeisse dort das Büro, was echt Spass macht. Aber wie gesagt, leider nur 80%.“ „Aber wieso hast du dir nicht eine 100% Stelle gesucht?“ wollte Paula erstaunt wissen. Ich wusste es selbst nicht und das sagte ich ihr auch. Damals war eine seltsame Zeit gewesen. Dauernd war ich müde, unmotiviert und traurig gewesen. Doch dann lernte ich Jens kennen und alles änderte sich. Und jetzt war eigentlich alles wieder beim Alten, nur dass ich nicht mehr dauernd müde, unmotiviert und traurig war. Sondern nur noch ab und zu. „Aber ich will diese Stelle unter keinen Umständen wechseln. Wir haben ein tolles kleines Team und die Arbeit macht mir echt Spass.“ „Na dann, was willst du noch mehr?“ sagte Paula nur, doch ich merkte ihr an, dass sie mich nicht ganz verstand. Vielleicht beneidete sie mich auch. Wieder schwiegen wir. Als ich merkte, dass wir zwei uns für heute alles gesagt hatte, meinte ich, „du, ich muss langsam los. Aber ich melde mich nächste Woche mal, damit wir zusammen Mittagessen gehen können.“ Sie schien enttäuscht zu sein, dass ich unser Treffen bereits wieder beendete, doch sie holte ihren Geldbeutel aus der Tasche und meinte, „ich lade dich ein.“ „Das musst du doch nicht!“ wehrte ich erstaunt ab. „Doch. Ich weiss gar nicht, wie ich mein Verhalten bei unserem letzten Treffen wieder gut machen kann. Aber ich fange mal damit an, dass ich dich einlade“, sagte sie und lächelte verlegen. „Vielen Dank!“ Sie bezahlte und dann verabschiedeten wir uns. Ich lief in die entgegengesetzte Richtung, in die Stadt. Der Wind schien mir nun viel unangenehmer, da ich aus der Wärme kam. Als ich bei der Buchhandlung ankam, ging ich sofort rein und steuerte auf die Abteilung mit den Krimis zu. Ich nahm Bücher raus, las die Zusammenfassung auf der Rückseite und legte sie dann wieder zurück. Irgendwie passte mir heute gar nichts. Gedankenverloren blickte ich mich um und dann fiel mir ein Plakat mit einem Sonnenuntergang ins Auge, auf dem der Spruch stand, „Die Dunkelheit kann einen erschrecken, auch wenn man dem Untergehen der Sonne zugeschaut hat.“ Wie wahr, sinnierte ich. Plötzlich hörte ich eine Stimme neben mir. „Der Spruch ist ziemlich gut, nicht?“ Erstaunt drehte ich mich um. Neben mir stand ein rothaariger junger Mann, der ebenfalls auf das Plakat blickte und danach mich ansah. Er lächelte. „Ja. Der hat sicher ein Mann geschrieben“, sagte ich lachend. Verwirrt schaute er mich an. „Aber wieso denn?“ „Meistens merken die Männer erst, dass etwas den Bach runtergeht, wenn es bereits zu spät ist.“ „Was soll denn das wieder heissen?“ fragte er leicht säuerlich. „Bist du eine von diesen Emanzen, die glauben, die Männer hätten nichts im Griff?“ Ich war erstaunt, dass er so verletzt reagierte. Schnell begann ich zu erklären, „nein, überhaupt nicht. Aber wir Frauen bemerken meistens, dass etwas nicht gut ist, wenn uns das Wasser bis zum Hals steht. Bei den Männer ist das erst der Fall, wenn das Wasser ihnen schon über den Kopf steigt und ihre Gelfrisur zum Teufel geht.“ Wieder lachte ich, um zu zeigen, dass es bloss ein Witz war. „Das hat vielleicht was“, lenkte er zu meinem Erstaunen ein. „Aber ihr Frauen habt auch eure Fehler.“ „Natürlich haben wir die, jedoch andere, aber deshalb nicht weniger. Wir merken das Wasser nur früher, weil es uns bereits beim Hals das Make-up versaut“, fügte ich noch kichernd hinzu. Er nickte schmunzelnd und schaute wieder gedankenverloren zum Plakat. Plötzlich hörte ich eine weibliche Stimme, die durch die ganze Buchhandlung hindurch rief, „Manuel, kommst du endlich? Ich bin fertig!“ Wie auf Kommando drehten wir beide die Köpfe in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Ich sah eine hübsche blonde Frau, die den Mann neben mir böse anschaute und dann mir einen giftigen Blick zuwarf. War diese Frau etwa blind? Hatte die tatsächlich das Gefühl, ich könnte ihr den Mann ausspannen? Gegen dieses hübsche Weibsbild hätte ich nicht mal im Traum eine Chance. Höchstens wenn es um das Benehmen gegenüber dem Mann ging. Er schaute mich entschuldigend an, sagte „tschüss“ und ging dann schnell zu seiner Begleiterin. Er warf mir noch einen Blick zu und zuckte die Schultern, als müsste er sich für seine Freundin entschuldigen. Diese hatte den Blick und das Schulterzucken bemerkt und liess nun einen Redeschwall los, den ich zum Glück nicht verstand. Armer Manuel! Ich las den Spruch noch einmal. Er gefiel mir immer besser. Es war doch tatsächlich so, dass man etwas oft kommen sah, jedoch erst reagierte, wenn es zu spät war. Ich wendete mich wieder den Büchern zu, fand aber immer noch nichts. Also sah ich mich noch in den anderen Abteilungen um. Erst bei der Abteilung Science-Fiction fand ich ein Buch über einen Mann, der die Welt vor Zombies retten musste. Das gefiel mir. Heute war ich genau in der Stimmung für so was. Nachdem ich das Buch bezahlt hatte, machte ich mich wieder auf den Heimweg. Zu Hause packte ich sofort das Buch aus, machte mir einen Kaffee, öffnete eine Packung Kekse und setzte mich damit auf das Sofa. Ich begann zu lesen und bald war ich total in das Buch vertieft. Die Story war spannend geschrieben. Von Anfang an ging sie voll los. Der Mann machte seine Sache ziemlich gut und trotzdem war er nicht über alle Zweifel erhaben. Das fand ich toll. Ich hasste es, wenn ein Superheld daherkam und einfach alles rettete, was es zu retten gab. Zum Glück hatte ich bereits am Freitag die Wohnung geputzt und die Wäsche gemacht. So konnte ich mich mit gutem Gewissen meinem Buch widmen. Genau das richtige bei diesem Wetter. Plötzlich nahm ich unwirsch wahr, dass mein Handy summte, welches ich auf dem Küchentisch vergessen hatte. Sollte ich aufstehen und nachsehe wer mich anrief oder lieber sitzen bleiben? Doch da sich schon mal jemand bei mir meldete, stand ich auf und sah, dass mich Regula suchte. „Hallo?“ fragte ich fröhlich. Regula war meine beste Freundin und ein unglaublich lieber Mensch. Nur manchmal fast etwas zu perfekt. „Hi Patrizia. Wie geht es dir?“ „Danke gut. Und selber?“ „Toll, aber hör mal zu, Markus ist für fünf Tage auf Geschäftsreise und da wollte ich dich fragen, ob du mit mir ein bisschen in die Stadt kommst.“ Eigentlich hatte ich es gerade so gemütlich zu Hause, anderseits traf ich Regula nur noch selten und so sagte ich zu. „Klar! Wann wollen wir uns denn treffen?“ „Ich könnte in etwa fünfzehn Minuten bei dir sein. Bist du bis dann parat?“ „Sicher, bis später!“ „Bis dann!“ Und nun begann ein geschäftiges Treiben. Zuerst verstaute ich die schmutzige Kaffeetasse in der Abwaschmaschine, versorgte die restlichen Kekse in einer Büchse und stellte mich dann vor den Kleiderschrank, um etwas Anständiges anzuziehen. Ich hatte, wie immer, ein riesen Problem damit. Schlussendlich entschied ich mich für einen roten Rollkragenpullover und eine hellblaue Jeans, dazu legte ich mir noch eine Kette, die ich erst letzte Woche gekauft hatte, um. Da Regula immer so bezaubernd aussah, wollte ich nicht wie der letzte Lump daherkommen. Ich dachte an ihre Hochzeit im Frühling und wie toll sie in ihrem Kleid ausgesehen hatte. So stellte ich mir die perfekte Braut vor. Sie hatte ihre blonden Haare so hochgesteckt, dass nur einige Löckchen aus dem Knoten herausfielen. Dazu war sie dezent geschminkt gewesen und hatte dieses hellblaue, enge Kleid an, das einen tiefen und doch nicht exhibitionistischen Ausschnitt hatte. Sie hatte einen perfekten Kleidergeschmack, den sie wieder einmal unter Beweis gestellt hatte. Und Markus hatte auch toll ausgesehen in seinem dunkelblauen Anzug. Es war zwar nur die zivile Trauung gewesen, doch es war wunderschön gewesen. Der Vater von Markus, ein ehemaliger Alkoholiker, hatte alles organisiert und das perfekt. Er war der Trauzeuge von Markus gewesen und ich die Trauzeugin von Regula. Trotz ihrer netten Art, hatte Regula nicht viele Freunde. Woran das lag, konnte ich mir auch nicht erklären. Dass Markus seinen Vater als Trauzeuge gewählt hatte, war sicher speziell, aber sie hatten eine schwere Zeit hinter sich und er wollte ihm damit seine Liebe zeigen. Es war ein lustiger Tag geworden. Zum Fest kamen noch die Arbeitskollegen und –kolleginnen von Regula und Markus. Natürlich waren auch die Eltern von Regula da und Markus Bandkollegen, die für die musikalische Unterhaltung zuständig waren. Sie spielten Jazz, Swing, aber auch aktuelle Hits und das echt super. Obwohl ich eigentlich nicht tanzen kann, wagte ich mich doch aufs Tanzparkett. Es war toll. Beim Essen sass ich am Tisch von Regula, Markus, ihren Eltern und Markus Vater. Er sass mir gegenüber und war unglaublich unterhaltsam. Hätte ich es nicht gewusst, hätte ich nie geahnt, dass er lange Zeit wegen seiner Alkoholsucht in einer psychiatrischen Klinik war. Das Einzige was darauf hinwies war, dass er etwas verlebt aussah, zumindest sah er älter aus als er war. Den ganzen Abend erzählte er Anekdoten und Witze, aber niemals primitiv, sondern immer auf eine lustige Art. Markus war ihm sehr ähnlich. Nicht optisch, sondern in der Art wie er etwas erzählte oder sich selber auf den Arm nahm. Regula hatte mit ihm einen richtigen Glückstreffer gelandet. Die Klingel schreckte mich aus meinen Gedanken. Jetzt hatte ich noch nicht mal die Schuhe und den Mantel angezogen! Schnell schlüpfte ich hinein, band mir einen farbigen Schal um den Hals, packte meine Handtasche und eilte dann nach unten. „Hallo Regula“, begrüsste ich sie leicht schnaufend. Mit meiner Kondition stand es nicht zum Besten, doch ich war zu faul um Sport zu treiben. Lieber sass ich den ganzen Tag Kekse essend auf dem Sofa und nahm für die kürzesten Strecken das Auto. Und dauernd nahm ich mir vor, mit dem Rauchen aufzuhören, was ich bis jetzt noch nicht geschafft hatte. Aber zum Glück war ich nur eine Wochenend- und Gelegenheitsraucherin. „Hallo Patrizia. Sorry, ich wollte dich nicht hetzen.“ „Kein Problem. Ich war eigentlich parat, doch dann wurde ich von den schönen Erinnerungen an deine Hochzeit abgelenkt“, erklärte ich lachend. „Na gut, das ist eine Entschuldigung, die ich akzeptiere“, meinte sie augenzwinkernd und dann liefen wir los. „Übrigens apropos Hochzeit, kannst du mir nicht nochmals die Fotos schicken, welche du gemacht hast? Ich muss sie einer Arbeitskollegin schicken. Sie heiratet nächsten Frühling und möchte noch einige Ideen sammeln.“ „Aber klar.“ Ich war die Hochzeitsfotografin gewesen. Obwohl ich mich anfänglich dagegen gewehrt hatte, ich wollte nicht, dass sie schlechte Hochzeitsfotos hatten und das dann meine Schuld wäre, hatte es mir einen riesen Spass gemacht. Die Fotos waren wirklich gut geworden und wurden auch immer wieder gelobt. „Und wie geht es dir so?“ wollte ich nun wissen. „Super!“ Sie strahlte mich an und sah einmal mehr bezaubernd aus. Eine blaue Mütze brachte ihre Augen regelrecht zum Strahlen. Zudem trug sie einen schmal geschnittenen sandfarbenen Mantel, der ihre Figur sehr vorteilhaft betonte. Es war seltsam. Obwohl ich Regula nun schon sehr lange kannte, konnte ich mich nicht daran gewöhnen wie hübsch und perfekt sie war. Meistens kam ich mir neben ihr ziemlich schäbig vor. Was kein Wunder war. Ich hatte weder ihre schönen Haare, noch die tolle Figur oder die reine Haut. Aber ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass meine innere Schönheit sicher ebenso gross war, wie ihre. Obwohl ich das im Grunde meines Herzens auch bezweifelte. Ich war faul, hatte oft Gefühlsschwankungen, war ungeduldig und manchmal auch unfair. Sie jedoch war auch in diesen Belangen perfekt. Sie war ausgeglichen, zielorientiert, geduldig, fair und immer gut zu ihren Freunden. Davon hatte ich schon mehr als einmal profitiert. Zudem war sie nicht nachtragend, was ich von mir nicht behaupten konnte. Doch das war mein Glück. Denn als sie Markus kennenlernte, machte ich ihn dauernd schlecht, da ich das Gefühl hatte, dass er sich seltsam benahm. Zum Glück hörte sie nicht auf mich, denn sein seltsames Benehmen kam daher, dass sein Vater ein Ex-Alkoholiker war und sich zu der Zeit noch in einer psychiatrischen Klinik auf Entzug aufhielt. Das getraute sich Markus Regula nicht sofort zu erzählen. Regula jedoch kannte mich gut genug und wusste von meinen miserablen Menschenkenntnissen und so liess sie meine Meinung bei einem Ohr rein und beim andern wieder raus und liess Markus die nötige Zeit, bis er ihr erzählte, was der Grund für sein Verhalten war. Soeben erzählte Regula, dass sie mit Markus eine grössere Wohnung suche. Ich hatte nur mit halbem Ohr zugehört und erschrak nun. Sie wollten doch hoffentlich nicht wegziehen? Ein Leben ohne Regula konnte ich mir nicht vorstellen. Auch wenn ich sie in letzter Zeit nicht mehr oft sah, war sie doch meine beste, und ehrlich gesagt zurzeit auch einzige, Freundin. „Wollt ihr denn wegziehen?“ fragte ich nun. „Nein, wir suchen etwas in der Nähe.“ Und dann packte sie mich am Arm. „Ich könnte doch nicht einfach so von dir wegziehen! Mit wem würde ich dann quatschen und wie heute, in die Stadt gehen?“ Erleichterung durchflutete mich. Sie sah es also genauso wie ich. Oft hatte ich Angst, dass ihr unsere Freundschaft nach der Hochzeit nicht mehr so wichtig wäre. „Ja, stell dir vor wie traurig das wäre“ und ich lächelte sie bei diesen Worten an. Wir waren nun beim Einkaufszentrum angelangt und wollten soeben reingehen, als mich Regula auf einen Mann aufmerksam machte. „Schau dir mal diesen Schönling dort drüben an, der starrt dich die ganze Zeit an.“ Ich drehte den Kopf in die Richtung, in die sie dezent gezeigt hatte. Dort stand tatsächlich ein Schönling. Er hatte schwarze, kurze, lockige Haare, zudem erstaunlich helle Augen, war gross und kräftig. Und er starrt mich wirklich an, mit total unbeweglicher Miene. Irgendwie war mir das unheimlich. „Kennst du ihn?“ fragte mich Regula und einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, diese Szene bereits einmal erlebt zu haben, doch mir wollte nicht einfallen, wann und wo. Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich kenne keinen Mann, der so hübsch ist. Das müsste ich doch wissen.“ „Das denke ich auch. Aber findest du ihn nicht auch unheimlich? Mir wird ganz mulmig, wenn ich sehe, wie er dich anstarrt.“ Wieder warf ich ihm einen Blick zu. „Mir eigentlich auch. Komm lass uns nach drinnen gehen. Hoffentlich verfolgt er uns nicht.“ Ich lachte unsicher, schaute nochmals zurück und dann gingen wir ins Einkaufscenter. Wir schlenderten durch die Läden, stöberten ein bisschen in den Kleidern, Regula probierte das eine und andere Kleidungsstück an und dann setzten wir uns in ein Café. Dort erzählte ich Regula, dass ich doch tatsächlich wieder einmal Paula über den Weg gelaufen war und mich erbarmt hatte, mit ihr einen Kaffee zu trinken. Ich erzählte, wie schlecht es Paula gehe und dass sie immerhin den Kontakt zu Paolo abgebrochen hatte. Regula die Paula nicht ausstehen konnte, wetterte sofort los. Die solle mich doch nach ihrem schändlichen Benehmen in Ruhe lassen und es geschehe ihr Recht, dass sie nun keine Freunde mehr hatte und so weiter und so fort. Einerseits tat es mir gut, dass Regula gleich dachte wie ich, anderseits kannte ich Paula schon so lange und sie tat mir auch irgendwie leid. Immerhin konnte ja jeder Mal einen groben Fehler im Leben machen. Da musste man schon etwas nachsichtig sein. So plauderten wir noch eine ganze Weile und genossen unseren Frauennachmittag. Den Typen vor dem Einkaufscenter hatte ich längst wieder vergessen. Er kam mir erst wieder in den Sinn, als wir nach draussen kamen. Das war kein Wunder, denn er stand immer noch, oder schon wieder, da. Regula und ich blieben gleichzeitig stehen. Wieder starrte er mich an und diesmal wurde ich wütend. „Was will eigentlich dieser Lackaffe von mir?“ fragte ich Regula. Sie zuckte nur die Schultern. „Komm, wir gehen einfach weiter, als hätten wir ihn nicht bemerkt.“ Das war natürlich nicht möglich, da wir ihn nun etwa zwei Minuten lang angeglotzt hatten. Trotzdem liefen wir los und unterhielten uns über irgendwelche belanglose Themen und taten so, als wäre er Luft. Als Regula einmal kurz nach hinten blickte, meinte sie nur, „er ist uns nicht gefolgt. Wahrscheinlich steht er einfach nur gerne vor dem Einkaufscentrum und gafft Frauen an.“ Erleichtert meinte ich, „hoffentlich! Der Typ ist ungemütlich, obwohl er toll aussieht.“ „Ja hübsch ist er auf jeden Fall. Der hat es doch gar nicht nötig, den Frauen so nachzuschauen. Aber ist dir aufgefallen, dass er nur dich beachtet hat und mich überhaupt nicht?“ „Ja, das ist seltsam.“ „Wieso seltsam? Vielleicht hat er ein Auge auf dich geworfen?“ „Naja, kein Mann sieht einfach an dir vorbei und zu mir. Das ist nicht normal. Und deshalb macht mir dieser Typ Angst.“ Regula schwieg und schien mich zu verstehen. Als wir bei mir zu Hause ankamen, fragte mich Regula, ob ich mich in die Wohnung trauen würde. „Sicher. Der wird schon nicht auf dem Sofa auf mich warten.“ Und dann musste ich lachen und sie fiel mit ein. Mit drei Küsschen und dem Versprechen, uns bald wieder zu treffen, verabschiedeten wir uns. Dann ging ich die Treppe hinauf in die Wohnung, unwissend, dass ich mich geirrt hatte.

Kapitel 2

Als ich die Wohnung betrat, war ich froh, endlich wieder in der Wärme zu sein. Ich fühlte mich ganz verfroren. Schnell zog ich Schal, Mantel und Schuhe aus und ging dann in die Küche, um einen Tee zu machen. Doch als ich am Wohnzimmer vorbeikam, blieb mir fast das Herz stehen. Einen Moment hatte ich das Gefühl eine Fata Morgana zu sehen. Da sass doch tatsächlich dieser hübsche Typ auf dem Sofa! Er schaute mich mit seinem ausdruckslosen Gesicht an und machte nicht die Anstalten aufzustehen. Ich stand einfach nur da und starrte mit offenem Mund zurück. Nicht mal schreien konnte ich. Da öffnete er den Mund und begann ruhig zu sprechen. „Hallo Patrizia. Du erinnerst dich nicht mehr an mich, aber ich mich an dich. Wir hatten schon mal miteinander zu tun.“ Ein kurzer Gedanke zuckte durch mein Gehirn und es kam mir tatsächlich so vor, als hätte ich bereits einmal mit diesem Mann zu tun gehabt. Aber wann und wo? Ich würde mich doch mit Sicherheit daran erinnern. So einen hübschen Mann würde ich sicher nicht vergessen. Zudem hatte ich in meinem Leben noch nicht mit so vielen verschiedenen Menschen näher zu tun gehabt, als dass ich mich nicht mehr an alle erinnert könnte. „Mein Name ist David.“ Wieder ein Gedankenblitz. Der Name kam mir bekannt vor. Doch dann kam mir in den Sinn, dass ich mal geschäftlich mit einem David zu tun gehabt hatte, an meiner ehemaligen Arbeitsstelle. Doch den David hatte ich nie gesehen, nur immer telefonisch Kontakt gehabt. Natürlich wäre es möglich, dass er mich gestalkt hatte und mit den heutigen technischen Möglichkeiten war es ein Leichtes, ein Foto von jemandem im Internet zu finden und den Wohnort herauszufinden. Ich wurde unsicher. War er es tatsächlich? Oder müsste ich diesen David von einer anderen Gelegenheit her kennen? Plötzlich platze ich hilflos heraus, „wie bist du in meine Wohnung gekommen? Und wieso verfolgst du mich? Was willst du von mir?“ Ich funkelte ihn wütend an. „Ich erkläre dir alles sofort, aber zuerst musst du dich wieder erinnern. Dazu muss ich deine Stirn anfassen.“ „Aha, du willst mich also anfassen? Was fällt dir eigentlich ein? Denkst du ich sei ein Flittchen? Ich lasse mich doch nicht einfach von einem wildfremden Mann anfassen!“ Seine Gesichtszüge entspannten sich, doch er lächelte nicht. „Das scheint genau die Reaktion zu sein, die du auch beim ersten Zusammentreffen mit Samuel an den Tag gelegt hast.“ Jetzt war ich ernsthaft verwirrt. Was hatten eigentlich alle mit diesem Samuel? Zuerst hatte Jens wegen eines Samuels rumgezickt und nun kam dieser David und erzählte ebenfalls, dass ich einen Samuel kennen würde, was ich definitiv nicht tat. Daran würde ich mich doch erinnern. Langsam begann ich an meinem Verstand zu zweifeln. War ich nicht ganz normal und hatte etwas erlebt, an das ich mich tatsächlich nicht mehr erinnern konnte? Aber was war das, und wieso wussten alle etwas davon, nur ich nicht? Hatte ich ein schlimmes Erlebnis gehabt und deshalb mein Gedächtnis verloren? Eine Amnesie? „Ich kenne keinen Samuel!“ fauchte ich nun David an. „Und übrigens kenne ich dich auch nicht. Ich weiss nicht, wie du auf diese hirnrissige Idee kommst! Hältst du mich etwa für bekloppt?“ „Bitte, Patrizia, ich halte dich nicht für bekloppt, aber wenn ich deine Stirn berühren darf, kommt dein Wissen zurück. Dann wirst du alles wieder verstehen.“ „Und was soll ich verstehen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es etwas zu verstehen gäbe!“ Langsam wurde ich verzweifelt. Ich stand am Eingang zum Wohnzimmer, mit vor der Brust verschränkten Armen und fühlte mich so seltsam. So, als gäbe es tatsächlich etwas, das ich wissen müsste. Doch was wäre das? Und wieso hatte ich immer wieder diese seltsamen Gedankenblitze, als wäre da ein Wissen vorhanden, das im Moment noch im Dunkeln lag? Sollte ich diesem Spinner auf meinem Sofa wirklich glauben? „Also, nochmals von vorne. Wie bist du reingekommen?“ „Ich komme überall rein“, erklärte er, nun leicht genervt. „Du hast aber die Türe nicht aufgebrochen, ich musste sie mit dem Schlüssel aufschliessen.“ „Jetzt hör mir endlich mal zu! Du bist immer noch so mühsam wie früher…“ er machte kopfschüttelnd eine Pause und ich fragte mich, was er wohl mit dieser Bemerkung meinte. Klar war ich immer noch gleich mühsam wie früher, doch woher konnte er das wissen? „Wenn du nicht sofort meine Wohnung verlässt, kann ich für nichts garantieren“, drohte ich ihm mit geballten Fäusten, was ziemlich lächerlich war, da ich gegen diesen kräftigen Mann nicht den Hauch einer Chance hätte, doch mir fiel auf die Schnelle nichts anderes ein, als eine plumpe Drohung auszusprechen. Doch dieser Schuss ging auch nach hinten los. „Ach Patrizia, hör doch auf damit. Ich weiss, dass du nie jemanden schlagen würdest, nicht mal könntest wenn du wolltest oder wenn du die Person dir gegenüber noch so sehr hassen würdest. Da kannst du mir nichts vormachen.“ Meine Verwunderung wuchs immer mehr. Er hatte Recht. Ich war tatsächlich unfähig jemanden zu schlagen, nicht mal wenn ich es müsste, um mein Leben zu verteidigen. Ich verabscheute Gewalt. Sie war sinnlos und ich wäre sowieso meistens die Unterlege. „Okay, das stimmt. Aber woher weisst du das alles?“ fragte ich nun resigniert, da mich dieser David tatsächlich gut kennen musste. Besser als meine engsten Bekannten, was ziemlich beängstigend war. „Erinnerst du dich an Skyland?“ wollte er mit hochgezogenen Augenbrauen wissen. Vor meinen Augen erschien kurz das Bild eines grünen Landes, doch dann verschwand es gleich wieder. Woher hatte ich jetzt dieses Bild? So stellte ich mir die Landschaft in Irland vor, doch ich war noch nie in Irland gewesen, also war das nicht möglich. Trotzdem hatte ich das Bild sehr klar vor meinem inneren Auge gesehen, als wäre ich tatsächlich schon mal dort gewesen. Ich schüttelte also nur den Kopf. Doch er hatte mein Zögern bemerkt. „Du hast zwar alles wieder vergessen, doch wenn ich dir alles erzähle, kommen deine Gedanken wieder zurück. Aber es geht einfacher, wenn ich dir die Stirn anfasse.“ „Was hast du nur immer mit meiner blöden Stirn?“ fauchte ich ihn an. Er schüttelte nur resigniert den Kopf und verwarf seine Hände. „Herrje, nun stell dich doch nicht so an. Glaubst du etwa ich würde dich begrabschen wollen? Dann würde ich mir sicher etwas anderes vornehmen als deine Stirn.“ Ich zögerte. Wenn er meine Stirn anfassen würde, was würde dann geschehen? Wäre ich dann nicht mehr ich? Aber das wäre ja wie in meinem Science-Fiction-Roman und somit völliger Humbug. Vielleicht wollte er mich auch nur zu sich locken, um mich dann zu in seine Gewalt zu bringen? Meine Gedanken wirbelten umher. Ich wusste echt nicht, was ich tun sollte. Noch nie war ich eine entscheidungsfreudige Person gewesen. Doch nun hatte ich einen Grund nicht entscheidungsfreudig zu sein. Also, eigentlich hatte ich mich ja entschieden. Der Typ sollte verschwinden und mich in Ruhe lassen. Doch diese Entscheidung schien er nicht zu akzeptieren. Also blieb mir eine Alternative, die ich jedoch nicht wollte. Plötzlich schien ihm der Geduldsfaden zu reissen, denn er stand auf. Erschrocken wich ich einen Schritt zurück. Der Typ war riesig, das bemerkte ich erst jetzt, als er stand. Langsam kam er auf mich zu. „Du musst keine Angst haben. Am besten setzt du dich hin.“ Wieder schüttelte ich den Kopf. „Das möchte ich nicht“, sagte ich leise. Ich hatte Angst. Echt grosse Angst. Meine Beine fühlten sich wie Pudding an. Ich stand einfach da und glaubte jeden Moment zusammenzuklappen. Doch dann war er bei mir, nahm mich sanft am Arm und führte mich zum Sofa. Willenlos folgte ich ihm. Was hätte ich schon tun können? Als ich mich vorsichtig aufs Sofa gesetzt hatte, setzte er sich neben mich und legte mir dann die Hand auf die Stirn. Und dann geschah etwas Schreckliches. Wilde Bilder stürzten auf mich ein. Zuerst sah ich einen Mann, der David unglaublich ähnlich sah, bei mir im Schlafzimmer. Was wollte denn der dort? fragte ich mich ganz verwirrt. Doch dann kam mir nach und nach alles wieder in den Sinn. Es war Samuel, der mich für die Mission überredete, zu der ich schlussendlich ja sagte. Dann flog ich mit ihm nach Skyland. Das befreiende Gefühl beim Fliegen, die kleinen Häuser und noch kleineren Menschen unter mir. Dann Skyland, das grüne Land, welches ich vorhin für Irland gehalten hatte. Die anderen. David, der mich schlug. Dann die Burg der Bösen. Die Bombe und die Pläne. Das miese Gefühl, wenn ich in der Nähe der Bösen war. Das Vernichten der Bombe und Stehlen der Pläne. Der Kampf in der Burg. Die Flucht hinaus. Und dann der Tod von Samuel. Ein unglaublicher Schmerz in meinem Innern raubte mir fast den Atem, als ich das alles sah und es mir wieder bewusst wurde. Ich hatte Samuel geliebt und als er starb, wäre ich am liebsten auch gestorben. Der Schmerz war riesig gewesen und jetzt war er nicht weniger. Ich spürte, wie mir die Tränen über die Wangen liefen und ein Schluchzen aus meiner Kehle kam, während David weiterhin ruhig seine Hand auf meiner Stirn hatte. Dann sah ich wieder meine Wohnung und David, der mich zurückbegleitet hatte. Und schlussendlich, wie er mir, ich lag im Bett, die Hand auf die Stirn legte und ich wusste, jetzt werde ich alles wieder vergessen. Wie konnte ich nur! Ich hatte so viel erlebt und bis jetzt keinen Schimmer mehr davon gehabt. Doch gleichzeitig wünschte ich mir, wieder Unwissend zu sein. Als David die Hand wegnahm, sah ich dauernd Samuels Gesicht vor mir. Ich nahm ein Taschentuch aus meiner Hosentasche und putzte mir damit das Gesicht und die Nase. „Wieso musstest du mich wieder daran erinnern?“ fragte ich David wütend und mir kam in den Sinn, dass ich mit Samuel oft solche Gespräche geführt hatte. Wie oft hatte er mich wütend gemacht! Und trotzdem, wie hatten wir uns gut unterhalten. Er hatte oft die seltsamsten Fragen gestellt, da die Skyländer keine richtigen Menschen sind. Er wollte alles wissen und hat mich damit oft zum Lachen gebracht. Lachen. Das war auch so eine Sache. Samuel, David und die anderen waren abtrünnige der Bösen, dem Volk von Skyland. Als sie sich gegen die Bösen stellten, verloren sie ihr Lachen. Jeder der lacht wird buchstäblich zerrissen. Samuel war das passiert, er starb, weil er lachte. Nach und nach kam mir alles in den Sinn und ich konnte nur den Kopf schütteln, dass ich das tatsächlich vergessen hatte. Plötzlich kam mir ein anderer Gedanken. Vor Schreck hielt ich die Luft an. Mir wurde nun bewusst, warum sich Jens vor unserer Trennung so seltsam benommen hatte. Dauernd hatte er mich gefragt, ob ich mich wieder mit Samuel treffen würde, doch ich wusste von keinem Samuel und nahm an, dass Jens mir in seiner Eifersucht einen imaginären Freund andichtete. Dabei gab es diesen Samuel tatsächlich. Jens hatte allen Grund eifersüchtig zu sein. Als er nämlich zum ersten Mal in meine Wohnung kam, war Samuel auch da und gab mir, vor Jens, einen Kuss. Damals war das noch nicht so schlimm, da wir nicht richtig zusammen waren. Als ich dann wusste, dass mir mein Wissen genommen würde, schrieb ich Jens, dass er mir versprechen müsse, Samuel nie mehr zu erwähnen. Er versprach es, hielt sich dann aber doch nicht daran. Er musste mich für total neben der Spur oder total verlogen gehalten haben, dass ich mich nicht einen Moment an Samuel erinnern konnte. Kein Wunder, wurde er immer wütender und eifersüchtiger, bis ich mich von ihm trennte. Irgendwie liebe ich ihn jetzt immer noch, oder eher respektieren, doch damals hasste ich ihn fast. David sass ruhig neben mir und schaute mir direkt ins Gesicht. Eine weitere Angewohnheit der Skyländer. Dauernd schauten sie einem ins Gesicht oder direkt in die Augen, was ziemlich verwirrend sein konnte, denn sie hatten wunderschöne blaue oder grüne Augen. Ausgenommen Samuel, der hatte wunderschöne braune Augen gehabt, die in seinen letzten Tagen jedoch auch immer heller geworden waren. „Und was willst du nun hier? Mich besuchen und sehen wie es mir geht?“ fragte ich spöttisch. Zu David hatte ich noch nie einen guten Draht, obwohl er mich daran hinderte, zu sehen, was mit Samuel geschah, als er lachte und mich nach Abschluss der Mission zurück auf die Erde brachte. Doch eigentlich mochte ich ihn nicht. Er war herrisch, überheblich und trampelte alles nieder, was sich ihm in den Weg stellte. „Nein, das ist nicht der Grund, warum ich hier bin. Leider.“ Er schaute grübelnd vor sich hin und hob dann wieder den Blick. „Nein, ich bin hier, weil die Bösen nun doch auf die Erde gekommen sind. Irgendwie haben sie es geschafft, etwas von dem Stoff, der in der Bombe war, zurückzuhalten oder neuen gemacht. Ich weiss es nicht. Fakt ist, dass sie vor zwei Wochen etwas von diesem Stoff ins Wasser getan haben. Sie haben nun einige Typen auf der Erde stationiert, die beobachten, wie die Menschen darauf reagieren. Leider reagieren sie genauso, wie es die Bösen erhofft haben. Die Menschen nehmen den Stoff mit dem Trinkwasser auf und werden dann innerhalb von wenigen Minuten extrem traurig und depressiv. Sie überkommt eine grosse Leere und dann machen sie einfach Schluss mit dem Leben.“ Selbstmord. Was für ein Mist! Ich wusste aus eigener Erfahrung, was für miese Gefühle die Bösen heraufbeschwören konnten. Nur war ich damals vorbereitet gewesen. Wenn einen diese Gefühle einfach aus heiterem Himmel treffen, konnte ich mir schon vorstellen, dass man nicht mehr leben wollte. „Und jetzt?“ fragte ich skeptisch. Ich hatte überhaupt keine Lust, wieder in diese Sache mit hineingezogen zu werden. „Wir brauchen dich wieder.“ Ich hatte es geahnt! Hatten die denn niemand anderes, den sie rekrutieren konnten? Wieso immer ich? „Jetzt müssen wir die Bösen definitiv stoppen. Zuerst müssen wir sie von der Erde vertreiben oder töten, was ziemlich schwierig wird. Und dann musst du das Tor zu Skyland schliessen. Dazu brauchen wir einen Menschen.“ „Und wie, bitte schön, soll das gehen? Soll ich mit einer Pistole durch die Gegend ziehen und alles erschiessen, was ein mieses Gefühl bei mir auslöst? Dann wird der Planet ziemlich bald bevölkerungslos sein. Und dann schliesse ich noch schnell das Tor zu Skyland? Wie soll denn das gehen? Ich habe nie ein Tor gesehen, wenn ich nach Skyland kam.“ „Zum Teil hast du Recht. Du musst uns helfen die Bösen aufzuspüren. Du weisst, wie sie sich anfühlen. Im Moment können wir jede Hilfe gebrauchen. Aber wir wollen niemanden Neues hinzuziehen, der ganze Ablauf einer Rekrutierung wäre viel zu aufwändig.“ Na gut, dann wäre diese Frage auch geklärt. „Da die Bösen den Stoff nur im näheren Umkreis von deinem Wohnort ins Wasser getan haben, werden sie auch nur dort stationiert sein. Das heisst, sobald du einen entdeckst, musst du uns benachrichtigen, dann werden wir ihn entsorgen.“ Ich schluckte leer. Also war ich diejenige, die die Bösen ausfindig machen musste. „Wieso könnt ihr das nicht selber tun?“ „Hast du vergessen, dass die uns kennen? Zudem ist ihr Gedächtnis nicht mehr so grottenschlecht, die haben daran gearbeitet. Es ist bereits ziemlich gut.“ So ein Mist, auch noch das! „Und nun zum Tor. Das kannst du folgendermassen schliessen. Erinnerst du dich noch an den engen Tunnel, durch den dich Samuel immer gezogen hat, damit ihr die Atmosphäre wechseln könnt?“ Ich nickte. Nur zu gut erinnerte ich mich nun daran. Ich hatte jeweils das Gefühl gehabt, meine Innereien würden zerquetscht. Das also war das Tor zu Skyland. „Also, dieses Tor kann nicht immer geschlossen werden, sondern nur zu bestimmten Zeiten. Und diesmal ist es erst im Frühling. So Anfang April wird es wieder soweit sein. Kurz nach der Tag-Nacht-Gleiche. Dann müssen wir alle drinnen sein und du kannst es zumachen.“ „Dann darf ich wieder fliegen?“ fragte ich nun ganz erfreut. „Aber klar, oder hast du gedacht, du könntest da hinaufspazieren?“ gab er pampig zurück. Ich wurde rot. Das war typisch David, immer musste er einem jede Freude verderben. Beleidigt schwieg ich und er erzählte ungerührt weiter, „es gibt einen Hebel, mit dem du das Tor von aussen schliessen kannst. Von innen kann es dann nicht mehr geöffnet werden. Wir sind dann sozusagen in unserem Land eingesperrte, was wahrscheinlich das Beste für uns ist.“ „Aber wieso habt ihr das nicht letztes Mal gemacht, da hätte ich es doch auch tun können?“ fragte ich, immer noch sauer. Wenn diese Skyländer mal über ihre Nasenspitze hinausdenken würden, müsste ich ihnen nicht dauernd helfen. „Damals sahen wir noch keine Gefahr“, meinte David trocken. Was für eine schlechte Erklärung. Wieso konnte er nicht einfach dazu stehen, dass er einen Fehler gemacht hatte? Aber nein, der grosse, allmächtige David machte ja keine Fehler! In mir brodelte es bereits wieder. Ich war sehr selten wütend. Doch sobald ich nur kurze Zeit mit einem Skyländer zusammen war, brachte mich dieser zur Weissglut. Wahrscheinlich hatten sie immer noch ein kleines Stück der Aura der Bösen um sich, schliesslich waren sie früher auch solche gewesen. „Zudem habe ich noch eine weitere kleine Bitte an dich.“ David schaute mich ungewohnt verlegen an. So hatte ich ihn noch nie gesehen, er kam mir wie ein kleiner Junge vor. Jetzt musste etwas ganz aussergewöhnliches kommen und das kam auch. „Ich, Gabriel und Matthias würden uns gerne für die nächste Zeit bei dir in der Wohnung stationieren, damit wir sofort einschreiten können, wenn du einer der Bösen entdeckst und dass wir immer auf dem Laufenden sind, was hier unten passiert.“ Mir blieb die Spucke weg. Ich wollte diese Männer nicht in meiner Wohnung! Das heisst, sie waren ja noch nicht einmal richtige Männer. Sollten sie sich doch ein Hotelzimmer nehmen. Anderseits wäre es vielleicht gar nicht schlecht, wenn sie in meiner Nähe waren. Und Gabriel und Matthias waren sehr nett, im Gegensatz zu David. David schaute mich erwartungsvoll an. „Und?“ wollte er gespannt wissen. „Ich weiss nicht“, gab ich ehrlich zu. „Wie stellt ihr euch das denn vor? Wollt ihr einfach die ganze Zeit in meiner Wohnung sein? Und wo wollt ihr schlafen? Und was esst ihr überhaupt?“ Mir kamen noch viel mehr Fragen in den Sinn, doch David stoppte meinen Redeschwall, in dem er die Hand hob. „Alles kein Problem. Wir brauchen nur etwa zwei Stunden Schlaf pro Tag. Und dazu benötigen wir kein Bett, wir können problemlos am Boden liegen, das machen wir in Skyland auch. Zu Essen brauchen wir eigentlich nichts. Wir können das gleiche essen wie du oder, wie gesagt, gar nichts. selbstverständlich werden wir nicht die ganze Zeit in deiner Wohnung sein, sondern hauptsächlich draussen. Und zudem“ er machte eine Kunstpause und ich schaute ihn voller Angst an, was wohl noch kommen würde, „können wir dein Wasser testen. Sollte es verseucht sein, können wir dich rechtzeitig warnen.“ Das war der Punkt, der mich überzeugte. Langsam gefiel mir der Gedanke, dass die Skyländer bei mir waren. Ich hoffte nur, dass sie mich nicht dauernd wütend machen würden. Nicht dass ich dann noch Amok laufen würde. „Also gut“, gab ich ihm grünes Licht. Hätte er lachen dürfen, er hätte es getan. Spontan nahm er mich in den Arm und als ich seinen starken Körper fühlte, kam der Schmerz wieder in mir hoch. Wie sehr ich doch Samuel vermisste. Und deshalb wollte ich etwas wissen. „Kannst du mir nach Ende dieser Mission ebenfalls wieder das Wissen nehmen?“ David schaute mich betrübt an. „Nein, da wir drinnen sein werden und du draussen. Ab jetzt wirst du dein Wissen behalten.“ Das schockierte mich, denn das wollte ich so nicht. Auch wenn es ein seltsames Gefühl gewesen war, Dinge vergessen zu haben, war es doch auch gut so gewesen. Ich hatte ja nicht gewusst, dass ich es vergessen hatte. Somit hatte es mich auch nicht belastet. Es belastete einen erst, wenn so ein Skyländer kam, einem die Hand auf die Stirn legte, und dann die ganzen Erinnerungen wieder auf einen einprasselten. Zumal die meisten keine schönen Erinnerungen waren. Aber nun würde ich bis zum Lebensende mit diesen Erlebnissen leben müssen. Das schlimmste davon war der Tod von Samuel. Sein Lachen. Dann seine Schreie. Dann die Stille. Ob diese innere Wunde je wieder einmal heilen würde? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Plötzlich kam mir etwas in den Sinn. David konnte kleinere Wunden heilen. Vielleicht ging das ja auch bei den seelischen? „Ich habe noch eine kleine Frage“, sagte diesmal ich ganz verlegen und hatte schon Angst vor einer giftigen Reaktion von David. „Also, ich wollte nur wissen… kannst du auch seelische Wunden heilen?“ Ich senkte den Blick, da ich Angst vor seiner Reaktion hatte. Er nahm mein Kinn in die Hand und hob meinen Kopf, so dass ich ihm direkt in die Augen blickte. „Es ist wegen Samuel, stimmt’s?“ „Ja“, konnte ich nur hauchen. „Normalerweise kann ich keine seelischen Wunden heilen. Aber dieser Fall ist speziell. Ihr wart wie mit einem inneren Band verbunden gewesen. Bei Ende der Mission, hätte sich das Band einfach aufgelöst. Dann, wenn Samuel dir dein Wissen genommen hätte. Da er aber gewaltsam gestorben ist, wurde auch das Band gewaltsam aus deinem Körper gerissen. Somit hast du rein theoretisch eine körperliche Wunde. Ich könnte es also versuchen, sie zu heilen.“ Hoffentlich war das möglich! „Wo tut es genau weh?“ wollte er nun wissen. Ich zeigte auf die Herzgegend und dachte gleichzeitig mit Schrecken, dass er mir nun die Hand auf die Stelle des Schmerzes legen musste, was hiess, dass er mir die Hand unter die Brust legen musste. Das wollte ich jedoch nicht! „Geht es auch durch die Kleider hindurch?“ fragte ich deshalb ganz beschämt, obwohl ich die Antwort bereits kannte. „Nein, das weisst du doch!“ gab er gewohnt giftig zurück. „Na gut“, gab ich mich geschlagen und zog den Pullover hoch. Direkt unter dem BH legte er die Hand hin. Dann schloss er die Augen. Er bewegte die Hand leicht hin und her und ich spürte, wie der Schmerz weniger wurde, bis er fast ganz verschwand. Immerhin hatte ich nicht mehr das Gefühl, innerlich eine offene Wunde zu haben. Schnell zog ich den Pullover wieder hinunter. „Ist es besser?“ wollte er gespannt wissen. „Ja. Der Schmerz ist zwar nicht ganz weg, aber es ist viel, viel besser. Danke!“ Dann sassen wir noch eine Weile schweigend nebeneinander, bis David sagte, „ich hole mal die anderen zwei, dann können wir das weitere Vorgehen miteinander besprechen.“ Dann liess er mich ganz verwirrt auf dem Sofa zurück. Jetzt war ich schon wieder voll in einer Menschheitsrettungsgeschichte drin, dabei war dies doch das Letzte was ich wollte.

Kapitel 3

Ich sass immer noch auf dem Sofa und hatte mich keinen Millimeter bewegt, als die drei in mein Wohnzimmer platzten. Ich fuhr zusammen. Daran musste ich mich wieder gewöhnen. Doch als ich Matthias und Gabriel sah, ging ich freudestrahlend auf sie zu. „Hallo zusammen!“ begrüsste ich die beiden und nahm sie kurz in den Arm. „Hallo Patrizia. Und, wie geht es dir?“ fragte mich Matthias. „Gut. Bis David auftauchte“, antwortete ich lachend. Die anderen schauten mich ernst, doch nicht verbissen, an, was hiess, sie hatten meinen Witz verstanden. Matthias war kräftiger als die anderen. Er war die Kampfmaschine der Truppe und konnte alles kurz und klein schlagen, wenn es sein musste. Und dann kam mir in den Sinn, dass Gabriel derjenige war, der durch Wände, und leider, auch durch Kleider hindurchsehen konnte. Zum Glück schaute er mir immer ins Gesicht. Er war ein richtiger Gentleman. Jeder andere Mann hätte überall anders hingeschaut, nur nicht ins Gesicht, wenn er einer Frau durch die Kleider hindurch schauen könnte. Das zeigte mir einmal mehr, dass er ein Skyländer und kein richtiger Mann war. Die drei setzten sich zu mir aufs Sofa und wir sassen da, wie die Hühner auf der Stange. Verlegen fragte ich, ob sie etwas essen oder trinken möchten, doch alle drei schüttelten nur den Kopf. „Also, wir gehen jetzt folgendermassen vor“, begann David mit seinen Erklärungen, immer noch ganz der Anführer wie früher. „Du Patrizia“, dabei schaute er mich eindringlich an, „wirst oft draussen sein und dich nach den Bösen umsehen. Da du weisst, wie sie sich anfühlen, wirst du sie sicher sofort erkennen. Sobald du einen gefunden hast, wirst du uns mitteilen, wo wir ihn finden und dann sorgen wir dafür, dass er verschwindet.“ Bei den Worten schnipste er mit den Fingern. „Aber was ist, wenn ich euch einen Falschen angebe? Dann wäre ich Schuld am Tode eines unschuldigen Menschen.“ „Menschen sind nie unschuldig“, sagte David wegwerfend, in der typischen Skyländer Manier. „Was auch immer du damit sagen willst, ich will trotzdem nicht, dass ein Mensch wegen mir stirbt! Egal wie schuldig oder unschuldig er ist!“ entgegnete ich heftig. Wie konnte der Typ nur so abwertend von Menschen sprechen. Ich war ja auch kein Fan von den Menschen und ihrer oft rücksichtslosen Art, aber ich wollte sicher nicht, dass jemand sterben musste. Schon gar nicht wegen mir. Dann kam mir in den Sinn, dass die Skyländer keine wirklichen Gefühle kannten. Sie hatten nur eine ganz kleine Bandbreite an Gefühlen. Mitgefühl gehörte da anscheinend nicht dazu. Oder sicher nicht so ausgeprägt wie bei den Menschen. „Das wird schon nicht passieren“, beruhigte mich nun Matthias. „Wir wissen ja auch, wie die Bösen sind. Da werden wir sicher keinen Menschen töten.“ „Und wie wollt ihr die Bösen denn töten?“ fragte ich verunsichert. Ich wollte nicht, dass es ein Blutbad geben würde und ich dann diejenige wäre, die die Mörder bei mir zu Hause beherbergen würde. „Mach dir darüber mal keine Gedanken“, wiegelte David ab. Doch ich liess mich nicht so leicht abwimmeln. „Doch, ich mache mir darüber Gedanken und ich will es wissen. Und zwar jetzt!“ „Na gut.“ Gabriel seufzte tief. „Wir werden den Bösen das ‚Gute‘ injizieren, dann werden sie zu Staub zerfallen.“ „Was?!“ fragte ich ganz entgeistert. „Wir hatten viel Zeit, um uns vorzubereiten und auch wir sind gute Erfinder, nicht nur die Bösen. Immerhin waren wir mal sie. Also haben wir eine Waffe gegen sie entwickelt. Es ist so, wie das Lachen uns umbringt, wird sie unser Stoff, den wir ‚das Gute‘ nennen, umbringen. Nur wird es nicht so blutig enden wie mit uns, sondern ganz schnell. Nach der Injektion geht es höchstens zwei Minuten, dann sind sie nur noch Staub und der Wind wird sie wegwehen.“ „Und wie wollt ihr ihnen diese Injektion verpassen?“ fragte ich gespannt. „Am besten geht es in den Hals. Also kommen wir von hinten. Stecken ihnen die Nadeln in den Hals und schon gibt es einen Bösen weniger.“ „Wow! Und das funktioniert wirklich?“ „Na, bei uns in Skyland hat es funktioniert. Nur war es nach dem dritten fertig damit. Denn sie kamen dahinter und liessen sich nicht mehr blicken. Und die Burg wird nun auch besser bewacht. Sie haben jetzt ihr Gedächtnis trainiert und sind bereits echt gut im Erinnern“, erklärte Gabriel weiter. Ich nickte. „Ja, das hat mir David auch erzählt. Hoffentlich konnten sie ihr Gedächtnis nicht dank meiner Hilfe verbessern?“ Ich war kurz in ihren Händen und damals machten sie ein paar Tests mit mir. „Leider doch“, sagte Gabriel nur. „So ein Mist! Jetzt bin ich auch noch schuld an der ganzen Misere!“ „Nein, bist du nicht!“ versuchte mich Matthias zu trösten, doch ich wusste, dass ich tatsächlich schuld war. Ohne mich, wären sie nie an einen Menschen herangekommen, denn die Tests konnten sie nur in Skyland machen und welcher Mensch konnte schon fliegen, um nach Skyland zu kommen? Na also. „Und wann soll es losgehen?“ wechselte ich nun das unangenehme Thema. „Sofort“, meinte David. „Je eher es keine Bösen mehr auf der Erde gibt, je besser stehen die Chancen für die Menschheit.“ „Aber solange das Tor offen ist, können doch immer wieder weitere auf die Erde kommen? Oder nicht?“ fragte ich, fast schon hoffnungsvoll. „Schon, aber sie können nicht alle auf die Erde. Einige müssen in Skyland bleiben. Und ab März werden wir abwechselnd das Tor bewachen, so dass keine neuen auf die Erde kommen können.“ Ich rechnete kurz nach. Jetzt war anfangs November, das hiess, bis April ging es noch fünf Monate. Wieder würde ich warten müssen. Wie ich das doch hasste! „Wieso muss immer ich euch helfen?“ nörgelte ich herum. „Du bist nun mal die Einzige, die weiss, dass es uns gibt. Zudem warst du uns schon einmal eine grosse Hilfe“, antwortete David ungehalten. Scheinbar konnte er mit meinem Widerstand immer noch nicht viel anfangen. Er schien ihn ziemlich zu nerven. Doch jetzt war es sowieso zu spät. „Kann ich denn wenigstens in den nächsten Monaten auch mal jemanden zu mir einladen? Oder darf man mich nicht mit euch zusammen sehen?“ „Doch klar. Diesmal ist es anders. Das letzte Mal wollten wir dich schützen. Scheinbar war es aber doch nicht so gut gelaufen, wenn ich da an deinen Freund, pardon Ex-Freund, denke“, sagte David. „Woher weisst du davon?“ fragte ich ihn aufgebracht. Hatten die mir etwa die ganz Zeit nachspioniert? „Wir behielten dich weiter im Auge“, bestätigte David meine Befürchtungen. „Aber wieso? Wusstet ihr, dass ihr mich wieder brauchen würdet?“ „Nein, am Anfang nicht. Doch wir hatten Angst, dass du dein Wissen nicht ganz verloren hast und wollten nur sichergehen, dass du uns nicht verrätst. Und dann, als wir merkten, dass die Bösen doch wieder etwas gegen die Menschheit planen, behielten wir dich deshalb im Auge. Und um ganz ehrlich zu sein“, jetzt schaute mich David entschuldigend an, was bei ihm selten genug vorkam, „bin ich nicht ganz unschuldig, dass du dich von deinem Freund getrennt hast.“ Es entstand eine Pause. Was hatte er jetzt wieder angerichtet? „Was soll das heissen?“ fragte ich aggressiv. „Ich habe mit Jens gesprochen und ihn darauf aufmerksam gemacht, dass du einen Samuel kennst, mit dem du mal etwas hattest und du ihn immer noch lieben würdest. Da wurde dein lieber Jens ziemlich ungehalten. Und den Rest kennst du ja.“ Wieder der entschuldigende Blick. Jetzt bereute ich, dass ich diesem Hornochsen zugesagt hatte, bei mir zu wohnen, doch jetzt war es zu spät, sie wieder auszuladen. Eine Frau, ein Wort. „Was genau ist da abgelaufen?“ bohrte ich wütend weiter. „Es war so“, begann David zu erklären, „als wir erfuhren, dass die Bösen immer noch etwas von ihrem Stoff haben und den gegen die Menschheit einsetzen würden, kam ich zurück auf die Erde. Ich wartete, bis ich Jens mal alleine in einer Bar traf. Dort stellte ich mich neben ihn und wir kamen ins Gespräch. Er meinte, dass er mich von irgendwoher kennen würde. Ich tat ahnungslos, obwohl ich wusste, dass er mich mit Samuel verwechselte. Wir sehen uns nun mal verblüffend ähnlich, was für die Menschen nicht nachvollziehbar ist. Er wusste ja nicht, dass ich gar kein Mensch bin und dass wir in Skyland alle praktisch gleich aussehen. Ich fragte ihn deshalb, woher er mich dann kennen würde. Er sagte, dass seine Freundin mal von einem Samuel angebaggert worden war und ob ich der Samuel sei. Ich tat ganz erstaunt und meinte nein. Und dann, als würde mir der Groschen fallen, sagte ich ‚du bist jetzt aber nicht der Freund von Patrizia?‘ worauf er schicksalsergeben nickte, weil er schon etwas ahnte. Da meinte ich, dass Samuel mein Halbbruder sei. ‚Und wie geht es ihm?‘ fragte mich Jens scheinheilig. Darauf meinte ich nur, ‚ich habe ihn schon länger nicht mehr gesehen, aber frage doch mal Patrizia, die treffen sich immer noch regelmässig.‘ Da wurde er richtig wütend. Ich sagte ihm, ob er denn davon nichts gewusst hätte, worauf er nur den Kopf schüttelte. Ich tat dann ganz verlegen, als würde es mir leidtun, dass ich jetzt etwas Falsches ausgeplaudert hatte. Und ich bat ihn, ‚sag bitte Patrizia nichts, dass ich dir davon etwas gesagt habe, sonst wird sie mich ewig hassen.‘ Worauf er nur meinte, ‚nein, das werde ich nicht. Aber ich werde sie zur Rede stellen. Mal schauen wie sie darauf reagiert.‘ ‚Wahrscheinlich tut sie ganz ahnungslos‘, sagte ich ihm und dann...“ „Wie lange ist das her?“ unterbrach ich ihn rasend vor Wut. „Das war im Sommer, etwa im August“, sagte David verlegen. „Du verlogenes, blödes Schwein!“ schrie ich ihn an. „Wieso machst du immer alles kaputt? Glaubst du etwa, ich hätte diesen Mann nicht verdient?“ „Es tut mir leid, aber es musste nun mal sein. Wir konnten niemanden zusätzlichen in unserem Team gebrauchen.“ „Und wieso nicht? Hätte ich ihm alles erzählt, wäre er sicher mit eingestiegen und hätte uns geholfen. Stattdessen hält er mich jetzt für eine verlogene Schlampe.“ Den letzten Satz hatte ich nur noch geflüstert, als mir bewusst wurde, was David mir soeben erzählt hatte. Jens hatte nie etwas falsch gemacht. Er wäre noch heute mit mir zusammen, wenn David nicht reingefunkt hätte. Wie ich doch diesen David hasste! Endlich hatte ich mich mal in einen richtig guten Mann verliebt und nun musste ich erfahren, dass David das kaputt gemacht hatte. Nur um seine beschissene Mission zu retten! Gabriel und Matthias sassen ganz verlegen auf dem Sofa und starrten auf ihre Hände, um mich ja nicht anschauen zu müssen. Diese zwei hatten auch kein Rückgrat, um sich mal gegen David zu stellen. Da war Samuel anders gewesen. Er hatte sich immer für mich eingesetzt. Na ja, fast immer oder manchmal, zumindest. Aber diese zwei schienen nur die Marionetten von David zu sein, die immer genau das machten, was er sagte. Zitternd vor Wut sass ich da und getraute mich nichts mehr zu sagen, aus Angst, dass ich in Tränen ausbrechen oder einen hysterischen Schreianfall kriegen würde. Da berührte David, der neben mir sass, vorsichtig meinen Arm. Ich schlug ihn nur wütend weg. Doch er blieb hartnäckig und legte seine Hand wieder auf meinen Arm. Bevor ich wieder etwas sagen konnte, meinte er nur, „es tut mir wirklich leid. Doch ich hatte keine Ahnung, wie dieser Jens ist. Und ich verspreche dir etwas. Ich werde ihn aufsuchen und ihm alles erklären. Dass ich Mist erzählt habe und du nie etwas mit Samuel hattest. Wäre das okay für dich?“ Er fragte es ungewohnt flehentlich. Normalerweise war er ein Raubein, für den Gefühle nichts zählten. Also würde er das Ganze mit Jens sicher nicht diplomatisch angehen, aber das war mir egal, Hauptsache er stellte das Missverständnis klar. „Ja, tu das!“ fauchte ich ihn an. „Und zwar je schneller je besser. Ich will, dass Jens nicht diese falsche Meinung von mir hat. Er ist mir wirklich sehr wichtig. Ich kann nicht glauben was du da angerichtet hast! Meine erste richtige Beziehung und du machst alles kaputt!“ Er schwieg, liess jedoch die Hand auf meinem Arm. Und diese Berührung war gar nicht unangenehm. Wahrscheinlich lag das daran, dass er heilende Hände hatte. Irgendwas strahlten sie aus, das mich wieder beruhigte. „Ich will, dass du das bis am Montagabend erledigt hast. Verstanden? Ich will nicht, dass Jens wieder zu mir zurückkommt oder bei der Mission hilft. Ich will nur, dass er mich so sieht, wie ich wirklich bin.“ „Ich werde das tun. Versprochen!“ „Versprich nie etwas, von dem du nicht sicher sein kannst, dass du es auch halten kannst“, murmelte ich vor mich hin. Obwohl ich sehr leise gesprochen hatte, schien er es doch gehört zu haben, denn er meinte nur, „ich verspreche es, weil ich weiss, dass ich es wieder gerade biegen kann. Und zwar bis Montagabend.“ „Na dann ist ja gut“, antwortete ich darauf nur spöttisch, liess es dann aber dabei bleiben. Mit diesen Skyländern könnte ich stundenlang streiten, ohne auf einen grünen Zweig zu kommen und so versuchte ich immer, im richtigen Moment damit aufzuhören, was oft gar nicht so einfach war. Nun sassen wir einfach schweigend da, bis ich aufs Klo musste und deshalb aufstand. Als ich mich erhob, nahm David endlich seine Hand vom Arm. Als ich zurückkam, blickten mich alle drei erwartungsvoll an. „Und was machen wir jetzt? Oder musst du schon ins Bett?“ fragte mich Matthias, der keine Ahnung von dem menschlichen Leben hatte. „Nein, ich gehe noch nicht ins Bett. Zuerst einmal muss ich etwas essen. Und dann könnten wir fernsehen?“ Die drei nickten zustimmend und so verschwand ich in der Küche. Ich machte mir ein Sandwich und dabei hörte ich, wie sie sich in Skyländisch unterhielten. Diese Sprache war für die Menschen unmöglich zu sprechen, denn sie war nur eine Reihenfolge von Lauten, die menschliche Stimmbänder nicht erzeugen konnte. Es war immer unheimlich ihnen zuzuhören. Denn wenn man das Gespräch belauschte, hatte man das Gefühl, es sässen Monster im Wohnzimmer und nicht drei schöne Männer. Als ich mit meinem Sandwich und einem Glas Milch zurückkam, fragte ich sie, ob sie vielleicht auch Hunger hätten oder etwas trinken möchten. „Ein Glas Wasser wäre toll“, sagte Gabriel und vor meinem inneren Auge tauchte Samuel auf, wie er genau hier auf diesem Sofa sass, ein Glas Wasser trinkend. Ich holte also einen Krug Wasser und drei Gläser. Dann ass ich schweigend mein Sandwich, während mir die anderen dabei zusahen. Als ich Matthias gierigen Blick bemerkte, fragte ich noch einmal, „möchtet ihr wirklich nichts? Ich könnte euch doch auch ein Sandwich machen.“ „Das würde ich eigentlich gerne mal probieren, wenn das möglich ist“, meinte darauf Matthias. Ich ging also wieder in die Küche und machte drei Sandwichs mit Lyoner. Als ich ihnen die Teller hinstellte, bissen sie vorsichtig hinein. Sie kauten langsam und schluckten es dann runter. Ich schaute ihnen amüsiert zu. Da assen diese drei gestandenen Männer doch tatsächlich zum ersten Mal in ihrem Leben ein Sandwich. „Und wie findet ihr es?“ fragte ich neugierig. David war natürlich wieder einmal der ehrlichste. „Ich finde es ziemlich eklig.“ Bei diesen Worten legte er es zurück auf den Teller und würgte seinen Bissen hinunter. „Mir schmeckt es gut“, sagte Gabriel und Matthias sagte gar nichts. „Also ihr müsst es nicht unbedingt essen, wenn es euch nicht passt.“ und verfluchte mich, dass ich ihnen drei Sandwichs gemacht hatte, die ich nun wegwerfen musste. Doch Gabriel sagte nur, „ich finde es gut. Echt! Ich esse deins auch wenn ich darf?“ Dabei schaute er David fragend, fast schon unterwürfig, an. „Klar, nimm doch“, sagte dieser grob und schob ihm den Teller hin. Auch Matthias legte sein Sandwich zurück. „Meins kannst du auch haben, wenn du willst.“ Und Gabriel ass tatsächlich alle drei Sandwichs in kürzester Zeit auf. Als er fertig war und ich auch, nahm ich die Teller und stellte sie in die Abwaschmaschine. Gabriel würde ein pflegeleichter Gast sein, Matthias wahrscheinlich auch, aber David würde mir die ganze Zeit auf die Nerven fallen, das wusste ich jetzt schon. Wenn mir ein schlimmer Tag bevorstand, zählte ich meistens die Stunden ab, bis er vorbei war und ich freute mich dann jeweils bereits auf den nächsten. Das konnte auch mal bei einer Woche vorkommen, in der ich viele blöde Termine hatte, doch jetzt müsste ich fast ein halbes Jahr überstehen. Wie sollte ich da rückwärtszählen? In Stunden war zu mühsam. Und wenn ich daran dachte, in Wochen rückwärtszuzählen, wurde mir himmeltraurig zumute. ‚Du musst dich jetzt einfach zusammenreissen und Tag für Tag nehmen‘ schalt ich mich innerlich. Was mich aber auch beschäftigte war, dass ich diesmal mein Wissen nicht verlieren würde. Dann musste ich den Rest meiner Tage, damit leben. Konnte ich das? Ich wünschte mir, ein anderer Mensch wäre bei dieser Mission dabei und würde mit mir das Wissen teilen. Vielleicht stiess Jens doch noch dazu, wenn David mit ihm gesprochen hatte. Ich hoffte es und wagte es gleichzeitig nicht zu hoffen. Zurück im Wohnzimmer schaltete ich den Fernseher ein. Es begann soeben ein Krimi, welcher wir uns anschauen würden. Damit es nicht zu eng auf dem Sofa wurde, setzte ich mich auf den Polsterstuhl. Mit Samuel hatte ich auch ab und zu ferngesehen. Und genau wie er, sassen auch diese drei auf dem Sofa und gaben keinen Mucks mehr von sich. Wie gebannt starrten sie auf die Mattscheibe, denn in Skyland hatten sie keine Fernseher. Der Krimi war lausig. Bereits nach der ersten Viertelstunde ahnte ich, wer der Täter ist. Doch am Schluss wurde ich überrascht. Es war ein ganz anderer Typ. Derjenige, auf den ich am wenigsten getippt hatte. Der theoretisch auch gar nicht der mögliche Täter sein konnte, bis man in der Rückblende sah, was wirklich geschehen war. Kaum war der Film zu Ende, begannen die drei in Skyländisch zu sprechen. Oder besser gesagt zu zischen und fiepen. Sie schienen mich total vergessen zu haben, denn als ich etwas sagte, zuckten alle drei zusammen und schauten mich ganz erstaunt an. „Ihr könnt ruhig auch mit mir sprechen“, sagte ich lächelnd. „Sorry, aber das war jetzt echt spannend. Ich hatte keine Ahnung wer der Täter sein könnte. So etwas habe ich noch nie gesehen. Ich wusste nicht mal, dass es so etwas wirklich gibt“, sagte Gabriel in einem einzigen Wortschwall. Seine Wangen waren gerötet und seine Augen glänzten vor Spannung. „Gibt es solche Filme öfter?“ fragte er nun gespannt. „Ja, eigentlich jeden Abend. Aber dieser war echt gut. Manchmal sind sie ziemlich langweilig und langatmig.“ „Das macht nichts! Ich werde mir jeden von diesen Bimis ansehen“, sagte Gabriel ganz euphorisch. „Diesen was?“ fragte ich entgeistert. „Bimis?“ wiederholte Gabriel unsicher. Ich musste lachen. „Aha, du meinst Krimis! Das ist die Abkürzung für Kriminalfilm.“ Hätte Gabriel lachen dürfen, jetzt hätte er es getan. Und die anderen zwei auch. Doch sie blieben ernst. Aber David sagte etwas in Skyländisch, was Gabriels Mundwinkel noch mehr nach oben zog. „Ich muss jetzt langsam ins Bett“, unterbrach ich die heitere Stimmung. „Wo wollt ihr schlafen? Geht das wirklich einfach so auf dem Boden?““ „Klar“, sagte David, wer sonst? Also sagte ich ‚gute Nacht‘ und verschwand dann im Schlafzimmer. Ich zog mir meinen Pyjama und Bettsocken an. Dann kam mir in den Sinn, dass ich mein Gesicht gar nicht gewaschen hatte und ging nochmals raus. Die drei unterhielten sich in gedämpften Tonfall. Worüber sie wohl sprachen? Hatte sie die gleichen Themen wie die Männer auf der Erde? Wohl kaum. Da in Skyland keine Frauen existierten, fiel schon mal ein Hauptthema weg. Dann hatten sie keinen Fortpflanzungstrieb, so dass auch das Thema Sex nicht zum Zuge kam. Sportarten hatten sie auch keine, soviel ich wusste. Was blieb denn noch übrig? Ich zuckte die Schultern, während ich die Zähne putzte. Dann wusch ich mir gründlich das Gesicht, entfernte mein vom Heulen verschmiertes Make-up und ging dann nochmals aufs Klo. Als ich im Bett lag, wurde mir zum ersten Mal die Lage, in der ich mich wieder einmal befand, bewusst. Bis jetzt war ich damit abgelenkt gewesen, auf David wütend zu sein, doch jetzt, in der Stille des Zimmers, musste ich mir eingestehen, dass die Situation alles andere als gut war. Würde das stimmen mit dem Stoff in unserem Wasser, musste ich möglichst schnell handeln. Ich wollte nicht, dass jemand aus meinem Bekanntenkreis oder meiner Familie zu Schaden kam. Und scheinbar konnte es jedem passieren. Mir kam ein Gedanke und ich stand wieder auf, da er mir nicht aus dem Kopf ging und mich nicht schlafen liess. Als ich ins Wohnzimmer schaute, sassen die drei immer noch schnatternd da. „Ähm, ich hätte noch eine Frage“, begann ich und alle drei drehten wie auf Kommando die Köpfe in meine Richtung. „Ja?“ fragte David ungehalten. „Kann man auch etwas dagegen tun, wenn jemand bereits das verseuchte Wasser getrunken hat?“ „Wenn wir es sofort wissen, können wir etwas vom ‚Guten‘ injizieren, vielleicht würde das etwas helfen. Aber genau wissen wir es nicht. Vielleicht ist es für die Menschen auch tödlich.“ „Aha“, sagte ich nur und verschwand wieder im Schlafzimmer. Es war also eine unsichere Sache. Ich hätte lieber nicht gefragt, denn nun wirbelten mir noch mehr Gedanken und Fragen durch den Kopf. Trotzdem wurde ich langsam müde und plötzlich fielen mir die Augen zu.

Kapitel 4

Als ich erwachte, schien bereits die Sonne durch die Ritzen meiner Storen. Ich rieb mir müde die Augen. Da hörte ich ein seltsames Geräusch in der Wohnung. Was das wohl war? Wie erstarrt lag ich im Bett. Als ich ein seltsames Zischen hörte, kam mir wieder in den Sinn, dass das David, Matthias und Gabriel waren, die nun meine Untermieter waren. Ich drehte mich wieder auf die Seite und zog mir die Bettdecke über den Kopf. Ich mochte jetzt nicht mit ihnen sprechen. Doch schlafen konnte ich auch nicht mehr. Also stellte ich das Radio ein. Gerade kam von Tina Turner „What’s love got to do with it“ und ich sang lauthals mit, als plötzlich die Türe aufgerissen wurde. „Alles okay mit dir?“ fragte ein geschockter Matthias. „Aber klar“, antwortete ich lachend. „Ich habe nur gesungen. Tönt das wirklich so, als ob ich um Hilfe geschrien habe?“ fragte ich ihn amüsiert. Ihm schien nicht wohl dabei zu sein, dass er so in mein Zimmer geplatzt war. „Nein, schon nicht. Ich war nur nicht sicher, was los war.“ „Ist schon gut. Kein Problem. Ich stehe jetzt auf. Aber zuerst muss ich mal unter die Dusche.“ Und mit den Worten, „also, bis später“, scheuchte ich ihn wieder aus dem Zimmer. Dann packte ich meine Kleider, stellte mich unter die Dusche und zog mich dann an. Als ich in die Küche kam, sassen die drei bereits am leeren Küchentisch. „Guten Morgen miteinander“, begrüsste ich sie. „Wie kannst du nur so lange schlafen?“ fragte mich Gabriel erstaunt. „Das ist normal bei uns Menschen. So lange habe ich nun auch wieder nicht geschlafen. Zudem ist heute Sonntag. Das heisst ich muss nicht zur Arbeit und kann schlafen, so lange wie ich will.“ „Ja das merkt man“, murmelte er vor sich hin. „Und wie habt ihr euch die Nacht um die Ohren geschlagen?“ wollte ich wissen. „Wir haben mal eine Runde gedreht“, antwortete David. „Ihr seid rumgeflogen?“ fragte ich erstaunt. „Klar. Wir können doch nicht die ganze Zeit in der Wohnung rumsitzen. Unser Skelett würde verkümmern, wenn wir nicht regelmässig fliegen.“ „Stimmt, das hat mir Samuel mal erzählt.“ „Und das weisst du immer noch?“ fragte mich Gabriel verwundert. „Klar, wieso auch nicht?“ erwiderte ich. „Aber das ist ja schon über ein Jahr her. Woher weisst du das alles noch?“ Gabriel konnte es fast nicht glauben. „Es wäre nicht normal, wenn ich es nicht mehr wüsste. Ich bin ein Mensch, schon vergessen?“ „Ihr seid einfach unglaublich. Ich wäre irgendwie auch gerne ein Mensch“, sagte Gabriel. „Sei froh, dass du keiner bist. Aber jetzt zu etwas anderem. Was wollt ihr essen? Wollt ihr überhaupt etwas essen?“ „Ich nehme gerne wieder so ein Zähnwitsch“, sagte Gabriel begeistert. „Ein Sandwich“, korrigierte ich ihn. „Heisst das nicht Zähnwitsch?“ fragte er verwundert. „Nein. Wie kommst du auf Zähnwitsch?“ „Na, weil man es mit den Zähnen isst“, erklärte mir Gabriel seine Logik. „Ach so! Aber dann müsste ja alles Zähn-irgendwas heissen, weil man alles mit den Zähnen isst. Oder mit was esst ihr sonst noch?“ erwiderte ich lächelnd. Gabriel wurde verlegen. „Du hast schon Recht, wir essen auch nur mit den Zähnen. Aber wie heisst das nochmal?“ Und ich sagte es ihm noch einmal ganz langsam vor, „Sändwitsch“ und er wiederholte, „Sändwitsch“. „Genau. Also, du nimmst ein Sandwich. Und was wollt ihr anderen?“ Sie wollten eigentlich nichts, also holte ich mal diverse Dinge aus dem Kühlschrank: Fleisch, Käse, Milch, Joghurt, Butter, Konfitüre. Und dann stellte ich noch Brot und Früchte auf den Tisch. „Ihr könnt jetzt von allem probieren, wenn ihr wollt.“ Gabriel war der erste der kräftig zulangte. Er schnitt sich zwei Stück Brot ab, bestrich diese dick mit Butter und legte dann viel Fleisch hinein. Zudem probierte er noch ein Stückchen Käse, was ihm sehr mundete. Also schnitt er auch noch ein Stück Käse ab und fertig war sein „Zähnwitsch“. Matthias war unschlüssig. Dann probierte er einen Apfel. Er schnitt sich nur ein Stück ab, war dann aber hellbegeistert davon, so dass er ihn regelrecht verschlang. Nur David war noch unsicher, was er probieren sollte. Es schien, als wollte er sich nicht noch einmal blamieren. Zuerst nahm er ein Stück Käse, fand ihn jedoch auch nicht gut und gab den Rest Gabriel. Dann nahm er sich ein Stückchen vom Apfel, was ihm jedoch auch nicht passte. Schlussendlich probierte er ein Joghurt. Ich sah es schon in den Abfall wandern, doch zu meinem Erstaunen ass er das Ganze auf. „Das ist echt gut! Hast du noch eines?“ Ich holte noch zwei weitere aus dem Kühlschrank und auch diese waren in kürzester Zeit weg. Ich ass Brot und Käse und Fleisch und trank dazu ein Glas Milch. Auch diese mochte David sehr. Er schien eher der Milchprodukte-Typ zu sein, während Gabriel auf währschaftere Kost stand und Matthias der Gesunde war. Er probierte noch eine Karotte, die ihm auch schmeckte. Nachdem wir fertig gegessen hatten, räumte ich alles weg und fragte dann, „und, wie geht es jetzt weiter?“ „Du wirst heute nach draussen gehen und nach den Bösen ausschauen halten“, sagte David in befehlendem Ton. Ich erwiderte nichts, doch dieser David nervte wirklich. Er benahm sich, als wäre er mein Chef. Also zog ich meine Jacke, Schal und Schuhe an, packte meine Digitalkamera ein und machte mich auf den Weg. Obwohl die Sonne schien, war es sehr kalt draussen. Aber wenigstens schien überhaupt wieder einmal die Sonne. Ich schlenderte durch die Strassen, blieb immer wieder stehen und fotografierte dies und jenes, ging in die Nähe von hübschen Männern mit hellem Haar und dunklen Augen, um zu testen, ob es vielleicht einer der Bösen sei, doch es war keiner dabei. Den ganzen Nachmittag verbrachte ich in der Stadt und in der näheren Umgebung. Als es dunkel wurde, machte ich mich auf den Heimweg und war froh, als ich endlich in der warmen Wohnung ankam. Die drei Skyländer kamen regelrecht hergestürmt und fragten sofort, ob ich einen gefunden hätte. Während ich die Schuhe auszog, sagte ich nur, „nein, da war überhaupt keiner.“ „Was?“ fauchte mich David an, „jetzt warst du den ganzen Nachmittag unterwegs und hast nicht einen Einzigen ausfindig gemacht?“ Da wurde ich, wieder einmal, wütend. „Hör endlich auf, dich so herrisch aufzuführen! Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Mein Anführer? Im Prinzip scheisse ich auf dich. Ich will etwas für die Menschheit tun und nicht für dich. Und was glaubst du, wie froh ich gewesen wäre, hätte ich einen von ihnen gefunden. Und ich wäre glücklich gewesen, hätte ich zehn gefunden. Ich erlaube euch für die nächste Zeit bei mir zu wohnen, also benimm dich gefälligst ein bisschen anständig mir gegenüber!“ Ich funkelte ihn wütend an. Zu meinem grossen Erstaunen ergriff nun Gabriel für mich Partei. „Sie hat Recht. Wir dürfen bei ihr wohnen, sie will uns helfen, also sollen wir ihr dankbar sein und sie nicht dauernd diffamieren!“ Ich war erstaunt. Zum einen, weil er David die Meinung geigte und zum anderen fragte ich mich, woher er wohl das Wort ‚diffamieren‘ hatte, er der sonst mit dem Deutsch eher Mühe hatte. David schien diese Ansprache gar nicht zu gefallen, denn er sagte nun etwas in Skyländisch, was gar nicht freundlich tönte. Doch dann schien auch Matthias die Partei von Gabriel und mir zu ergreifen. Der Streit wurde immer lauter und lauter. Plötzlich hielt ich es nicht mehr aus. „Hört endlich auf damit!“ schrie ich sie an. Und dann, „Gabriel und Matthias, ich danke euch, dass ihr das so seht wie ich. Vielleicht können wir es so machen, dass ihr bei mir bleibt und David zurück nach Skyland, oder was weiss ich wohin, geht?“ Dabei schaute ich ihn fragend und schadenfreudig an. Ich hatte ihn soeben aus der Wohnung geworfen. Er merkte das. Schon wollte er auf mich losgehen, doch da hielt ihn Matthias mit einer Handbewegung zurück. „Sie hat Recht. Vielleicht wäre es besser so.“ „Ohne mich bringt ihr doch gar nichts zustande!“ höhnte er, doch ich zuckte nur mit den Schultern und blieb erstaunlich ruhig. „Bis jetzt habe ich mein Leben sehr gut ohne dich über die Runde gebracht. Ich weiss nicht, wieso sich das nun ändern sollte. Zudem habe ich ja noch Matthias und Gabriel, die mir bei der Suche nach den Bösen helfen können.“ Er warf mir einen wütenden Blick zu, doch er merkte, dass er sich nun auf ziemlich dünnem Eis bewegte. Also buchstabierte er zurück. „Also gut. Ich werde mich nicht mehr so aufführen. Ausser wenn es die Situation erfordert.“ „Das wird schon nicht nötig sein“, sagte ich herablassend und zog nun endlich auch meine Jacke aus. Dann verzog ich mich in der Küche. „Gibt es etwas zu essen?“ fragte Gabriel erfreut und streckte den Kopf zur Tür rein. „Ja, ich habe Hunger. Willst du wieder das übliche?“ Er nickte begeistert. Also stellte ich jedem wieder das hin, was er gerne ass. Für mich machte ich Spaghetti. Matthias kam etwas zu kurz. Da ich normalerweise fast kein Gemüse und keine Früchte ass, hatte ich auch nicht viele zu Hause. Während des Essens schwiegen wir. Matthias verschlang zu seinem Sandwich noch zusätzlich mit viel Genuss einen Teller Spaghetti. David schien zu schmollen, was mir richtig gut gefiel. Endlich hatten wir ihm mal die Meinung gesagt! Danach setzten wir uns wieder vor den Fernseher, doch diesmal ging ich früh ins Bett, da ich am nächsten Tag wieder zur Arbeit musste. Ich hatte noch nicht lange geschlafen, als ich erwachte, weil ich dringend aufs Klo musste. Aus dem Wohnzimmer hörte ich Stimmen. Menschliche Stimmen. Also lief der Fernseher. Als ich hineinblickte, traf mich fast der Schlag. Da sassen die drei Skyländer und schauten sich doch tatsächlich einen Porno an. Wie gebannt starrten sie auf den Fernseher und bemerkten mich gar nicht. Erst als ich sagte, „so vertreibt ihr euch also die Nacht“, drehten sie sich zu mir um. Gabriel sagte mit funkelnden Augen und ernstem Gesicht, „sieh nur, wir schauen uns einen Horrorfilm an.“ Ich schaute ihn ungläubig an. Wollte er mich auf den Arm nehmen? Doch er meinte es ernst, so wie er dreinblickte. „Das ist ein Pornofilm und kein Horrorfilm“, klärte ich sie auf. „Was?“ fragten alle drei wie aus einem Mund. Ich musste lachen. Die Situation war aber auch zu komisch. „Wie kommt ihr darauf, dass ihr ein Horrorfilm schaut?“ wollte ich wissen. „Sieh nur, wie der Mann diese Frau malträtiert“, sagte Matthias und zeigte auf den Bildschirm, wo eine Frau gerade vor Lust stöhnte. „Diese Frau wird nicht malträtiert, sie hat gerade Sex mit einem Mann“, sagte ich lachend. „Du machst Witze, oder?“ fragte Gabriel verunsichert. „Nein, ich mache keine Witze.“ „Und das soll Sex sein? Das scheint ja eine ganz schlimme Sache zu sein, wenn diese Frau so qualvoll dreinblickt und dann auch noch immer wieder stöhnt und schreit“, sagte Gabriel, noch mehr verunsichert. „Die schaut nicht qualvoll drein, sondern lustvoll“, versuchte ich zu erklären. „Sagen wir mal, es ist eine lustvolle Qual. Oder wie auch immer. Und das Schreien und Stöhnen ist vor Lust und nicht vor Schmerz.“ Langsam wurde ich verlegen. Es war schwer, diesen drei Typen zu erklären, was sie gerade eben sahen. „Und ihr hättet merken müssen, dass es kein Horrorfilm ist. Ich nehme an, bis jetzt ist noch kein Blut geflossen oder?“ Alle drei schüttelten den Kopf. „Na also! Bei einem Horrorfilm fliesst immer viel Blut.“ „Aber wieso?“, bohrte Gabriel weiter. Langsam war ich mit meinem Latein am Ende. Man merkte gar nicht, wie schwierig es war, ganz normale, alltägliche Dinge zu erklären, bis man es dann tun musste. „Ein Horrorfilm ist ein Film, in dem es um Gemetzel geht. Um blutrünstige Monster. Rachsüchtige Geister. Wildgewordene Teenager. Und und und.“ „Aha“, sagte Gabriel nur, doch er schien nun gar nichts mehr zu verstehen. Auch den anderen zwei schien die Situation peinlich zu sein und so sagte ich nochmals ‚gute Nacht‘ verschwand im Bad und dann wieder unter der Decke. Dort konnte ich mein Lachen nicht mehr zurückhalten. Ich lachte, bis ich vor Müdigkeit nicht mehr konnte.

Kapitel 5

Am nächsten Morgen kam mir die Situation vom Vorabend wieder in den Sinn und ich musste lächeln. Diese Skyländer waren schon unglaublich. Da verwechselten sie doch tatsächlich einen Pornofilm mit einem Horrorfilm. Als ich aus der Dusche kam, war es ungewöhnlich still in der Wohnung. Weder im Wohnzimmer noch in der Küche war einer der Skyländer. Also mussten sie ausgeflogen sein, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich ass mein Frühstück und machte mich dann auf den Weg zur Arbeit. Mein Arbeitsplatz war ganz in der Nähe und ich konnte zu Fuss hingehen. Es war immer noch eisig kalt. Die Bäume waren von Raureif weiss und alles sah wie verzaubert aus. Im Büro begrüsste ich meinen Chef und meinen Arbeitskollegen Andreas und verschwand dann in meinem Büro. Von meinem Arbeitsplatz aus hatte ich eine tolle Sicht in die Berge. Einen Moment stand ich einfach da, schaute hinaus und genoss das herrliche Panorama. Dann stellte ich den PC ein und während er startete, gab ich meiner Zimmerpflanze, ein wunderschöner grosser Baum, den mir meine Vorgängerin vermacht hatte, Wasser. Dann begann ich mit der Arbeit. Ich liebte es hier zu arbeiten. Es war zwar manchmal hektisch, doch ich hatte nicht sehr viele Telefonate, so dass ich nicht dauernd bei der Arbeit unterbrochen wurde. Zudem musste ich mein Büro mit niemandem teilen und hatte meine Ruhe. Leise lief das Radio im Hintergrund. Einmal brachte mir der Chef noch einen Bericht zum Schreiben, ansonsten wurde ich bis zur Znünipause nicht gestört. Wir hatten uns angewöhnt, alle drei zur selben Zeit Pause zu machen. In einem kleinen Pausenraum tranken wir unseren Kaffee und teilten uns die Tageszeitung. Ich war gerade in den Sportteil vertieft, als Andreas sagte, „das ist schon komisch“. Genervt schaute ich hoch. Ich wurde nicht gerne gestört, wenn ich mich mit den neusten Fussballtransfers befassen wollte. Zum Glück reagiert der Chef sofort. Er blickte auf die Zeitungsseite, die ihm Andreas hinhielt. „Sieh dir nur diese vielen Todesanzeigen von Jungen an. Und alle aus der Gegend.“ Der Chef murmelte vor sich „unfassbar und traurig“, „viel zu früh“, „wir akzeptieren deinen letzten Wunsch“. Dann schüttelte er den Kopf. „Die Hälfte der Todesanzeigen scheinen Selbstmorde zu sein. Das ist schon seltsam.“ „Das finde ich auch“, sagte Andreas. „Obwohl, in den dunklen Jahreszeiten ist die Selbstmordrate wahrscheinlich immer höher als sonst.“ „Kann ja sein, aber das ist jetzt doch zu viel. Schau, hier geht es sogar noch weiter.“ Zusammen steckten sie die Köpfe in die Todesanzeigen. Ich sass wie versteinert da. Mir war sehr wohl bewusst, weshalb es hier in der Gegend so viele Selbstmorde gab. Die Bösen hatten ihren Stoff ins Wasser getan. Mein Herz raste und der Fussball interessierte mich nun einen Dreck. Ich tat jedoch, als würde ich lesen, um nicht darüber sprechen zu müssen. Als die Viertelstunde Pause vorbei war, verschwand ich schnell in meinem Büro. Da musste wirklich schnellst möglich etwas geschehen. Ich konnte mich nicht mehr richtig auf die Arbeit konzentrieren und war froh, als ich Mittagspause hatte. Schnell lief ich in die Wohnung. Normalerweise kaufte ich mir ein Mittagessen in der nahen Bäckerei. Doch heute musste ich dringend mit den Skyländern sprechen. Als ich jedoch in die Wohnung stürmte, waren sie noch immer nicht da. Ungeduldig wartete ich, ob sie vielleicht nicht doch noch auftauchen würden, was jedoch nicht der Fall war. So verliess ich gegen 13.00 Uhr die Wohnung, ohne etwas gegessen zu haben. Im Büro arbeitete ich weiter, doch dann begann mich der Hunger zu plagen. Jetzt konnte ich mich überhaupt nicht mehr konzentrieren und so fragte ich Peter, ob ich eine kurze Pause machen dürfte. Er hatte nichts dagegen, also ging ich schnell in die Bäckerei, holte mir ein Stück Apfelwähen und den Bürokollegen ein Dessert. Diese freuten sich natürlich sehr darüber. Um 17.00 Uhr verliess ich das Büro. Ich musste erst morgen Nachmittag wieder zur Arbeit. Bevor ich nach Hause ging, kaufte ich noch einige Dinge ein. Joghurts und Milch für David, Gemüse und Früchte für Matthias, Fleisch, Käse und Brot für Gabriel und auch noch einige Dinge für mich. Gespannt öffnete ich die Wohnungstür. Ob die Skyländer wohl wieder da waren? Doch, ich hörte etwas aus dem Wohnzimmer, das verdächtig nach Skyländer tönte. Ohne die Schuhe oder Jacke auszuziehen, ging ich sofort hin, um sie zu begrüssen und eventuelle Neuigkeiten zu erfahren. Sie sassen da und redeten miteinander. „Hallo zusammen“, begrüsste ich sie. „Hallo Patrizia“, sagten alle drei wie im Chor. Ich stellte die schweren Einkaufstaschen ab und fragte dann, „und wo wart ihr?“ „Wir konnten vier der Bösen unschädlich machen“, erklärte David. „Hier auf der Erde?“ fragte ich erstaunt und erleichtert. Vielleicht würde das Elend bald ein Ende haben. „Einer ja. Aber drei konnten wir beim Tor nach Skyland abfangen.“ „Super! Das hatte heute Unmengen von Todesanzeigen in der Zeitung. Die Selbstmorde hier in der Gegend sind wirklich gestiegen. Wie lange wirkt denn der Stoff, wenn kein neuer dazu getan wird?“ „Vielleicht eine Woche, dann verflüchtigt er sich.“ Eine Woche war eine sehr lange Zeit. Da konnte noch viel passieren. „Haben die Bösen überhaupt noch mehr von dem Stoff?“ „Ja, sie sind jetzt dauernd am Nachproduzieren.“ „So ein Mist! Dann wird das wohl nie ein Ende nehmen“, bemerkte ich traurig. „Doch, doch. Wir versuchen zu verhindern, dass weiterer Stoff auf die Erde gelangt. Heute ist es uns schon gelungen“, beruhigte mich David. „Und es braucht auch eine Weile, bis der Stoff hergestellt ist. Das passiert nicht von heute auf morgen. Jetzt haben wir bereits eine Ration vernichtet. Die nächste wird dann nicht vor nächster Woche bereit sein.“ Das tröstete mich. Und dann kam mir plötzlich etwas in den Sinn. „Hast du mit Jens gesprochen?“ fragte ich David. Er schaute mich fast schon empört an. „Aber natürlich! Das habe ich dir doch versprochen!“ „Und?“ wollte ich wissen, als er nicht fortfuhr. „Na ja“, jetzt wurde er verlegen, „ich war heute Morgen bei ihm. Er hat mich sofort wieder erkannt. Als ich ihm sagte, dass ich ihn angelogen habe, was dich betrifft, wurde er ein bisschen wütend. Nein, um ehrlich zu sein, er wurde fuchsteufelswild.“ Wieder schwieg er und schaute seine Hände an. „Und weiter?“ musste ich ihn wieder zum Sprechen bringen, diesmal ungehalten. Er sollte mir sofort erzählen, wie es weitergegangen war. „Also… Er hat mich dann geschlagen.“ „Was?!“ rief ich erstaunt. Jens war ein ganz ruhiger, liebevoller Mann. Nie hätte ich gedacht, dass er jemanden schlagen könnte. Und dass es dann auch noch David war, gegen den er theoretisch keine Chance hatte, zeigte mir, dass ich ihm immer noch viel bedeuten musste. Es musste ihn geschockt haben, dass wir uns wegen einer haltlosen Lüge getrennt hatten. „Wieso hast du denn keine Wunde?“ fragte ich David erstaunt. „Meine Wunden heilen sofort wieder. Ich habe diese Fähigkeit, deshalb kann ich auch Wunden heilen.“ Schade. Aber irgendwie kam mir eine Situation in den Sinn, bei der ich das selber erlebt hatte, nur konnte ich sie mir nicht mehr richtig ins Gedächtnis rufen. Aber das war jetzt auch egal. Wie gerne hätte ich David mit blutender Nase gesehen. Naja, was soll‘s. Immerhin hatte ihm jemand eins auf die Nase gegeben. Und das war Jens gewesen. Wegen mir! Eine grosse Zuneigung ihm gegenüber überkam mich. „Du kannst dir vorstellen, wie geschockt Jens war, als mein Gesicht nicht die kleinste Rötung von seinem Schlag abbekommen hatte. Da habe ich ihm auch noch den Rest erzählt. Von Skyland, den Bösen, dem Stoff und der Gefährdung der Menschen. Da geriet er wieder ausser sich, weil er glaubte, dass ich ihn wieder anlügen würde. Ich versuchte ihm klar zu machen, dass das nicht der Fall sei, doch er hörte mir gar nicht mehr zu. Da meinte ich, dass er sich am besten mal mit dir unterhalten würde. Das heisst jetzt, dass er sich bald mal mit dir in Verbindung setzen wird.“ Ich stand schnell auf, um auf mein Handy zu schauen, das hatte ich nämlich heute noch gar nicht getan. Da war tatsächlich eine SMS von Jens. „Liebe Patrizia Heute war ein Typ bei mir in der Werkstatt und hatte jede Menge seltsame Dinge erzählt. Ich würde dich sehr gerne so schnell wie möglich treffen, damit wir das alles klären könne. Bitte melde dich bei mir. Es ist mir sehr wichtig! Lg Jens“ Sofort schrieb ich zurück, „Hallo Jens Ich denke auch, dass wir einiges klären müssen. Hast du heute Abend noch Zeit? Im Café zum Stamm? Lg Patrizia“ Umgehend sagte er zu, dass wir uns in einer Stunde treffen könnten. Ich schrieb ihm noch kurz zurück, dass das super sei und dann machte ich mich daran, die Esswaren zu verstauen. Ich sagte den Skyländer, dass sie sich bedienen könnten, ich müsste jetzt dann wieder los, um die Sache mit Jens zu bereinigen. Bei diesen Worten warf ich David einen vernichtenden Blick zu. Die drei Typen stürzten in die Küche als wäre der Teufel hinter ihnen her und räumten die Hälfte der Esswaren wieder raus, die ich soeben eingeräumt hatte. David nahm drei Joghurts, Matthias fast alle Früchte die ich gekauft hatte und Gabriel schnitt sich Brot ab als gäbe es kein Morgen und nahm wieder Fleisch und Käse dazu. Ich verliess die Küche und stellte mir mit Entsetzen vor, dass ich wahrscheinlich morgen bereits wieder einkaufen musste. Während ich vor dem Kleiderschrank stand und mir etwas Passendes zum Anziehen aussuchte, versuchte ich mich auf das Treffen mit Jens vorzubereiten. Ich hatte ihn schon einige Monate nicht mehr gesehen und war nervös auf unser Treffen. Wie sollte ich ihn begrüssen? Was sollte ich ihm über die ganze Geschichte erzählen? Würde er mir glauben? Oder mich für verrückt halten? Meine Nervosität wuchs mit all diesen Fragen nur noch zusätzlich. Ich war froh, fand das Treffen noch heute statt. Allein der Gedanke, dass ich noch eine Nacht hätte schlafen müssen vor diesem Gespräch, machte mich ganz kribbelig. Gedankenlos nahm ich einen schwarzen Rollkragenpullover aus dem Schrank, dazu ein Paar hellblaue Jeans und um den Pullover aufzupeppen noch eine silberne Kette. Ich zog mich an, schminkte mich ein bisschen, verabschiedete mich dann von den Skyländer, die schmausend in der Küche sassen und verliess die Wohnung. Das Café zum Stamm lag ganz in der Nähe meiner Wohnung. Als ich ankam, war Jens noch nicht da. Ich schaute mal diskret ins Café hinein, ob er vielleicht schon drinnen wäre. Dort sah ich ihn jedoch nicht, also nahm ich das Handy hervor. Da fiel mir auf, dass ich eine ganze Viertelstunde zu früh dran war. Es war eisigkalt und ich überlegte mir, ob ich bereits hineingehen sollte, doch es war mir lieber, wenn ich Jens hier draussen begrüssen konnte und nicht drinnen, wo uns alle beobachteten. Zum Glück kam dann Jens auch früher als abgemacht, so dass ich doch nicht allzu lange warten musste. Als er mir entgegen kam, wurde mir ganz warm ums Herz. Jetzt sah ich unsere Situation mit ganz anderen Augen. Irgendwie hatte er sich äusserlich verändert. Er war schmächtiger geworden und unter seinen Augen waren dunkle Ringe. Er sah müde und abgekämpft aus. Auch sein Lächeln sah müde aus, als er mich begrüsste. „Hallo Patrizia“. „Hallo Jens“. Dann standen wir verlegen einander gegenüber, als hätten wir unser erstes Date und nicht, als wären wir fast ein Jahr lang ein Paar gewesen. Gleichzeitig beugten wir uns vor um uns drei Küsschen zu geben. Dabei kamen wir uns jedoch in die Quere und wir schlugen die Nasen aneinander an. War das peinlich! Wir schafften es dann doch noch und standen dann wieder nur so da, bis ich sagte, „wollen wir hinein?“ Jens nickte, ging voraus und hielt mir die Türe auf. Das Café war nicht sehr gut besetzt, es war ja auch Montagabend. Als wir uns an einen etwas abgelegenen Tisch setzten, kam sofort die Kellnerin zu uns. „Hallo zusammen. Wie geht es denn euch? Schon lange nicht mehr gesehen!“ begrüsste sie uns. Früher waren wir Stammkunden und fast jeden zweiten Tag hier gewesen, deshalb kannte sie uns natürlich. Doch scheinbar wusste sie nicht, dass wir uns getrennt hatten. Verlegen blickten wir sie an. Was sollte ich schon antworten? Also sagte ich einfach, „danke, uns geht es gut. Und selber?“ Sie nickte nur. Scheinbar hatte sie bemerkt, dass etwas nicht gut war, denn normalerweise waren wir gesprächiger. Und fröhlicher. „Was möchtet ihr denn gerne?“ fragte sie, um die peinliche Stille, die nun entstanden war, zu unterbrechen. „Ich nehme ein Cappuccino“, gleichzeitig sagte Jens, „ich nehme ein Bier“. Irgendwie waren wir nicht mehr so koordiniert wie früher. Es war schon seltsam, wir hatten uns etwa ein halbes Jahr nicht mehr gesehen, doch mir kam es vor, als wäre es eine halbe Ewigkeit. „Ein Bier und einen Cappuccino“, wiederholte die Kellnerin und verschwand dann schnell. Ihr schien die seltsame Atmosphäre an unserem Tisch nicht zu passen und damit war sie nicht alleine. Auch ich fühlte mich unwohl. Um mal ganz unverfänglich anzufangen, fragte ich Jens, „und, wie geht es dir?“ „Nicht so gut. Aber wir sind ja nicht hier, um über meinen Zustand zu sprechen, oder? Sondern um das, was dieser David erzählt hatte“, fertigte er meine Frage ab. So kannte ich Jens gar nicht. Er war immer fröhlich und zuvorkommend gewesen und jetzt war er so abweisend, fast schon beleidigend. Er hätte doch nett antworten und mich dann dasselbe fragen können. Aber scheinbar wollte er sofort aufs Thema kommen. Also schwieg ich. Soll er doch den Anfang machen, dachte ich fast schon trotzig. Doch auch er schwieg und wartete, bis die Getränke kamen. Nachdem er einen Schluck von seinem Bier genommen hatte, wollte er wissen, „ist es wahr, dass du dich nicht mehr an Samuel erinnern kannst? Oder besser gesagt konntest?“ Er schaute mich erwartungsvoll an. Von dieser Frage hing für ihn alles ab. Als ich nickte, bemerkte ich, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel und er sich entspannte. „Ja, das ist wahr. Du musst mich ja für total bekloppt gehalten haben. Bevor ich mein Wissen verloren habe, habe ich dir deshalb die SMS geschickt und dich gebeten, Samuel nie mehr zu erwähnen. Ich wusste ja, dass es sonst nicht gut enden würde. Was musst du nur von mir gedacht haben, als ich es abstritt einen Samuel zu kennen?“ Er schaute mich bekümmert an. „Ich hielt dich für eine miese Lügnerin. Das Schlimmste war jedoch, dass ich das nie von dir gedacht hätte. Ich hielt dich für eine aufrichtige Person, die mich auch nie betrügen würde. Als ich dann erfahren musste, dass du dich weiter mit diesem Samuel triffst und es auch noch abstreitest, brach für mich alles zusammen. Alles, woran ich geglaubt hatte, auf das unsere Beziehung gebaut sei. Und jetzt muss ich erfahren, dass mich David einfach angelogen hatte. Zur Rettung der Menschheit, hat er gesagt. So ein Mist!“ Wütend schlug er mit der Faust auf den Tisch und dabei zuckte ich zusammen. Was war nur los mit ihm? Wieso reagierte er so heftig? War er wütend auf mich? Auf sich? Auf David? „Was ist los mit dir? Du hast dich so verändert“, fragte ich deshalb geradeheraus Diesmal würde ich keine Ausflüche mehr zulassen. „Ich bin so wütend auf diesen David“, sagte er nur und das konnte ich gut nachvollziehen. „Ist der immer so ein Arschloch?“ „Oh ja!“, sagte ich mehr als überzeugt und da mussten wir beide lachen. Plötzlich war es wieder wie früher. Dieses gemeinsame Lachen. Das Wissen, was man am anderen hatte. Und vor allem, die Reaktionen des anderen verstehen zu können. Ich erzählte ihm einige Müsterchen von David, was er schon alles geleistet hatte. Aber ich erzählte auch davon, dass er Wunden heilen konnte und ich schon mehr als einmal seine Hilfe benötig hatte. Unvermittelt fragte Jens, „was ist eigentlich mit diesem Samuel passiert? David hat das gar nicht erwähnt.“ Ein Schmerz durchbohrte mein Herz, wie jedes Mal, wenn ich an das Schicksal von Samuel denken musste, doch zum Glück war es nicht mehr so schlimm wie noch gestern. Ich musste tief Luft holen, damit ich während des Erzählens nicht in Tränen ausbrechen würde. „Er ist gestorben. Die Skyländer, die sich von den Bösen abgewandt haben, können nicht mehr lachen, sonst werden sie dabei getötet. Ihr Körper wird zerrissen. Das ist Samuel passiert. Damals, als ich dir die SMS geschrieben hatte.“ Ich hatte es stockend erzählt und Jens sah mich mitfühlend an. „Das tut mir echt leid! Dann hat mich David mit jemandem reingelegt, der nicht einmal mehr lebte! Dieses Schwein! Der ist schon zu allem fähig.“ Wieder hatte er dieses böse Funkeln in den Augen. Ich nickte nur. Was sollte ich schon dazu sagen? Er war wirklich der Hinterletzte. „Also das mit, ‚der Körper wird zerrissen‘, ist das jetzt bildlich gemeint oder muss ich das wörtlich nehmen?“ wollte Jens wissen. „Wörtlich“, sagte ich nur, mehr brachte ich im Moment nicht raus. Er schaute mich geschockt an und ich blickte auf meine Hände, um nicht doch noch in Tränen auszubrechen. „Hast du es denn gesehen?“ „Ich war dort, aber nein, gesehen habe ich es nicht. Nur gehört. Das war schon schlimm genug. Zum Glück hatte mir David sofort die Augen zugehalten.“ „David‘“ bemerkte Jens überrascht. „Ja David. Wie gesagt, er ist nicht nur schlecht. Manchmal hat er auch gute Züge. Die kommen nur selten zum Vorschein.“ Und dann hatte Jens jede Menge Fragen: Gibt es dieses Skyland wirklich? Ja. Die Mission? Ja. Die Bösen? Ja. Die Bedrohung der Menschheit? Ja. Fliegen? Ja. Seine Augen wurden immer grösser. „Heute Morgen bin ich aufgestanden und meine Welt war noch in Ordnung. Und jetzt ist meine ganze Weltanschauung kaputt. Kaputt gemacht von David.“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Das darfst du nicht so sehen“, sagte ich und er schaute mich überrascht an. „Aber es ist so!“ „Nein. Nicht David hat deine Weltanschauung kaputt gemacht. Sie war einfach nicht richtig.“ „Was sagst du denn da? Natürlich hat er sie kaputt gemacht!“ „Skyland gab es schon lange, genauso wie die Bösen. Die Welt wurde auch schon eine Weile bedroht. Du hast nur nichts davon gewusst. David hat damit ausnahmsweise nichts zu tun. Am Anfang der Mission gab ich auch Samuel die Schuld, dass meine Welt aus den Fugen geriet. Doch er konnte nichts dafür, dass ich etwas einfach nicht gewusst hatte. Deshalb war ich auch so froh, als ich hörte, dass ich mein Wissen über all das wieder verlieren würde. Ich würde dann weiter in meiner, eigentlich falschen, Welt weiterleben. Doch diesmal können sie mir das Wissen nicht mehr nehmen. Und so werde ich damit leben müssen. Für immer und immer. Das ist sehr belastend. Vor allem, weil fast niemand etwas darüber erfahren wird. Und wenn ich es jemandem erzähle, werde ich noch in die Klapsmühle gesteckt.“ Da tröstete mich Jens, „ich weiss nun auch davon. Wir können das gemeinsam durchstehen. Willst du das?“ Dabei nahm er meine Hand in die seinen und schaute mir tief in die Augen. Ruhig blickte ich zurück. Wollte ich denn das? Wollte ich wieder mit Jens zusammen sein? Ja das wollte ich! Das sagte ich ihm auch, hatte jedoch noch eine Bedingung. „Ich möchte gerne mit dir wieder zusammen sein. Doch zuerst will ich diese Mission beenden. Ich will dich da nicht mit reinziehen. Das hast du nicht verdient.“ „Ich habe das nicht verdient?“ fragte er spöttisch und zog abrupt seine Hand zurück. „Hast du vergessen, dass die Menschheit bedroht ist? Glaubst du also tatsächlich, dass ich dich das alleine machen lasse? Zudem traue ich dir nicht“, der letzte Satz fügte er augenzwinkernd hinzu. Dabei machte er eine Andeutung darauf, dass ich unfähig war, etwas durchzuziehen, mich für etwas einzusetzen und über längere Zeit Herzblut für etwas zu haben. „Nein, ich meine es ernst. Bitte! Lass mich das alleine machen. Dann können wir zusammen sein. Von mir aus gerne bis in alle Ewigkeit.“ „Und ich sage ebenfalls nein. Ich lasse dich das nicht alleine machen. Was immer es auch sein wird, ich werde dir zur Seite stehen.“ Dabei schaute er mich ernst an und seine Haltung gab mir deutlich zu verstehen, dass er keine Widerrede duldete. „Na gut“, gab ich mich geschlagen. „Aber im Moment wohnen noch David, Gabriel und Matthias bei mir.“ „Was?! David wohnt bei dir? Und wer sind die anderen?“ „David wohnt bei mir, weil er die Bösen auf der Erde vernichten muss. Die anderen zwei sind ebenfalls Skyländer. Wir vier ziehen das zusammen durch.“ Er schaute mich eifersüchtig an. „Wieso müssen sie denn ausgerechnet bei dir wohnen? Und wo schlafen sie?“ „Sie wohnen bei mir, weil ich der einzige Mensch bin, den sie kennen. Und sie schlafen nur etwa zwei Stunden pro Tag, und zwar auf dem Boden“, erklärte ich ihm geduldig. Ich hoffte, er würde mir jetzt nicht mit einer Eifersuchtsszene kommen. „Ich möchte aber nicht, dass die bei dir wohnen!“ Also doch eine Eifersuchtsszene. „Bitte, hör auf damit. Diese Männer sind gar keine richtige Männer, sondern eher Maschinen. Du musst dir also keine Gedanken machen. Die haben in ihrem ganzen Leben noch nie Sex gehabt. Die haben sogar einen Pornofilm für einen Horrorfilm gehalten.“ „Was? Was haben die getan?“ fragte Jens ganz überrascht. Er konnte scheinbar diesen männlichen David nicht mit einem asexuellen Wesen in Verbindung bringen. „Es ist tatsächlich wahr“, und dann erzählte ich ihm die Geschichte von gestern Nacht. Darauf musste Jens laut lachen. „Das ist schon unglaublich! So etwas habe ich noch nie gehört.“ „Ja es war wirklich lustig.“ Da kam mir eine Idee. „Weisst du was? Komm doch einfach schnell mit mir nach Hause, dann stelle ich dir Matthias und Gabriel auch noch vor. Du wirst die zwei mögen, da bin ich mir sicher.“ Unschlüssig schaute er mich an. Doch dann entschied er sich doch noch dafür. Er bezahlte alles, bevor wir uns auf den Weg zu meiner Wohnung machten. „Wieso hat dich eigentlich Samuel damals in der Wohnung vor meinen Augen geküsst, wenn er gar nichts von dir wollte?“ „Er wollte nur testen, ob du vielleicht einer der Bösen bist.“ „Aber wieso sollte ich das sein? Und wie hätte er das mit einem Kuss herausfinden können?“ „Die Bösen haben keine Gefühle. Nach dem Kuss mit mir hat er bei dir jedoch Eifersucht festgestellt und wusste somit, dass du keiner von ihnen bist. Aber das ist Skyland-Logik“, sagte ich mit einer wegwerfenden Handbewegung, als würde das alles erklären. Als ich Jens ins Wohnzimmer führte, sah ihn David entsetzt, Matthias und Gabriel neugierig, an. „Darf ich vorstellen“, sagte ich und zeigte dabei als Erstes auf Gabriel, „das ist Gabriel, Gabriel, das ist Jens.“ Sie gaben sich die Hand. Dann zeigte ich auf Matthias, „das ist Matthias“, und zum Schluss, fast schon verächtlich, „und David kennst du ja schon.“ Jens nickte ihm nur kalt zu, nachdem er auch Matthias die Hand geschüttelt hatte. „Ich will bei dieser Mission auch mitmachen“, sagte Jens zu meinem Erstaunen und Entsetzten. „Was kann ich tun?“ „Eigentlich nichts“, sagte David herablassend. Zum ersten Mal war ich froh, dass er so direkt war. „Wir haben schon einen Menschen in unserer Truppe. Patrizia weiss genau was zu tun ist. Mehr brauchen wir nicht.“ Jens wollte soeben etwas sagen, hatte schon den Mund offen, doch David fuhr ihn an, „ich habe nein gesagt. Du musst weder betteln, noch flehen, noch toben, noch sonst was. Ich werde meine Meinung nicht mehr ändern. Klar?“ „Du bist so ein arrogantes Arschloch!“ schrie ihn Jens an und er bekam einen ganz roten Kopf. Seine Hände ballte er zu Fäusten und er trat einen Schritt auf David zu, der immer noch ganz gelassen auf dem Sofa sass. „Wieso behandelst du mich so herablassend? Was bildest du dir eigentlich ein, wer du bist?“ Erstaunt stellte ich fest, dass Jens fast dieselben Worte wie ich gebrauchte, als ich mit David gestritten hatte. „Hör doch auf, hier rumzubrüllen. Du hast nun deine Patrizia wieder, weisst, dass sie dich nie betrogen oder angelogen hat. Was willst du also noch mehr?“ Da flog Jens Faust in Richtung Gesicht von David. Doch bevor sie dieses erreicht hatte, wurde sie von Matthias gestoppt. Er hielt sie fest, zu fest. Denn Jens Gesicht nahm einen schmerzverzerrten Ausdruck an. „Hört sofort auf damit!“ befahl ich böse und augenblicklich liess Matthias die Hand los. Jens rieb sie und macht einen Schritt zurück, ausserhalb der Reichweite von Matthias. „Was soll das eigentlich?“ fragte ich die anwesenden Herren. „Es bringt jetzt wirklich nichts, wenn wir uns hier streiten. Ich denke wir haben besseres zu tun.“ Dann zeigte ich auf Jens. „Du hast gehört, es gibt für dich nichts zu tun. Und ich will das auch nicht. Also bitte, mach mir doch diesen Gefallen.“ Flehentlich schaute ich ihn an. Er nickte nur, doch damit war die Sache sicher noch nicht gegessen. „Und ihr“, dabei zeigte ich auf die Skyländer, „hört endlich auf euch so daneben zu benehmen. David, du weisst ja was ich gesagt habe. Ich halte dieses Verhalten nicht mehr lange aus.“ Ich kam mir in dem Moment wie die Oberlehrerin vor, die mit ihren Schülern schimpft, doch jetzt musste ich den Tarif durchgeben. Zudem wollte ich endlich ins Bett, ich war müde. Wortlos verliess Jens das Wohnzimmer und ich folgte ihm. Vor der Türe sagte er, „es tut mir leid, dass ich mich so aufgeführt habe, aber dieser David bringt mich immer zur Weissglut, ich weiss nicht was das ist. Normalerweise bin ich doch gar nicht so.“ „Ich weiss. Mir geht es um ihn herum genauso.“ „Ja, du warst vorhin ziemlich energisch. Das war ein ungewöhnlicher Anblick“, dabei lächelte er mich an und dann beugte er sich vor, um mich zärtlich zu küssen. Als ich an diesem Abend im Bett lag, hoffte ich, dass alles gut werden würde.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739440279
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Januar)
Schlagworte
Romantik Fantasy Spannung Romance

Autor

  • Ruth Herbst (Autor:in)

Ruth Herbst lebt und arbeitet in der Schweiz. SKYLAND II ist der zweite Teil der Skyland Trilogie.
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Titel: Skyland II