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Orte des Schreckens

Kurzgeschichten

von Ruth Herbst (Autor:in)
145 Seiten

Zusammenfassung

Dieser Sammelband enthält zwölf unheimliche Kurzgeschichten über Orte, an denen der Schrecken seinen Lauf nimmt. Sei es das verlassene Haus, in dem das Übernatürliche haust, die unheilvolle Begegnung auf einer Parkbank oder der Fahrstuhl, der nicht mehr zu stoppen ist.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

Texte © Copyright
2019 by Ruth Herbst
ruthherbst@gmx.ch

Bildmaterialien © Copyright by
Ruth Herbst
ruthherbst@gmx.ch

Alle Rechte vorbehalten

Das Archiv

Er hasste es! Hasste es, wenn seine Chefin mit dieser unangenehm hohen, piepsigen Stimme sagte, „Fernando, kannst du das noch ins Archiv bringen?“ Mit diesem Spruch kam sie meistens kurz vor Feierabend. Dann, wenn er soweit möglich alles erledigt hatte und schon aufbruchbereit war. Manchmal kam es ihm so vor, als würde sie es extra machen. Aber vielleicht war sie ja wirklich einfach nur dumm. Aufmucken durfte er jedoch nicht. Er war erst im ersten Semester des zweiten Lehrjahres als kaufmännischer Angestellter. Da gehörten leider auch solche Aufgaben dazu. Im ersten Lehrjahr war er in einer anderen Abteilung gewesen und weit weg vom Archiv. Jetzt war er nach seinem Geschmack diesem viel zu nahe. Er hasste das Archiv, weil es ihm Angst einjagte. Natürlich hätte er das nie und nimmer irgendjemandem gegenüber eingestanden. Aber er hatte den Verdacht, dass seine Chefin das wusste und deshalb die nun bereits düsteren Vorabendstunden dazu ausnutzte, ihn ins Archiv zu schicken. Langsam und schwer seufzend stand er auf, um das Mäppchen bei seiner Chefin zu holen, welches bestimmt auch erst am Montag im Archiv hätte versorgt werden können. „Ist was?“ fragte seine Chefin mit hochgezogener Augenbraue. Sie hatte diese unangenehme Angewohnheit, bei Fragen jeweils die rechte, und nur die rechte, Augenbraue zu heben. Allein diese Geste brachte es fertig, dass er sich manchmal ganz klein und nutzlos fühlte. „Nein, alles okay“, antwortete er nur halb so schnippisch wie er es gerne getan hätte. Es klang eher kleinlaut. „Na dann ist ja gut“, meinte darauf seine Chefin und verzog ihre viel zu stark geschminkten Lippen zu einem Grinsen, das ihm das Gruseln lehrte. Dieses Dunkelrot auf den Lippen, unmöglich! Manchmal klebte sogar noch etwas vom Lippenstift an ihren Zähnen. Wenn sie dann so lächelte sah es wie eine blutige Fratze aus. Schnell nahm er das Mäppchen und verschwand aus dem Büro. Er spürte ihren Blick noch, als er schon längst auf dem Weg nach unten war. Das Archiv war in diesem alten Gebäude im tiefsten Keller. Dort unten war es düster, egal wie viele Lampen er anzündete. Früher hatte der Betrieb noch eine Produktion gehabt und deshalb waren im Keller Duschen eingebaut, die seit einer Ewigkeit nicht mehr benutzt und wahrscheinlich eben solange nicht mehr geputzt worden waren. Er musste am Duschraum vorbei, um in das eigentliche Archiv zu gelangen. Die Duschwannen waren voller Rostflecken und toten Spinnen und Staub. Zwischen den Duschköpfen und der Wand waren Spinnweben, die waren so dick, dass sie wie Vorhänge aussahen. Jedes Mal wenn er daran vorbeiging, versuchte er nicht hinzuschauen, und trotzdem wurde sein Blick immer wieder wie magisch davon angezogen. Die Duschen verliefen nach hinten in den Raum. Je weiter man nach hinten blickte, desto mehr verlor es an Licht, bis man gar nichts mehr erkennen konnte. An den dunkelsten Stellen war es so dunkel, dass sich dort alles Mögliche hätte tummeln können, ohne dass man es hätte sehen können. Manchmal glaubte er jemanden dort stehen zu sehen, der ihn beobachtete. Diese Angst war für einen fast achtzehnjährigen so lächerlich, dass er noch nie mit jemandem darüber gesprochen hatte. Vorsichtig öffnete er die Türe, die in den Vorraum führte. Diese blöde Türe musste auch noch knarren, als wäre sie eine Requisite aus einem Horrorfilm. Er hatte versucht, sie ganz langsam zu öffnen. Dann war das Quietschen ganz schlimm. Doch wenn er sie schnell öffnete, war es fast noch schlimmer. Ein Ton, der ihm durch Mark und Bein ging. Heute versuchte er es mit einem Zwischenweg. Er öffnete sie schnell, aber nur einen kleinen Spalt. Er kam sich zwar vor wie ein Freak, doch wenn er im Archiv gewesen war, begleitete ihn dieser unangenehme Ton noch den Rest des Tages. Manchmal sogar hinein bis in die Nacht. Einmal hatte er sogar davon geträumt. Seine Chefin mit ihrem maskenhaft geschminkten Gesicht und den blutroten Lippen war dabei auch noch vorgekommen. Zum Glück hatte er am nächsten Tag Schule gehabt. Schnell verscheuchte er all die Gedanken an diesen schrecklichen Traum und trat vorsichtig in den dunklen Raum. Er tastete nach dem Lichtschalter, den er jedes Mal nicht auf Anhieb fand. Hätte er nicht so gross Angst gehabt, er wäre sich lächerlich vorgekommen. Endlich hatte er den Lichtschalter gefunden. Doch das fahle Licht der Funzel machte die Stimmung auch nicht fröhlicher. Im Gegenteil. Jetzt sah er in jeder Ecke jemanden lauern. Natürlich war das Blödsinn. Und zwar aus zwei ganz einfachen Gründen: Erstens waren alle seine anderen Arbeitskollegen oben bei der Arbeit oder im Feierabend. Zweitens würde kein normal denkender Mensch hier unten in der Dunkelheit herumlungern. Doch auch diese logischen Gedanken vertrieben nicht seine Angst. Das war das Mühsame an der Angst. Wenn sie einmal im Körper sass, konnte der Geist sie nicht mehr vertreiben. Tief Luft holend schritt er am Raum mit den Duschen vorbei und wollte bereits die Türe daneben zum Archiv öffnen, als er ein Rascheln aus dem Duschraum hörte. Ihm entfuhr ein leiser Schrei, was ihm mehr Angst einjagte als alles andere. Wann hatte er zuletzt aus Angst geschrien? Das musste mit etwa zehn gewesen sein, als er beim Spielen im Garten in einem Gebüsch auf eine Blindschleiche gestossen war. Die hatte sich zwar sofort zurückgezogen, doch nichts desto trotz hatte er geschrien, als ginge es um sein Leben. Doch jetzt wollte er nicht an diese lautlosen Viecher denken, die genau hier in dieser feuchten dunklen Umgebung sicher gerne gehaust hätten. Wahrscheinlich ernährten sie sich sogar von Spinnen. Also müsste das hier unten ein richtiges Blindschleichenparadies sein. Vielleicht hatten sie in den hinteren Duschen im Staub und Dreck und Rost bereits ein Nest gebaut und die ersten Eier gelegt. Die vielleicht sogar schon geschlüpft waren und die Kleinen jetzt zu Hunderten hier herumwuselten! In seiner Panik hätte er am liebsten das Mäppchen hingeschmissen und wäre nach oben gerannt. Der Chefin hätte er einfach erzählt, er hätte es versorgt. Sie würde sicher nicht nachsehen gehen. Falls doch, würde sie vielleicht von den Blindschleichen angefallen. Dann würde ihr das blöde Grinsen von selbst vergehen. Diese Rachegedanken hatten ihm wieder Mut gemacht. Diese Freude würde er ihr sicher nicht machen! Schnell schritt er zur Türe zum Archiv, packte sie, stieg über den blöden Absatz, über den er am Anfang jedes zweite Mal gestolpert war, nämlich entweder beim Eintreten oder beim Hinausgehen, und machte Licht. Diesen Lichtschalter fand er sofort, was er als gutes Omen sah. Das eigentlich Mühsame begann aber erst jetzt. Denn in diesem Archiv war nichts dort, wo es eigentlich sein müsste. Über all die Jahre hatten die verschiedensten Lernenden jeweils ein Jahr diese Arbeit gemacht. Wie es schien, waren alle nie wirklich motiviert bei der Arbeit gewesen. Dass auch archivierte Belege irgendwann definitiv entsorgt werden konnten, schien hier nicht bekannt zu sein. Am Anfang hatte er stundenlang gesucht, um die entsprechende Archivschachtel zu finden. In der Zwischenzeit hatte er ein gewisses System erkennen können. Zielstrebig ging er nun zu den letztjährigen Aufträgen im hinteren Teil des Raumes, als ihn ein leises Knarren aufhorchen liess. Seine Angst hatte er fast vergessen, doch jetzt war sie mit voller Wucht zurück. Sein Atem ging hektisch und sein Herz pochte unregelmässig. Das Knarren war eindeutig von der Haupttüre gekommen. Sollte er nachsehen, ob vielleicht einer der Bürokollegen nachsah, ob er noch hier unten war? Vielleicht war er schon viel länger hier als er glaubte und sie wollten einfach nur Feierabend machen? „Hallo?“ wollte er rufen, doch es kam nur ein leises Krächzen heraus. Er räusperte sich und wollte nochmals, diesmal lauter, rufen, als er wieder das Knarzen hörte. War das überhaupt die Türe? Vielleicht kam ja dieses Geräusch aus den Duschen? Beim Gedanken, dass er hier nur herauskam, wenn er an den Duschen vorbeiging, packte ihn das kalte Grauen. Unschlüssig stand er da. Das Mäppchen klebte an seinen feuchten, kalten Fingern. Wieder gab es für ihn zwei Varianten: Erstens könnte er jetzt seelenruhig das Mäppchen versorgen, das Licht löschen, nicht über den Absatz stolpern, die Türe schliessen und dann den Keller verlassen. Die zweite Variante war, dass er um die Ecke schauen würde, vielleicht noch einmal rufen und sehen würde, ob überhaupt jemand hier war. Wäre er ganz mutig, könnte er sogar einmal den Duschraum betreten und diesen genauer unter die Lupe nehmen. Kurzerhand entschied er sich für eine Zwischenvariante. Er ging in die Nähe der Archivtüre, rief einmal laut „hallo“ und lauschte dann angestrengt in die danach herrschende Stille. Nichts. Kein Rascheln. Kein Knarren. Und schon gar keine Antwort. Scheinbar eine Ewigkeit stand er da. Dann zog er sich Schritt für Schritt wieder zurück in den hinteren Teil des Raumes zu den gesuchten Archivschachteln. Als er dort angelangt war, lauschte er wieder in die Stille. Sein Blick wanderte über die Schachteln, doch die gesuchte war nicht dabei. Natürlich war genau dort eine Lücke, wo er das Mäppchen hätte versorgen müssen. Na super! Kurzerhand stopfte er es in irgendeine Schachtel, merkte sich, wo er es versorgt hatte und nahm sich vor, beim nächsten Mal die Schachtel zu suchen und das Mäppchen am richtigen Ort zu versorgen. Doch nicht mehr heute. Heute wollte er nur noch hier raus. Raus aus diesem Gebäude. Weg von seiner Chefin und hin zu seinen Kumpels, die er in ihrem Clubhäuschen auf ein Bier treffen würde. Als er bei der Tür angelangte, traf ihn jedoch fast der Schlag. Sie war zu. Noch nie war sie von alleine zu gegangen. Jemand musste sie zugemacht haben. Oder etwas. Sein Atem ging nun rasselnd und sein hart pochendes Herz machte ihm plötzlich Angst. Er war zwar jung und sportlich, doch dieses Gewummere in seinem Brustkorb konnte auf Dauer nicht gut sein. Am liebsten hätte er geheult. Er wollte hier nur noch raus. Das war eigentlich so einfach. Und doch so schwer. Was, wenn die Türe abgeschlossen war? Er hatte keinen Schlüssel dabei. Den nahm er ins Archiv nie mit. Wahrscheinlich hatte ihn diese trottelige Putzfrau hier unten eingesperrt. Die schien ihm sowieso immer so seltsam. Halb taub war sie auch noch. Jedenfalls reagierte sie nie darauf, wenn er sie grüsste. Aber was hätte sie denn da unten gewollt? Normalerweise putzte sie am Freitag nach Feierabend. Und so wie es hier aussah, im Keller ganz sicher nicht. Plötzlich packte ihn die Wut auf dieses blöde Weibsstück. Er war sich nun ganz sicher, dass sie vorhin diese Geräusche gemacht und dann die Türe geschlossen hatte. Wütend packte er die Türklinke, drückte sie herunter und wollte herausstürmen. Doch die Türe liess sich nicht öffnen. Vor Schreck liess er sofort die Türklinke wieder los. Das Gewummere in seiner Brust ging nun wieder los. Sein Mund war staubtrocken. Was sollte er tun? Er hatte nicht einmal sein Smartphone dabei. Aber hier unten hätte er ja sowieso keinen Empfang. Verzweifelt lehnte er sich gegen die Türe, als sein Ellbogen die Türklinke berührte. Ihm schien, als würde sich die Türe einen Spaltbreit öffnen. Schnell trat er von der Türe zurück. Tatsächlich, die Türe war nun einen Spaltbreit offen. Da fiel ihm auf, dass er die Türe auf die falsche Seite hin hatte öffnen wollen. Das durfte er nie, wirklich nie und nimmer irgendjemandem erzählen. Er schämte sich so, dass er die Türe mit einem Ruck aufriss, das Licht auslöschte und dann natürlich noch über den Absatz stolperte. Im letzten Moment konnte er sich an der Wand festhalten. Mit einem lauten Knall schloss er die Türe, rannte zur Kellertüre, achtete hier nicht auf das Knarren, sondern riss sie auf und schlug sie dann wieder zu. Dieser Knall hallte das Treppenhaus hinauf, doch ihm war es egal. Er rannte die Treppe hinauf, so schnell er konnte. Ohne die anderen eines Blickes zu würdigen eilte er zu seinem Arbeitsplatz, fuhr seinen PC herunter packte seine Jacke und die Umhängetasche und wünschte allen einen schönen Abend. Da fiel ihm auf, dass nur noch seine Chefin im Büro war. Alle anderen Plätze waren bereits leer. „Das ging aber lange“, meinte sie mit ihrem blutigen Grinsen. Er konnte das jetzt einfach nicht ertragen. „Ist ein riesen Chaos da unten“, murmelte er und stürmte dann aus dem Büro. Erst als er mit seinem Fahrrad durch die düsteren, sich bereits leerenden Strassen radelte, beruhigten sich seine Nerven und sein Herzschlag wieder. Wie lange musste er da unten gewesen sein? Er hielt an und kramte sein Smartphone aus der Umhängetasche. Das war doch nicht möglich! Es war bereits nach halb sieben Uhr! War er tatsächlich zwei Stunden in diesem Archiv gewesen? Aber so musste es sein. Die Smartphone Uhr lügt nicht. Er schrieb seiner Mutter kurz eine Nachricht, dass er direkt seine Kumpels treffen würde und es spät würde. Seine Eltern waren sehr grosszügig was den Ausgang anging, aber sie wussten gerne, wo er jeweils steckte. Als er das Clubhäuschen, eine kleine Blockhütte am Waldrand die den Eltern von Manu gehörten, erreichte, waren seine drei Kumpels schon reichlich angedöselt. „Hey Ferdi“, grölte Nico und nahm ein Bier aus dem Brunnen, der vor der Hütte stand und streckte es ihm hin. „Du kommst spät. Hat die alte Bitch dich noch aufgehalten?“ Mit ‚die alte Bitch‘ war seine Chefin gemeint. Nico nannte sie immer so, obwohl er sie noch nie gesehen hatte. Aber Fernandos Erzählungen über seine Chefin waren auch nie schmeichelhaft. Da er nicht mit der Wahrheit rausrücken wollte, zuckte er nur mit den Schultern, nahm das Bier, köpfte den Deckel weg und stiess dann mit seinen Kumpels an. Später grillierten sie noch Würste und verschwanden dann in der Blockhütte, wo es wenigstens ein bisschen wärmer war. Fernandos Erinnerungen an sein Erlebnis im Archiv verblassten nach jedem Bier und jedem blöden Spruch seiner Kumpels mehr und mehr.

Am Montag erwachte Fernando mit einem kratzigen Hals und einem Kopf, als wäre er mit Steinen gefüllt. Bereits am Samstag hatte er sich nicht gut gefühlt, hatte sogar auf den Ausgang verzichtet und stattdessen auf die zwei anstehenden Prüfungen gelernt. Wahrscheinlich hatte ihm das Gelage vom Freitag in der Blockhütte nicht gut getan. Jetzt überlegte er sich, ob er überhaupt zur Arbeit gehen, oder sich besser krank melden sollte. Schlussendlich entschied er sich aufzustehen. Waren die Lernenden ein Semester lang nie krank, bekamen sie jeweils einen Bonus. Den wollte er sich nicht entgehen lassen. Irgendwie würde er den Tag schon überstehen. Ihm schwindelte und auf dem Weg zur Arbeit ging ihm fast die Puste aus und er überlegte sich, ob er nicht besser doch umkehren und den Tag im Bett verbringen sollte. Immerhin standen morgen in der Schule die zwei grossen Prüfungen an. Dazu musste er einen klaren Kopf haben. Da er aber nun bereits im Geschäft angekommen war, ging er hinein. Als er den Bürotrakt betrat, kam ihm plötzlich sein Erlebnis vom Freitag im Archiv in den Sinn. Ihn packte das kalte Grauen. Hoffentlich musste er heute nicht in den Keller runter! Als er das Büro betrat und seine Arbeitskollegen grüsste, erfasste ihn wieder ein Schwindel. Schnell setzte er sich an seinen Arbeitsplatz und schaltete den PC ein. Während der hochfuhr, ging Fernando seine Aufgaben für den heutigen Tag durch. Unkonzentriert erledigte er die ihm aufgetragenen Arbeiten. Er hatte für alles doppelt so lange. Plötzlich stand seine Chefin vor ihm und grinste ihn mit ihrer blutigen Fratze an. „Fernando, du hast doch am Freitag noch Unterlagen im Archiv versorgt. Könntest du die bitte holen, ich brauche sie nun doch noch.“ Ihre Stimme war piepsig wie immer, trotzdem hörte er ganz klar einen grausamen Unterton heraus. Er war sich sicher, dass seine Chefin genau wusste, wie schlecht es ihm ging und ihn nun extra ins Archiv herunter schickte. Das blöde Scheissmäppchen hätte sie ihm am Freitag gar nicht erst zum Archivieren geben müssen. Sie hatte bestimmt schon dann gewusst, dass sie es heute nochmals brauchen würde. Aber ihre sadistische Neigung musste ja irgendwie befriedigt werden. „Echt jetzt?“ fragte er deshalb patzig mit seiner immer heiserer werdenden Stimme. „Was soll das heissen?“ fauchte sie ihn an. „Wieso habe ich es am Freitag nach unten bringen müssen, wenn Sie es heute doch wieder benötigen?“ fragte er ungewohnt aufmüpfig. Doch er war viel zu müde um irgendeine falsche Höflichkeit zur Schau zu tragen. „Werde nicht frech junger Mann“, meinte sie nun genauso unprofessionell wie er sich gerade ausgedrückt hatte. „Schon gut. Ich geh ja schon.“ „Ja, aber sofort!“ machte sie ihm Beine. Am liebsten hätte er es auf den Sankt Nimmerlein Tag verschoben, doch er mühte sich mühsam hoch, während seine Chefin immer noch mit verschränkten Armen vor seinem Pult stand. Er berührte sie fast, als er an ihr vorbeiging, doch sie machte keinen Schritt zur Seite. Das waren ihre blöden Ich-bin-der-Chef-Mätzchen die er so hasste. Mit pochendem Herzen machte er sich schicksalsergeben auf den Weg in den Keller. Mit jedem Schritt der ihn nach unten führte wurden seine Knie weicher, beschleunigte sich sein Herzschlag, fiel ihm das Atmen schwerer. Unten angekommen machte er eine kurze Pause vor der Türe. Das lag zum einen daran, dass ihn wieder einen Schwindel erfasst hatte und er befürchtete, in Ohnmacht zu fallen. Zum anderen hatte er panische Angst, diesen Raum zu betreten. In seinem Zustand würde er eine Angstattacke nicht überleben. Tief Luft holend, was zu einem weiteren Schwindelanfall führte, berührte er die Türklinke und drückte sie dann mit aller ihm verbliebenen Kraft herunter. Dann überlegte er sich, ob er die Türe schnell oder langsam öffnen sollte. Mit einem leisen „Scheiss drauf“, stiess er die Türe auf. Das Quietschen ging ihm wie immer durch Mark und Bein. Nur war es heute noch hundert Mal schlimmer als sonst. Es fühlte sich an, als würde jemand mit spitzen Fingernägeln über jeden einzelnen blank gelegten Nerv seines Körpers fahren. Mühsam hielt er sich am Türrahmen fest, damit er nicht umkippte. Als er sich wieder kräftig genug fühlte, liess er vorsichtig den Türrahmen los und tastete nach dem Lichtschalter. Wieder einmal fand er ihn nicht auf Anhieb, doch heute wunderte ihn das nicht. Er hatte überhaupt keine Koordination über seine Körperfunktionen. Als er ihn endlich gefunden hatte, ging das Licht zögernd an. Bei seinem Glück würde heute sicher auch noch die Glühbirne den Geist aufgeben. Trotzdem war er ausnahmsweise froh darüber, war das Licht so schwach. Grelles Licht hätte ihm wahrscheinlich den Schädel gesprengt. Mit schlurfenden Schritten machte er sich auf den Weg zum Archiv. Als er am Duschraum vorbeiging, den er mit aller Willenskraft zu ignorieren versuchte, nahm er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Schneller als ihm guttat drehte er den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Doch durch die ruckartige Bewegung, begann sich alles um ihn zu drehen, bis er sich nicht mehr auf den Füssen halten konnte und zu Boden stürzte. Im Letzten Moment konnte er sich mit den Händen noch abstützen. Langsam liess er den Kopf sinken und versuchte ruhig zu atmen, was ihm mehr schlecht als recht gelang. Immer noch in kauernder Haltung drehte er vorsichtig den Kopf um in den Duschraum sehen zu können. Da war nichts Ungewöhnliches. Alles war so unheimlich und schmutzig wie immer. Wahrscheinlich hatte er bereits Halluzinationen. Mühsam rappelte er sich auf und machte einen Schritt vorwärts, als er diesmal ein ganz deutliches Rascheln aus dem Duschraum hörte. Er liess die ruckartigen Bewegungen sein und blieb einfach stehen. Da war was! Aber was? Vielleicht war es nur eine Spinne. Eine sehr grosse Spinne! Oder ein Vogel hatte sich hierhin verflogen. Ja klar, wahrscheinlich durch die Mauer hindurch hineingeflogen. Oder es war eine Ratte. Genau, eine Ratte! Es gab doch oft in den Kellern Mäuse und Ratten. Und in diesem Drecksloch war es sicher das reinste Paradies für diese Viecher. Fernando fühlte sich nun so schlecht, wie noch nie zuvor. Ihm war sogar egal, welches Vieh hier unten sein Unwesen trieb. Er würde jetzt das blöde Mäppchen holen, es der alten Bitch geben und sich dann krank melden. Egal was mit dem Bonus war. Mit schleppenden Schritten ging er auf die Archivtüre zu. „Achtung, da kommt noch eine Stufe“, murmelte er vor sich, während er fiebrig die Türe öffnete. Er nahm einen übertrieben grossen Schritt, der ihn fast aus dem Gleichgewicht brachte, tastete dann die Wand ab und schaltete das Licht ein. Langsam hangelte er sich die Regalreihen entlang. Doch er hatte keine Ahnung mehr, in welchem Regal er das Mäppchen am Freitag versorgt hatte. Er wusste zwar noch, dass es im hinteren Bereich des Archivs gewesen war und dass ausgerechnet jene Schachtel, welche er benötigt hätte, nicht im Regal gewesen war. Er mühte sich von Regal zu Regal vor, doch er konnte die Schrift nicht mehr entziffern. Ihm verschwamm alles vor den Augen. Plötzlich hörte er wieder dieses Rascheln. Diesmal schien ihm, als sei es direkt vor dem Eingang zum Archiv. Aber wahrscheinlich spielte ihm sein vernebeltes Hirn nur einen Streich. Da ihm die Sucherei sowieso sinnlos erschien, machte er sich langsam auf den Rückweg. Er musste dringend nach Hause. Sich hinlegen. Einen Moment überlegte er sich ernsthaft, sich hier ein bisschen auszuruhen. Doch dann wurde ihm doch bewusst, wie blödsinnig dieser Gedanke war. Vielleicht würde ihn hier etwas anfallen. Vielleicht sogar fressen. Wie konnte er nur denken, hier zu ruhen. Was für ein blöder Gedanke! Ihm musste es wirklich schlecht gehen. Natürlich stolperte er auch noch über den blöden Absatz bei der Archivtüre, konnte sich aber im letzten Moment an der Türe festhalten. Dann machte er unsinnigerweise noch diesen übergrossen Schritt hinaus und schloss vorsichtig die Türe. Als er zu dem Duschraum kam, nahm er wieder eine Bewegung wahr. Langsam beugte er sich vor und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Er schaukelte vor und zurück und konnte sich im letzten Moment bevor er hingefallen wäre noch fangen. Angestrengt schaute er in die Düsternis, während er sich an der Wand festhielt. Da hörte er wieder dieses Rascheln. Erschrocken zuckte er zurück, ohne jedoch die Wand loszulassen. Sein Herzschlag beschleunigte sich und sein Atem ging nur noch stossweise. Da! Da war was! Seine Augen begannen von der Anstrengung zu tränen und er wischte mit der freien Hand darüber. Plötzlich sah er zwei rot glühende Augen, die ihn aus der Dunkelheit regungslos anstarrten. Seine Hand fuhr vor Schreck vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Dummerweise hatte er dazu die Hand genommen, mit welcher er sich festgehalten hatte. Er stolperte zurück und landete unsanft auf dem Hosenboden. Trotzdem starrte er weiter auf die Augen, die sich ihm langsam näherten. Er robbte auf dem Hintern Stück für Stück zurück, während die roten Augen genauso auf ihn zukamen. „Nein“, wimmerte er. „Nein!“ schrie er mit letzter Kraft.

Als die Chefin aus diesem nervenzerrenden Meeting zurückkam, war der Platz von Fernando leer und das angeforderte Mäppchen nicht auf ihrem Pult. Müde seufzend setzte sie sich an ihr Pult. Ach, diese Jungen von heute. Sie wusste meistens gar nicht, wie sie mit ihnen umspringen sollte. Sie sah in die Augen der Lernenden und erblickte darin meistens nur eine gewisse Verachtung. Als ob die Lernenden, wenn sie dann mal so alt waren wie sie, auch nur einen Schritt weiter wären als sie heute. Damals hatte sie auch geglaubt, sie könnte die Welt verändern. Und dass die alten Knacker es einfach nicht auf die Reihe gekriegt hatten. Doch wenn man ehrlich war, erreichten nur die wenigsten Menschen etwas Spezielles. Nur hörte und sah man halt von denen viel mehr als von Otto Normalverbraucher. Was glaubten denn die Jungen, wo sie mal enden würden? Als Lady Gaga, Brad Pitt oder Einstein? Dass sie von einem Titelblatt der InTouch auf die anderen Versager herunterschauen würden? Dass sie einen Nobelpreis gewinnen würden und dann scheinheilig der guten Ausbildnerin danken würden, ohne die sie es nie geschafft hätten? Müde rieb sie sich über die Stirn. Fernando machte seine Sache eigentlich gut, aber manchmal konnte er ganz schön bockig sein. Diese Respektlosigkeit von heute Morgen war aber zum Glück die Ausnahme. „Weiss jemand von euch wo Fernando steckt?“ fragte sie nun in den Raum hinein. Irgendwo musste er ja sein. „Der ist nach Hause. Als er wie eine wandelnde Leiche aus dem Archiv kam, haben wir ihn nach Hause geschickt. So kann der nicht arbeiten.“ „Hat er das Mäppchen aus dem Archiv mitgebracht?“ „Nein, hab jedenfalls nichts gesehen.“ Na super, dann würde sie es wohl selber holen müssen. Aber was hatte der nur wieder den halben Vormittag dort unten gemacht? Schicksalsergeben stand sie auf und machte sich auf in den Keller. Mit etwas hatte Fernando am Freitag Recht gehabt, im Archiv herrschte das reinste Chaos. Hoffentlich fand sie das Mäppchen schnell. Sie hasste das Archiv. Zum Glück konnte sie normalerweise die Lernenden nach unten schicken. Jetzt tat es ihr leid, dass sie Fernando am Freitagabend noch ins Archiv geschickt hatte. Aber hatte sie wissen können, dass sie die Unterlagen bereits heute nochmals benötigen würde? Sie waren monatelang herumgelegen und kaum waren sie versorgt, wurde nach ihnen verlangt. Die Türe zum Archiv war offen. Das war nicht gut. Manchmal drang der Modergeruch nach oben, deshalb wurde verlangt, dass die Türe immer geschlossen wurde. Aber Fernando war entschuldigt, wenn er sich wirklich so schlecht gefühlt hatte. Heute Morgen war ihr das gar nicht aufgefallen. Aber heute Morgen waren ihre Gedanken auch bereits beim Meeting gewesen. Auch das Licht brannte noch, was ihr jedoch egal war. Sie hasste die Sucherei nach dem Lichtschalter, der sich an einer saublöden Stelle befand. Ach, und diese Duschen! Wieso konnte man die nicht endlich herausreissen? Die brauchte ja eh kein Mensch mehr. Die waren doch nur ein Hort für Ungeziefer. Und sie hasste Ungeziefer! Als sie den Duschraum passierte, nahm sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Schnell drehte sie sich um, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches entdecken. So, nun möglichst schnell in das Archiv, das Mäppchen holen und dann wieder hoch ins Büro. Dort warteten Unmengen von Arbeiten auf sie. Die Türe zum Archiv war zwar geschlossen, doch das Licht brannte auch hier noch. Sie konnte nur den Kopf über Fernando schütteln. Was wäre, wenn er das Mäppchen gebracht hätte? Dann würde jetzt hier unten ewig das Licht brennen. Die Putzfrau kam ja auch nie hier nach unten. Verärgert ging sie die Regale entlang, bis sie das richtige fand. Nur war die Archivschachtel, die sie suchte, nicht vorhanden. Fluchend schritt sie nochmals die Reihe ab. Wo wohl Fernando nun das Mäppchen stattdessen versorgt hatte? Wahrscheinlich hatte er es irgendwo hineingestopft und angenommen, dass es ja sowieso nie mehr benötigt würde. Weit gefehlt! Da stand sie nun und konnte Archivschachtel um Archivschachtel durchwühlen. Der würde etwas von ihr hören, wenn er wieder zur Arbeit kam! Plötzlich nahm sie ein Geräusch wahr. „Hallo!“ rief sie hinaus. Wahrscheinlich suchte sie jemand hier unten. Schnell ging sie nach vorne, um nachzusehen. Als sie den Kopf aus dem Archiv streckte, konnte sie jedoch niemanden entdecken. Das Deckenlicht wurde immer schwächer. Vielleicht war jemand hier gewesen und hatte nicht bemerkt, dass sie noch hier war? Die Türe zum Keller war nämlich nun geschlossen. „Hallo!“ rief sie nochmals, diesmal lauter. Mit raschen Schritten durchquerte sie den Kellerraum. Als sie an den Duschen vorbeikam, hörte sie wieder dieses Geräusch. Es hörte sich wie ein Trippeln an. Vielleicht war jemand hier drin? Aber was sollte jemand hier drin zu suchen haben? Im Dunkeln? Sie streckte nun den Kopf in den Duschraum und rief wieder laut „hallo!“. Da sah sie plötzlich rote Augen vor sich. Mit einem lauten Schrei wich sie zurück. Ihr Herz klopfte wie wild. Die roten Augen folgten ihr, kamen immer näher. Da bemerkte sie, dass die roten Augen zu einer Heuschrecke gehörten. Aber nicht einer von diesen kleinen niedlichen. Nein, das war eine kuhgrosse Heuschrecke. Die gebogenen Hinterbeine hatten hässliche Einkerbungen. Die Fühler waren über einen halben Meter lang. Und diese roten Augen fixierten sie, als wollten sie sie hypnotisieren. Jedes Detail dieses Dings nahm sie wahr. Viel zu klar konnte sie alles erkennen. Langsam kam die Heuschrecke auf sie zu. Dabei ertönte wieder das Trippeln, das sie vorhin vernommen hatte. Da ertönte plötzlich eine heisere, düstere Stimme aus dem Duschraum. „Das ist die Frau, die der Junge uns versprochen hatte. Bring sie mir. Los, bring sie mir!“ Der letzte Befehl erklang als zitternder Schrei und mit mehrfachem Echo aus den Tiefen des Duschraumes. Voller Angst stand sie da. Die Beine vermochten sie kaum noch zu tragen. War das ein Scherz? Doch bevor sie etwas darauf erwidern konnte, setzte die Heuschrecke zum Sprung an. Mit einem Schrei wollte sie zurückweichen, doch da war auch schon dieses hässliche Ding über ihr und zog sie in die Tiefe des Duschraumes.

Müde sass Fernando im Bett. Seine Mutter hatte die Kissen aufgeklopft und er sass nun daran gelehnt da, um besser mit seinem Besuch sprechen zu können. Er lag nun schon über eine Woche krank im Bett. Irgendeine ganz schlimme Infektion, hatte der Arzt gesagt. Fast hätte er ins Krankenhaus gemusst. Zum Glück war das Fieber dann doch noch gesunken. Jetzt brauchte er einfach nur Ruhe. Seine Kumpels hatten ihn jeden Tag besucht, seit es ihm wieder besser ging. Heute hatte er grosse Neuigkeiten. „Stellt euch das vor, ich bekam heute einen Anruf aus dem Büro, und ihr werdet es nicht glauben, meine Chefin ist verschwunden!“ „Geil, die alte Bitch ist verschwunden“, meinte Nico und schaute ihn mit wackelnden Augenbrauen an. Fernando blickte böse zurück und machte eine Kopfbewegung Richtung Türe, zum Zeichen, dass er sich ein bisschen zurückhalten sollte, immerhin war irgendwo noch seine Mutter in der Nähe. Manu, der Praktische, hatte eine ganz andere Frage. „Was heisst denn verschwunden?“ „Weg“, sagte Fernando, dem es immer noch nicht so zum Reden war. „Klar, aber sag schon. Niemand verschwindet einfach so.“ „Also, scheinbar war sie an dem Tag, an dem ich krank nach Hause musste, plötzlich nicht mehr im Büro. Niemand weiss, wo sie war oder wo sie jetzt ist. Der PC lief noch, aber sie war weg und ist seither nicht mehr aufgetaucht. Spurlos verschwunden.“ „Geil“, meinte darauf Nico noch einmal und schaute Fernando an, worauf dieser gedankenverloren vor sich hin blickte und dann mit einem schelmischen Grinsen meinte, „ja, absolut der Hammer“.

Der Supermarkt

Es war kurz vor Ladenschluss, als sie gehetzt den kleinen Supermarkt betrat. Sie liebte ihre kleine Sophie, aber wenn sie wie heute ihre Schreianfälle hatte, wusste sie manchmal kaum, wie sie ihre Nerven im Griff behalten konnte. Zum Glück war Sophie jetzt eingeschlafen. Am Eingang packte sie sich einen Einkaufskorb, was zwar zusammen mit dem Kinderwagen umständlich war, aber immer noch besser, als wenn sie die Kleine durch das Beladen des Kinderwagens wieder geweckt hätte. Der Supermarkt war zu dieser Zeit fast leer. Nur noch vereinzelte Kunden trödelten durch die Gänge. Sie schien die einzige zu sein, die es eilig hatte. Doch sie hatte nicht vor, hier mehr Zeit zu verbringen als nötig war. Das Ziel war, möglichst schnell nach Hause zu kommen. Seit ihr letzter Freund sie sitzengelassen hatte, wusste sie kaum noch wo ihr der Kopf stand. Am Morgen Sophie aufnehmen, wickeln, anziehen, dann in die Kita bringen, zur Arbeit fahren, am Abend wieder abholen, natürlich immer pünktlich, sonst musste sie draufzahlen, was bei ihrer momentanen finanziellen Situation überhaupt nicht drin lag. Danach ein bisschen Zeit mit Sophie verbringen. Spielen oder spazieren gehen, danach die Kleine baden und dann, wenn hoffentlich Ruhe einkehrte, die Wohnung putzen, waschen, Rechnungen zahlen. Sie fühlte sich ausgelaugt und heillos überfordert. Trotzdem hatte sie keine Ahnung, wie sie ihre Situation ändern sollte. Müde packte sie Milch, Joghurt, Nudeln, Fertigprodukte und Kinderbrei in ihren Einkaufskorb, der immer schwerer wurde. Nun musste sie nur noch die Windeln nehmen, dann konnte sie endlich nach Hause. Obwohl, wenn sie es sich recht überlegte, war es hier doch eigentlich ganz angenehm. Einen schön klimatisierten Raum und nicht diese feuchte Hitze, die sie draussen wieder empfangen würde. Kein Kindergeschrei. Beruhigende Musik. Beim Regal mit den Windeln angekommen, überlegte sie sich, ob sie den Kinderwagen zusammen mit dem Einkaufskorb kurz hinstellen konnte, damit sie die Windeln holen konnte. Sie schaute sich verstohlen um. Seit sie hier angekommen war, verfolgte sie eine ältere Frau in einigem Abstand. Wahrscheinlich wollte die einen Blick in den Kinderwagen werfen und wenn es ganz blöd kam, die Bäckchen des süssen Mädchens streicheln. Sie kannte diese Art von Frauen, die nicht verstanden, wenn sie ungehalten reagierte, wenn irgendwelche wildfremden Menschen an ihrer Sophie herumtatschten. Die Frau war nun auch stehengeblieben und studierte interessiert das Bindensortiment. Ha, als ob die so etwas noch brauchen würde! Zudem war noch ein seltsamer junger Mann unterwegs, der bis jetzt erst ein Bier in seinem Korb hatte und so herumschlich, als wollte er etwas klauen. Dann sah sie noch einen älteren Herrn, der dauernd etwas vor sich hin brabbelte. Konnte sie ihre Sophie bei all diesen seltsamen Menschen die sich heute im Supermarkt tummelten, im Wagen kurz stehen lassen? Aber was sollte schon passieren? Ein weiterer Blick zeigte ihr, dass nun niemand mehr in der Nähe war. Auch die ältere Frau war nun verschwunden. Der Korb drückte ihr schmerzhaft in die Armbeuge und die Schulter tat ihr auch schon weh. Kurzentschlossen stellte sie den Kinderwagen so hin, dass sie ihn immer im Blick hatte. Den Einkaufskorb liess sie daneben stehen. Im Regal mit den Windeln sah sie, dass es eine Aktion gab. Natürlich waren diese Windeln im obersten Regalfach. Mit ihren knapp eins sechzig musste sie sich ganz schön strecken, um das Paket herunterzubekommen. Sie wollte schon zurück zum Kinderwagen, als sie bemerkte, dass es die Aktion erst ab zwei Pakete gab. Das nächste Paket war weit nach hinten gerutscht, da nützte alles strecken und recken nichts. Sie kam einfach nicht daran. Natürlich war um diese Zeit auch weit und breit keiner der Regale auffüllenden Angestellten. Da erblickte sie am anderen Ende des Regals Kinderschaufel. Damit müsste es doch gehen. Schnell ging sie hin, packte eines der Schäufelchen und drehte sich wieder um, als sie eine Bewegung aus den Augenwinkeln erhaschte. War da jemand beim Kinderwagen? Aber der und ihr Einkaufskorb standen noch genau so da, wie sie sie hingestellt hatte. Ihr übermüdetes Hirn sah schon Dinge, die gar nicht existierten. Sie hätte heulen können. Stattdessen stand sie auf das unterste Regal und fischte mit der Schaufel nach einem weiteren Paket. Irgendwo schien es anzustehen, denn sie musste zerren und nachhaken, bis es endlich mit einem Ratschen nachliess. Durch die plötzlich fehlende Gegenwehr rutschte sie vom Regal, verdrehte sich den Fuss und dann landete auch noch das Windelpaket auf ihrem Kopf. Zum Glück war es schön weich. Aber ihr Fuss schmerzte höllisch. Das hatte ihr gerade noch gefehlt! Ein verknackster Knöchel war das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte. Vorsichtig bewegte sie den Fuss hin und her. Er schmerzte zwar, doch schien nichts gerissen, gebrochen oder auch nur verstaucht zu sein. Mit einem Seufzer der Erleichterung humpelte sie mit der Schaufel zurück und hängte sie wieder an den vorgesehenen Haken. Dann nahm sie die zwei Windelpakete auf und ging langsam zum Kinderwagen und dem Einkaufskorb. Nun musste sie die Windeln doch im Kinderwagen verstauen. Alles konnte sie nicht auf einmal tragen und gleichzeitig noch den Kinderwagen schieben. Als sie vorsichtig das Verdeck nach hinten schob um zu sehen, ob Sophie noch schlief, packte sie das kalte Grauen. Der Kinderwagen war leer! Panisch hob sie die Decke, als ob sich die kleine Sophie darunter hätte verstecken können. Dann blickte sie sich hektisch um. Vielleicht war Sophie irgendwie aus dem Wagen gekommen? Aber die Kleine war erst neun Monate alt. Sie wäre somit herausgefallen und hätte sicher geschrien wie am Spiess. Doch alles absuchen half nichts. Sophie war verschwunden. Da löste sich ihre ganz Panik in einem einzigen Schrei. „Sophie! Meine Sophie!“ schrie sie aus Leibeskräften und klammerte sich hilfesuchend an den Kinderwagen. Dann begann sie wie von Sinnen den Supermarkt abzusuchen. Sie schaute in jeden Gang, schrie immer wieder „Sophie!“ Doch natürlich bekam sie keine Antwort auf ihre angstvollen Schreie. Als Erste war die ältere Frau bei ihr. Sie packte ihre wild um sich schlagenden Arme und versuchte herauszufinden was passiert war. Fast gleichzeitig trat der Filialleiter hinzu. „Was ist denn los?“ wollten die zwei wissen, doch sie konnte nur hilflose Schluchzer ausstossen und dazwischen den Namen ihrer Tochter schreien. „Bitte, beruhigen Sie sich doch“, meinte nun der Filialleiter sanft und nahm sie in den Arm. Dieser Spruch brachte sie aber nur noch mehr in Rage. Wie konnte er von ihr verlangen, sich zu beruhigen, wo doch ihre geliebte Sophie verschwunden war! Wütend schlug sie mit den Fäusten auf den Filialleiter ein, der sie sofort wieder losliess. Zum Glück kam in dem Moment der junge Herr mit seinem Bier dazu. Er zog sie vorsichtig zurück. Voller Zorn blickte sie ihn an. „Sie haben meine Tochter genommen! Geben Sie es zu!“ schrie sie ihn an und wandte sich dann an die ältere Frau, „oder Sie! Sie haben mich doch die ganze Zeit verfolgt und nur gewartet, bis der Kinderwagen einen Moment unbeaufsichtigt ist!“

Die ältere Frau wich erschrocken zurück. Wieso sollte sie so etwas tun? Sie hatte doch nur ihren vor ihr liegenden einsamen Abend noch ein bisschen mit Gesellschaft im Supermarkt verbringen wollen. Hatte nicht einfach nur alleine und nutzlos zu Hause rumsitzen wollen. Und nun wurde sie beschuldigt, ein Kind gestohlen zu haben. Ob so viel Unrecht begann sie zu zittern. Langsam machte sie einen Schritt von dieser Verrückten zurück und dann noch einen. Doch dann sah sie die Verzweiflung in den Augen dieser jungen Frau. Dieser Frau war soeben das Kind genommen worden. Hatte sie da nicht alles Recht, hysterisch zu werden? Natürlich stimmte auch, was sie gesagt hatte. Sie hätte so gerne einen Blick auf das Baby geworfen, doch leider war das Verdeck vorgezogen gewesen, so dass sie es gar nicht hatte sehen können. Sie liebte diese kleinen Kinder, die noch so unschuldig waren und ihr immer mit einem Lächeln begegneten. Nicht wie die älteren, die frech waren und sie manchmal alte Schachtel nannten.

Der ältere Mann, angezogen von dem Radau, liess sich nun auch blicken. Er war eigentlich schon bei der Kasse gewesen, doch als er das Geschrei gehört hatte, hatte er alles stehen- und liegenlassen und war hierher geeilt. Scheinbar spinnte hier diese junge Frau rum, die ihn vorhin so schräg angestarrt hatte. Ach, die heutigen Frauen, absolut unbelastbar. Was war wohl ihr Problem? Nicht das richtige Make-up gefunden? Oder war ihr Lieblingsschokoriegel aus dem Sortiment genommen worden? Kopfschüttelnd wollte er sich schon abwenden, als ihn die ältere Frau ansprach. „Herr Marty, haben sie eventuell etwas gesehen? Der jungen Frau ist das Baby gestohlen worden!“ „Was?“ sofort war er wieder voll bei der Sache. Er überlegte kurz, ob er im Supermarkt noch jemanden anderen als diesen jungen Herrn und Frau Schmittel gesehen hatte. Als er eingetreten war, waren mit ihm zwei junge Burschen hereingekommen, die jedoch bereits nach zwei Minuten mit ihrem Sixpack Bier an der Kasse waren. Dann war da eine jüngere Frau gewesen mit einem Mädchen so zehnjährig, die die ganze Zeit gequengelt hatte. Die war dann ohne einen Einkauf wieder durch den Eingang verschwunden. Sonst war ihm niemand aufgefallen. In der Zwischenzeit hatte sich die junge Mutter wieder etwas beruhigt. „Wie ist denn ihr Name?“ wagte der Filialleiter, Herr Berckel, ein ganz angenehmer Herr in den Fünfzigern, einen weiteren Vorstoss. Die Frau wischte sich mit dem nackten Unterarm über ihr verheultes Gesicht, worauf Frau Schmittel ihr sofort ein Papiertaschentuch reichte. Typisch Frauen, die haben so was immer sofort zur Hand. Gut, vielleicht hätte er irgendwo in der tiefe seiner Hosentasche auch noch ein gebrauchtes gehabt. Die Umstehenden erfuhren nun, dass die Mutter des verschwundenen Kindes Frau Klark hiess und ihre Tochter Sophie, neun Monate, verschwunden, seit sie die Windelpakete heruntergeholt hatte. Bereits zeichnete sich ein weiterer Wutanfall ab. „Wären diese Scheisswindeln nicht im obersten Regal und nach hinten geschoben gewesen, hätte ich meine Sophie noch!“ heulte sie nun Herr Berckel an, der sie ganz perplex anschaute und den Zusammenhang zwischen dem Einräumen der Windeln und dem Verschwinden von Sophie nicht erkannte. Doch Frau Schmittel gab ihm nur einen Wink, damit er nicht nachfragte und damit noch weiteres Unheil auf sich ziehen würde. In der Zwischenzeit war nun auch noch Bella Pelp, die junge Aushilfekraft aufgetaucht, um entweder einfach nur ihre Neugier zu befriedigen oder vielleicht sogar um etwas Hilfreiches beizutragen. Doch so wie Herr Marty dieses Früchtchen kannte, hätte sie wahrscheinlich am liebsten das Smartphone gezogen, alles gefilmt und dann auf einem dieser seltsamen Internetkanäle, zur Befriedigung der Neugier von anderen, hineingestellt. Als sie sich an den Hintern fasste, wieso verstaute die heutige Jugend ihre Smartphones eigentlich immer in den Hinterntaschen ihrer hautengen Jeans, warf er ihr einen warnenden Blick zu. Sofort zog Bella die Hand zurück.

Eigentlich hatte sie doch nur die Hosen zurechtrücken wollen. Diese Hosen waren ihr viel zu eng und rutschten immer wieder runter. Doch wenn der alte Marty sie so anschaute, liess sie es lieber sein. Sie wurde zwar aus der Situation immer noch nicht ganz schlau, hatte aber bis jetzt so viel mitbekommen, dass hier irgendwie ein Kind verschwunden war. Doch wie konnte in diesem Supermarkt einfach ein Kind verschwinden? Sie war bereits auf der Abschlussrunde gewesen, als das Geschrei angefangen hatte. Alle die sich im Supermarkt befunden hatten, waren nun hier. Die alte Schmittel, der alte Marty, Herr Berckel, die Frau, der das Kind weggekommen war und natürlich ihr heimlicher Schwarm Flori, von dem sie langsam glaubte, dass er auch auf sie stand. Sicher drei Mal die Woche schlenderte er durch die Gänge, kaufte ein einsames Bier, trank es dann vor dem Supermarkt und zwar genau so lange, bis sie Feierabend hatte. Als sie ihm nun einen Blick zuwarf, wurde der feuerrot und sie fühlte sich in ihrem Verdacht bestätigt. Doch flirten wäre jetzt unangemessen gewesen. Immerhin ging es hier um ein vermisstes Kind und seine völlig aufgelöste Mutter.

Dies war auch Flori bewusst, so dass er sofort seine Aufmerksamkeit wieder auf die junge Mutter richtete. Er mochte Bella richtig gerne, doch wenn er jetzt etwas richtig Gutes sagen oder tun könnte, würde er vielleicht in ihrer Achtung steigen. Normalerweise ignorierte sie ihn, wenn er nach Feierabend noch vor dem Supermarkt sein Bier trank. Ausser einem „schönen Abend“ hatte sie noch nie mit ihm gesprochen. Wenn er dann doch mal den Mut fand, sie zu fragen, ob sie mit ihm mal ausgehen würde, war sie immer bereits bei ihrem Auto oder sogar schon vom Parkplatz weggefahren. Nun überlegte er kurz und meinte dann, „vielleicht sieht man auf den Überwachungsaufnahmen etwas?“ Alle Blicke richteten sich auf ihn, sogar der der jungen Mutter, und er lief wieder knallrot an. Wie er es hasste, dass ihm bei der kleinsten Unsicherheit die Schamesröte ins Gesicht stieg! Kein Wunder hielt Bella nichts von ihm. Wieso hätte die tolle Bella schon auf einen unsichtbaren Burschen wie ihn stehen sollen?

„Gute Idee“, meinte Herr Berckel und forderte nun das kleine Grüppchen auf, ihm zu folgen. Eigentlich hatte er sich so auf den Feierabend gefreut. Die Jungs würden den Abend am See verbringen und seine Frau und er hatten ein paar Kollegen zum Grillen eingeladen. Ein gemütlicher Sommerabend hatte ihn erwartet, und nun würde sich das Drama um dieses verschwundene Kind sicher noch lange hinziehen. Würden nämlich die Überwachungsbilder nichts ans Tageslicht bringen, wovon er ausging, müsste er die Polizei holen. Und dann würde sein Supermarkt zum Tatort und er würde anstatt mit einem kühlen Bier in der Hand am Grill stehen, hier sein und unzählige Fragen beantworten müssen. Er stand mit der Polizei sowieso auf Kriegsfuss, seit sein Jüngster seine rebellische Phase hatte. Aber mein Gott, das war halt die Jugend. Die Polizei machte immer gleich so ein Drama wegen ein paar zerkratzten Autos, eingeschlagenen Scheiben, Schmierereien und Cannabiskonsum. Waren die nie jung gewesen? Seufzend setzte er sich an den Monitor der Überwachungskamera im leider nicht klimatisierten Büro und spürte die erwartungsvollen Blicken der anderen im Rücken. Sechs Kameras nahmen das Innere des Supermarkts auf, eine war auf den Parkplatz gerichtet. Auf dem Parkplatz standen nun noch genau vier Autos, die in der prallen Sonne glitzerten. Seines, das von Bella, das von Herr Marty und das vierte, ein kleiner schwarzer Ford, musste das von Frau Klark sein. Als nun ein weiterer Wagen vorfuhr, packte Herr Berckel schnell das Mikrofon und bat die Kassiererin, Anna Klaus, bitte sofort den Supermarkt abzuschliessen. Er sah, wie die übergewichtige Anna schwerfällig aufstand und gerade noch rechtzeitig die Türe erreichte, bevor der neue Besucher den Supermarkt betreten konnte. Sie redete kurz auf ihn ein, wahrscheinlich um ihm klar zu machen, dass geschlossen war und schloss dann sorgfältig die Türe ab. Sehr gut, das wäre mal erledigt. Dann nahm er die Kamera, die den Gang mit den Windeln aufnahm, auf den Bildschirm und begann die Zeit zurückzudrehen. „Wann ungefähr haben Sie den Kinderwagen hingestellt?“ wollte er nun von Frau Klark wissen, doch die zuckte nur mit den Schultern. Ihre Hysterie hatte sich nun in eine Schockstarre verwandelt und Herr Berckel war froh darüber. Mit hysterischen Frauen konnte er nicht sonderlich gut umgehen. Deshalb war er auch so froh, hatte er zwei Jungs, die nun in der Pubertät waren und nicht Mädchen. „Also, dann drehen wir doch mal so eine Stunde zurück und schauen dann langsam vorwärts.“ Man sah den leeren Gang. Dann kam die Frau mit dem etwa zehnjährigen Kind ins Bild, dem man das Quengeln sogar auf dem stummen Bild ansah. „Die war schon eine Weile wieder draussen als es geschah. Sie können gut noch eine Viertelstunde vorspulen“, meinte nun Herr Marty. Nickend liess Herr Berckel den Film nun im Schnelllauf vorlaufen. Nun sah man Frau Klark auf dem Bildschirm erscheinen. Augenblicklich stoppte Herr Berckel den Schnelllauf. Sie trug den schweren Korb und schob den Kinderwagen. Zuerst blieb sie unschlüssig stehen und schaute sich um. Dann stellte sie den Kinderwagen ab und den Korb daneben. Nochmals schaute sie kurz auf alle Seiten, ehe sie zu den Windeln ging. Alle starrten nun wie gebannt auf den Bildschirm. Jetzt müsste es eigentlich geschehen. Man sah, wie sie mit Mühe das eine Paket Windeln herunterholte, während der Kinderwagen unberührt dastand. Das Verdeck war nach wie vor vorgeklappt, niemand war auch nur in der Nähe des Kinderwagens. Dann sah man Frau Klark, wie sie schon zum Wagen zurückkehren wollte, als sie das Plakat mit der Werbung nochmals betrachtete. Dann stellte sie das eine Paket ab, um noch ein zweites zu holen. Doch es war zu weit hinten. Ihre ganzen Bemühungen waren umsonst. Nun wusste Herr Berckel, wieso sie so in Rage geraten war, wegen der Art, wie und wo die Aktionswindeln aufgefüllt worden waren. Sie schaute sich hilfesuchend um, ging dann zu den Kinderschaufeln, nahm eine, und holte dann mit Müh und Not eine weitere Packung der Windeln herunter. Währenddessen liess niemand den Kinderwagen aus den Augen. Doch da war nichts. Nicht die kleinste Bewegung. Nichts, als sie rückwärtsstolperte und ihr die Windelpackung auf den Kopf fiel. Nichts, als sie die Schaufel zurücklegte. Nichts, als sie sich wieder dem Wagen zuwandte. Dann sah man wie sie das Verdeck zurückklappte, im Wagen wühlte und dann zu schreien und herumzurennen anfing. Herr Berckel stoppte die Aufnahmen und schaute verunsichert in die Runde. Schlussendlich blieb sein Blick auf Frau Klark ruhen.

„Aber wo ist denn mein Baby?“ flüsterte sie nun. Wo konnte ihre geliebte Sophie denn bloss hingekommen sein? Niemand war am Wagen gewesen und trotzdem war sie fort. Leise begann sie zu schluchzen. Frau Schmittel nahm sie tröstend in den Arm und diesmal liess sie es zu. Sie fühlte sich so kraft- und hilflos wie noch nie. Ein Kind konnte doch nicht einfach so verschwinden?

„Ich rufe nun die Polizei“, meinte Herr Berckel, während er widerwillig zum Telefonhörer griff. Er musste dann unbedingt noch seiner Frau berichten, dass es heute leider später werden würde. Während er der Polizei schilderte, was vorgefallen war, musterte er genau die Umstehenden. Was, wenn einer das Kind bereits vorgängig aus dem Wagen geholt hatte? Vielleicht war Frau Klark zuvor schon einmal abgelenkt worden? Vielleicht nur kurz? Immerhin konnte ein Kind nicht einfach so verschwinden. Doch das sollte nun die Polizei klären.

Während sie nun auf die Polizei warteten, brachte Anna Klaus Wasser. Alle nahmen es dankbar entgegen. Frau Schmittel war froh, musste sie noch nicht nach Hause, in ihre leere Wohnung. Vielleicht würde ihre Tochter endlich wieder einmal Interesse zeigen, wenn sie die Erlebnisse von heute schildern würde und das Telefongespräch würde nicht nur fünf Minuten dauern. Sie wusste, dass dieser Gedanke egoistisch war, doch sie wusste auch, des einen Leid ist des anderen Freud. Sie versuchte mit Herr Marty ins Gespräch zu kommen, doch der schien ganz in seinen Gedanken versunken.

Herr Marty liebte Krimis. Er liebte es, wenn es etwas aufzuklären gab. Und heute gab es etwas aufzuklären. Ruhig rekapitulierte er den ganzen Fall noch einmal durch: Eine Frau kommt mit einem Kind in den Supermarkt. Sie kauft ein und lässt das Kind nie aus den Augen. Und als sie es aus den Augen lässt, ist keine Menschenseele weit und breit. Aber halt! Da kam ihm ein Gedanke, der war so einfach und doch so weit hergeholt. Er versuchte ruhig zu bleiben, konnte aber das wilde Schlagen seines Herzens hören und spüren, wie seine Hände leicht zu zittern begannen. Nochmals gut nachdenken, bevor du etwas sagst, redete er sich gut zu. Immerhin wollte er nicht als Depp dastehen. Viele hielten ihn sowieso für senil weil er gerne seine Kommentare abgab, ob nun jemand zuhörte oder nicht. Also, Frau Klark kommt mit einem Kinderwagen in den Supermarkt. Sie lässt den Kinderwagen nie aus den Augen. Am Kinderwagen macht sich niemand zu schaffen. Aber war das Kind überhaupt je im Kinderwagen gewesen? Seiner Kehle entfuhr ein Keuchen. Alle schauten ihn sofort bestürzt an. Wahrscheinlich glaubten sie, dass ihm die Hitze im Büro zu schaffen machte. Doch das war ganz und gar nicht der Fall. Im Gegenteil: Die Wärme im Büro hatte sein Hirn erst auf Hochtouren laufen lassen. Er sah noch nicht ganz klar, doch er war der Lösung ganz nahe. „Ist alles in Ordnung?“ fragte Frau Schmittel besorgt und schaute ihn genau an. Doch er winkte nur ab. „Mir ist ein Gedanke gekommen.“ Er setzte sich nun kerzengerade hin und schaute Frau Klark direkt in die Augen. „Befand sich das Kind auch wirklich im Kinderwagen?“

Sie schaute ihn mit gerunzelter Stirne an, was diese blöde Frage nun wieder sollte. „Aber natürlich. Wieso sollte ich nicht?“ „Weil“, und nun schaute Herr Marty jeden einzelnen an, „wir nur den Kinderwagen sehen. Nie ein Kind. Also ist es doch möglich, dass überhaupt nie ein Kind im Kinderwagen war.“ Herr Marty schaute mit hochgezogenen Augenbrauen fragend in die Runde und sah, wie es bei jedem einzelnen Klick machte. Bei einigen dauerte es vielleicht etwas länger, aber schlussendlich hatten alle geschnallt, was er eigentlich damit sagen wollte. „Die Polizei kommt gerade rechtzeitig“, meinte nun Herr Berckel mit einem erleichterten Blick auf den Monitor und eilte, gefolgt von den anderen, aus dem Büro, um der Polizei die Türe zu öffnen.

Frau Klark stolperte als Letzte hinterher. Sie war verwirrt. In Gedanken ging sie noch einmal den Ablauf des Tages durch. Sie hatte Sophie in der Kita abgegeben. Danach war sie zur Arbeit gefahren. Müde hatte sie um fünf Uhr die Arbeit verlassen. Danach war sie wie immer direkt in die Kita gefahren und hatte die Kleine abgeholt. Wie fast immer war sie gemahnt worden, dass sie wieder einmal zu spät gekommen sei, man aber diesmal ein Auge zudrücken und keine zusätzliche Kosten verrechnen würde. Sophie hatte geschrien wie am Spiess, als sie sie auf die Arme genommen hatte. Einen ganz roten Kopf hatte sie bekommen. Danach war sie mit ihr noch ein bisschen herumspaziert, um sie zu beruhigen. Sie erinnerte sich noch gut an die vorwurfsvollen Blicke, die man ihr zugeworfen hatte, weil ihr Baby derart schrie. Als sich Sophie einigermassen beruhigt hatte und nicht mehr brüllte sondern nur noch jammerte, hatte sie sie in den Kindersitz geschnallt und war dann endlich völlig erschöpft zum Supermarkt gefahren. Dort hatte sie parkiert und den Kinderwagen aus dem Kofferraum geholt. Und danach? Plötzlich wurde ihr etwas Schreckliches bewusst. Ihr schwanden beinahe die Sinne. Sie hatte den Kinderwagen hervorgeholt, sehr wohl. Sie hatte den Kofferraumdeckel zugeklappt. Sie hatte die hintere linke Türe geöffnet, um Sophie herauszunehmen, die nun friedlich schlummerte. In dem Moment hatte ihr Smartphone gesummt. Sie hatte es hervorgeholt und die Nachricht von ihrem Ex gelesen, der ihr gedroht hatte, dass sie und ihr Gör keinen weiteren Rappen von ihm bekommen würden. Sie hatte geschockt auf die Nachricht geblickt und sich bereits in einem weiteren Rechtsstreit mit ihrem Ex gesehen. Sie hatte die Nachricht noch mehrmals gelesen und war immer wütender geworden. Dann hatte sie die Autotüre zugeknallt, das Verdeck des Kinderwagens nach vorne geschoben, damit Sophie nicht geblendet würde und war dann in den Supermarkt geeilt. Doch sie hatte Sophie gar nie aus dem Auto geholt! Die Kleine war immer noch im Auto! Mit einem Schrei fuhr sie nun nach vorne und zwängte sich panisch durch die sich soeben öffnende Türe. Sie rempelte die überraschten Polizisten an. „Sie ist noch im Auto!“ schrie sie und rannte über den heissen Parkplatz zu ihrem Auto, das in der Hitze flimmerte.

Die Strasse

Er ging. Schritt für Schritt. Endlos lag die Strasse vor ihm. Heiss brannte die Sonne von einem wolkenlosen Himmel. Der Schweiss rann ihm in Strömen den Rücken hinunter. Die Haare klebten ihm an der Stirne. Seine Hände waren geschwollen. Die Finger fühlten sich wie Würste an. Trotzdem ging er Schritt für Schritt weiter. Plötzlich hörte er hinter sich ein Geräusch. Ruckartig drehte er sich um. Doch da war nichts und niemand. So wie die ganze Zeit nichts und niemand weder hinter noch vor ihm gewesen war. Aber er hatte ganz deutlich etwas gehört. Er hielt an, um einen Schluck Wasser aus seiner Wasserflasche zu trinken. Das Wasser schmeckte schal und war lauwarm. Doch er fühlte mit Freude, wie es ihm die trockene Kehle herunterrann. Müde blickte er sich um. So weit das Auge reichte waren nur Steppe und dornige halbverdorrte Gebüsche. In der Ferne sah er einen grossen Vogel, der am Himmel seine Bahnen zog. Leise hörte er dessen heiseren Schrei, den er von Zeit zu Zeit ausstiess. Ansonsten war es ganz still. Müde schloss er wieder die Flasche und machte sich weiter auf seinen Weg. Doch kaum hatte er ein paar Schritte gemacht, hörte er das Geräusch wieder hinter sich. Waren es Schritte? War es ein Keuchen? Doch ein Blick zurück zeigte ihm, dass die Strasse immer noch verlassen war. Kopfschüttelnd ging er weiter. Wahrscheinlich hörte er schon seinen eigenen rasselnden Atem wie eine Halluzination. Er stellte sich vor, wie sein Atem, den er ausstiess, den Planeten umkreiste und dann hinter ihm wieder ankam. Über den Gedanken musste er lächeln. Durch das Lächeln rissen seine trockenen Lippen auf und ihm verging das Lachen. Er schmeckte Blut und spürte, wie das Blut über sein Kinn rann. Mist, auch das noch! Unwirsch wischte er mit der Hand über das Kinn und schaute dann gedankenverloren auf seine blutverschmierte Hand. Irgendwann würde er den Verstand verlieren. So wie es aussah, eher früher als später. Wahrscheinlich war er jetzt schon nicht mehr ganz bei Sinnen. Wieso sonst hörte er diese Geräusche in dieser viel zu stillen Welt? Das Kreischen des Vogels klang nun viel näher, und als er in den Himmel blickte, sah er, wie er immer näher kam. Durch das Heben des Kopfes hatte ihn ein Schwindel erfasst. Schnell senkte er ihn wieder und trottete weiter. Seine Schritte wurden immer unsicherer. Nach einer Weile hörte er wieder das Geräusch. Doch diesmal machte er sich nicht einmal mehr die Mühe nach hinten zu schauen. Er würde sowieso nur die leere Strasse erblicken. Und dafür brauchte er sich nicht umzudrehen. Die leere Strasse sah er auch vor sich. Plötzlich streifte ihn etwas. Mit einem Schrei fuhr er herum. Doch natürlich war da immer noch nichts. Dann wurde ihm bewusst, dass der Schatten des Vogels ihn gestreift hatte. Aber wie hatte er einen Schatten spüren können? Als er den Kopf in den Nacken legte, erfasste ihn wieder ein Schwindel und er fiel nach hinten, unsanft auf seinen Hosenboden. Benommen blieb er sitzen. Eigentlich mochte er gar nicht mehr aufstehen. Dies war sein Weg. Doch er wollte diesen Weg nicht mehr gehen. Lange war er ihn gegangen. Viel zu lange. Einen eintönigen Weg. Anstrengend, ermüdend. Der Weg seines Lebens. Er wünschte sich, er könnte einen Weg gehen, der voller Leben und Freude war. Doch sein Weg war Mühsal und Entbehrung. Wieso war dies sein Weg? Wieso hatten andere einen Weg durch Blumenwiesen und entlang von Seen? Doch er durfte jetzt nicht aufgeben. Er war diesen Weg schon so lange gegangen. Irgendwann musste etwas anderes kommen. Etwas Schönes. Etwas, was ihm wieder Freude bereiten würde. Also rappelte er sich hoch und ging weiter. Schritt für Schritt. Mit der Zeit fühlte er, wie die Sonne ihm direkt an den Rücken schien und somit bald untergehen würde. Seine Umgebung wurde in ein goldenes Licht getaucht und plötzlich fand er seine Umgebung nicht mehr so schlimm. Doch die Nacht würde wieder furchtbar werden. Kalt und einsam. Der Vogel war nun auch weitergezogen und nirgendwo mehr zu sehen oder zu hören. Eine Weile ging er noch in der Dunkelheit weiter. Dann setzte er sich an den Wegrand, zog seine Decke eng um sich und trank einen weiteren Schluck aus der Wasserflasche. Müde kuschelte er sich in seine Decke und starrte die Sterne an, die millionenfach funkelten. Er wünschte sich, auf einem anderen Stern zu sein. Auf einem, in dem er nicht einsam in einer kalten Wüste liegen müsste. Langsam fielen ihm die Augen zu und er schlief ein. Ein fürchterlicher Schrei riss ihn aus seinem Schlaf. Erschrocken fuhr er hoch und blickte sich panisch um. Noch nie hatte er einen solchen Schrei gehört. Jetzt hatte er sich so sehr gewünscht nicht mehr so einsam zu sein. Und jetzt war er es scheinbar nicht mehr, aber jetzt wünschte er sich, wieder einsam zu sein. Ganz alleine. Ohne etwas, das so fürchterlich schrie. Doch nun war es wieder ganz still. Vielleicht hatte er im Schlaf geschrien und sich somit selber geweckt? Langsam fielen ihm die Augen zu. Da hörte er wieder diesen Schrei. Diesmal näher. Panische Angst packte ihn. Er spürte wie ihn ein Frösteln überlief und er begann unkontrolliert zu zittern. Vielleicht war es ja nur ein Tier, versuchte er sich zu beruhigen. Aber falls es ein Tier war, konnte es ja gefährlich sein. Und wieso tauchte ausgerechnet jetzt ein Tier auf? Vorsichtig setzte er sich auf und zog die Decke eng um sich. Angestrengt blickte er in die undurchdringliche Dunkelheit, doch er konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Da hörte er wieder den Schrei. Doch diesmal kamen sofort ein zweiter Schrei dazu und dann ein dritter. Es war furchtbar. Die Schreie erklangen rund um ihn herum. Es wurden immer mehr Schreie. Schon bald hallte die ganze Wüste davon wider. Und nun sah er auch noch gelbe Punkte, die langsam auf ihn zukamen. Es war als hätten die Sterne seinen Wunsch gehört und wären nun vom Himmel heruntergekommen, um ihm die Einsamkeit zu nehmen. Die Lichter und Schreie kamen immer näher. Und näher. Weglaufen hätte jetzt gar nichts gebracht. Er war umzingelt von diesen kreischenden Lichtern. Also kauerte er sich ganz klein zusammen. Er versuchte den Atem anzuhalten, um möglichst kein Geräusch zu machen. Doch durch die Angst keuchte er lauter denn je. Er spürte nun die Schreie direkt neben seinem Ohr. Dann ein Lufthauch. Dann wurde ihm schmerzhaft der Arm aufgerissen. Mit einem Schrei setzte er sich auf und hielt sich wimmernd den schmerzenden Arm. Als er verzweifelt den Kopf hob, sah er, dass die Dämmerung anbrach und die Lichter mit Gekreische auf alle Seite davonstoben und dann mit der aufgehenden Sonne verschmolzen. Einen Moment sass er wie gelähmt da. Dann zog er vorsichtig die Hand von seinem Arm und blickte auf die schreckliche Wunde. Er hatte drei tiefe Kratzer, die stark bluteten. Er sah sogar das Weiss des Knochens. Bei dem Anblick wurde ihm übel und er musste trocken würgen. Vorsichtig öffnete er die Wasserflasche und trank ein paar Schlucke des immer schaler schmeckenden Wassers. Hoffentlich traf er bald auf eine dieser seltenen Tümpel, die es entlang der Strasse gab. Dieses Wasser war zwar brackig und warm, doch Wasser war Wasser. Normalerweise rationierte er sein Wasser immer sehr sorgfältig, doch nun goss er das restliche Wasser vorsichtig über seine tiefe Wunde. Vor Schmerz überkam ihn eine neue Übelkeitswelle und er konnte einen Schrei nicht unterdrücken. Zitternd sass er da. Die Schmerzen waren unerträglich. Als er sich wieder etwas beruhigt hatte, riss er sich einen Stoffstreifen aus seinem schmutzigen, fadenscheinigen T-Shirt und band damit seine Wunde ab. Dann stand er vorsichtig auf und machte sich weiter auf seinen Weg. Er konzentrierte sich voll und ganz auf seine Füsse, damit diese Schritt für Schritt vorwärtsgingen. Das schmerzhafte Pochen in seinem Arm liess mit der Zeit etwas nach. Doch er hatte panische Angst vor der nächsten Nacht. Was würde ihn erwarten? Würden diese seltsamen, furchtbaren Lichter ihn wieder anfallen? Als die Sonne langsam ihren Höchststand erreichte, sah er in der Weite wieder den grossen Vogel am Himmel seine Kreise ziehen. Und nach einer Weile konnte er ihn auch wieder seine zitternden Schreie ausstossen hören. Der Schmerz in seinem Arm war nun nur noch ein leichtes Pochen, doch der Durst wurde immer schlimmer. Seit er losgelaufen war, hatte er nur noch einen Schluck zu trinken gehabt. Dann war die Flasche leer gewesen. Obwohl er das wusste, machte er nun eine kurze Rast, öffnete die Flasche und drückte noch ein paar letzte Tröpfchen hinaus, die er langsam auf der Zunge vergehen liess. Doch seinen trockenen Gaumen erreichten sie nicht mehr. Müde sass er da und blickte in die Ferne. Er hoffte, bald auf ein Wasserloch zu stossen. Ansonsten wären sein schmerzender Arm und die schreienden Lichter sein kleinstes Problem. Als ihn diesmal der Schatten des grossen Vogels streiften, erschrak er nicht mehr. Irgendwie war es tröstlich, nicht das einzige Lebewesen in dieser Ödnis zu sein. Am liebsten wäre er hier sitzen geblieben bis die Nacht und die Kühle kam. Doch er musste weiter, um vielleicht doch noch ein Wasserloch zu finden. Also rappelte er sich mühsam wieder auf und machte sich weiter auf den Weg. Seit dem Vorfall von letzter Nacht hinterfragte er nicht mehr, weshalb dies sein Weg war. Er war nur froh, konnte er den Weg gehen. Lieber einen einsamen und trostlosen Weg gehen zu können, als gar keinen. Während er weiterging, atmete er bewusst die warme Luft tief ein und hörte den Schreien des Vogels zu, die langsam in der Ferne wieder verklangen. Plötzlich sah er auf der rechten Seite der Strasse ein Wasserloch. Aber es war nicht irgendein sumpfiges Wasserloch. Es war eines jener seltenen, die klares, scheinbar sauberes Wasser fassten. Einen Moment glaubte er eine Fata Morgana vor sich zu haben oder zu halluzinieren. Doch als er näher kam, sah er zu seinem grossen Glück, dass diese kleine Oase tatsächlich da war. Als er sich erschöpft am Rande niederliess und die Hände ins Wasser tauchte, fühlte es sich herrlich kühl an. Das war seltsam. Bis jetzt hatte es noch nie kaltes Wasser in einem Wasserloch gegeben. Doch er wollte sich nicht beklagen. Gierig trank er aus seinen Handflächen, dann füllte er die Wasserfalsche auf. Nachdem er die Wasserflasche verstaut hatte, zog er vorsichtig seine Kleider aus und liess sich dann in das kalte Wasser gleiten. Als das Wasser seinen verletzten Arm erreichte, durchzuckte ihn einen fürchterlichen Schmerz, doch er biss die Zähne zusammen und löste vorsichtig den Verband, der voller getrocknetem Blut und dadurch ganz steif war. Wenigstens blutete die Wunde nicht mehr und schien auch nicht mehr so tief zu sein wie noch am Morgen. Er wusch nun den Verband aus und legte ihn auf seine Decke zum Trocknen. Er selber blieb noch eine ganze Weile in diesem kühlen Nass, trank immer mal wieder davon und schrubbte sich gründlich von Kopf bis Fuss. Als er dann schlussendlich das Wasserloch doch wieder verliess, war das Wasser nicht mehr klar, sondern trübe von dem ganzen Schmutz und Blut, das er abgewaschen hatte. Mit einem wohligen Gefühl streckte er sich auf seiner Decke aus und liess sich von der Sonne, die bereits wieder ihren Weg Richtung Horizont aufgenommen hatte, trocknen. Nach einer Weile setzte er sich auf, band sich den getrockneten Verband wieder um den Arm, packte seine Sachen zusammen und machte sich dann weiter auf seinen Weg. Plötzlich hörte er, wie schon am Vortag, ein Keuchen hinter sich. Schnell drehte er sich um, voller Angst, dass die schreienden Lichter ihn jetzt schon wieder verfolgen würden. Doch da war nichts. So wie gestern schon nichts gewesen war. Trotzdem war er sich diesmal sicher, dass er sich dieses Geräusch nicht nur einbildete. Da war wirklich etwas hinter ihm. Aber da es nun hell war, konnte er es einfach nicht sehen. Doch sobald die Sonne untergegangen war, würde das Ding mit seinen Schreien wieder die anderen anlocken. Doch was wollten diese Dinger von ihm? Letzte Nacht hatte er noch gemeint, die Sterne hätten seinen Wunsch nach Gesellschaft erhört und ihm die schlimmst mögliche Gesellschaft geschickt. Doch jetzt, bei Tageslicht, glaubte er nicht mehr daran. Er spürte, dass sein Weg langsam zu Ende ging und eine tiefe Traurigkeit erfasste ihn. Eine Traurigkeit, die er bei diesem Gedanken nie für möglich gehalten hätte. Er hatte seinen Weg zwar oft verflucht, doch jetzt, wo das Ende nahte, wollte er die Strasse nicht verlassen. Er wollte darauf weitergehen. Vorbei an dornigen Sträuchern, zwischendurch vorbei an einem Wasserloch, an dem er seine Wasserflasche auffüllen konnte. Egal wie brakig das Wasser war. Er wollte in der Nacht in seine Decke eingewickelt die Sterne betrachten und sich wünschen, woanders zu sein. Er wollte von saftigen Wiesen, klaren Seen und Vogelgezwitscher in Bäumen in voller Blüte träumen. Dies war doch SEINE Strasse und er wollte sie nicht verlassen, zumindest jetzt noch nicht. Er war dazu noch nicht bereit. Beim Gedanken, dass er vielleicht heute diese Strasse zum letzten Mal sah, wurde ihm eng in der Brust und eine einzelne Träne löste sich und rann ihm die Wange hinunter. Ein Schluchzen schüttelte ihn und er schlug sich verzweifelt die Hand des unverletzten Armes vor die Augen. Schluchzend stand er lange da, bis es ihn zu frösteln begann, da die Sonne untergegangen war. Nun war er sich ganz sicher: Das Ende nahte. Sein Ende nahte. Langsam liess er die Hand sinken und drehte sich dann einmal um die eigene Achse, um alles noch einmal in sich aufzunehmen. Danach setzte er seinen Weg noch eine Weile fort, bis er in der Dunkelheit die Strasse nicht mehr richtig erkennen konnte. Also setzte er sich hin, trank das Wasser, das nun nicht mehr kühl war, und wickelte sich in seine Decke ein. Das Unglücklichsein und die Angst erschöpften ihn und er legte sich auf den Rücken, um den Sternenhimmel zu betrachten. Jedes Mal wenn ihm die Augen zufielen, riss er sie wieder auf und blickte angestrengt in den Himmel. Er wollte dies alles noch ein letztes Mal intensiv in sich aufnehmen. Auch wenn er nicht wusste, wo es nach seinem Ende hinging, wollte er doch das alles in seinen Gedanken mitnehmen, falls es nach dem Ende wieder einen Anfang gab. Dann wollte er sich an diese Nacht erinnern können. Den endlosen Himmel, übersät mit unzähligen Sternen. Die kühle Luft. Diese Stille. Der noch warme Boden, den er durch die Decke hindurch spüren konnte. Nun schloss er die Augen und konzentrierte sich voll und ganz auf sich. Seinen schmerzenden Arm. Seine von der Müdigkeit schweren Glieder. Seine Atemwege, die sich trocken und verstopft anfühlten. Sein Herzschlag der ganz ruhig ging. Am liebsten hätte er wieder losgeheult. Doch stattdessen lag er ganz still da und liess langsam los. Er sagte all dem Adieu. Nicht auf Wiedersehen, nein. Adieu. Denn er würde all dies nie mehr haben. Wahrscheinlich auch diesen Körper nicht mehr. Über all diese Gedanken schlief er doch noch ein. Geweckt wurde er wieder von diesen markerschütternden Schreien. Seine Glieder versteiften sich, kaum hatte er das Geräusch gehört. Panik überkam ihn, aber auch Hoffnung. Plötzlich stellte er sich vor, dass diese schreienden Lichter ein anderes Opfer gefunden hatten. Dass vielleicht noch ein anderer einsamer Wanderer auf dieser Strasse entlangging, meilenweit hinter oder vor ihm. Genau in dem Tempo wie er, so dass sie sich gar nie begegnen konnten. Doch seine Hoffnung schwand schnell, als die Schreie sich wieder ihm näherten. Aus allen Richtungen kamen sie langsam auf ihn zu. Und nun sah er auch wieder die Lichter. Da er nun wusste, dass er nichts mehr zu verlieren hatte, schrie er ihnen zu. „Haut ab! Haut doch alle bloss ab!“ Immer wieder schrie er es, bis er ganz heiser war. Doch dies schien die schreienden Lichter nicht zu beeindrucken. Sie kamen immer näher. Er schrie immer lauter. Bis er nur noch ein heiseres Krächzen hervorbrachte und dann ganz verstummte. Nun war das Gekreische direkt um ihn. Er konnte nicht erkennen, wie diese Wesen genau aussahen. Er sah nur Lichter. Doch sie schienen nicht sehr gross. Und es sah so aus, als wären die Lichter die Augen dieser Wesen. Als nun eines dieser Wesen vor ihm stand und ihn anschrie, dass ihm fast das Trommelfell zerplatzte, sah er lange spitze Zähne. Das Wesen kam immer näher und er konnte nur noch Wimmern. Diesmal wurde er von vorne angegriffen. Die langen Krallen fuhren ihm über die Brust und zerfetzten seine Decke und das T-Shirt. Der Schmerz nahm ihm fast die Sinne. Doch es folgten sogleich weitere Attacken. Er wurde hochgerissen, die Krallen fuhren ihm nun über den Rücken, er wurde in die Schulter gebissen, sie rissen an seinen Haaren und zerkratzen ihm das Gesicht. Erst da überkam ihn die erlösende Besinnungslosigkeit.

Als er wieder zu sich kam, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Kaum hatte er die Augen aufgeschlagen, wünschte er sich die alles verschluckende Ohnmacht zurück. Was bloss hatte er diesen Wesen angetan, dass sie ihn so zugerichtet hatten? Er wollte sich aufsetzen, doch es gelang ihm nicht mehr. Er lag auf der Seite und als er nun seine Hände erblickte, musste er schnell die Augen schliessen. Seine Finger waren total zerbissen, bis auf die Knochen. Von seinen Händen und Armen hing die Haut in Fetzen und genauso würde wahrscheinlich sein ganzer Körper aussehen. Erschöpft schloss er wieder die Augen. Er konnte nicht mehr. Da spürte er den Schatten des Vogels, der über ihm seine Bahnen zog. „Hilf mir“, flüsterte er. „Bitte, hilf mir.“ Doch der Vogel zog unbeirrt seine Bahnen. Keuchend lag er da. Er versuchte sich vorzustellen, wie er letzte Nacht den Sternenhimmel betrachtet hatte. Wie er sich gewünscht hatte, nicht gehen zu müssen. Doch jetzt konnte er sich das nicht mehr vorstellen. Er wollte nur noch weg. Schon gar nicht mehr noch eine Nacht hier verbringen. Anstelle der Sterne sah er nun nur noch diese hässlichen einäugigen Wesen vor sich. Anstelle von Dornengestrüppe sah er Krallen und Zähnen. Anstelle eines warmen sandigen Bodens spürte er nun das feuchte Blut unter sich. Sein Atem wurde schwerer. Die Schmerzen waren unerträglich. Gerne hätte er geschrien, doch das hätte die Schmerzen nur noch verstärkt. Er merkte, wie ihm langsam die Sinne schwanden. Und doch war er für seinen Geschmack immer noch viel zu sehr bei Bewusstsein. Plötzlich glaubte er, eine Bewegung vor sich zu spüren. Vorsichtig öffnete er ein Auge und sah direkt in die schwarzen ausdrucklosen Augen dieses grossen Vogels, der ihn seit zwei Tagen begleitete. Der Vogel war riesig. Wahrscheinlich ein Adler. Nur war er schwarz, schwarz wie eine Krähe. Sein Gefieder glänzte in der bereits wieder sinkenden Sonne. Sein Schnabel war gebogen und seine Krallen waren lang, viel zu lang. Der Vogel schaute ihn unverwandt an und öffnete dann seine riesigen Schwingen. Panik machte sich in ihm breit, doch als er zurückzuckte, konnte er einen Schmerzensschrei nicht unterdrücken. Langsam senkte sich wieder die alles erlösende Dunkelheit über ihn. Sein Atem wurde immer flacher. Sein Herzschlag langsamer. Das Blut sickerte nach und nach aus seinem Körper, hinein in den warmen, trockenen Sand. Kurz vor Sonnenuntergang kam er wieder zu sich. Langsam öffnete er die Augen. Der Vogel war verschwunden. Er spürte, wie seine Lebenskraft schwand. Da war nur noch ein kleiner Hauch. Ein letzter Blick auf seine Strasse, bevor er die Augen für immer schloss.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739466644
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (September)
Schlagworte
Spukgeschichten Unheimliches Horror Sammelband Kurzgeschichten Gruselgeschichten Krimi Thriller Spannung Erzählungen

Autor

  • Ruth Herbst (Autor:in)

Ruth Herbst lebt und arbeitet in der Schweiz. Nach 'Dinge des Schreckens' erscheint nun 'Orte des Schreckens', der zweite Sammelband mit unheimlichen Kurzgeschichten.
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Titel: Orte des Schreckens