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Skyland

von Ruth Herbst (Autor:in)
230 Seiten

Zusammenfassung

Patrizia wird eines Nachts von Skyländer Samuel aufgesucht, der sie für eine Weltrettungsmission rekrutieren will. Patrizia, eine Eigenbrötlerin und absolut kampfuntauglich ist entsetzt über dieses Angebot, nimmt es aber schlussendlich doch an, mit dem Versprechen, mit niemandem darüber zu sprechen. Damit diese Mission durchgeführt werden kann, lernt sie nun fliegen, so dass sie überhaupt nach Skyland kommt, wo sie von den vier anderen Skyländern David, Matthias, Rafael und Gabriel auf die Mission vorbereitet wird. Gleichzeitig läuft ihr Leben auf der Erde wie bis anhin weiter, mit Liebeswirren ihrer zwei Kolleginnen und einem stressigen Job. Samuel versucht ihr in fast allen Lebenslagen beizustehen, was aber nicht immer hilfreich ist.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1

Der Radiowecker riss mich aus der Geborgenheit des Schlafes und zerrte mich gnadenlos in die harte Realität. Regelmässig hatte ich nach dem Aufwachen das Gefühl, als sei ich soeben erst auf die Welt gekommen. Wie das Kind aus der Wärme des Mutterleibes kam, kam ich aus der Wärme des Schlafes in die kalte Welt. Kein Wunder schrien die Kinder bei der Geburt. Mir war auch jedes Mal nach dem Aufwachen zum Heulen zumute. Vor allem wenn es früh am Morgen war und ich eigentlich gerne noch schlafen wollte. Was so an jedem Arbeitstag der Fall war. Das Heulen liess ich dann jedoch sein und verkroch mich stattdessen nochmals unter der Bettdecke. Mit positivem Denken versuchte ich mich aus dem Bett zu bringen. Doch kein Argument zog, um mich zum Aufstehen zu motivieren. Weder, dass ich immerhin noch erwacht war, ich könnte ja auch tot sein, noch dass ich soweit gesund war, dass ich den Radiowecker hören, mein Zimmer sehen und mich schmerzfrei bewegen konnte. Auch nicht das Argument, dass ich zu einer Arbeit fahren durfte. Irgendjemand hatte mich eingestellt, juhee! Das Letztere war das schlimmste und liess mich, allein beim Gedanken an meine Arbeit, noch einmal unter der Bettdecke verschwinden. Eine Müdigkeit und Traurigkeit lastete auf mir und drückte mir wie ein Stein auf den Brustkorb. Die Bettdecke fester um mich ziehend kuschelte ich mich noch tiefer ins Bett und hörte der Stimme des Moderators zu, der etwas von den besten Wanderwegen der Schweiz erzählte. Und das morgens um 6.10 Uhr! Wieso konnten sie nicht einfach Musik spielen? Wer wollte um diese Zeit schon etwas vom Wandern hören? Ich sicher nicht! Schlussendlich, mich meinem Schicksal ergebend, strampelte ich doch noch die Bettdecke weg und kroch aus dem Bett. Zuerst öffnete ich das Schlafzimmerfenster, um den Nachtmief aus dem Raum zu vertreiben. Dann stellte ich in der Küche die Kaffeemaschine an, und huschte kurz unter die Dusche. Das nach Minze riechende Haarshampoo belebte meine Sinne etwas und langsam wurde ich wacher. Schnell rubbelte ich mich trocken und wickelte meine langen nassen Haare in ein Handtuch, um sie dann kopfüber trocken zu föhnen. Für die Arbeit würde ich die Haare sowieso zu einem Pferdeschwanz zusammenbinden, wozu also den Aufwand betreiben, sie beim Föhnen schön zu frisieren? Da ich meine Kleider jeweils bereits am Vorabend bereitlegte, konnte ich mir am Morgen das Theater und die Zeit ersparen, vor dem Schrank zu stehen und passende Kleider herauszusuchen, die mir dann schlussendlich doch nicht passten. So verliess ich mich auf den Entscheid vom Vorabend, hinterfragte diesen nicht mehr und stieg einfach in die bereitgelegten Kleider. Heute war es eine dunkelblaue Jeans und einen moosgrünen Kaschmirpullover, der meine grünen Augen betonte. Hoffte ich zumindest. Dann wäre wenigstens etwas von meinem Äusseren in ein positives Licht gerückt. Im Bad tuschte ich meine Wimpern mit Mascara, damit meine Augen nicht so müde aussahen und cremte mich mit Tagescreme ein. Mit Make-up konnte ich nicht viel anfangen und liess es deshalb sein. Meiner unreinen Haut hätte es auch nicht gut getan. Mit meinen 25 Jahren hatte ich immer noch eine Haut wie ein Teenager, leider konnte ich das von meiner Figur nicht behaupten. Die fiel ein bisschen aus der Form. Doch beklagen durfte ich mich nicht. Wer aus Faulheit keinen Sport treibt, darf sich nicht über unförmige Beine und einen schwabbeligen Hintern wundern.
Während ich in der Küche meinen Kaffee trank und dazu ein Butterbrot ass, hing ich meinen Gedanken nach. Irgendwie musste ich ein bisschen Schwung in mein Leben bringen. Vielleicht mit einem Freund. Oder einem Hund. Der Hund wäre wahrscheinlich die pflegeleichtere Variante. Bei dem Gedanken musste ich lachen und es klang seltsam in der stillen Wohnung. Aber ich kannte mich. Immer wieder hatte ich grosse Pläne, was ich in meinem Leben ändern könnte, doch schlussendlich liess ich aus Faulheit und Bequemlichkeit doch lieber alles beim Alten.
Bevor ich die Wohnung verliess, putzte ich mir noch die Zähne und spülte sie mit einer intensiven Mundspülung, für schöne, weisse und gesunde Beisserchen. Obwohl der Radiomoderator bereits vom Wandern schwärmte, war es für April doch immer noch empfindlich kalt und so zog ich Mantel, Schal und Stiefel an. Auf dem Weg zu meinem Auto überkam mich wieder eine grosse Unmotiviertheit und der Gedanke, zurück in mein Bett zu flüchten, war so verlockend, dass ich meinen inneren Schweinehund nur mit meinem Pflichtgefühl vertreiben konnte. Die Arbeit an sich war eigentlich kein Problem. Sie machte mir Freude, auch wenn ich zwischendurch unangenehme Aufgaben erledigen musste. Aber das gehörte überall dazu. Das Hauptproblem war der Chef und manchmal auch die Arbeitskollegen. Dauernd schaute der Chef mir über die Schultern, bemängelte meine Arbeit oder suchte nach Dingen, die er verbessern konnte. Manchmal wühlte er sogar auf meinem Pult in meinen Sachen, während ich dort sass. Dann fragte ich ihn meistens ärgerlich, was er eigentlich suche. Wieso konnte er mich nicht einfach fragen, wenn er etwas benötigte? Zumal ich ja dasass. Dann kam es mir vor, als würde ich gar nicht existieren. Ich machte das bei ihm doch auch nicht! Während der Fahrt ins Büro sang ich lauthals mit jedem Song der im Radio gespielt wurde, und den ich kannte, mit. Das war dann eigentlich mit jedem. Nachdem ich auf den Büroparkplatz eingebogen war und parkiert hatte, sang ich noch ‚Wire to wire‘ von Razorlight, fertig, bevor ich ausstieg und mich ins Büro wagte.

Kapitel 2

Immerhin hatte ich am Morgen immer noch eine kurze, ruhige Zeit für mich, da ich normalerweise die Erste im Büro war. Bevor ich überhaupt in die Nähe meines PCs kam, schaltete ich das Radio ein. Und dann ging es los. E-Mails checken und beantworten, Rechnungen drucken, verschicken oder verbuchen, Briefe verfassen, Telefongespräche führen und Bestellungen ausführen. Und dann, als meine Arbeitskollegen nach und nach eingetrudelt waren, fast alle fünf Minuten ein Hilferuf, entweder eines Kollegen oder des Chefs. Ich stand auf, half und kaum hatte mein Hintern den Stuhl berührt, rief schon der nächste nach mir. Erst als ich mit der Zeit etwas ungehalten wurde, liessen sie mich in Ruhe arbeiten. In der Cafépause schnappte ich mir die Zeitung und studierte den Sportteil, die Todesanzeigen und Unfälle und Verbrechen. Genau in der Reihenfolge. Ich war ein grosser Fan der Schweizer Fussballnationalmannschaft. Und obwohl es immer sehr viel Kraft und noch mehr Kraftausdrücke brauchte, um ein Natispiel zu überstehen, liess ich mir doch nie eines am Fernseher entgehen. Man wurde zwar als Frau die Fussball mochte von den Männern nicht so ernst genommen. Die meisten hatten immer noch die verstaubte Ansicht, dass Frauen Fussball nur wegen der hübschen Männer schauen würden. Das war natürlich Blödsinn. Wir Frauen schauten es wegen der Männer UND dem Fussball. Ein Arbeitskollege erzählte gerade, dass er am nächsten Wochenende einen Familienausflug ins Tessin geplant hatte und eine andere Kollegin klagte über Kopfschmerzen. Herrje, wen interessierte das schon? Ich vergrub mich noch tiefer hinter der Zeitung, um ja nicht in ein Gespräch verwickelt zu werden. Leider nützte meine ganze abweisende Haltung nichts. „Und Patrizia, was machst du am Wochenende?“ wollte einer wissen. Was antwortet man, wenn man die Langweile in Person ist und gar nichts vorhat ausser zu Hause rumzulümmeln, ein gutes Buch zu lesen, fern zu sehen oder einfach nur Musik zu hören und sich auch noch darauf freut? „Oh, ich weiss noch nicht so genau. Ich habe mit Kollegen abgemacht. Mal sehen was wir machen“, log ich ihn ganz unverfroren an. Ich hatte genau zwei Kolleginnen, die sich jedoch überhaupt nicht ausstehen konnten. Das heisst, ich traf mich je einmal die Woche mit einer von ihnen, wovon meistens einmal ein Mittagessen war. Aber was ging das meine Arbeitskollegen schon an? Lieber hielt ich mein Privatleben für mich, dann musste ich mich nicht rechtfertigen, warum ich so eine Langweilerin war. Um das Gespräch nicht fortführen zu müssen legte ich schnell die Zeitung beiseite und stand auf. Ich packte meine Post, die in einem für mich angeschriebenen Ablagefach lag und eilte zurück zu meinem Arbeitsplatz. Die meisten Menschen verstanden nicht, dass ich mit meinen Leben zufrieden war. Ich brauchte keinen Verein, kein Facebook- oder Instagramaccount um mich bestätigt zu fühlen und keine zwanzig Freunde, mit denen ich mich dauernd verabreden konnte. Für mich gab es nichts Schöneres als alleine zu sein, Tagträumen nachzuhängen und nicht immer auf Draht zu sein. Eine unverplante Freizeit konnte ganz schön ausfüllend sein, nur wussten das die meisten Menschen nicht. Natürlich hatte ich auch Hobbys wie Krimis lesen oder durch die Natur streifen, um mit meiner Digitalkamera schöne Motive zu fotografieren. Shoppen war auch eins meiner Hobbys. Den Kleiderschrank von Zeit zu Zeit ausmisten gehörte jedoch nicht dazu, so dass er zurzeit überquoll. Manchmal sang ich auch einfach ein bisschen vor mich hin, wenn ich zu Hause war oder schaute mir Videoclips auf Musiksender an. Zudem buk ich gerne. Doch leider brauchte es dazu auch wieder Freunde, die dann beim Kuchenessen halfen. Da mir jedoch diese wiederum fehlten, war es schon vorgekommen, dass ich von einem fantastischen Schokoladenkuchen fast zwei Wochen täglich ass, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte und er am Schluss so trocken war, dass ich daran beinahe erstickt wäre. „Patrizia!“ Mein Chef riss mich aus meinen Tagträumen über trockenen Kuchen und holte mich zurück in die unangenehme Realität. „Kannst du mir das bitte noch schnell machen!“ sagte er, legte mir eine Arbeit hin und machte sich sofort wieder davon. Es war keine Frage, sondern ein Befehl gewesen und das, was er mir hingelegt hatte, war kein ‚schnell‘. Er verlangte von mir eine aufwändige Power Point-Präsentation mit allem Drum und Dran. Dazu brauchte ich mindestens einen halben Tag, vorausgesetzt dass mich niemand stören würde. Nur war das nie der Fall. Und natürlich war auch noch kurz vor Mittag. „Bis wann brauchst du das denn?“ rief ich ihm hinterher und machte somit einen Versuch herauszufinden, was mich erwartete. Langsam drehte er sich zu mir um und meinte mit einem charmanten Lächeln, „wenn ich es bis am Mittag hätte, wäre es super“. Ich spürte wie eine kalte Wut in mir aufloderte. Doch ich holte tief Luft bevor ich so ruhig wie nur möglich feststellte, „ich brauche dafür aber mindestens einen halben Tag.“ „Ich habe aber nach dem Mittag eine Sitzung, bei der ich diese Präsentation brauche“, meinte er nur lapidar, drehte sich um und verschwand in seinem Büro. Kam ihm dieser Mist denn nicht früher in den Sinn? Wozu hatte er einen Kopf auf dem Hals? Naja, vielleicht war der doch nur zum Haareschneiden da. Hatte ich eigentlich schon immer vermutet. Am liebsten hätte ich ihm meine ganze Arbeit, die auf dem Pult lag, hingeschmissen und geschrien, dass er dafür meine Arbeit machen könne. Aber ich riss mich zusammen, holte nochmals tief Luft und murmelte vor mich hin, „ich tue was ich kann“.

Das tat ich auch. Mir blieb nichts anderes übrig, als den Mittag über durch zu arbeiten. Zum Glück war bereits Donnerstag! Ich konnte das Wochenende kaum noch erwarten. Wie ich geahnt hatte, wurde ich nicht rechtzeitig fertig. Da meinte der Chef nur, „ist nicht so schlimm, dann zeige ich diese Zahlen an der Sitzung von nächster Woche.“ Oh Gott! War ich im Irrenhaus gelandet? Knurrend wandte ich mich ab und widmete mich wieder meinen liegengebliebenen Aufgaben, in der Hoffnung, dass nicht so bald ein nächster Störenfried kommen würde. Fleissig wühlte ich mich weiter durch meine inzwischen riesigen Stapel von Arbeit. Um bald 15.00 Uhr genehmigte ich mir dann endlich mein Mittagessen, ein Schinkensandwich. Als endlich Feierabend war, waren die Berge von Arbeit noch genauso hoch, wenn nicht noch höher, als am Morgen. Manchmal kam ich mir vor wie Sisyphus und zweifelte echt an meiner Speditivität. Trotzdem verliess ich das Büro pünktlich. Ich konnte und wollte nicht Tag und Nacht arbeiten. Also, können eigentlich schon, da musste ich ehrlich sein. Wer sollte mich schon davon abhalten. Aber wollen? Definitiv nicht. Natürlich fragten mich meine Arbeitskollegen manchmal, ob sie mir etwas helfen könnten. Das lehnte ich jedoch kategorisch ab und machte sie darauf aufmerksam, dass sie mir lieber nicht so viele Fragen stellen sollten, dann würde ich auch ihre Hilfe nicht benötigen. Doch leider hatten sie dafür kein Musikgehör. Im Auto schaute ich müde auf mein Handy, bevor ich losfuhr. Regula, eine meiner zwei Kolleginnen, hatte mir eine SMS geschickt und dies bereits am Mittag. Ob ich Lust auf einen Feierabendkaffee hätte? Aber natürlich hatte ich! Nach diesem Tag war das genau das Richtige. Schnell schrieb ich ihr zurück und hoffte, dass es doch noch klappen würde, obwohl ich mich erst jetzt meldete. Es war eine schlechte Angewohnheit von mir, nicht regelmässig aufs Handy zu schauen oder es einfach irgendwo hinzulegen und zu vergessen. Weil ich mich oft nicht schnell genug gemeldet hatte, hatte ich schon manchen Streit heraufbeschworen. Aber ich wollte mich einfach nicht von so einem kleinen Elektronikding abhängig machen. Wenigstens war da Regula zuverlässiger, denn schon kam eine Antwort zurück. Natürlich war ich froh darüber, wusste ich jetzt so schnell Bescheid. 20.00 Uhr im Café zum Stamm. Ein Café, das am Abend auch eine Bar hatte und unser Stammlokal war. Aber bevor ich nach Hause fuhr, musste ich dringend noch beim Einkaufscenter vorbei. Dort war es erstaunlich ruhig und ich füllte meinen Korb in kürzester Zeit mit jeder Menge Esswaren, Toilettenpapier und Putzmittel. Ich brauchte dringend noch ein Haarshampoo und entschied mich nicht für das für fettiges Haar, sondern lieber das für mehr Volumen. Grinsend überlegte ich mir, dass die Bezeichnung ‚für fettiges Haar‘ oder ‚für juckende Kopfhaut‘ nicht sehr verkaufsfördernd war. Mein Korb war schlussendlich derart voll, man hätte nicht meinen können, dass das alles nur für einen Ein-Personen-Haushalt war. Als ich den schweren Korb an der Kasse abstellte, war nur eine Person vor mir. Super, dann würde ich bald zu Hause sein, konnte noch ruhig die Einkäufe versorgen und mich dann parat machen. Doch dann ging die Warterei los. Zuerst hatte die Frau vor mir die Äpfel nicht gewogen. Also stand die Kassiererin gemütlich auf und erledigte das. Die Kundin lächelte mich entschuldigend an und ich lächelte zähneknirschend zurück. Ich spürte ein Kribbeln der Nervosität in den Beinen. Dann ging die Suche nach der Kundenkarte los. „Irgendwo habe ich sie, nur einen Moment noch“, meinte die Frau zur Kassiererin und wühlte wild in ihrem Portemonnaie. Die hätte sie doch suchen können, während die Verkäuferin die Äpfel wägen gegangen war, dachte ich wütend und das Kribbeln breitete sich auf meinen Oberkörper aus. Dann zahlte sie den Betrag und suchte die Münzen bis auf den letzten Rappen heraus. Dabei erwischte sie immer wieder ein falsches Geldstück, so dass es eine unglaubliche Klauberei war, bis die gute Frau den Betrag beisammen hatte. Das Kribbeln verspürte ich nun im ganzen Körper. Innerlich stampfte ich mit dem Fuss und stiess die wildesten Flüche aus. Ich sah mich schon bis zum jüngsten Tag hier stehen, doch dann kam ich endlich doch noch an die Reihe. Äusserlich ruhig und mit einem strahlenden Lächeln begrüsste ich die Kassiererin. Aber in dem Moment war auch noch die Rolle für die Kassenbons leer. Mit einem ebenso strahlendem Lächeln und einer unglaublichen Ruhe wechselte die Kassiererin diese nun aus, was natürlich nicht reibungslos von statten ging. Am liebsten wäre ich schreiend herausgerannt. Doch was hätte das nur für einen Eindruckt gemacht? Und wenn ich diese Tortur schon bis hierher geschafft hatte, wollte ich hier nicht ohne meine Einkäufe raus. Dann war es endlich soweit. Hoffte ich zumindest. Gemütlich zog die Kassiererin Stück für Stück über den Scanner. Dann fragte sie mich immer noch lächelnd nach der Kundenkarte, ob ich vielleicht die Marken für irgendeine Aktion sammeln würde, ob ich einen Plastiksack möchte und ob sie mir den Kassenbon geben solle. Nur zu Letzterem sagte ich ja, packte schnell meine Einkäufe ein und verliess fluchtartig den Laden, in der Angst, dass mich doch noch etwas aufhalten könnte.

Kapitel 3

Zu Hause verstaute ich schnell meine Einkäufe und wollte mich dann für den Ausgang fertig machen. Völlig ratlos stand ich jedoch in der Unterwäsche vor meinem überfüllten Kleiderschrank. Zuerst schleppte ich zu meinen dunkelblauen Jeans ein rotes Shirt hervor. Das war jedoch zu grell. Das schwarze Oberteil mit dem riesen Ausschnitt war zu gewagt und der dunkelbraune Rollkragenpullover zu langweilig. Herrje, die Zeit verging wie im Fluge und ich hatte nichts anzuziehen. Das heisst, ich hatte schon, ich wusste nur nicht was. Wieso war es nur so schwierig aus einem überfüllten Schrank das passende Outfit zusammenzustellen? Ich ging doch nur für einen Kaffee aus und nicht um zu heiraten, tadelte ich mich. Entnervt und weil ich keine Zeit mehr hatte, entschied ich mich kurzerhand für ein schwarzes T-Shirt und darüber ein ebenfalls schwarzes Jäckli, dazu trug ich ein paar rote, grosse Ohrhänger, die von meinen offenen Haaren halb verdeckt wurden. Noch ein Spritzer Parfum, Notte von Bulgari, in den Ausschnitt und dann schnell in den Mantel, zum Schmuck passend einen roten Schal um den Hals, die hochhackigen Stiefel anziehen und los ging’s. Regula wartete bereits vor dem Café als ich endlich angestöckelt kam. Strahlend gab sie mir drei Küsschen und meinte, dass ich grossartig aussehe. Von ihr nahm ich dieses Kompliment gerne entgegen. Bei anderen wurde ich immer verlegen, denn ich war mir nie sicher, wie ernst es gemeint war. Ich gab das Kompliment zurück. Denn sie sah wie immer umwerfend aus, mit ihren langen glänzenden, blonden Haaren, den strahlend blauen Augen und der beneidenswerten Figur. Ein kurzer camelfarbener Rock betonte ihre langen schlanken Beine, die noch länger schienen durch die hohen dunkelbraunen Stiefel mit High Heel-Absätzen. Unter ihrer dunkelbraunen Steppjacke trug sie einen hautengen ebenfalls dunkelbraunen, Rollkragenpullover. Während sie im Café ihre Jacke auszog, wurde sie von allen anwesenden Männern begafft. Mich jedoch würdigte niemand eines Blickens, was für mich in Ordnung war. Jede Art von Aufmerksamkeit war mir unangenehm. Die überliess ich gerne den anderen. Aber am liebsten Regula. Kaum hatten wir uns gesetzt, erzählte sie mir strahlend, dass sie ihren absoluten Traummann kennengelernt hatte. Innerlich verdrehte ich die Augen. Nicht schon wieder! Diesen Spruch brachte sie so in etwa alle zwei Monate. Sie war immer auf der Suche nach der grossen Liebe, dem perfekten Mann, aber seltsamerweise hielt es keiner lange bei ihr aus. Vielleicht lag es daran, dass sie mit ihren jeweiligen Freunden jede Minute ihres Lebens verbringen wollte. Platz für Freiräume gab es bei ihr keine. Dann machten die Männer Schluss mit der Begründung, sie müssten sich zuerst selber finden oder mit sonst irgendeiner blöden Ausrede. Dann konnte ich Regula wieder aufbauen, bis sie den nächsten ‚Traummann‘ gefunden hatte. Nun war es also wieder einmal so weit. „Er heisst Markus, ist 28 und arbeitet als Marketingchef in einer grossen Firma“, begann sie mit ihrer Schwärmerei. „Er ist gross und dunkelhaarig und sieht einfach fantastisch aus. Am Wochenende werde ich mit ihm einen Fussballmatch besuchen.“ Mir klappte der Kinnladen runter. „Du und Fussball? Das ist mir jetzt das Neuste“, entgegnete ich ganz entgeistert. Das war wieder einmal typisch Regula. Lernte sie einen Typen kennen, der Rockmusik toll fand, hörte sie nur noch Rockmusik und Rockmusik war das Grösste. Bis zum nächsten Freund, der Klassik liebte. Dann war für sie Klassik das Grösste, obwohl sie normalerweise mit klassischer Musik überhaupt nichts anfangen konnte. Und jetzt Fussball. Ausgerechnet Fussball! Als ich ihr einmal voller Begeisterung von einem Match erzählte, fuhr sie mir mit den Worten, „das interessiert mich überhaupt nicht!“ über den Mund. „Ich freue mich riesig darauf“, fuhr sie fort, ohne auf meinen Einwand einzugehen. „Bereits morgen treffen ich ihn wieder. Wir wollen zusammen essen gehen, ganz romantisch. Und am Samstag ist dann der Match.“ Sie holte ihr Handy heraus und zeigte mir auf Facebook ein Foto von diesem Markus. „Nett sieht er aus“, bemerkte ich. Einen ziemlichen Durchschnittstypen, fand ich jedoch in Wahrheit. Aber es war natürlich schwierig, jemanden anhand eines Fotos zu beurteilen. „Wo hast du ihn denn kennengelernt?“ wollte ich nun wissen. „Das war süss. Wenn ich mit dem Bus zur Arbeit fahre, steigt er immer bei der Haltestelle, bei der ich aussteigen muss, ein. Vor einer Woche hat er mich dann angesprochen und ich habe ihm meine Nummer gegeben. Natürlich habe ich nicht gedacht, dass er sich meldet. Oder vielleicht irgendein Spinner ist. Doch dann rief er mich noch am selben Abend an. Tja, und nun sind wir dabei, uns näher kennenzulernen“, meinte sie und breitete dabei theatralisch die Arme aus und hob entsprechend die Augenbrauen. Meine Frage hatte ihr leider auch das Stichwort für ihr Lieblingsthema gegeben. Bereits zum zweiten Mal am heutigen Tag musste ich mich zusammenreissen, um nicht schreiend davon zu laufen. „Du brauchst unbedingt auch einen Freund“, begann sie den mir altbekannten und so verhassten Sermon. Wertend glitten ihre Augen über die anwesenden Männer. „Wie wäre der dort?“ Sie zeigte auf einen kleinen, schlaksigen Typ mit Brille und blondem schütterem Haar. „Der ist sicher nett, was meinst du?“ Dauernd wollte sie mir irgendwelche seltsamen Männer aufschwatzen. Optisch hätte er nicht besser zu mir passen können: unscheinbar und irgendwie hässlich. Aber wie konnte ich von hier aus beurteilen, was für einen Freund er abgeben würde? Er war ja vielleicht nett, hatte gute Manieren, einen etwas schrägen Humor und würde mich respektvoll behandeln, was mir alles sehr wichtig war. Doch ich hasste es, wenn Regula versuchte, mich wie eine Kuh auf dem Viehmarkt zu verschachern. Das mochte ja heutzutage mit den ganzen Singlebörsen gang und gäbe sein, aber ehrlich gesagt wollte ich mir einen Mann doch lieber selber aussuchen, und zwar ohne zahlen zu müssen oder verkuppelt zu werden. Ich hatte doch auch noch meine Würde. Entnervt schüttelte ich nur den Kopf. „Welcher würde dir denn gefallen?“ bohrte sie weiter. „Keine Ahnung.“ Ich zuckte die Schultern. Woher sollte ich wissen welcher nett ist und welcher nicht? Der schönste Mann konnte ein Arsch mit Ohren sein und der hässlichste konnte ein ganz toller Typ sein. Bevor ich die Menschen beurteilen konnte, musste ich sie immer zuerst näher kennenlernen. Da aber meine Menschenkenntnisse nicht die besten waren, sehr gut kennenlernen. „Kannst du bitte das Thema endlich lassen?“ bat ich enerviert. „Okay, okay. Tut mir ja leid. Aber kennst du denn keinen der etwas für dich wäre?“ Müde schüttelte ich wiederum den Kopf und verdrehte die Augen. Diese Diskussion hatten wir schon so oft, langsam war ich es leid. Wie konnte ich ihr nur verständlich machen, dass ich alleine glücklich war? Dass ich die ganzen Termine, Familienreffen und was weiss ich noch alles, was so eine Beziehung mit sich zieht, nicht wollte? Ich war ein sehr fauler und festgefahrener Mensch. Eine Beziehung passte einfach nicht in mein Lebenskonzept. Also das Hauptproblem war wahrscheinlich, dass ich gar kein Lebenskonzept hatte. Weder eine Beziehung zu führen, noch Kinder zu haben, konnte ich mir vorstellen. Allein der Gedanke daran machte mir Angst. Kinder waren so unberechenbar und unberechenbare Dinge waren mir unheimlich. Wenn ich dann Frauen oder auch Männern meine Gedanken offenbarte, starrten sie mich meistens entsetzt an und fragten mich, wie ich nur so eine negative Haltung gegenüber Kindern haben könnte. Einige argumentierten sogar, ich sei doch selbst auch mal ein Kind gewesen. Doch das war natürlich nicht zu vergleichen mit selber Kinder haben. Kind zu sein konnte man sich nicht auswählen, Kinder zu haben jedoch schon. Meine Gedanken wurden von Regula unterbrochen. „Eine SMS von Markus! Er fragt, ob ich ihn heute Abend noch treffen möchte.“ Immerhin liess sie jetzt vom Verkuppeln ab und ich war Markus sehr dankbar für seine SMS. „Was soll ich antworten?“ fragte sie mich aufgeregt, als wäre es ihr erstes Date. „Was willst denn du?“ fragte ich ganz nüchtern zurück. „Ich würde ihn ja sehr gerne treffen, aber müsste ich ihn nicht etwas zappeln lassen?“ „Das ist gar keine schlechte Idee“, erwiderte ich überrascht. Ausgerechnet Regula schlug so etwas vor. Normalerweise gab es für sie kein Halten, wenn es um Männer ging. „Schreib doch einfach, dass du heute nicht kannst, dich aber sehr auf morgen Abend freust.“ Nickend tippte sie ein, was ich ihr diktierte. „Sollte ich nicht sonst noch was schreiben?“ „Nein, schick es ab.“ Dann ging das Warten auf die Antwort los. Es war immer amüsant, wenn ich ihr Beziehungstipps gab, obwohl ich darin überhaupt keine Expertin war. Aber seltsamerweise hörte sie auf mich und meistens waren meine Tipps gar nicht so schlecht. Anderseits hatten sie bis jetzt noch keine ihrer Beziehungen auf längere Zeit retten können. Vielleicht waren sie also doch nicht so gut. Aber für den menschlichen Teil war ich ja zum Glück nicht zuständig, nur für den theoretischen. „Eine Antwort!“ „Los, lies vor, was schreibt er?“ fragte ich neugierig. „Schade, hätte mich echt gefreut, dich zu sehen… Kuss und Gruss Markus.“ Gut, er war wenigstens keiner von denen, die hartnäckig weiterbohrten, wenn man sie auf Distanz hielt. Das machte ihn mir schon sympathischer. „Vielleicht hätte ich doch nicht absagen sollen“, zweifelte nun Regula, da er scheinbar enttäuscht war. „Soll ich nicht nochmals schreiben?“ „Nein, du lässt ihn jetzt zappeln, wie verabredet!“ erwiderte ich energisch. Danach liessen wir das Thema Markus beiseite und lästerten über die Gäste im Café. Eine Frau sah mit ihren Schlangenlederhosen und dem leopardengemusterten Oberteil wie eine Jagdtrophäe aus. Dann kam ein Typ mit offenem Hemd aus dem die Brusthaare herausschauten an unseren Tisch und beugte sich zu Regula runter und fragte mit einem Blick auf ihre Oberweite, „darf ich dir einen Drink spendieren?“ Mich nahm er gar nicht wahr. „Nein, danke, wir führen hier gerade Frauengespräche“, fertigte sie ihn ab und wandte sich sofort wieder mir zu. Wie ein geschlagener Hund zottelte er davon und wir grinsten einander über den Tisch hinweg schadenfroh an. Genau deshalb mochte ich Regula so gern. Sie liess einen merken, dass man ihr wichtig war. Da es ziemlich spät geworden war, brachen wir langsam auf. Nachdem ich Regula das Versprechen abgenommen hatte, sich bei mir zu melden um zu erzählen wie das Wochenende mit Markus verlaufen war, verabschiedeten wir uns. Bevor wir uns endgültig trennten, redete ich ihr nochmals ins Gewissen, Markus heute nicht mehr zu schreiben. Was sie aber wahrscheinlich trotzdem tun würde. Aber das ging mich ja eigentlich auch nichts an.

Zu Hause ging ich kurz ins Bad, putzte die Zähne und schlüpfte dann unter die Bettdecke. Ich hoffte auf eine alptraumfreie Nacht mit erholsamem und tiefem Schlaf. Träume im Allgemeinen, aber leider auch oft Albträume, gehörten zu meinem Leben, seit ich denken kann. Es gibt keine Nacht, in der ich nicht von Träumen heimgesucht wurde und oft sind es sehr unangenehme. Meine Träume können manchmal unglaublich hartnäckig sein und mich die halbe Nacht nicht richtig tief schlafen lassen. Dann erwache ich immer wieder, versuche wach zu bleiben oder mit positiven Gedanken die bösen zu verscheuchen. Doch dann verwandeln sich die positiven Gedanken wieder in Alpträume und quälen mich weiter. Manchmal kann ich kaum noch Traum und Wahrheit unterscheiden und das sind Momente, in denen ich Angst habe, ich würde von all dem noch einmal den Verstand verlieren. Meistens sind die Träume nicht einmal sehr logisch. Es ist nicht so, dass ich verfolgt, angegriffen oder gequält werde. Da werde ich zum Beispiel von einem riesigen Mühlrad in eine andere Welt gezogen, aus der ich dann nicht mehr herauskommen kann. Wie diese neue Welt ist, erfahre ich dann aber doch nicht, da ich meistens in dem Moment, schwach vor Angst, erwache, nur um dann wieder in den nächsten Alptraum hineingezogen zu werden. Manchmal werde ich mit einem seltsamen Lift in die Tiefe geführt. Wenn ich dort bin, weiss ich, dass ich nicht mehr hochkommen werde. Dann gerate ich in Panik und beim Erwachen glaube ich immer noch in diesem Schacht oder was es auch ist, zu stecken. Auch wenn ich dann wach bin, kann ich mich oft lange Zeit in meinem Zimmer nicht richtig orientieren. Verzweifelt versuche ich mir dann einen Ausweg auszudenken wie ich nun aus diesem Schacht kommen könnte. Schlimm sind auch jene Träume, bei denen ich weiss, dass ich träume und versuche zu erwachen, das jedoch nicht kann. Voller Angst, dass ich vielleicht nie mehr erwachen würde, versuche ich mich mit allergrösster Willenskraft zu wecken. Zum Beispiel in dem ich mit dem Bein zucke. Nur bin ich dann so erschöpft wenn ich endlich erwache, dass ich sofort wieder einschlafe und dieses seltsame Wachkoma wieder von vorne beginnt. Wieso das so ist, kann ich mir nicht erklären. Klar gewöhnt man sich daran. Ich wundere mich auch schon lange nicht mehr darüber, dass ich mich immer so erschöpft fühle. Trotzdem beneide ich alle Menschen, die am Abend ins Bett fallen, einschlafen und am Morgen wieder wie von den Toten erwachen. Auch heute stand mir wieder einmal eine Alptraumnacht bevor. Zuerst schlief ich lange Zeit nicht ein. Und als es dann endlich so weit war, war ich mir bewusst dass ich schlief, jedoch langsam den Verstand verlieren würde, wenn ich nicht sofort erwachen würde. Verzweifelt versuchte ich mich irgendwie zu wecken, doch diesmal funktionierte es nicht. Mich packte das kalte Grauen und dann erwachte ich kurz. Ich setzte mich auf, doch war ich viel zu müde, um mich länger wach zu halten und so schlief ich wieder ein. Und obwohl ich versuchte, sie mit schönen Gedanken zu vertreiben, gingen die Albträume weiter. Die schönen Gedanken verwandelten sich nur in schlimme, was alles noch viel beängstigender machte. Erst weit nach Mitternacht fiel ich dann endlich doch noch in einen tiefen und ruhigen Schlaf.

Kapitel 4

So war es kein Wunder, dass ich am nächsten Morgen wie erschlagen erwachte. Bevor ich mich aufraffte endlich aufzustehen, verkroch ich mich noch einmal unter der Bettdecke. Manchmal kam es mir vor, als wäre ich in einer Schlaufe gefangen, in der jeder Tag der gleiche wäre, mit kurzen Unterbrüchen durch das Wochenende. Nicht aufstehen wollen, dann doch aufstehen, ins Bad, Frühstück, zur Arbeit, Mittagessen, wieder arbeiten, nach Hause, lesen und fernsehen, jemanden treffen oder etwas erledigen, schlafen und dann alles wieder von vorne. Immer denselben Ablauf und immer dieselben Menschen um einen. Doch heute war etwas anders. Zuerst fiel es mir gar nicht auf. Ich stellte mich schlaftrunken unter die Dusch, ass mein Frühstück und dann schaute ich zum ersten Mal richtig aus dem Fenster und sah, dass es doch tatsächlich noch einmal geschneite hatte. Und das Ende April! Klar musste man in der Schweiz auch Ende April noch mit Schnee rechnen. Doch ich hatte die Nase voll vom Winter und wollte, dass nun endlich der Frühling kam. Ich zog meine, hoffentlich wasserdichten, Schuhe an und stapfte los. Die wirklich warmen Winterschuhe hatte ich bereits im Keller verstaut, da ich nicht mehr mit einem Wintereinbruch gerechnet hatte oder zumindest gehofft hatte, dass es keinen mehr geben würde. Der Schnee war nur Pflotsch und die Schuhe doch nicht wasserdicht. Die Kälte und Nässe drang durch die Schuhe und ich spürte sie an meinen Füssen. Dann begann die Suche nach meinem Auto. Es hatte ziemlich viel geschneit und da ich keinen festen Parkplatz hatte, war es schwierig, es sofort zu finden. Immer wieder die Fernbedienung des Schlüssels drückend, lief ich die Autoreihen ab, bis ich ein oranges Blinken unter der Schneedecke entdeckte. Mit dem Besen, welchen ich im Kofferraum hatte, befreite ich das Auto vom Schnee und hatte nun neben kaltnassen Füssen auch kaltnasse Hände. Während meiner Fahrt ins Geschäft klammerte ich mich ängstlich ans Steuerrad und sang laut zu meiner Queen-CD. ‚I want to break free‘, ‚who wants to live forever‘, ‚the show must go on‘ und viele weitere Songs lenkten mich von den prekären Strassenverhältnissen ab. Plötzlich bemerkte ich, dass mir ein schwarzer Audi am Hintern klebte und dauernd Lichthupe gab, da ich nicht so schnell fuhr. Hartnäckig hielt ich jedoch mein tiefes Tempo. Wegen eines solchen Idioten wollte ich nicht noch einen Unfall riskieren. Doch als ich dann zu einer Bushaltestelle kam, erbarmte ich mich, stellte den Blinker, bog vorsichtig hinein und liess ihn vorbeifahren. Mit spulenden Reifen überholte er mich und fuhr wie ein Spinner um eine Kurve. Doch als ich wenig später um die gleiche Kurve kroch, stand dort die Polizei. Sie hatte ihn herausgewinkt und nun stand das Jüngelchen, welches im Audi gesessen hatte, mit hängenden Schultern neben dem Auto und musste seine Personalien der Polizei angeben. Schadenfroh fuhr ich vorbei und grinste noch, als ich im Geschäft ankam. Dort verging mir aber das Lachen schnell. „Patrizia, kommst du mal schnell.“ „Patrizia, kannst du mir helfen.“ „Patrizia, ich habe ein Problem“, und dazwischen noch Telefongespräche und nicht zu vergessen, die Arbeit vom Vortag. Vor dem Mittag bekam ich eine E-Mail von Paula, meiner anderen Kollegin. „Wollen wir heute Mittagessen gehen?“ „Aber klar. Im House?“ schrieb ich sofort zurück. Das House ist ein Restaurant, in dem es am Mittag immer ein reichhaltiges Buffet gab, mit allem was das Herz begehrte. Und zudem war es nicht so teuer. Um 11.45 Uhr verliess ich das Büro. Als ich ankam, war Paula noch nicht da, was mich nicht verwunderte. Paula hatte die schlechte Angewohnheit immer zu spät zu kommen. Eigentlich müsste ich das ja wissen und mir jeweils nicht die Mühe machen pünktlich zu sein, doch mir war Pünktlichkeit wichtig und so konnte ich, einmal mehr, auf Paula warten. Leider ärgerte ich mich auch noch über ihre Unpünktlichkeit, obwohl ich es doch eigentlich wusste und mich damit abfinden müsste. Ich setzte mich an einen der noch wenigen freien Tische und bestellte mir etwas zu trinken. Ich hatte mein Glas bereits leer getrunken und war kurz davor, schon mal was vom Buffet zu holen, bevor es leergegessen war, als sie endlich doch noch auftauchte. Paula, eine kleine, stämmig Frau mit raspelkurzen schwarzen Haaren, schaute immer ein bisschen traurig drein. Ich glaube, ich hatte sie noch nie richtig herzhaft lachen gesehen. Sie gab mir zur Begrüssung drei Küsschen und entschuldigte sich, wie immer, für die Verspätung. Und ich antwortete, ebenfalls wie immer, „kein Problem“. Am Buffet beluden wir unsere Teller und während des Essens sprachen wir kurz über den Schnee, der zum Glück bereits wieder am Schmelzen war. Dann kamen wir auf unsere Lieblingsthemen zu sprechen: Musik, Bücher und Filme. Wir konnten uns stundenlang über irgendwelche süssen Schauspieler, spannenden Bücher und lausigen Filme auslassen. Heute ging es jedoch nicht stundenlang, da ich bald wieder ins Büro zurück musste. Die Arbeit wartete leider geduldig auf mich.

Zurück im Büro tat ich was ich konnte um aufzuarbeiten. Da ich nicht so viele Telefonate hatte, gelang mir das gar nicht mal so schlecht. Am Abend verliess ich nach einem, „schönes Wochenende“, zu meinen Arbeitskollegen total erschöpft das Büro. Der Schnee war in der Zwischenzeit endgültig geschmolzen. Bevor ich nach Hause fuhr, machte ich noch einen Halt bei der Bäckerei, um mir etwas für das Nachtessen zu kaufen. Unschlüssig stand ich vor der Auslage. Es war aber auch zu schwer sich zu entscheiden zwischen all den Herrlichkeiten. Schlussendlich kaufte ich ein Weissbrot und eine Nussstange. Wie jeden Freitag hatte ich Mühe einen Parkplatz zu finden. Als mir die Sucherei zu blöde wurde, stellte ich mein Auto auf einen ‚blaue Zone‘ Parkplatz, stellte die Karte und merkte mir vor, am nächsten Morgen das Auto umzustellen, bevor ich eine Busse bekommen würde. In der Wohnung befreite ich mich endlich von meinen immer noch etwas feuchten Schuhen und Socken. Meine kalten Füsse stellte ich in der Dusche unter heisses Wasser, damit sie wieder auftauen konnten. Als sie wieder einigermassen spürbar waren, und von der ungewohnten Wärme nicht mehr kribbelten, zog ich ein paar dicke Kuschelsocken an. Danach machte ich mir mit dem frischen Weissbrot zwei feine Sandwiches mit Salami und Käse, nahm noch ein Himbeerjoghurt aus dem Kühlschrank und setzte mich vor den Fernseher. Während ich ass, schaute ich mir ein paar alte Folgen der Serie ‚Supernatural‘ auf DVD an. Die zwei Brüder schlugen sich mit Dämonen, Engel und Geister herum, und ich sass ganz gebannt vor dem Fernseher und war froh, gab es all diese Wesen in Wirklichkeit nicht. Danach rauchte ich gemütlich meine obligate Wochenendzigarette. Nur an den Wochenenden oder aber auch mal nach einem guten Essen griff ich zur Zigarette. Oft bekam ich zu hören, dass ich es doch so ganz sein lassen könnte, doch dafür liebte ich diese gemütlichen Momente viel zu sehr. Zudem hatten meine Versuche aufzuhören, die ich schon ein paar Mal unternommen hatte, nicht geklappt. Die Lust nach einer Zigarette war mit der Zeit doch zu gross geworden und ich rauchte wieder eine, was zu einer zweiten führte und so weiter bis ich wieder bei meinem alten Rauchverhalten angelangt war. Rauchend schaute ich zufrieden auf die Strasse, sah die Leute vorbeigehen und spürte plötzlich einen Hauch von Frühling, obwohl es eben erst noch geschneit hatte. Ein ungeahnter Übermut packte mich und ich freute mich auf dieses Wochenende, an dem ich meine ganze freie Zeit nur für mich hatte. Nachdem ich das schmutzige Geschirr in die Geschirrspülmaschine eingeräumt hatte, legte ich mich wieder aufs Sofa, schaltete jetzt jedoch das Radio ein und liess mich von der Musik berieseln. Leise sang ich bei den mir bekannten Songs mit. So verging die Zeit. Um 20.15 Uhr schaltete ich wieder den Fernseher ein, um eine Liebeskomödie zu schauen. Normalerweise langweilten mich diese oberflächlichen Filmen, die immer nach dem gleichen Muster abliefen: Unscheinbare, sympathische Frau lernt einen unwiderstehlichen, beliebten und sehr charmanten Typen kennen. Die beiden kommen zusammen, es gibt jedoch irgendein Missverständnis, ein riesen Theater, sie trennen sich, doch am Schluss kommen sie wieder zusammen und alle sind glücklich. Eigentlich total daneben und ziemlich an der Realität vorbei. Das weiss man am besten, wenn man selbst eine von diesen unscheinbaren Frauen ist, und von den hübschen Männern kaum beachtet wird und schon gar nicht als Freundin in Betracht gezogen wird. Doch heute Abend war ich genau in der richtigen Stimmung für einen solchen Film. Zudem war dieser wirklich lustig. Zu meinem eigenen Erstaunen, machte sich bei mir eine bisher nicht bekannte romantische Ader bemerkbar. Um halb elf zog ich meinen Pyjama an, legte mich ins Bett und liess noch das Radio im Sleep-Modus für eine halbe Stunde laufen. Mit geschlossenen Augen, die Musik im Hintergrund, hing ich meinen Gedanken nach. Plötzlich durchzuckte mich ein Gedanke. Ich hatte einem Kunden versprochen etwas abzuklären und das hatte ich total vergessen. So ein Mist! Wieso musste mir das ausgerechnet jetzt in den Sinn kommen? Am Montagmorgen musste ich das unbedingt sofort erledigen. Hoffentlich vergass ich es nicht wieder. Damit das nicht geschehen konnte, stand ich nochmals auf, ging in mein Büro, nahm dort einen Fresszettel und machte mir eine entsprechende Notiz. Aber wahrscheinlich würde mich dieser Gedanke sowieso das ganz Wochenende nicht mehr in Ruhe lassen. Als pflichtbewusste Person hasste ich es, wenn ich etwas vergessen hatte. Als Letztes wollte ich, dass ein Kunde wegen mir verärgert sein würde. Zurück im Bett beschäftigte mich der Gedanke weiter, trotzdem wurde ich langsam wieder schläfrig. Das ‚Plopp‘ des ausschaltenden Radios weckte mich jedoch wieder auf und der Gedanke an den vielleicht verärgerten Kunden kam mir wieder voll ins Bewusstsein. Tief ein- und ausatmend versuchte ich, wieder zur Ruhe zu kommen. Dann legte ich mich auf die linke Seite und hoffte, so besser einschlafen zu können. Diese Nacht blieben die Albträume aus. Dafür geschah etwas anderes Unangenehmes und im Nachhinein hätte ich die Albträume mit Handkuss genommen.

Kapitel 5

Fest in meine Bettdecke eingemummelt träumte ich, dass mein Chef mich rief. Immer und immer wieder. Obwohl ich die ganze Zeit fragte, was er denn von mir wolle, rief er einfach hartnäckig weiter. Plötzlich merkte ich, dass das gar kein Traum war. Es rief tatsächlich jemand meinen Namen. Wie versteinert lag ich im Bett und getraute mich kaum zu atmen. Mein Körper fühlte sich ganz kalt und steif an vor Schreck. „Patrizia“, lockte die Stimme wieder. Es war eine Männerstimme. Ich hielt den Atem an, versuchte es zumindest, denn vor Angst konnte ich nur keuchen. Mir taten alle Muskeln weh, so verkrampft lag ich da, in der Hoffnung, einen schlafenden Eindruck zu erwecken. Was zum Henker wollte ein Mann mitten in der Nacht in meinem Schlafzimmer? Wie war er hereingekommen? Und wieso rief er dauernd meinen Namen? Als es einen Moment ruhig war, versuchte ich mir einzureden, dass es doch nur ein Traum gewesen war und ich mir alles eingebildet hatte. Leider nein. „Patrizia“, begann die Stimme von neuem, „du brauchst keine Angst zu haben. Ich weiss, dass du wach bist.“ „Oh Gott, bitte hilf mir, lass mich aufwachen“, betete ich, doch ich war zweifellos bereits wach. „Bitte Patrizia, sieh mich an und hab keine Angst“, versuchte es die Stimme erneut. Die Stimme klang eigentlich sehr angenehm. Sie war tief und ruhig. Nicht erregt wie die eines Sexualverbrechers, hysterisch wie die eines Spinners oder aggressiv wie die eines Einbrechers. Immerhin hatte er mich noch nicht angefasst oder war zu mir ins Bett gestiegen Das war schon mal ein gutes Zeichen. Doch was sollte ich bloss tun? Scheinbar würde er nicht verschwinden, ehe ich ihn angesehen hatte. Da jetzt an Schlaf sowieso nicht mehr zu denken war, konnte ich mich wenigstens mal umdrehen. Trotz meiner riesigen Angst stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn ich jetzt einfach wieder einschlafen würde und er die ganze Nacht meinen Namen rufen würde. Bei diesem Gedanken musste ich lächeln. Wahrscheinlich war ich kurz davor hysterisch zu werden. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich die ganze Zeit die Augen fest zugekniffen hatte. Denn als ich sie nun öffnete, fiel mir auf, dass im Zimmer Licht brannte. Schnell machte ich sie wieder zu, da das Licht in meinen Augen schmerzte. Vorsichtig öffnete ich sie wieder einen Spalt breit, um mich an die Helligkeit zu gewöhnen. Dann drehte ich mich langsam auf den Rücken und sah den Eindringling an. Der Mann stand am Bettende. Komischerweise kam mir als Erstes das Märchen der Gebrüder Grimm in den Sinn, bei welchem der Tod am Bettende stand, wenn der Patient noch zu retten war und am Kopfende, wenn nichts mehr zu machen war und der Tod ihn holen würde. Das musste doch ein gutes Omen sein, versuchte ich mich zu beruhigen. Als zweites fiel mir mit Schrecken ein, dass ich meinen hässlichen, karierten, alten Pyjama anhatte. Ich war total durch den Wind. Aber wie oft hatte man schon mitten in der Nacht unerwarteten Männerbesuch? Ich zum Glück normalerweise nie. Erst dann nahm ich den Mann richtig wahr. Er war sehr gross, muskulös, hatte kurze schwarze, lockige Haare und dunkle Augen. Sein Gesicht war hübsch, jedoch ausdruckslos. Er schaute mir ernst direkt in die Augen, was mich durcheinanderbrachte. Dann sagte er wieder, „Patrizia, du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin hier, um dir ein Angebot zu unterbreiten. Du hörst dir alles an, was ich dir zu sagen habe, dann kannst du entscheiden ob du es annehmen willst oder nicht. Wenn nicht, werde ich dafür sorgen, dass du all dies hier wieder vergisst. Dass es für dich am Morgen einfach nur ein seltsamer Traum war, an den du dich kaum noch erinnern kannst.“ „Ist das alles ein schlechter Witz?“ unterbrach ich ihn. Einerseits fühlte ich Panik aufsteigen, anderseits eine seltsame Ruhe, die mir fast noch mehr Angst machte, als die Panik. Es kam mir vor, als wäre ich in einem schlechten Film gelandet. Oder würde doch noch träumen. Oder hatte nun endgültig den Verstand verloren. Vielleicht war er aber doch ein Psychopath, ein sehr hübscher und anständiger wohlverstanden, der da vor mir stand. Aber wer konnte schon wissen, wie ein Psychopath war? Die hatten das ja nicht auf die Stirn tätowiert. „Hör mir bitte zuerst einmal zu.“ Sein Ton wurde eine Spur schärfer und der Gesichtsausdruck wütend. „Die Erde ist in Gefahr“, fuhr er fort. „Oberhalb der Erde, in einer anderen Atmosphäre des Himmels, gibt es ein Land, ich nenne es jetzt mal Skyland, obwohl es in meiner Sprache anders heisst. Den Bewohnern sagen wir mal die Bösen. Diese haben die Macht, über die Psyche der Menschen Besitz zu ergreifen. Im Positiven wie auch im Negativen. Natürlich war das bis jetzt nie ein Problem, lebten wir in unserem Land, ohne dass die Erdenbewohner etwas von unserer Existenz mitbekommen haben. Doch nun wollen die Bösen die Erde zu ihrem ganz eigenen Forschungslabor machen. Sie bauen biologische Bomben, mit denen sie die Psyche der Menschen negativ beeinflussen können. Unbemerkt wird der Inhaltsstoff dieser Bomben über die Erde verteilt, in den Organismus gelangen und somit in die Körper der Menschen. Auf die Natur werden diese Stoffe keinen Einfluss haben. Doch die Menschen werden davon depressiv, antriebslos, der Sinn des Lebens verschwindet, so dass sie wie Marionetten zu führen sein werden. Die meisten jedoch werden ihrem Leben selber ein Ende bereiten. Wenn dies soweit ist, werden die Bösen auf die Erde kommen um das Zepter zu übernehmen.“ Bei jedem Satz war ich wütender geworden, denn nun war ich mir sicher, dass ich einen Spinner vor mir hatte. Wahrscheinlich einer von irgendeiner Weltuntergangssekte. Die hatten natürlich den Hübschesten geschickt und geglaubt, die dummen Frauen würden darauf hereinfallen. Ich konnte mir nur nicht vorstellen, was genau er bezweckte, wenn er mir das alles mitten in der Nacht in meinem Schlafzimmer erzählte. Es wäre sicher effektiver gewesen, mich an einem öffentlichen Ort anzusprechen. Der einzige Vorteil für ihn war, dass ich hier nicht so leicht abhauen konnte wie an einem öffentlichen Ort und ihm hier wohl oder übel zuhören musste. Unwirsch unterbrach ich ihn. „Ich bin nun wach genug, dass mir bewusst ist, was für einen Mist du da erzählst!“ Er machte den Mund auf, um etwas zu erwidern, doch ich fauchte ihn an, „du brichst mitten in der Nacht in meine Wohnung ein, kommst in mein Schlafzimmer, störst mich beim Schlafen, was alleine schon schlimm genug ist, und erzählst mir auch noch irgendwelchen Mist vom Weltuntergang, den ich dir wohl auch noch glauben soll!“ Wütend wie ich war, war ich mir der entwürdigenden Situation, in der ich mich befand, gar nicht bewusst. Da sass ich im Pyjama im Bett, hatte die Beine angezogen und hielt die Bettdecke fest umklammert. Das Ganze war so lächerlich und peinlich. Unwirklich. Aber ich war froh, so wütend zu sein, denn die Wut nahm mir nun die Angst. Seine Augen funkelten mich regelrecht an, als er schneidend sagte, „unterbrich mich nicht immer! Und hör endlich mal zu!“ Ich hatte den Mund bereits für die nächste Schimpftirade geöffnet, doch er hob seine Hand und gebot mir damit, endlich still zu sein. Diese Geste machte mich kraftlos und müde und so schloss ich den Mund wieder ohne etwas zu erwidern. Plötzlich mochte ich mich nicht mehr wehren. Sollte er doch seinen Mist verzapfen. Nickend wedelte ich mit der Hand, zum Zeichen, dass er mit seiner Erklärung weiterfahren könne. Lieber liess ich ihn weiter sprechen, als dass er noch wütend wurde und mich einfach abmurksen würde. Obwohl, er schien keine Waffe bei sich zu haben. Er zeigte zumindest mit keiner auf mich. „Also, wie gesagt, die Bösen von Skyland wollen die Erde für sich und wir müssen das mit aller Macht, die wir besitzen, verhindern. Um das zu schaffen, brauchen wir jedoch die Hilfe einer Frau von der Erde. Die muss den Prototyp der Bombe entschärfen und die Pläne der Bombe vernichten, wenn es soweit ist.“ „Und das soll ausgerechnet ich sein?“ platzte ich ihm doch wieder ins Wort. Das konnte ich nicht glauben. Wenn das tatsächlich wahr sein sollte, woran ich immer noch mehr als stark zweifelte, wäre ich die schlechteste Wahl, die diese Rettertruppe hatte treffen können. Dann konnte die Menschheit die Erde gleich vorher durch Atombomben vernichten. Denn mit meiner Hilfe würde die Erde ganz sicher nicht gerettet werden. Das würde ganz gewaltig in die Hosen gehen, wenn ich in so einem Fall ans Werk gehen würde. Ich war der faulste, unsportlichste, kampfuntauglichste und mimosenhafteste Mensch auf der ganzen Nördlichen Halbkugel. Wahrscheinlich sogar auf der ganzen Welt. Es war unglaublich. Ich! Eine schlimmere Wahl gab es einfach nicht. Der hatte sich in der Wohnung geirrt, da war ich mir nun ganz sicher. Oder er war doch ein Psychopath, der mir irgendeinen Floh ins Ohr setzen wollte. Oder ich träumte das alles wirklich nur, immerhin hatte ich heute wieder einmal ‚Supernatural‘ geschaut. Das schien ich jetzt in meinem Traum zu verarbeiten. Sollte das aber tatsächlich die Realität sein und er es wirklich ernst meinen, wäre dies ein weiterer Beweis dafür, dass dieser Typ nicht ganz bei Trost war. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie Zivilcourage gezeigt, mich für jemanden wirklich ernsthaft eingesetzt und schon gar nicht gekämpft. Ich war ein Weichling, der sich nie durchsetzen konnte und am liebsten immer den Weg des geringsten Widerstandes ging. Wie konnte ein Mensch, der sich vor jeder Pflicht drückte und vor jedem Problem davonlief, die Welt retten? Und so viel bedeutete mir nun die Erde mit ihren Menschen auch wieder nicht, dass ich mich dafür in Gefahr begeben würde. Das war wahrscheinlich ein weiterer Vorteil, wenn man keine Kinder hatte. Man musste sich um das Erhalten der Erde nicht so viele Gedanken machen, da man niemanden zurückliess, der weiter auf dieser Erde leben würde. „Wieso ausgerechnet eine Frau? Wieso ausgerechnet ich?“ fragte ich in die eingetretene Stille. Nur wenn ich diesen Mann weiter zum Sprechen bringen würde, könnte ich mehr herausfinden. „Wir suchen eine Frau in einem bestimmten Gebiet auf der Erde. Menschen können sich in Skyland unsichtbar machen, was uns Skyländer nur auf der Erde möglich ist. Zudem muss es eine Frau sein, weil die von den Bösen nicht wahrgenommen werden kann, im Gegensatz zu Männern. Das Gebiet ist deshalb eingeschränkt, weil der Flug von hier aus nach Skyland am nächsten ist.“ „Der Flug?“ unterbrach ich ihn ungläubig. „Hast du ein Flugzeug im Innenhof der Häuser abgestellt?“ fragte ich ihn spöttisch, um meine Unsicherheit zu vertuschen. Meine Verwirrung schien mir jedoch ins Gesicht geschrieben zu sein, denn seine Gesichtszüge entspannten sich ein bisschen, obwohl er nicht lächelte. „Nein, du wirst fliegen. Wie ein Vogel.“ „Ach, natürlich, das hätte ich fast vergessen. Irgendwo im Keller müssen ja noch meine Flügel sein“, erwiderte ich zynisch. Was für ein absurdes Gespräch führten wir hier eigentlich? Ich lag im Bett, vor mir stand ein hübscher Mann und wir sprachen über Skyland, die Bösen, fliegen. War ich noch bei Sinnen? Wieso rief ich nicht einfach die Polizei und machte dem Unfug ein Ende? Doch ich getraute mich nicht, mich zu bewegen, aus Angst, dass er vielleicht unüberlegt handeln würde, falls ich aus dem Bett stieg oder eine hastige Bewegung machen würde. Und da er mir nichts tat, immer am gleichen Fleck stand und ruhig und angenehm sprach, liess ich im Moment die Polizei noch aus dem Spiel. Meine lächerliche Antwort schien ihn nicht im Geringsten zu stören. „Solltest du dieses Angebot annehmen, werde ich dir Flügel geben, damit du fliegen kannst. Ich denke es würde dir gefallen. Und du wärst der erste Mensch, der mit Flügeln über der Erde schweben würde. Nach der Mission würdest du diese Gabe jedoch wieder verlieren.“ „Und wie lange dauert denn diese Mission?“ fragte ich zu meinem eigenen Entsetzen. Diese Frage kam schon fast einem Zugeständnis gleich, dass ich ihm diesen Mist abkaufte. „Höchstens sechs Monate. Die Bombe muss vor dem ersten Frost abgeworfen werden, damit die Giftstoffe auch sicher in die Erde und das Wasser sickern können. Bei gefrorenem Boden und Wasser wird das nämlich nicht möglich sein und die Giftstoffe würden verdunsten und wären somit nicht mehr schädlich. Zuerst wird sowieso nur ein Prototyp genau über der Schweiz, wie gesagt, ihr seid am nächsten von uns, abgeworfen. Dann wird die Reaktion getestet. Klappt alles reibungslos und ihr seid alle infiziert, werden innerhalb einer Woche die weiteren Bomben gebaut und auf den Rest der Welt abgeworfen. Das wird dann ziemlich schnell gehen. Wenn wir es also nicht schaffen die erste Bombe zu entschärfen und die Pläne der Bombe zu vernichten, wird zuerst die Schweiz und dann der Rest der Welt verloren sein.“ Du wiederholst dich, dachte ich mürrisch. Mich verwirrte das ganze Gerede. Was ist das für ein Weltverbesserer, der da vor mir steht? Hat der zu viel ferngesehen? Aber irgendwie sah er einfach nicht danach aus. Aber ich wusste auch, dass man nicht nach dem Äusseren urteilen durfte. „Und wieso ausgerechnet ich? Habt ihr keine Bessere gefunden?“ hakte ich nochmals nach. „Wir haben total fünf Frauen in dieser Region ausgewählt. Diese Frauen entsprechen alle einem bestimmten Muster. Alle sind in deinem Alter, leben alleine und haben nicht viele soziale Kontakte.“ „Ich habe aber soziale Kontakte und gehe einer festen Arbeit nach“, brauste ich beleidigt auf. Doch dann merkte ich, wie lächerlich das war. Zwei Kolleginnen und ab und zu Treffen mit den Eltern konnte man nicht gerade als viele soziale Kontakte werten. Andere hatten Dutzende. Herrje, war ich jämmerlich. „Von dieser Mission“, fuhr er ungerührt fort, ohne sich um meinen Einwand zu kümmern, „darf nur die Frau etwas wissen, die dann auch in die Mission involviert ist, damit es keine Panik gibt. Niemand sonst auf der Erde darf wissen, dass es Skyland gibt. Es war bis jetzt geheim und soll es auch bleiben. Deshalb nehmen wir nach der Mission auch das Wissen wieder weg. Das heisst, alle die mit jemanden zusammen wohnen kommen nicht infrage, da man regelmässig in der Nacht nach Skyland fliegen muss. Wie würde man das einem Mitbewohner oder einer Mitbewohnerin oder der Familie erklären? Zudem sind auch Frauen, die in Vereinen sind nicht geeignet. Ebenso mit vielen Freunden. Wie gesagt, viele soziale Kontakte sind nicht geeignet für so eine Mission, weil man sich immer verleugnen muss. Das macht es nicht einfacher. Diese Mission braucht viel Kraft, vor allem psychische. Da ist es gut, wenn man auf sich alleine gestellt ist und nicht noch Kraft für erfundene Geschichten aufbringen muss.“ „Und was ist mit den anderen vier Frauen? Eine von denen macht es bestimmt“, wandte ich hoffnungsvoll ein. Jetzt würde er sicher sagen, dass eine von denen es machen würde und ich nur Ersatz wäre. Somit könnte ich sagen, dass er den Ersatz streichen kann und wieder verschwinden dürfe. Mir schwirrte der Kopf. Einerseits erzählte er alles so überzeugend, anderseits war das alles viel zu unglaublich. Ein Land über den Wolken. Fliegen mit Flügeln. Die Bösen. Was auch immer die Bösen waren, wahrscheinlich Monster mit verfaulten Zähnen, Klauen mit langen Fingernägeln und halbvermoderter Haut. Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Eine Bombe, die heruntergeworfen würde, ohne dass es jemand merken würde und wir alle davon krank würden. Verwirrt schüttelte ich den Kopf und hoffte fest, dass er bereits eine passende Frau gefunden hatte. Er zerstörte jedoch meine Hoffnung, als er meinte, „eine der Frauen hat in der Zwischenzeit überraschenderweise einen Freund gefunden.“ „Überraschenderweise?“ fragte ich gekränkt. Glaubte dieser Typ tatsächlich, dass Frauen wie ich nie einen Freund finden würden? „Sie hat krampfhaft einen Freund gesucht und schlussendlich ihre grosse Liebe im Internet gefunden.“ Ach, das gute, alte Internet. Konnte einem doch immer wieder überraschen… „Sie zogen bereits einen Monat nachdem sie sich kennengelernt hatten zusammen und sie ist jetzt dank ihm ein aktives Mitglied in zwei Vereinen und hat viele neue Kollegen und Freunde gefunden. Somit mussten wir sie von unserer Liste streichen.“ Arme Frau, dachte ich. Grillpartys, Skiweekends und Vereinsanlässe. Der reinste Horror, wenn ich mir vorstellte, dass mir so etwas passieren würde. „Die zweite Frau zog wegen einer neuen Stelle von hier weg, kurz bevor ich ihr den Besuch abstatten konnte. Mein Schock war ziemlich gross, als ich ins Schlafzimmer kam und ein mir unbekanntes Paar bei heissem Sex überraschte.“ Sein Gesicht sah aus, als würde er lachen, doch er machte es nicht. Dafür konnte ich mir das Grinsen nicht verkneifen, als ich mir die Situation bildlich vorstellte. „Und, hat das Paar etwas von deinem Besuch mitbekommen?“ „Zum Glück nicht! Ich verschwand so schnell ich nur konnte, und das ist sehr schnell“, fügte er noch hinzu. Plötzlich wurde mir bewusst, dass das Ganze nicht lustig war und es gar keinen Grund zum Grinsen gab. Und ich vor allem nicht auch noch auf ihn eingehen sollte. Dieser Typ log mich wahrscheinlich ungeniert an „Die Dritte war wie du, ziemlich skeptisch oder besser gesagt hysterisch, als ich ihr das Angebot unterbreitete. Es ist ja eigentlich nicht verwunderlich, dass sie wie am Spiess schrie, mich einen Psychopathen nannte und dann die Polizei rufen wollte. Im letzten Moment konnte ich sie daran hindern und ihr Wissen in Träume umwandeln, so dass sie das Treffen und mich bereits wieder vergessen hatte. Und nun bin ich bei dir, meiner zweitletzten Hoffnung. Wirst du und die letzte Frau meine Anfrage ablehnen, sehe ich ziemlich schwarz für die Welt. Denn dann müssen wir das Gebiet erweitern, die ganze Sucherei von neuem starten, dann hoffentlich eine finden die es machen will und dann noch einen weiteren Anflugweg in Kauf nehmen. Das ist nicht einfach für jemand, der das erste Mal fliegt. Ich weiss nicht, ob der weite Weg geschafft werden kann. Und ein Absturz hätte, wie du dir sicher vorstellen kannst, fatale Folgen. Du wärst vom Anflug her am nächsten bei Skyland, die anderen hätten sich für die Aufgabe jedoch besser geeignet.“ Einen Moment senkte er, fast beschämt, den Blick, doch als ich ihn heftig fragte, „wieso?“ schaute er mir wieder direkt in die Augen. Was nahm sich dieser Lackaffe heraus, so über mich zu urteilen? Seine Antwort leuchtete jedoch sogar mir ein. „Sagen wir es so, die anderen wären zu mehr bereit gewesen als du. Kämpferischer, würde ich sagen.“ „Woher willst denn du das wissen?“ Natürlich hatte er genau den Nagel auf den Kopf getroffen, aber der Typ kannte mich ja gar nicht. Es war eine Frechheit, dass er einfach so abwertend über mich urteilte. „Ich habe euch fünf etwa ein halbes Jahr lang beobachtet.“ Mir lief es kalt den Rücken herunter bei der Vorstellung, dass ich tatsächlich ein halbes Jahr lang beobachtet worden war, ohne etwas davon zu bemerken. Da er mit dem Beobachten scheinbar die Wahrheit sagte, einfach so hätte er mich nicht so gut einschätzen können, zeigte mir einmal mehr, dass er wirklich ein Psychopath war. Anderseits klang alles so plausibel. Konnte sich jemand einfach so eine solche Geschichte ausdenken? Und was wollte er dann damit bezwecken? Und wieso würde er sich dann die Mühe machen mitten in der Nacht in mein Schlafzimmer einzudringen und mit mir so eine mühsame Diskussion zu führen? „Ich habe aber davon nichts bemerkt“, wandte ich kläglich ein. „Kein Wunder. Wir können uns auf der Erde unsichtbar machen. Schon vergessen?“ Nein, für Humbug abgetan, dachte ich, schwieg jedoch und nickte nur kurz. „Und wenn ich jetzt dein seltsames Angebot ablehne?“ wollte ich wissen. „Dann werde ich, wie gesagt dein Wissen in einen Traum umwandeln und am Morgen wirst du nichts mehr von alledem wissen.“ „Und wie willst du das fertigbringen?“ „Wir haben die Macht Träume zu beeinflussen. Ebenso wie wir fliegen und uns auf der Erde unsichtbar machen können.“ „Dann seit ihr so was wie Engel?“ fragte ich, nun etwas respektvoll. Entsetzt merkte ich, dass ich diese absurde Geschichte immer mehr und mehr zu glauben begann. Entweder lag es daran, dass mein Geist langsam ermüdete oder weil ich zu viel fernsah. Er hatte aber auch auf jede Frage eine plausible Antwort parat. „Nein wir sind keine Engel, auch wenn wir in einem Land oben im Himmel leben, in das niemand rein kann und wir fliegen können. Aber sonst habe ich keine speziellen Gaben. Ich kann weder Gedanken lesen, noch Tote auferstehen lassen oder das Wetter beeinflussen, noch sind wir unsterblich. Klar hat jeder von uns eine spezielle Gabe, aber nicht so, dass wir auf das Schicksal der Menschen wirklich einen Einfluss hätten. Deshalb brauchen wir auch die Hilfe eines Menschen in diesem Fall.“ Müde rieb ich mir über die Stirn und fasste nochmals zusammen: „Also, diese Mission. Ich müsste nach Skyland, das ich nicht kenne und in das ich nicht reinkomme, ausser fliegend, was ich nicht kann, dann zu den Bösen marschieren, denen ich nicht gewachsen bin, eine Bombe entschärfen, wovon ich absolut keine Ahnung habe, dann noch die Pläne holen, von denen ich weder weiss wo sie sind, noch wie sie aussehen und dann wieder herausspazieren, dir alles übergeben und dann auf die Erde zurückfliegen. Und wenn ich die ganze Geschichte überlebt und ohne grössere Schäden überstanden habe, müsste ich den Rest meiner Tage damit leben, dass ich die Welt gerettet habe und es nicht einmal jemanden erzählen darf.“ Mir schwirrte der Kopf. „Nicht ganz, als Erstes werden wir dich selbstverständlich auf deinen Einsatz vorbereiten. Und wie bereits erwähnt, wenn dann alles vorüber ist, werde ich dein Wissen in einen Traum umwandeln und du wirst keine Ahnung mehr davon haben, was du eigentlich für die Menschheit geleistet hast. Dann kannst du auch dein altes Leben wieder ganz normal weiterleben, als wäre nie etwas gewesen. Solltest du aber jemanden von der Mission erzählen, müsste ich das sofort tun und dich sozusagen vom Fall abziehen. Die Mission wäre für dich beendet und dein Wissen gelöscht. Wir wollen auf jeden Fall verhindern, dass eine Hysterie ausbrechen würde. Oder dass man sich auf der Erde bewusst ist, dass es oberhalb von euch noch ein Land gibt.“ „Und bis wann brauchst du denn eine Antwort?“ Ich legte mich erschöpft über die vielen, wirren Infos zurück aufs Bett und schloss die Augen. „Heute Nacht noch.“ Sofort riss ich meine Augen wieder auf und schnellte hoch. „Das ist doch hoffentlich nicht dein Ernst oder?“ fragte ich entsetzt. Falls das alles stimmen würde, was dieser Spinner erzählt hatte, dann käme ich etwas aus dem Alltagstrott raus, könnte endlich mal etwas Grosses leisten. Doch wäre ich dem Ganzen überhaupt gewachsen? Daran zweifelte ich sehr. Anderseits könnte ich dann fliegen, die Welt von oben sehen, etwas erleben, das vor mir wahrscheinlich noch nie jemand erlebte hatte und vielleicht auch nie mehr jemand erleben würde. Zudem könnte ich einmal in meinem Leben etwas Sinnvolles für die Menschheit tun. Sozusagen mein Beitrag zur Rettung der Umwelt, da ich ja sonst nicht sehr viel dafür tat. Aber das war doch absurd! Wie konnte ich mir über so etwas überhaupt Gedanken machen? Das musste wohl daran liegen, dass es mitten in der Nacht war und ich hundemüde. „Ich brauche einen Beweis, dass das Ganze kein Humbug ist, den du mir hier erzählst. Ich glaube dir nämlich immer noch kein Wort.“ Ich richtete mich im Bett wieder auf. „Ok“, sagte er nur und war wie vom Erdboden verschluckt. Erstaunt rieb ich meine Augen. Hatte ich das alles doch nur geträumt? Doch da stand er auch schon wieder am selben Platz wie vorhin. „Was soll das?“ entfuhr es mir. „Das ist der Beweis. Ich war unsichtbar.“ Okay, das war er unbestritten gewesen oder ich hatte Probleme mit den Augen. „Ich will noch einen Beweis fürs Fliegen“, beharrte ich weiter. „Wenn dir das bei der Entscheidung hilft“, meinte er spöttisch. Und da breiteten sich aus seinem Rücken riesige schwarze Flügel aus. Sie füllten die ganze Breite des Schlafzimmers und er sah so schön und mächtig aus. Doch dann streiften die Flügel ein Parfümfläschchen, das auf meiner Kommode stand. Es drohte zu kippen, doch mit einer blitzschnellen Bewegung der Flügel fing er es auf und stellte es zurück. Dann liess er die Flügel wieder verschwinden, wahrscheinlich um keinen grösseren Schaden anzurichten und starrte mir erwartungsvoll in die Augen. „Und? Sind das genug Beweise?“ wollte er wissen. Mein Mund stand vor Erstaunen offen. Ich brachte keinen Ton heraus. Grundsätzlich war ich ein sehr pragmatischer Mensch, aber jetzt begann ich langsam aber sicher an das Übernatürliche zu glauben. Und vor allem an seine Geschichte. Es war unbegreiflich, was ich soeben gesehen hatte. Um wieder sprechen zu können, musste ich mich räuspern. „Wow, krieg ich auch solche?“ war das Einzige, was ich im Moment rausbekam. „Ja, aber nur, wenn du bei der Mission mitmachst. Damit sie erscheinen musst du dich in die Tiefe hinunterstürzen. Du wirst sie nicht wie ich einfach benützen können.“ Ich stellte mir vor, wie es wohl wäre, wenn ich diese Dinger im Büro ausfahren würde. Die Augen meiner Arbeitskollegen möchte ich sehen. Anderseits stellte ich mir auch das Chaos vor, das ich damit wahrscheinlich anrichten würde. Also war es sicher besser, wenn ich sie nur zum Fliegen benützen konnte und nicht immer. „Und, nimmst du nun diese Aufgabe an?“ fragte er mich wieder. Was für eine Frage! Ich war als ganz normaler Mensch ins Bett gegangen und nun musste ich mich mitten in der Nacht entscheiden, ob ich die Welt retten möchte oder nicht. Es kam mir immer noch so vor, als wäre das alles ein Traum. Bei Tageslicht wäre mir eine Entscheidung sicher leichter gefallen. Aber ich musste es nun mal jetzt tun und jetzt war nun mal Nacht. Die Zweifel an der Wahrheit der Geschichte waren nur noch sehr gering. Plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf. „Könnte ich bei dieser Mission sterben?“ wollte ich mit zittriger Stimme wissen. „Vielleicht“, antwortete er nur. Mir wurde übel. „Aber wir werden dich so gut wie möglich beschützen. Die grösste Gefahr ist eigentlich, dass du dem psychischen Druck der Bösen nicht gewachsen sein wirst. Dass du vielleicht an Selbstmord zu denken beginnst. Die Bösen haben einen sehr negativen Einfluss auf die Gefühle der Menschen, können diese aber auch positiv beeinflussen, wenn es sein muss. In Skyland herrscht für Menschen jedoch eine sehr depressive Aura. Aber ich denke, durch deine Albträume bist du dich gewohnt, dich mit unangenehmen Situationen auseinanderzusetzen.“ Natürlich, er kannte meine Träume. Irgendwie peinlich. Und dann fügte er noch hinzu, „zudem wird es in spätestens sechs Monaten vorbei sein. So oder so.“ Schlimmer als die Albträume wird es also nicht sein, dachte ich wie betäubt. Und die Gewissheit, dass es auf absehbare Zeit ist, ist auch irgendwie beruhigend. Was also sollte ich tun? Ich rang mit mir. Was, wenn es böse endete? Aber es würde wahrscheinlich sowieso böse enden. Denn wenn ich nicht mitmachte, würde vielleicht die Schweiz im Herbst und die Welt bis Ende Jahr für die Menschheit nicht mehr existieren wie wir sie bislang gekannt hatten und ich würde ein psychisches Wrack oder eine Leiche sein. Ich fühlte mich wie zerrissen. Eine solch schwere Entscheidung hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie fällen müssen. Würde ich nein sagen, wüsste ich am nächsten Morgen nichts mehr davon und mein langweiliges, unspektakuläres Leben würde weitergehen. Würde ich ja sagen, würde etwas so Neues auf mich zukommen, wie ich es mir nie hatte vorstellen können. Und neue Dinge mochte ich nicht. Aber eine richtige Herausforderung würde mir sicher guttun. Das stärkt den Charakter. Nur war dies hier kein Spiel, sondern vielleicht die blutige Realität. Was also? „Wie heisst du eigentlich?“ Die Frage rutschte mir raus, bevor ich sie mir überhaupt überlegt hatte. Erstaunt schaute er mich an. Wahrscheinlich war das die letzte Frage, die er im Moment von mir erwartet hatte. „Du kannst mich Samuel nennen.“ „Und wer sind ‚wir‘?“ wollte ich nun weiter wissen. Er schaute mich fragend an. Anscheinend hatte er meine Frage nicht verstanden, denn ich präzisierte, „du sprichst dauernd von ‚wir‘. ‚Wir‘ werden dich unterschützen. ‚Wir‘ werden dich auf die Mission vorbereiten. Wer ist also ‚wir‘?“ „Aha! ‚Wir‘, das sind ich und meine vier Gefährten Matthias, Gabriel, Rafael und David. Wir sind sozusagen Abtrünnige der Bösen. Als wir von den Plänen zur Vernichtung der Menschheit erfuhren, schlossen wir uns zusammen, um dagegen anzukämpfen. Du musst wissen, dass es in Skyland nur das Böse gibt. Alle die dort leben gehören zu den Bösen. Das sind die eigentlichen Skyländer und wir gehören im Prinzip dazu. Aber wir wollen nicht, dass die Welt und die Menschheit zu Schaden kommt. Wir haben ja unser eigenes Land. Das sollte und wird uns auch reichen. Bis jetzt hat es das ja auch.“ „Das heisst, wenn die Mission auch erfolgreich beendet ist, werdet ihr weiter die Bösen sein?“ fragte ich verwundert. „Wollt ihr denn nicht ganz dagegen ankämpfen?“ „Nein. Das ist unser Land und unser Volk. Ohne die Bösen gibt es unser Land nicht. Das ist, als ob ein Mensch den Rest der Bevölkerung umbringen würde, nur damit das Böse ausgerottet wäre. Und wir wollen doch nicht unser eigenes Land zerstören.“ Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Das war für mich irgendwie einleuchtend und doch unverständlich. Wie konnte man gegen etwas ankämpfen und am Schluss doch alles beim Alten lassen? „Wir machen diese Mission nur für die Menschheit. Danach werden wir uns wieder in unser Land zurückziehen und die Erde in Ruhe lassen. Ihr könnt dann weiter eure Kriege führen, einander abschlachten, belügen und betrügen. Das geht uns dann nichts mehr an.“ Er sagte das alles nicht böse oder herablassend, sondern einfach ganz neutral. Also war diese Mission zur Rettung einer hoffnungslosen und bereits verlorenen Welt gedacht? Lohnte es sich wirklich dafür zu kämpfen? Meine Entscheidung fiel mir immer schwerer. Doch plötzlich wurde mir bewusst, dass ich eigentlich nichts zu verlieren hatte. Zudem war ich müde und wollte endlich wieder schlafen. „Samuel, ich werde euch helfen“, sagte ich und hoffte einfach, dass ich meine Entscheidung nicht sofort bereuen würde. Sein Gesicht, seine Augen strahlten vor Freude, doch er lächelte immer noch nicht. Er sagte einfach nur, „danke“. „Und wie geht es nun weiter?“ wollte ich wissen, da das Ganze nun ins Rollen kam. „Ich werde dich morgen Abend besuchen, dann werden wir mit dem Fliegen-Üben beginnen. Wenn das gut klappt, ich habe bis jetzt noch keinem Menschen das Fliegen beigebracht, werden wir nächste Woche nach Skyland fliegen. Dort werden wir mit den anderen das weitere Vorgehen besprechen.“ „Okay“, antwortete ich aufgeregt und war mir sicher, den Rest der Nacht, die nicht mehr sehr lange dauerte, kein Auge mehr zuzutun. Ich nahm an, dass er jetzt wieder verschwinden würde. Doch zu meinem Erstaunen und Entsetzen kam er langsam auf mich zu. „Was hast du denn noch vor?“ wollte ich panisch wissen, denn er streckte seine Hand nach mir aus. Um seiner Hand auszuweichen liess ich mich aufs Kissen zurückgleiten, doch er berührte mich nur sanft an der Stirn. Seine Hand war warm und trocken und fühlte sich sehr angenehm an. Er schloss dabei die Augen und verharrte kurz in dieser Position. Dann öffnete er sie wieder, zog seine Hand weg und in dem Moment fühlte ich eine bleierne Müdigkeit, die über mich kam. Mir fielen die Augen zu und dann war ich auch schon eingeschlafen.

Kapitel 6

Als ich am nächsten Morgen erwachte fühlte ich mich seit langem wieder einmal ausgeruht und voller Tatendrang. Seltsamerweise dachte ich nicht einen Moment an die Geschehnisse der Nacht. Einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, etwas Komisches geträumt zu haben. Aber ich fühlte mich so gut, dass ich mir darüber keine Gedanken machte. Beschwingt drückte ich auf die Play-Taste des Radios und überlegte während ich noch im Bett lag, wie ich den heutigen Tag verbringen könnte. Nachdem ich aufgestanden war, stellte ich mich unter die Dusche und sang lauthals ‚Back for good‘ von Take That, das zuvor im Radio gespielt worden war und mir nun nicht mehr aus dem Kopf ging. Mir fiel auf, dass die Sonne schien und die Temperaturen gestiegen waren. Zum Glück, denn noch mehr Schnee hätte ich nicht ertragen. Ich zog eine bequeme Jeans, ein rotes Shirt und eine leichte Jacke an, schlang mir einen farbigen Schal um den Hals und schnürte meine Turnschuhe zu. Einen Blick in den Spiegel sagte mir jedoch, dass der Schal etwas zu grell war zu meinem roten Shirt und so band ich den schwarzen um. Doch der passte irgendwie auch nicht zum schönen Frühlingswetter, also wechselte ich den Schal nochmals und nahm diesmal einen weissen. Heute war mir nicht nach schwarz zumute. Auf dem Weg zur Bäckerei schien mir die Sonne ins Gesicht und ich genoss es in vollen Zügen wieder einmal Vitamin D zu tanken. In der Bäckerei kaufte ich den halben Laden leer, einen solchen Hunger hatte ich. Wieder zu Hause sortierte ich als Erstes meine Wäsche, stellte die Waschmaschine an und machte mich dann hinter das Frühstück, das nun schon eher ein Brunch war, mit dem frischen Brot, Käse, Salami und Müesli. Dazu hörte ich eine CD von Michael Bublée und genoss den Gedanken, noch fast das ganze Wochenende vor mir zu haben. Nachdem ich gemütlich eine Zigarette geraucht hatte, konnte ich bereits die zweite Waschmaschine füllen und die Wäsche der ersten im Tumbler trocknen lassen. Vor mich hin summend nahm ich den Staubsauger zur Hand und putzte bis in die hintersten Ecken meine Wohnung. Das war dringend notwendig. Mir flogen die Fusel nur so entgegen und ich hatte das Gefühl, in einer einzigen Staubwolke gelebt zu haben. Durch die weit geöffneten Fenster kam frische Frühlingsluft und das Zwitschern der Vögel. Ich fühlte mich glücklich und beschwingt. Erst als ich den Staubsauger wieder in den Schrank zurückstellen wollte, stutze ich. Irgendetwas war doch gestern Nacht geschehen? Aber was? Nach kurzem Grübeln kam mir das Geschehen der vergangenen Nacht wieder in den Sinn. Mir brach der kalte Schweiss aus und einen Moment stand ich wie zur Salzsäule erstarrt da. Wie hatte ich das nur vergessen können?! Hatte ich das nur geträumt oder war es tatsächlich wahr gewesen? Aber wie konnte so etwas Absurdes die Realität sein? Und wieso hatte ich mich bis jetzt noch keine Sekunde daran erinnert? Doch irgendwie wusste ich alles noch viel zu klar, jedes Wort, jede Geste, die Gesichtszüge von Samuel, als dass es nur ein Traum hätte gewesen sein können. Geschockt stellte ich endlich den Staubsauger in den Schrank und setzte mich wie ferngesteuert aufs Sofa. Dann ging ich in Gedanken alles nochmals durch. Samuel, der Schönling. Das Angebot. Und am Schlimmsten, meine Zusage. Welcher Teufel hatte mich geritten zu so etwas ja zu sagen? Das konnte eigentlich gar nicht wahr sein. Erstens würde ich bei so einem hanebüchenen Angebot nie zusagen. Zweitens gab es so schöne Männer gar nicht. Zumindest nicht in meinem Leben. Jetzt blieb mir eigentlich nur abzuwarten, ob er heute wirklich auftauchen würde. Vielleicht war es doch ein Traum, ein sehr realer wohlverstanden. Aber wieso sollte ich so etwas träumen? War ich tatsächlich so einsam, dass ich bereits davon träumte von einem hübschen Mann in eine Weltrettungsmission einbezogen zu werden? Dann würde es aber um mich schlimmer stehen, als ich je gedacht hatte. Mein ganzer Körper fühlte sich taub an und mein Herz raste wie verrückt. Mir gingen viel zu viele Gedanken durch den Kopf. Wäre es tatsächlich nur eine Sinnestäuschung gewesen, müsste ich dringend meine geistige Gesundheit untersuchen lassen. Wäre es aber wahr, würde ich nun tief im Schlammassel stecken. Sehr tief sogar. Lange sass ich in Gedanken versunken da. Die Waschmaschine und der Tumbler waren längst fertig, doch ich konnte mich nicht überwinden aufzustehen, um sie zu leeren. Immer wieder ging ich das Gespräch durch. Gerade als ich zum Schluss kam, dass ich mir das alles nur eingebildet haben konnte, spürte ich eine Bewegung neben mir auf dem Sofa. Wie von der Tarantel gestochen fuhr ich hoch. Da sass tatsächlich Samuel! „Hallo Patrizia“, begrüsste er mich, als wäre es das Normalste der Welt, einfach in eine fremde Wohnung einzudringen, sich unsichtbar zu machen und neben einen aufs Sofa zu setzen. Gleichzeitig schrie ich vor Schreck „Was soll der Scheiss?“ „Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken, aber ich spürte, wie dich Zweifel plagten und ich wollte dir doch nur zur Seite stehen“, erklärte er ganz verlegen. „Ach wie grosszügig!“ fauchte ich ihn an. Ich hatte das Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen, so sehr raste mein Herz ab diesem Schreck. Eben noch war ich zu fast hundert Prozent überzeugt gewesen, dass alles nicht wahr ist und nun sass dieser Samuel einfach neben mir und wollte mir zur Seite stehen. Er hätte mir am meisten geholfen, wenn er nie mehr aufgetaucht wäre. Oder mir hätte es geholfen, wenn ich vor Schreck einen Herzanfall gehabt hätte und mir somit die ganze Geschichte erspart geblieben wäre. „Ich weiss, dass das alles nicht leicht für dich ist, aber es wird mit der Zeit sicher einfacher.“ Während er sprach starrte er mir bereits wie gestern die ganze Zeit direkt in die Augen, was mich irritierte und noch wütender machte. „Ich kündige diese blöde Abmachung. Ich habe ja nichts unterschrieben und kann somit jederzeit austreten. Und was würde überhaupt für mich rausspringen? Ich denke ein Lohn in Franken bekomme ich nicht?“ tobte ich. Eigentlich wurde ich nicht schnell wütend, doch wenn, dann richtig. Und jetzt war so ein Moment. Es war die Panik, die mich fast hysterisch werden liess. Ich wollte jetzt einfach nur eins, nämlich dass er verschwand. Und zwar für immer. Doch er blieb ganz ruhig sitzen und liess sich nicht aus der Ruhe bringen. „Ist es dir nicht Lohn genug, wenn du weiter dein Leben leben kannst auf dieser wunderschönen Erde?“ „Ist dir das nicht Lohn genug?“ äffte ich ihn wütend nach. „Nein, das genügt mir nicht! Ich will auch persönlich für meinen Einsatz belohnt werden. Denn wenn ich das Ganze überlebe, das heisst, wenn ich mich nicht selbst umbringe oder von einem von euch Aliens abgemurkst werde, will ich auch etwas dafür haben. Mein Leben ist mir da zu wenig!“ „Sei doch nicht so egoistisch“, wies er mich scharf zurecht. „Aber ich bin egoistisch und ich will eine Gegenleistung!“ sagte ich trotzig und kam mir dabei kindisch und albern vor. Wie ein kleines Kind, das irgendetwas haben wollte und mit dem Fuss aufstampfte um es zu bekommen, genauso benahm ich mich in dem Moment. Aber mich ergriff mehr und mehr die Panik und jetzt wollte ich nur noch, dass mich dieser Samuel in Ruhe liess und nie mehr in meinem Leben auftauchen würde. So hübsch er auch aussah. Aber dieses Argument zog im Moment nicht. „Hör zu. Wir werden das zusammen anpacken und durchziehen. Ich glaube an dich und das solltest du auch tun.“ Während er das sagte, schaute er mir verständnisvoll mit seinen braunen, wunderschönen Augen in die meinen und ich spürte, wie mein Widerstand langsam dahinschmolz. Nickend ergab ich mich nun meinem Schicksal. Was hätte ich sonst tun sollen? Ich hatte ‚ja‘ gesagt und dazu würde ich nun stehen müssen. Selber schuld und niemand sonst. „Und wann soll das Flugtraining beginnen? Doch nicht etwa jetzt?“ fragte ich ihn, mich langsam beruhigend. „Nein, ich komme vorbei, sobald es dunkel ist.“ „Okay, aber läute gefälligst an der Türe wie jeder normale Mensch und platze nicht einfach in meine Wohnung“, wies ich ihn noch zurecht. „Klar, aber ich bin nun mal kein normaler Mensch…“, dabei zwinkerte er mir schelmisch zu, doch er blieb ernst. Seltsam, dass er nie lächelte, dachte ich nachdem er verschwunden war. Klar, er hatte bis jetzt mit mir noch nichts zu lachen gehabt, aber trotzdem. Die meisten Menschen, die etwas von einem wollten, lächelten einen an, um einen sympathischen Eindruck zu machen und ihr Ziel zu erreichen. Dieses Lächeln erreichte meistens die Augen nicht. Bei ihm war es genau umgekehrt. Sein Mund lächelte zwar nie, doch seine Augen taten es. Seltsam… Ich schüttelte unwirsch den Kopf, um diese Gedanken zu verdrängen und raffte mich nochmals auf, um doch noch meine Hausarbeit zu Ende zu bringen. Doch ich war nicht mehr mit dem gleichen Enthusiasmus wie zuvor bei der Sache. Als ich dann endlich fertig war, überlegte ich, wie ich die Zeit bis zum Abend noch totschlagen konnte. Normalerweise hatte ich damit keine Probleme, doch heute war nichts normal. Da die Sonne so herrlich schien, packte ich meine Digitalkamera und machte mich zu einem Spaziergang in den Wald auf. Trotz des schönen Wetters konnte ich diesen ersten richtigen Frühlingstag, auf den gestrigen Schneetag, einfach nicht geniessen. Immer wieder sah ich Samuels hübsches und ernstes Gesicht, und vor allem auch sein Zuzwinkern, vor mir und ich fühlte mich zappelig und unruhig. Und immer wieder dachte ich an seine Worte, „ich glaube an dich.“ Wann hatte das zu mir jemand letzte Mal gesagt? Wann hatte überhaupt je jemand das zu mir gesagt? Ich durfte und ich wollte ihn auf keinen Fall enttäuschen. Der Druck wuchs in mir und um das beklemmende Gefühl im Innern loszuwerden musste ich tief durchatmen. Plötzlich schoss mir ein ganz anderer Gedanke durch den Kopf. Mein Auto! Mist, das hatte ich jetzt total vergessen! Wo hatte ich in letzter Zeit bloss meinen Kopf? Bestimmt hatte ich nun eine Busse. Die Polizei war am Samstag immer besonders gründlich mit den Kontrollen. Schnell hastete ich zurück. Ich hatte nicht ein Foto geschossen, doch das war mir im Moment so was von egal. Natürlich hatte ich meinen Autoschlüssel nicht dabei. So konnte ich nicht mal das Auto umparkieren. Doch das war gar nicht nötig. Bereits von weitem sah ich die Busse unter dem Scheibenwischer rosa leuchten. Nun brauchte ich mich nicht mehr zu beeilen. Verfluchter Samuel, verfluchtes Skyland, verfluchte Mission! Innerlich knurrte ich und gab wieder einmal allem anderen ausser mir die Schuld. Wie ich doch Bussen hasste! Das war so sinnlos, das Geld aus dem Fenster geworfen. Man hatte ja keine Gegenleistung davon. Nicht dass mich diese Busse finanziell in den Ruin getrieben hätte. Bei meinem bescheidenen Lebensstil würde ich jede Mengen Bussen verkraften. Aber ich ärgerte mich trotzdem. Selbst schuld, musste ich mich dann doch einmal mehr selber tadeln. Um nicht noch eine weitere zu bekommen, liess ich die Busse unter dem Scheibenwischer, während ich den Autoschlüssel zu Hause holte. Nachdem ich das Auto umgestellt hatte bezahlte ich die Busse umgehend. Unangenehme Dinge erledigte ich immer sofort oder gar nicht. Wenn irgendwie möglich gar nicht. Ich hockte sie einfach aus. Doch da ich nun einer Weltrettungsmission zugesagt hatte, musste ich wohl etwas gewissenhafter mit solchen Dingen umgehen. Was wäre, wenn mir etwas passieren würde und ich noch eine offene Busse hätte? Meine armen Eltern würden das sicher nicht gerne sehen.

Um die Zeit bis zur ersten Flugstunde totzuschlagen, legte ich mich hin und hörte Musik. Doch nach kurzer Zeit musste ich aufstehen, so nervös war ich. Dann versuchte ich mich mit einer Zigarette zu beruhigen, was jedoch auch nichts nützte. Es trat eher das Gegenteil ein. Mein Herz begann zu rasen und ich wurde ganz zittrig. Auch lesen oder fernsehen nützte nichts. Letzteres war das Schlimmste von allem. In den Nachrichten berichteten sie über Mord und Totschlag, was mich wieder an der Mission zweifeln liess. Wozu die Welt retten, wenn sie brutal war und die Menschheit sie eh eines schönen Tages selber zugrunde richten würde? Da konnten das ja gleich die Bösen übernehmen. Bei einem Spielfilm marschierte gerade eine Armee von Aliens auf der Erde ein, um diese in ihre Macht zu bringen. Davon hatte ich im Moment genug in der Realität. Auf einem Musiksender räkelten sich halb nackte Männer und Frauen in der Sonne. Doch auch das brachte mich nicht auf andere Gedanken. Also schaltete ich den Fernseher wieder aus und starrte einfach eine Weile vor mich hin. Zum ersten Mal fühlte ich mich in meiner Wohnung eingeengt und ich hatte das Gefühl, die Decke falle mir auf den Kopf. Was nun? Ich versuchte etwas zu essen, hatte jedoch einen solch trockenen Mund, dass mir alles im Gaumen kleben blieb. Als ich dann das Ganze mit Wasser runterspülen wollte, gab es einen Klumpen, so dass mir davon übel wurde und ich ihn regelrecht herunterwürgen musste. Schlussendlich tigerte ich in der Wohnung auf und ab, bis ich vor dem Kleiderschrank stehen blieb. Als ich ihn öffnete, wurde mir bewusst, welche Unmengen von Kleidern ich besass. Der Schrank war so voll, dass ich überhaupt keine Übersicht mehr hatte. Deshalb packte ich kurzerhand einen Kleidersammlungssack, schaltete das Radio ein und begann mit dem Räumen. Alles, was ich schon eine Weile nicht mehr getragen hatte, mir nicht mehr ging oder total aus der Mode war, sortierte ich aus. Unmengen von Pullover, Jäckli, T-Shirts und Jeans stapelten sich bald und der Sack war übervoll, als ich fertig war. Dafür sah mein Schrank nun bedenklich leer aus, doch das hiess, dass ich endlich wieder einmal neue Kleider kaufen konnte, die auch der aktuellen Mode entsprachen. Dann trug ich den schweren Sack in den Keller, um ihn dann bei der nächsten Kleidersammlung mitzugeben. Leider war die Zeit des Wartens immer noch nicht um. Meine Nervosität, die während des Räumens fast verschwunden war, traf mich nun wieder mit voller Wucht. Wieder marschierte ich in der Wohnung hin und her. Plötzlich kam mir der Gedanke, dass ich mir noch die Beine epilieren könnte. Das machte ich immer den Sommer über und das erste Mal nach der Winterpause war jetzt dringend nötig. Der Schmerz, der dabei verursacht wurde, war komischerweise beruhigend. Meine Gedanken waren nun gänzlich darauf gerichtet. Wie würde das wohl rauskommen, wenn dann der Ernstfall da war und ich tatsächlich die Welt retten musste, sinnierte ich. Entweder würde ich mit einem Nervenzusammenbruch in einer Klinik landen und die anderen müssten die Aufgabe alleine erledigen. Oder mir wäre übel und ich hätte solche Angst, dass ich mir in die Hosen machen würde. Vielleicht würde ich dann mit dem Gestank die Bösen in die Flucht schlagen. Bei diesem blöden Gedanken musste ich laut lachen. Was war ich doch durch den Wind! Nach dem Epilieren cremte ich meine knallroten, dafür enthaarten Beine mit einer beruhigenden Lotion ein. Was ich wohl bei den Flugstunden tragen musste? Hoffentlich keine Trainingshose, denn die hatte ich nicht. Eine warme Hose, wenn wir in der Höhe wären? Hatte ich auch nicht… Eine sehr bequeme Hose? Hatte ich eigentlich auch nicht… Ich hatte zwei bequeme Frotteehosen. Aber wären die flugtauglich? Da würde der Wind ziemlich durchblasen und ich würde in der kalten Luft erfrieren. Beim Oberteil hatte ich diese Bedenken nicht. Obwohl ich gerade den Schrank geräumt hatte, würde ich schon etwas Warmes und Bequemen finden. Wann kam dieser Typ eigentlich? Ich hielt die Warterei echt fast nicht mehr aus und die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Wieder setzte ich mich vor den Fernseher. Ich schaltete wieder einen Musiksender ein und landete wieder bei den halbnackten Frauen. Eine rekelte sich soeben im Dreck und stöhnte vor sich hin, was ein Song sein sollte. Ob das den Männern tatsächlich gefiel? Anscheinend schon, sonst würde ja nicht jedes zweite Musikvideo nach diesem Schema gedreht werden. Ich persönlich fand es ziemlich nervig. Im nächsten Clip kam ein Mann, ein richtiger Macho, aus einer Limousine und war sofort von einem Rudel hübscher, natürlich wieder halbnackten, Frauen umgeben. Er setzte sich lässig eine Sonnenbrille auf und ging dann mit seinem Harem in einen Club, während er sein Checker-Lied sang. Der nächste war dann James Blunt, der zwar das genaue Gegenteil vom vorherigen Macho war, aber trotzdem genau so wenig erträglich. Als dann auch noch Lady Gaga ihren Busen und ihren Arsch in die Kamera hielt, war ich hellbegeistert als ich durch ein Klopfen unterbrochen wurde. Ich wollte soeben aufstehen, um die Tür zu öffnen, als ich sah, dass Samuel bereits in der Wohnung stand. Das vertrieb meine Begeisterung schlagartig. „Was habe ich dir gesagt, von wegen nicht einfach in die Wohnung platzen, sondern an der Tür klingeln wie jeder normale Mensch?“ fauchte ich ihn anstatt einer Begrüssung an. Dieser Mann brachte mich dauernd zur Weissglut. „Und was habe ich dir gesagt, von wegen ich bin kein normaler Mensch?“ fragte er schelmisch zurück und zwinkerte mir wieder ernst zu. „Aber zuerst einmal Hallo!“ „Hallo und entschuldige“, gab ich zerknirscht zurück, weil ich mich nun für meine unhöfliche Begrüssung schämte. Er tat die Entschuldigung mit einer Handbewegung ab und zeigte auf den Fernseher. „Heiss, was du dir da ansiehst“, meinte er schelmisch. Peinlich berührt sah ich, dass etwa ein halb Dutzend Frauen ihre in String Tangas verpackten Hintern zum Takt schwangen. Ich wurde rot und schaltete schnell den Fernseher aus, während ich vor mich hinmurmelte, „so ein Schrott.“ Auch wenn ich nicht prüde war, so war es schon eine peinliche Situation, wenn ein praktisch wildfremder Mann mich dabei überraschte wie ich so etwas sah. „Kannst du die Rolladen runterlassen?“ wechselte er nun das Thema und unterbrach so die peinliche Stille. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah ich ihn fragend an. „Wir werden mit dem Training hier drin beginnen und ich möchte nicht, dass die Nachbarn etwas davon mitbekommen.“ „Wir machen die Flugstunden hier drin?“ fragte ich überrascht. „Ich dachte ich würde draussen fliegen. Hier drin hole ich mir noch eine Beule“, und zeigte dabei lächelnd auf die Decke. Er erklärte mir jedoch, „draussen aber holst du dir einen Bein- oder vielleicht noch schlimmer einen Genickbruch. Zuerst musst du lernen mit deinen Flügeln umzugehen. Es ist nicht so leicht wie du vielleicht denkst. Es braucht eine sehr gute Körperbeherrschung, damit die Flügel nicht wild herumflattern.“ Ich und Körperbeherrschung, na bravo! Das würde nie im Leben gut gehen, aber das musste ich ihm ja nicht unter die Nase reiben. Er würde es noch früh genug selber herausfinden. Dann kam mir etwas in den Sinn, was er zu mir gesagt hatte und mich nun verwirrte. „Kommen denn die Flügel nicht nur, wenn ich fliegen will und mich von irgendwo in die Tiefe stürze?“ „Ich werde dir die Flügel zum Üben geben und danach wird es dann schon so sein, wie du gesagt hast.“ „Und was soll ich anziehen?“ kam ich nun auf meine Frage zurück, die mich so beschäftigt hatte. Typisch Frau, ich durfte zum ersten Mal im Leben fliegen und mein Hauptproblem war, was ziehe ich an? „Jeans und Shirt sind gut“, sagte er mit einem Blick auf meine Kleider. Einen peinlichen Moment lang stand ich einfach da. Unter seinem musternden Blick fühlte ich mich entblösst. Doch dann setzte ich mich in Bewegung und begann die Rolladen runterzulassen. Als es dunkel im Raum war, wurde mir plötzlich bewusst, wie seltsam es war, diesen Mann in meiner Wohnung zu haben. Ich kannte ihn doch überhaupt nicht. Vielleicht war er doch ein Spinner? Mich regten immer Meldungen über Frauen auf, die wildfremde Männer in ihre Wohnungen mitnahmen und dann von ihnen überfallen wurden. Diese Frauen waren einfach zu gutgläubig. Aber nicht jeder Mensch sah immer nur das Schlechte in den andern, so wie ich. Und jetzt war ich kein Stück besser. Nur, dass ich ihn nicht reingebeten hatte, sondern dass er einfach reingeplatzt war. Als ich mich im dunklen Zimmer umdrehte sah ich, wie er auf mich zukam. Jetzt bringt er mich um, schoss es mir in panischer Angst durch den Kopf. Doch er drückte nur den Lichtschalter an der Wand neben mir und das Licht nahm mir meine Angst. „Etwas Licht braucht es schon zum Üben“, meinte er trocken „Sonst gibt es Verletzte. Und das wäre dann ich.“ Er packte meinen Salontisch, der in der Mitte des Raums stand und bat mich, ihm zu helfen ihn auf die Seite zu stellen, damit wir Platz zum Üben hatten. Zum Glück war mein Wohnzimmer nicht mit Möbeln vollgestopft, so dass wir nur den Salontisch und einen Polsterstuhl zur Seite schieben mussten. Das Sofa, der Fernseher, die Stereoanlage und ein kleines Regal standen bereits an den Wänden. „So, und jetzt werde ich dir die Flügel geben.“ Nervös harrte ich nun der Dinge die da kommen würden. So recht glaubte ich die ganze Geschichte immer noch nicht. Doch nun gab es endgültig kein Zurück mehr. Samuel trat hinter mich und fuhr dann mit seiner Hand unter meinen Pullover. Dann strich er sanft mit der Hand über die Wirbelsäule. Ein Schauder durchlief mich und über meinen ganzen Körper breitete sich eine Gänsehaut aus. In der Mitte des Rückens blieb seine Hand ruhen und dort fuhr er mit leichtem Druck hin und her. Wieder hielt seine Hand inne. Diese Berührungen machten mich ganz kribblig und ich hatte Mühe, ruhig stehen zu bleiben. Reglos stand er nun hinter mir und ich merkte, dass ich den Atem anhielt. Dann nahm er die Hand weg und trat einen Schritt zurück. „So, das hätten wir.“ „Ich spüre aber noch nichts“, wandte ich verwundert ein. Das war zwar ein bisschen gelogen, denn ich spürte noch genau seine warme Hand auf meinem Rücke, doch ich spürte noch nichts von den Flügeln. „Du musst noch einen Augenblick warten. Gleich geht es los. Am Anfang ist es vielleicht etwas unangenehm, aber du gewöhnst dich bald daran.“ „Muss ich den Pullover ausziehen, damit die Flügel sich entfalten können?“ fragte ich gehemmt. Zum Glück schüttelte er den Kopf und mir fiel ein Stein vom Herzen. Da hatte ich wieder einmal Glück gehabt. Mit meiner verklemmten Art hätte ich noch die Mission gefährdet. „Nein, die Flügel können durch den Stoff hindurch, es ist als würde der Stoff nicht existieren. Sieh, so.“ Und er breitete seine prachtvollen Flügel aus und drehte sich vorsichtig um, damit er nirgendwo anstiess. Tatsächlich, die Flügel liessen den Stoff an der Stelle, an denen sie rauskamen, verschwinden. Es sah aus wie eine Sinnestäuschung. „Stell dir vor, ich würde mit nacktem Oberkörper durch die Gegend fliegen, man würde mich ja für einen Spinner halten.“ „Also ehrlich, wenn jemand hier unten herumfliegt, egal ob mit nacktem Oberkörper oder nicht, würde man ihn für einen Spinner halten“, erwiderte ich lachend. Sein Gesicht zuckte und seine Augen strahlten. Es kam mir so vor, als würde er jeden Moment lachen, doch er tat es nicht. Irgendwie nervte seine bemüht coole Art, deshalb ermunterte ich ihn, „du kannst ruhig auch mal lachen“, doch zu meiner Verwunderung sagte er nur barsch, „nein, kann ich nicht!“ Also ich wusste echt nicht, was er mir mit seiner Art beweisen wollte. Bevor ich jedoch darauf etwas erwidern konnte, spürte ich ein Ziehen am Rücken. Jetzt ging es doch noch los. Es war nicht schmerzhaft, doch wie er weise vorausgesagt hatte, war es ein sehr unangenehmes Gefühl. Es zog und zwickte und ich fühlte ein schweres Gewicht am Rücken, so, als ob ich einen riesigen Rucksack tragen würde. Und dann spürte ich wie etwas nervös hinter mir flatterte und bevor ich das Gleichgewicht verlieren und stürzen konnte, war zum Glück Samuel zur Stelle. Er legte mir die Hände auf die Schulter, damit ich wieder festen Stand hatte. „Du musst dich jetzt entspannen“, forderte er mich auf. Doch so sehr ich mich auch zu entspannen versuchte, die Flügel flatterten wild umher. Zum Glück hatten wir die Möbel zur Seite gestellt. Das Wohnzimmer wäre sonst nun Kleinholz. „Entspann dich, denk an etwas Schönes“, ermunterte er mich weiter und sah mir dabei direkt in die Augen. Doch ich konnte mich einfach nicht konzentrieren. Zum einen lag es an dem Geflatter auf meinem Rücken, zum andern brachte mich sein Blick ziemlich aus dem Konzept. Ich versuchte den Kopf zu drehen, um mal einen Blick auf die Flügel zu werfen, doch er hielt ihn fest. Ich war überrascht und erklärte, „ich möchte nur mal meine Flügel sehen“, und versuchte mich aus seinem Griff zu befreien, doch er hielt mich eisern an den Armen fest, so dass es fast wehtat. „Willst du deine Wohnung ruinieren?“ fragte er barsch. „Diese Flügel haben sehr grosse Kräfte und wenn du nicht schön ruhig stehenbleibst, könntest du hier einigen Schaden anrichten. Ich weiss nicht, ob die Versicherung für zerbrochene Scheiben durch Flügelschläge aufkommen würde.“ Als ich den Schalk in seinen Augen sah, war ich verwirrt. Einerseits benahm er sich so cool, so selbstsicher, so machomässig. Anderseits machte er immer wieder Witzchen. Er riss mich aus meinen Gedanken, in dem er sagte, „ zuerst einmal müssen wir dieses Geflatter unter Kontrolle bringen.“ Doch so sehr ich mich auch bemühte, es hörte einfach nicht auf. Ich war den Tränen nahe und fühlte mich erbärmlich. Wie sollte ich so je fliegen lernen? Als Samuel mein Gesichtsausdruck sah, legte er wieder seine Hand auf meinen Rücken und das Geflatter hörte augenblicklich auf. Ebenso verschwand das schwere Gefühl. Die Flügel waren weg. Dankbar sah ich ihn an und setzte mich aufs Sofa. „Das wird wohl nichts mit dem Fliegen“, meinte ich resigniert, doch er tätschelte mir tröstend auf den Rücken, als wäre ich ein Hund, der zu beruhigen ist und meinte, „so schnell geben wir nicht auf.“ „Ich schon. Ich gebe immer sofort auf. Kämpfen ist nichts für mich“, jammerte ich. Ich fühlte mich wie ein riesiger Loser, aber das war ich ja auch, also hatte das Gefühl schon seine Berechtigung. „Jetzt probieren wir einmal etwas anderes. Leg dich auf den Bauch aufs Sofa“, forderte er mich auf und ging gar nicht auf mein Gejammer ein. Wie befohlen legte ich mich hin und hoffte, dass er nun einen guten Plan hatte. Vielleicht durfte ich jetzt ein bisschen schlafen? Diese Hoffnung machte er mit der nächsten Bemerkung wieder zunichte. „Und jetzt entspannst du dich total und denkst an etwas Schönes oder noch besser an gar nichts.“ An gar nichts denken war gar nicht so einfach. Deshalb ging ich in Gedanken einfach alle Lieder durch, die ich kannte. Das war eine ganze Menge und ich sang sie in Gedanken von A wie Anastacia bis Z wie ZZ Top durch. Vollkommen darauf konzentriert, vergass ich die Welt um mich herum. Doch plötzlich spürte ich wieder die Schwere auf meinem Rücken. Diesmal lag einfach etwas schlaff auf meinem Rücken, drückte auf meine Lungen und erschwerte mir das Atmen. „Und jetzt ganz ruhig bleiben“, beschwor er mich. Ohne mich zu rühren, versuchte ich regelmässig zu atmen. Die Flügel bewegten sich nicht. Ein Glücksgefühl durchströmte mich und ich atmete tief durch. Ich würde es schaffen! Ich würde fliegen! Da begann das Flattern wieder. Ich würde es doch nicht schaffen. Ich würde nie fliegen. Das gute Gefühl hatte sich sogleich wieder in ein mieses gewandelt. „Schau mich an“, befahl mir Samuel. „Schau mir in die Augen und konzentriere dich nur darauf.“ Ich tat es. Doch ein Blick in seine schönen dunklen Augen und ich konnte mich überhaupt nicht mehr entspannen. Jetzt fühlte ich mich noch nervöser als je zuvor. Schnell schloss ich die Augen und versuchte mich wieder auf die Songs von vorhin zu konzentrieren. Doch vor meinem inneren Auge sah ich immer noch sein Gesicht. Da hörte das Flattern plötzlich auf und ich dachte schon, er hätte die Flügel wieder verschwinden lassen. Doch als ich die Augen öffnete und nach hinten blickte, waren sie immer noch da und sie sahen wunderschön aus. „Jetzt musst du versuchen sie zu bewegen. Das ist am Anfang ziemlich schwierig. Doch man muss nur den Dreh rauskriegen, dann ist es kein Problem mehr“, munterte er mich auf. Mit aller Macht versuchte ich sie zu bewegen. Alle meine Gedanken lenkte ich auf meinen Rücken und die Flügel, doch sie machten keinen Wank. Es war zum Heulen. Zuerst das nervöse Geflatter und jetzt gar nichts mehr! Verzweifelt machte ich ihn darauf aufmerksam. „Ich kann sie nicht bewegen. Ich habe keine Ahnung wie das gehen soll.“ „Das braucht seine Zeit“, entgegnete er nur. „Du musst einfach deine ganzen Gedanken auf die Flügel richten und dann klappt es plötzlich. Es ist bei euch Menschen wie mit dem Schwimmen oder Rad fahren. Das kann man auch nicht von einer Minute auf die andere. Aber sobald man mal den Dreh raus hat, verlernt man es nicht mehr.“ Mit Entsetzen dachte ich daran wie ich Schwimmen und Fahrradfahren gelernt hatte, wie unglaublich ungeschickt ich mich angestellt hatte und wie lange es gedauert hatte, bis ich es dann endlich konnte. „Na dann“, erwiderte ich spöttisch, „ wenn ich in ein oder zwei Jahre meine Flügel bewegen kann, rufe ich dich an. Vorausgesetzt natürlich ihr habt Telefone in Skyland und du mir deine Nummer gibst.“ „Solange geht das nicht“, beruhigte er mich. Du hast ja keine Ahnung, dachte ich verdrossen, sagte darauf aber nichts mehr. Diese Illusion wollte ich ihm nicht nehmen. „Dein Körper muss sich erst einmal daran gewöhnen. Immerhin musste er bis jetzt noch nie mit Flügeln zurechtkommen.“ Ich sah mich jetzt schon auf einer Strasse liegen, heruntergefallen vom Himmel, weil ich meine Flügel nicht im Griff hatte. „Konzentrier dich auf die Flügel“, riss er mich aus meinen Todesgedanken. „Ich versuche es doch“, beklagte ich mich, obwohl ich das ja gar nicht getan hatte. Also fokussierte ich alle meine Gedanken auf meine Flügel, die jedoch weiterhin schwer und schlaff auf meinem Rücken lagen. Sie wollten mir einfach nicht gehorchen. Es kam mir vor als hätte ich zwei Fremdkörper auf dem Rücken, die sich über mich und meinen Körper lustig machten. Langsam wurde Samuel ungeduldig, was sich auch auf mich übertrug. Und schon begann wieder das Geflatter. „Das hat so keinen Sinn“, meinte er enttäuscht und liess die Flügel verschwinden. Natürlich schämte ich mich für meine Unfähigkeit, doch was konnte ich schon dafür? „Was mach ich jetzt nur mit dir?“ murmelte Samuel vor sich hin, während er sich auf den Polsterstuhl auf der gegenüberliegenden Wand setzte. Es kam mir vor, als wollte er möglichst grossen Abstand zu mir halten, denn ich kauerte auf dem Sofa. Da ich annahm, dass es eine rhetorische Frage war, schwieg ich. Er starrte nur vor sich hin. Plötzlich stand ich auf. „Wo willst du denn hin?“ fragte er scharf. „Ich brauche ein Glas Wasser und muss mal aufs Klo“, antwortete ich brummig und fragte dann, „möchtest du auch etwas?“ Eine schöne Gastgeberin war ich, hatte gar nicht daran gedacht ihm etwas anzubieten. „Ein Glas Wasser wäre super“, nahm er das Angebot an. „Ich liebe Wasser. Bei uns in Skyland gibt es das leider nicht und deshalb genehmige ich mir auf der Erde immer gern ein Glas davon.“ Erstaunt fragte ich, „was trinkt ihr denn bei euch?“ „Unser Volk hat aus diversen Stoffen Essen und Trinken entwickelt. Das ist jedoch nicht vergleichbar mit euren Nahrungsmitteln. Unsere Körper funktionieren anders als die von euch Menschen. Wir brauchen keine Flüssigkeit zum Überleben, nicht mal Nahrung.“ „Ja eure Körper funktionieren tatsächlich anders. Ihr könnte fliegen“, entgegnete ich etwas neidisch. „Das lernst du auch noch, steck jetzt nur nicht den Kopf in den Sand“, ermunterte er mich. Auf dem Klo liess ich mir seine Aussage nochmals durch den Kopf gehen. Würde ich das Fliegen tatsächlich noch lernen? Und wenn nein, wäre die Mission für mich dann gestorben? Der Gedanke war erstaunlich beklemmend. Langsam begann ich nämlich Samuel zu mögen. Trotz seiner manchmal groben Art und auch wenn er nie lächelte. Doch er war so hübsch, mysteriös und eigentlich immer korrekt mir gegenüber. Und zudem glaubte er an mich. Das war das Sympathischste an ihm. Nachdem ich mir gründlich die Hände gewaschen hatte, holte ich zwei Gläser, füllte sie mit kaltem Wasser und setzte mich aufs Sofa. Er gesellte sich nun wieder zu mir. „Wieso lebst du alleine?“ wollte er von mir wissen, nachdem er genüsslich einen Schluck Wasser getrunken hatte. Seine Frage überraschte mich, hatte er mich doch immerhin ein halbes Jahr lang beobachtet. Da müsste er doch eigentlich meine Eigenarten kennen. „Ich bin beziehungsunfähig“, antwortete ich achselzuckend. „Am liebsten verbringe ich meine Freizeit alleine. Menschenansammlungen machen mich unsicher. Zudem bin ich ziemlich introvertiert. Mich anderen gegenüber zu öffnen ist nicht so mein Ding. Das stösst viele Menschen ab. Die meisten wollen einfach, dass man das Herz auf der Zunge trägt und offen auf sie zugeht. Ich mag ja die Menschen auch lieber, die auf einen zugehen und ungehemmt losplaudern und Fragen stellen und einem das Gefühl geben, dass man interessant ist. Doch das kann ich nicht. Es ist ja nicht so, dass ich etwas zu verbergen hätte.“ Ich lachte freudlos. „Im Gegenteil, ich bin ein ziemlich langweiliger Mensch, der gar nichts zu erzählen hat. Ich hasse es, wenn über mich geurteilt wird. Die meisten finden mein Leben jämmerlich und ich bin es leid, mich immer wieder zu verteidigen, dass mir mein Leben, so wie es ist, passt. Das glaubt mir dann keiner und sie meinen, dass ich ihnen etwas vorspiele. Das ist keine gute Voraussetzung, um neue Menschen kennenzulernen. Aber was noch schlimmer ist, ist wenn ich annehmen, die anderen halten mich für eine Langweilerin, dabei bin ich und mein Leben ihnen im Grunde einfach egal.“ Es war schwierig diese Situationen, dieses Gefühl, zu erklären. Ich starrte vor mich hin und erinnerte mich an all die Situationen, die ich erlebte hatte, wenn ich mit einem mitleidigen Blick abgestempelt wurde, sobald ich erzählte hatte, dass ich in keinem Verein war und nicht viele Freunde und schon gar kein Facebook-Account hatte. Wie sich die Menschen dann ab- und sich anderen zuwandten, die mehr zu erzählen und mit denen sie mehr gemeinsam hatten. „Vielleicht denken ja doch nicht alle so“, versuchte mich Samuel zu trösten. „Ich weiss nicht. Klar gibt es da Regula und Paula, aber die wollen auch immer überall dabei sein. Ich bin bis jetzt noch nie jemandem wie mir begegnet. Alle wollen immer voll integriert sein. Ich nicht. Bei jeder neuen Bekanntschaft, vor allem natürlich mit Männern, was ja selten genug vorkommt, überlege ich immer als Erstes, wie ich sie möglichst schnell wieder loswerde. Das ist doch krank oder?“ „Ein bisschen seltsam ist dein Verhalten schon, wenn ich es mit dem anderer Menschen vergleiche. Aber wieso öffnest du dich nicht einfach und lässt die Menschen an deinem Leben teilhaben? Vielleicht benehmen sie sich dir gegenüber nur so seltsam, weil du ihnen gegenüber auch seltsam bist. Zeig den andern wie du wirklich bist und sei stolz darauf. Und wenn die Menschen dann immer noch glauben, dass du seltsam bist, ist das ihr Problem und nicht deines. Es gibt sicher viele Menschen, die dich mögen und toll finden, auch wenn du nicht bei jeder Party dabei bist oder Mitglied in Vereinen. Schlussendlich zählt dein Wesen und nicht, wo du dabei bist und mit wem du dich triffst. Und das sind dann auch wirklich die Menschen, die es ernst mit dir meinen. Jene, welche dich mögen weil sie wissen wer du bist und nicht was du hast oder machst.“ Dafür, dass dieser Samuel kein Mensch war, hatte er doch sehr erstaunliche Ansichten und war ein guter Motivator. Jetzt ging es mir schon viel besser. Doch er war noch nicht fertig mit seiner Aufbaurede. „Man soll sich nie für andere Menschen verstellen. Du bist ja nicht so, wie die Menschen glauben, dass du bist, sondern so, wie du weisst, dass du bist. Halte dich immer daran und sei stolz auf dich.“ „Das sagt Shrek auch“, erwiderte ich lachend und erinnerte mich daran wie Shrek das in Teil 3 zum Thronfolger sagte „Wer?“ fragte mich Samuel verständnislos. „Eine Animationsfigur aus einem Film, aber ist ja egal. Du hast schon Recht. Mein Selbstbewusstsein ist ziemlich im Keller. Aber im Moment sollte ich ja sowieso keine neuen Freundschaften schliessen, sondern mich auf die Mission konzentrieren.“ „Es gibt auch wieder eine Zeit nach der Mission, denk daran“, erinnerte er mich. „Ja, wenn ich dann noch lebe“, warf ich ein, doch er ging gar nicht darauf ein. „Und was ist mit einem Freund?“ wollte er weiter wissen. Hatte ich mich vorher nicht deutlich genug ausgedrückt? Wie kam er jetzt auf diese Frage? „Ein Freund? Hast du mir vorhin nicht zugehört? Ich wäre den ganzen Verpflichtungen, die eine Beziehung mit sich bringen würden sicher nicht gewachsen.“ Dann zählte ich auf „Seine Eltern besuchen, meine Eltern besuchen, mit seinen Kollegen abmachen, mit meinen zwei Kolleginnen abmachen, mit ihm in die Ferien fahren, etc. etc. Das ist nichts für einen faulen und eigenbrötlerischen Menschen wie mich. Zudem sind mir Männer ein Buch mit sieben Siegeln.“ Ich lachte, er blieb natürlich ernst. „Du könntest auch das lernen, genauso wie das Fliegen.“ Das brachte mich wieder in die Realität zurück. „Ich möchte es noch einmal versuchen“, drängte ich nun voller Tatendrang. „Okay, aber stell zuerst die Gläser weg, ich möchte nicht noch Scherben zusammenfegen.“ „Das würde doch sowieso ich machen“, meinte ich trocken und stellte die Gläser direkt in die Geschirrspülmaschine. Nach diesem Gespräch fühlte ich mich schon viel entspannter. Ich hatte mit Samuel so locker gesprochen, wie sonst nur mit Regula und meinen Eltern. Er würde einen tollen Therapeuten abgeben. Während ich mich wieder aufs Sofa legte, musste ich innerlich grinsen. Beim Therapeuten legte man sich ja auch aufs Sofa, nur auf den Rücken und nicht auf den Bauch. Er liess die Flügel kommen und sie lagen ruhig auf meinem Rücken. Mit aller Kraft die ich aufbrachte, konzentrierte ich mich darauf. Doch wieder geschah nichts. Die Zeit verrann. Immer wieder und wieder probierte ich es. Samuel sass daneben und machte keinen Mucks. Plötzlich spürte ich etwas und auch Samuel verspannte sich sofort. „War da was?“ fragte ich ganz aufgeregt und da begann auch schon wieder das Geflatter. „Ach nein, nicht schon wieder“, stöhnte ich auf, doch er legte mir die Hand auf den Arm. „Ganz ruhig.“ Da hörte das Flattern wieder auf. „Du hast die Flügel leicht bewegt“, lobte mich Samuel. „Und jetzt weiter so!“ Wir übten noch lange weiter, bis fast der Morgen dämmerte. Manchmal bewegten sich die Flügel etwas, meistens jedoch nicht. Mit der Zeit war ich so erschöpft, dass ich kaum noch die Augen offen halten konnte. „Können wir aufhören?“ bat ich Samuel, als ich nicht mehr konnte. Er stand nickend auf und liess die Flügel verschwinden. Mühsam rappelte ich mich hoch. Mein Rücken und der Rest meines Körpers taten höllisch weh. Ich schleppte mich ins Bad, murmelte dabei, „gute Nacht, oder besser gesagt Morgen“, wusch dort mein Gesicht, putzte die Zähne und fuhr noch schnell mit der Bürste über die Haare. Dann schlüpfte ich in meinen Pyjama und kroch unter die Bettdecke. Kurz bevor mir die Augen zufielen, kam mir in den Sinn, dass ich mit Samuel gar keinen neuen Termin abgemacht hatte. Ach egal, er würde sicher wieder einfach in der Wohnung auftauchen. Gerade als ich ins Land der Träume hinüberzugleiten begann, spürte ich Samuels Hand auf der Stirn, die zärtlich darüberfuhr. Er flüsterte, „schlaf gut“, dann war ich auch schon eingeschlafen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739420981
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Juni)
Schlagworte
Romantik Fantasy Spannung Romance

Autor

  • Ruth Herbst (Autor:in)

Ruth Herbst lebt und arbeitet in der Schweiz. SKYLAND ist das erste Buch der Skyland Trilogie.
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Titel: Skyland