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Die Seele des Bösen – Blutiger Hass

Sadie Scott 19

von Dania Dicken (Autor:in)
280 Seiten
Reihe: Sadie Scott, Band 19

Zusammenfassung

Eine Gruppe schwer bewaffneter Männer schießt auf der San Francisco Pride Parade um sich – ein Hassverbrechen gegen Schwule und Lesben, das zahlreiche Todesopfer fordert. Beinahe geraten auch Sadies beste Freundin Tessa und ihre Tochter Libby ins Kreuzfeuer, die zu den Besuchern des Festivals gehören. Zwei der Schützen können entkommen, ihr Anführer Wiley Turner wird festgenommen und darf auf keinerlei Gnade hoffen: Ihm droht die Todesstrafe. Bevor es jedoch zum Prozess gegen Turner kommt, ereignet sich ein dramatischer Zwischenfall am Campus der Universität in San José: Bis an die Zähne bewaffnete Männer haben Libbys Hochschule gestürmt und Studenten als Geiseln genommen. Als die Polizei einen Unterhändler schickt, weigern die Geiselnehmer sich, mit ihm zu sprechen und verlangen ausdrücklich nach Ex-FBI-Agentin Sadie. Sie soll die Behörden dazu bringen, Wiley freizulassen oder die Studenten sterben …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mittelmäßige Geister verurteilen gewöhnlich alles,

was über ihren Horizont geht.

 

François de La Rochefoucauld

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Freitag, 25. Juni

 

Nur zu gut konnte Libby sich an die Nervosität erinnern, die sie empfunden hatte, als sie zuletzt bei einer Urteilsverkündung im Gerichtssaal gesessen hatte. Damals war es um Matt gegangen, um Jahre im Gefängnis oder einen Freispruch, der es ja dann glücklicherweise auch geworden war.

Diesmal hoffte sie auf das Gegenteil.

Ron wurde in Handschellen von zwei Marshals hereingeführt und nahm neben seinem Anwalt auf der Anklagebank Platz. Er hatte sich in Schale geschmissen und hielt sich selbstbewusst aufrecht. Libby erdolchte ihn von hinten mit Blicken – froh darüber, bei seinem Anblick keine Schweißausbrüche mehr zu bekommen. Kieran tastete nach ihrer Hand, aber sie blickte zu Sadie, die auf der anderen Seite neben ihr saß und ebenfalls zu Ron sah.

Auch Linda, ihre Eltern, Ryan Stone und die ermittelnden Detectives waren erschienen, ebenso wie einige ehemalige Mitglieder der nun aufgelösten Studentenverbindung Theta Phi. Anthony Mullins war nicht darunter, nach seinem Deal mit der Staatsanwaltschaft hatte er seine Strafe bereits angetreten.

Ron war gerade vierundzwanzig geworden und konnte deshalb nicht auf eine Verurteilung nach Jugendstrafrecht hoffen. Libby wünschte ihm eine harte Strafe, aber die würde ja erst in einem zweiten Prozess festgesetzt werden. Gerade ging es nur um die Schuldfrage. Sie hatte auch noch nicht gegen Ron ausgesagt, das würde sie erst im zweiten Prozess tun. Davor graute es ihr bereits, aber sie würde es durchziehen. Ihre Aussage fand ja unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.

Der Richter erschien und wandte sich an die Jury. „Sind die Geschworenen zu einem Urteil gekommen?“

Der Sprecher der Jury bejahte, ein Gerichtsdiener brachte ihm den Umschlag mit der Urteilsschrift und der Sprecher verlas das Urteil.

„Wir, die Geschworenen in der Strafsache des Staates Kalifornien gegen Ron Hawkins, befinden den Angeklagten für schuldig im Sinne der Paragrafen 182, 192, 207, 240, 245 und 261 des Strafgesetzes.“

Erleichtert schloss Libby die Augen und lächelte. Paragraf 261 drehte sich um Vergewaltigung. Sie hatten ihn also dafür verurteilt. Das war einfach großartig. Er würde also auch für das, was er ihr angetan hatte, ins Gefängnis gehen. Die Detectives hatten ihr erklärt, dass inzwischen auch Sarah Baines Anzeige gegen ihn erstattet hatte und das Video ihrer Vergewaltigung als Beweismittel herangezogen worden war. Sie hofften auf ein Urteil wegen Vergewaltigung in mehreren Fällen, was automatisch eine härtere Strafe nach sich zog, aber ob das klappte, würde sich noch zeigen. Dann hatten sich ihre Mühen vielleicht besonders gelohnt.

Als die Urteilsverkündung vorüber war, verließ sie den Gerichtssaal zusammen mit Sadie und Kieran, ohne Ron noch eines weiteren Blickes zu würdigen. Sie war fertig mit ihm.

„Ich freue mich so für dich“, sagte Sadie beim Verlassen des Gerichtsgebäudes.

„Ja, fühlt sich gut an“, erwiderte Libby.

„Ich hoffe, er zerfällt hinter Gittern zu Staub“, grollte Kieran, woraufhin Sadie grinste.

„Sie werden bestimmt kein mildes Strafmaß anlegen“, sagte sie. „Wollen wir das heute Abend feiern? Kommt doch vorbei und wir grillen zusammen.“

„Au ja.“ Libby nickte eifrig und auch Kieran war einverstanden.

„Also dann, wir sehen uns später. So gegen fünf?“, schlug Sadie vor.

„Prima“, sagte Libby und hakte sich gut gelaunt bei ihrem Freund unter. Die beiden hatten Semesterferien und deshalb hatte auch Sadie Gelegenheit gehabt, zur Urteilsverkündung zu kommen. Libby zuliebe hatte sie das unbedingt machen wollen. Inzwischen war das Mädchen doch ausgezogen und lebte nun zusammen mit Kieran in einem winzigen Studentenapartment in San José, worauf sie sehr stolz war. Sie kellnerte nun in einer kleinen Bar unweit ihrer Wohnung und verdiente sich so einen Großteil ihres Lebensunterhalts selbst. Sie fehlte Sadie und Matt, aber Sadie hätte einen Teufel getan und ihr das gesagt, denn sie wollte ihr kein schlechtes Gewissen machen. Libby hatte ein eigenes Leben, es wurde auch Zeit für sie, flügge zu werden. Vor allem aber fehlte sie Hayley, die es immer genossen hatte, ihre große Schwester um sich zu haben. Libby wusste das aber auch und verbrachte immer noch viel Zeit zu Hause.

Sadie stieg in den Challenger und machte sich auf den Heimweg nach Pleasanton. Während sie dem Freeway nach Norden folgte, überlegte sie, auch Phil und Tessa zum Grillen einzuladen. Das machte sicher gleich noch viel mehr Spaß.

Als sie eine halbe Stunde später das Haus betrat, hörte sie Musik aus Matts Arbeitszimmer, Green Day mit American Idiot. Grinsend ging sie hin und klopfte an den Türrahmen. Matt war konzentriert in die Bearbeitung eines Bildes in Photoshop vertieft, drehte sich aber sofort um.

„Oh, schon wieder zurück?“, fragte er und drehte die Musik leiser. „Wie ist es gelaufen?“

„Schuldig in allen Anklagepunkten“, sagte Sadie. „Libby ist vor Zufriedenheit fast geplatzt.“

„Das kann ich mir vorstellen. Ich wäre ja gern mitgekommen, aber in einer halben Stunde muss dieses Bild fertig sein …“

„Mach ganz in Ruhe. Sag mal, wollen wir heute Abend zur Feier des Tages grillen? Libby und Kieran sind dabei. Ich könnte noch Phil und Tessa fragen.“

„Oh, klingt gut. Tolle Idee.“

Sadie lächelte und ging ins Wohnzimmer, wo sie sich aufs Sofa setzte, um ihren Freunden eine Nachricht zu schreiben. Von Tessa kam nach zwei Minuten eine Bestätigung, bei Phil ließ sie länger auf sich warten. Letztlich waren jedoch alle mit von der Partie, auch wenn Phil schrieb, dass er allein kommen würde. Hayden zahnte fürchterlich und Amelia war nicht in der Stimmung, um wegzugehen, was Sadie gut verstehen konnte. Sie hatte nie zwei kleine Kinder gehabt und stellte es sich manchmal maßlos anstrengend vor.

Als Matt das Bild an die Redaktion geschickt hatte, gingen die beiden einkaufen. Auf dem Rückweg vom Supermarkt holten sie Hayley am Kindergarten ab und fuhren gemeinsam nach Hause. Während Matt und Sadie sich den Vorbereitungen widmeten, schaute Hayley sich einen Film an und schmuste dabei mit Figaro auf dem Sofa. Der Kater war inzwischen etwas in die Jahre gekommen, aber es rührte Sadie sehr, zu beobachten, wie gut die beiden sich verstanden.

Kieran und Libby kamen pünktlich um fünf und gingen ihnen noch bei den Vorbereitungen zur Hand. Als Libby hörte, dass auch Tessa und Phil kommen würden, freute sie sich sehr. Die beiden stießen jedoch erst um kurz vor sechs dazu, weil sie es früher nicht von der Arbeit geschafft hatten. Tessa hatte natürlich Sylvie im Schlepptau, die Sadie ebenso herzlich begrüßte. Dann ging Sadie voraus in den Garten, wo bereits die anderen warteten. Hayley spielte im Sandkasten, Libby saß bei ihr und Kieran hatte sich zu Matt an den Grill gesellt.

„Ihr seid ja auch hier“, freute Tessa sich und umarmte die beiden nacheinander.

„Wir haben ja auch was zu feiern“, sagte Sadie. „Ron Hawkins wurde heute schuldig gesprochen.“

„Oh, davon hast du vorhin gar nichts gesagt, schäm dich! Meinen Glückwunsch“, sagte Tessa, woraufhin Libby zufrieden lächelte.

„Ja, war ein gutes Gefühl.“

„Das glaube ich dir. Ging mir ähnlich, als Lindsay damals schuldig gesprochen wurde.“

„Irgendwie haben wir das ja alle schon durch“, sagte Matt von der Seite.

„Schon verrückt. Aber stimmt, das Urteil ist wirklich ein Grund zum Feiern“, fand Tessa. Kurz darauf stieß auch Phil zu ihnen und freute sich ebenfalls sehr mit Libby.

„Wie gefällt dir denn das neue Studium?“, erkundigte er sich anschließend.

„Oh, das ist toll. Ich habe ja gerade die ersten Prüfungen abgelegt und auch schon Noten bekommen. Statistik war jetzt nicht so toll, das habe ich gehasst … aber in Neuroanatomie und in Psychologie der Kindheit war ich ziemlich gut.“

„Da hattest du ja auch Vorwissen“, sagte Kieran.

„Jetzt rede ihr doch nicht den Erfolg madig“, sagte Tessa stirnrunzelnd.

„Mache ich doch gar nicht …“

„Schon gut“, sagte Libby. „Stimmt ja auch irgendwie. Ich freue mich jetzt vor allem auf Persönlichkeitspsychologie, Sozialpsychologie und ganz besonders auf Psychopathologie.“

Stirnrunzelnd blickte Tessa zu Sadie. „Irgendwie kommst du da viel zu sehr auf deine Mum, weißt du das?“

Libby grinste breit. „Kann gut sein.“

„Und wie sieht dein Plan jetzt aus?“

„Ich mache jetzt meinen Bachelor in Psychologie und Verhaltensforschung und dann bewerbe ich mich bei der Polizei. Ich glaube, Sadies Werdegang wäre auch was für mich. Die Polizei ist eine sichere Bank und wenn ich dann genug Erfahrung gesammelt habe, bewerbe ich mich beim FBI.“

„Oh Himmel … dann leide ich ja schon wieder Todesängste.“ Theatralisch verdrehte Tessa die Augen. „Sadie, raubt dir das eigentlich nicht den Schlaf?“

„Sollte es?“, erwiderte die Angesprochene.

„Ein wenig vielleicht …“

„Traut ihr doch mal was zu“, sagte Phil kopfschüttelnd. „Libby wird das schon gut machen.“

„Da habe ich keinen Zweifel, aber dass du dich immer zum Abschuss bereit hältst, ist ja auch nicht viel beruhigender!“

Phil lachte und nahm noch einen Schluck Bier. „Ich mag meinen Job.“

„Das ist doch die Hauptsache“, sagte Sadie.

„Wie geht es der Familie?“, erkundigte Tessa sich bei ihm.

Sie unterhielten sich munter während des Essens. Hayley stocherte wild auf dem Teller herum und erhielt schließlich ein wenig Unterstützung von ihren Eltern.

„Und was habt ihr am Wochenende so geplant?“, erkundigte Matt sich bei Tessa und Sylvie.

„Wir gehen zur San Francisco Pride“, sagte Tessa.

„Oh, da warst du schon länger nicht“, sagte Sadie.

„Ja, eben, deshalb wird es mal wieder Zeit. Ich gehe mit Tanktop, Lederstiefeln und abstehenden Haaren. Dieses Lesbending habe ich schon ewig nicht gemacht.“

Sadie grinste. „Eigentlich müsste ich mitkommen und mir das anschauen.“

„Mach doch“, erwiderte Tessa breit grinsend. Die San Francisco Pride Parade gab es seit den 1970er Jahren und am letzten Juniwochenende eines jeden Jahres gehörte San Francisco mit Haut und Haar seiner queeren Gemeinde. Schwule, Lesben, Transsexuelle und Personen mit den verschiedensten sexuellen Neigungen warben mit der riesigen Parade um Toleranz und verfolgten jedes Jahr ein eigenes Motto. Es gab verschiedene Bühnen, Musik und zahlreiche andere Events rund um die knallbunte und fröhliche Parade. Ein einziges Mal hatte Sadie Tessa dorthin begleitet, das war inzwischen gut zehn Jahre her. In den letzten Jahren hatte Tessa sich ein wenig aus der Lesbenszene in San Francisco zurückgezogen, was hauptsächlich an Sylvie lag. Tessas Freundin liebte zwar Frauen, hatte ansonsten jedoch wenig mit dem lesbischen Lebensstil am Hut und inzwischen sagte sie selbst, dass ihr das alles zu anstrengend war. Allerdings freute es Sadie, dass Tessa nun doch wieder zur Parade gehen wollte. Das hatte ihr immer viel Spaß gemacht.

„Ich würde mir das gern mal ansehen, glaube ich“, sagte Libby. „Da war ich noch nie.“

Überrascht zog Tessa die Brauen hoch. „Oh … das ist jetzt …“

Libby lachte. „Du musst mich ja nicht mitnehmen, wenn dir das unangenehm ist und du nicht willst.“

„Äh, ich meine … du kennst mich gar nicht, wenn ich die Lesbe raushängen lasse.“

„Ich bin schon groß, Tessa. Das verstört mich nicht nachhaltig“, sagte Libby nüchtern.

„Aber du … du bist die Tochter meiner besten Freundin …“

Alle am Tisch, Sylvie eingeschlossen, amüsierten sich prächtig über Tessas plötzliche Verlegenheit. Schließlich einigten Libby und Kieran sich darauf, allein hinzufahren und Tessa und Sylvie ihr Ding machen zu lassen, obwohl Sylvie sie immer wieder überreden wollte, sie und Tessa doch zu begleiten.

Darüber wurde es dunkel und schließlich brachten Matt und Sadie Hayley ins Bett, die sich zwar sträubte, aber längst hundemüde war. Wieder unten angekommen, wollte Sadie sich etwas Neues zu trinken aus dem Kühlschrank holen und wäre dabei fast in Phil gerannt, der denselben Gedanken gehabt hatte. Mit Bier war er für den Abend fertig, weil er noch fahren musste.

„Schade, dass Amelia nicht mitkommen konnte“, sagte Sadie zu ihm, während Matt schon wieder nach draußen ging.

„Eigentlich ist es ja kein Problem mit den Kindern, aber Hayden ist gerade wirklich wie auf links gedreht und Amelia ist hundemüde. Sie versucht einfach, mir den Rücken freizuhalten, damit ich schlafen kann. Ihre Entscheidung, aber sie sagt, es ist wichtig, dass ich wach bin.“

„Ist es auch, ohne ihren Schlaf abwerten zu wollen. Aber du bist eben Scharfschütze.“

„Einmal das, und außerdem ist sie ja ohnehin gerade zu Hause. Wenn ich frei habe, springe ich ein, aber bei der Arbeit muss ich ja funktionieren.“

„Natürlich. Ich finde es beruhigend, zu wissen, dass du immer noch da draußen bist und diesen Job machst.“ Sadie sagte das mit einem Lächeln, das Phil gleich erwiderte.

„Ich liebe diesen Job. Ohne dich und Matt wäre ich damals gar nicht drauf gekommen.“

„Vielleicht schon, irgendwann …“

„Du hast eine irre Wirkung auf uns, weißt du das? Ich bin deshalb Scharfschütze geworden und Matt ist zum FBI gegangen. Jetzt will Libby das auch …“

„Sie weiß jetzt schon so viel darüber. Das ist einfach toll.“

„Ihr könnt stolz auf euch sein. Dass sie jetzt so ist, hat sie euch zu verdanken.“

„Danke.“

„Davon abgesehen bin ich froh, dass wir alle nicht mehr unten in Los Angeles sind. Hier gefällt es mir besser.“

„Mir auch.“

„Dabei wundert es mich, dass du wirklich dein Profilerdasein nicht vermisst.“

„Ach, schon ein wenig … aber unser neues Leben hier ist toll. Viel ruhiger.“

„Das alles hätte ich mir ja nie träumen lassen, als wir damals in Waterford noch Streife gefahren sind.“

Sadie lächelte nachdenklich. „War auch schön. Verrückt, wie lang das schon her ist.“

„Ja, allerdings. Toll, dass wir immer noch Freunde sind.“

„Und wie“, pflichtete Sadie ihm bei.

 

 

Sonntag, 27. Juni, 12.58 Uhr

 

Die Sonne schien von einem strahlend blauen Himmel, der kräftige Wind vom Pazifik spielte mit Libbys Haaren. Immer wieder hielt sie Ausschau nach Tessa, die ihr nicht verraten hatte, wo sie mit Sylvie die Parade ansehen würde. Zu gern hätte Libby Sadies beste Freundin so gesehen, wie sie sich Tessa gerade vorstellte. Sylvie sah man eigentlich nie an, dass sie eine Lesbe war, aber Tessa manchmal schon. Dabei gab sie sich laut eigener Aussage noch gemäßigt.

Die Parade war bereits in vollem Gange, als Libby und Kieran in San Francisco ankamen. In der Stadt war wahnsinnig viel los. Überall waren Menschen auf den Straßen – so viele, wie die LGBTQ-Szene Ausprägungen kannte. Sie sah zwei junge Männer mit Jeans, T-Shirt und Rucksäcken an einer Straßenecke knutschend stehen. Rucksacktouristen, zumindest vermutete sie das. Ein Stück weiter sah sie einen Mann, der bloß eine knallenge Latexhose und eine ebensolche Mütze trug und an einer Leine jemanden im Ganzkörperanzug mit einer Peitsche vor sich her trieb. Sie sah Frauen in Tanktops und mit hohen Stiefeln, andere trugen eine Regenbogenflagge als Umhang. Überhaupt wehten überall die bunten Flaggen zum Zeichen des Gay Pride. An diesem Tag war die Stadt etwas bunter als sonst.

In der Parade fuhren Frauen auf Motorrädern, es traten Künstler auf und die verschiedensten Gruppierungen von Menschen aus der queeren Szene oder ihren Angehörigen. Es war laut, es war bunt, aber es war fröhlich und absolut friedlich. An einer Ampel war eine halbnackte Frau auf eine Tonne geklettert und jubelte den Menschen in der Parade zu. Einige Frauen trugen Piercings, andere nicht. Manche hatten langes Haar und andere kurzes, sie alle trugen die verschiedensten Kleidungsstücke, kein Mensch ähnelte an diesem Tag dem anderen. Libby fühlte sich vollkommen solidarisch mit ihnen und stellte sich gerade vor, die Menschen aus ihrer Sekte würden jetzt sehen, wie sie die San Francisco Pride bestaunte und sich dabei absolut wohl in ihrer Haut fühlte.

Ihr Leben war inzwischen vergleichsweise unkompliziert – sie lebte jetzt in einer Gesellschaft, die es nicht mehr verwerflich fand, dass sie eine intime Beziehung mit einem jungen Mann führte, ohne mit ihm verheiratet zu sein. Sie war auch froh, das Tessa in einem Amerika lebte, in dem sie nicht verfolgt wurde – oder zumindest in einem Teil Amerikas, wo das so war. In diesem Moment empfand sie so, als setze ihre Anwesenheit ein Zeichen - ihre und die der anderen rund zwei Millionen Besucher, die an diesem Tag zur San Francisco Pride erschienen waren. Für Libby konnte eine Gesellschaft gar nicht freiheitlich genug sein.

Nachdem sie sich die Parade ein wenig mit Kieran angesehen hatte, zog es sie zur Hauptbühne. Sie schlängelten sich zwischen den Zuschauern hindurch und sogen alle Eindrücke in sich auf. Als sie sich der Leather Alley näherten, begegneten ihnen immer mehr Menschen, die Leder und Latex trugen und allgemein knapp bekleidet waren. An diesem Tag gehörten sie wie selbstverständlich zum Straßenbild. Libby überlegte kurz, ob sie auch der Women’s Stage einen Besuch abstatten sollte – vielleicht trieb Tessa sich ja dort herum.

Sie hatten die Hauptbühne am Civic Center fast erreicht, als sie plötzlich Schreie hörten. Erst vereinzelt, aber dann immer lauter und schrill vor Angst. Kieran hatte es noch gar nicht gemerkt, aber Libby blieb stehen und hielt ihn fest, während sie lauschte.

Das waren Schüsse. Sie war ziemlich sicher. Die Schreie waren fast lauter als die Schüsse, aber sie stand wie angewurzelt da und versuchte, die Herkunft der Schüsse zu orten. Jetzt hörte Kieran sie auch.

„Schießt da jemand?“, fragte er. Erste Menschen liefen ihnen panisch entgegen, dann hörten sie erneut Schüsse.

Libby nickte und umklammerte seine Hand. Hastig schaute sie sich um. Plötzlich war ihr, als kämen die Schüsse näher.

„Wir müssen hier weg“, sagte Kieran. Libby nickte und versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren. Es war keine gute Idee, jetzt in Panik zu geraten.

Menschen rannten ihnen entgegen und stießen gegen sie. Nervös schaute Libby sich um und bemerkte ein Hotel schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite. Ohne Kieran loszulassen, rannte sie zwischen fliehenden Menschen darauf zu. Jemand stieß gegen Kieran, so dass er ihre Hand losließ. Libby drehte sich um und rief seinen Namen. Überall waren Menschen, alle kopflos auf der Flucht. Dann war Kieran wieder da. Er packte sie und rannte mit ihr zum Hotel. Mit Tunnelblick eilte Libby zur Tür, dann plötzlich war ihr, als hörte sie die Schüsse gleich hinter sich. Ängstlich drehte sie sich um, aber sie konnte niemanden sehen.

Kieran stieß die Tür auf. Einige andere Menschen hatten sich schon in der Lobby eingefunden, weitere folgten ihnen. Ein ratloser Angestellter des Hotels versuchte, herauszufinden, was los war.

„Draußen sind Schüsse gefallen“, sagte Libby atemlos. „Verständigen Sie die Polizei!“

„Kommen Sie“, sagte der Hotelangestellte und winkte sie alle zu sich. Er verschwand hinter dem Tresen und griff nach dem Telefonhörer.

Dann ertönten wieder Schüsse. Das klang fast wie ein Maschinengewehr. Schreie gellten durch die Straßen, plötzlich war alles vor der Fensterfront des Hotels wie leergefegt. Ein Pick-Up rollte die Straße entlang und Libby, die sich mit Kieran hinter einer Säule versteckt hatte, bemerkte darauf Männer in Tarnanzügen und mit Sturmhauben, die auf der Ladefläche des Trucks standen und tatsächlich Maschinengewehre in der Hand hielten. Ein junger Mann, halbnackt und nur mit einer knappen Latexhose bekleidet, rannte vor ihnen weg in Richtung des Hoteleingangs. Der Pick-Up fuhr langsamer, jemand zielte auf den jungen Mann und schoss ihm in den Rücken. Er fiel einfach zu Boden. Libby hätte fast geschrien, hielt sich aber den Mund zu. Kieran zog sie dicht an sich und betete, dass die Typen auf dem Truck einfach weiterfuhren und nicht ins Hotel kamen. Zitternd klammerte Libby sich an ihn und biss in ihre Hand, um nicht zu schreien.

Doch der Pick-Up rollte langsam vorüber. Es war totenstill in der Lobby bis auf die Stimme des Angestellten, der nervös mit dem Notruf sprach.

„Sie haben gerade jemanden hier vor der Tür erschossen … bitte schicken Sie sofort Hilfe!“

Flehend blickte Libby zu ihm und beobachtete mit Herzrasen, wie der Pick-Up weiterfuhr. Die Männer auf der Ladefläche schossen erneut. Mit zitternden Händen tastete Libby nach ihrem Handy und suchte Phils Nummer heraus. Sadie hatte ihr die Nummer irgendwann mal gegeben – man wusste nie, wofür das gut war, hatte sie gesagt. Zitternd lauschte Libby aufs Freizeichen und flehte, dass er ranging und an diesem Tag Dienst hatte.

„Hallo?“, vernahm sie die beruhigend tiefe Stimme von Sadies bestem Freund.

„Hier ist Libby … bist du heute im Dienst?“

„Ja, bin ich. Was ist los?“

„Ich bin mit Kieran in einem Hotel auf der Market Street in der Nähe der Hauptbühne. Hier sind Typen auf einem Pick-Up. Die haben Maschinengewehre und schießen auf die Leute.“

„Bist du auf der Parade?“

„Ja … Ihr müsst kommen, bitte. Market, Ecke 8th Street, glaube ich. Die bringen hier die Leute um …“

„Was für ein Pick-Up?“

„Ich weiß nicht … ich glaube, ein Ford. Rostbraun.“

„Wie viele Schützen?“, fragte Phil und rief dann: „Captain, eine Schießerei bei der Pride Parade, wir müssen sofort los!“

„Ich habe drei oder vier auf der Ladefläche gesehen, ein Fahrer … ich weiß nicht, ob es noch mehr sind. Bitte, Phil … ich hab Angst.“

„Verriegelt die Tür und bewegt euch nicht von der Stelle. Wir sind gleich da. Versteckt euch.“ Es ertönte nur noch der Signalton, der ihr verriet, dass er aufgelegt hatte.

„Hast du Phil angerufen?“, fragte Kieran leise.

Libby nickte hektisch. „Sie kommen. Sie sind gleich hier. Wir sollen uns verstecken und die Tür verriegeln.“

Kieran nickte und drehte sich zu dem Hotelangestellten um. „Schließen Sie die Tür ab. Das SWAT-Team ist unterwegs, wir kennen dort jemanden.“

Der Angestellte nickte und rannte hastig mit dem Schlüsselbund in der Hand zur Tür. Auf der Straße war niemand mehr zu sehen.

 

Mit Matts Hilfe hängte Sadie die frisch gewaschene Wäsche im Garten auf. Hayley saß im Sandkasten und schaufelte Sand in ihren kleinen Eimer. In der Nähe streifte Mittens durch die Büsche und beobachtete das Treiben. Anschließend gingen Matt und Sadie in die Küche, um das Mittagessen vorzubereiten, warfen aber immer mal wieder einen Blick in den Garten. Wenig später kehrte Hayley zurück ins Haus und schaute sich im Fernsehen eine Folge einer Kinderserie an, bis das Mittagessen fertig war.

Sadie liebte solche ruhigen Sonntage. Während des Essens überlegten sie, womit sie den Nachmittag verbringen sollten, und schließlich hatte Sadie eine Idee.

„Wir könnten ja Amelia anrufen und fragen, ob sie Lust auf Besuch hat. Phil ist ja heute im Dienst, so weit ich weiß.“

„Gute Idee. Dann ist sie nicht so allein mit den Kids“, stimmte Matt zu.

Sadie beschloss, nach dem Essen bei Amelia anzurufen. Als sie fertig waren, schaltete Matt den Fernseher wieder ein, weil Hayley noch eine Folge sehen wollte und sie so wenigstens in Ruhe die Küche aufräumen und telefonieren konnten. Sie hatte gerade einen Teller in die Spülmaschine gestellt, als Matt aus dem Wohnzimmer sagte: „Komm mal her. Schnell.“

Sadie hielt in ihrer Bewegung inne und ging nach nebenan ins Wohnzimmer. Matt stand wie versteinert vor dem Fernseher. Wacklige Fernsehbilder zeigten eine Menschenmenge in Panik. Regenbogenflaggen lagen auf der Straße, sie sahen von weitem die Füße einer Gestalt in einer Blutlache. Eine Frau kniete neben einer Verletzten am Boden, ein Krankenwagen kam mit Sirene und Blaulicht näher. Die Laufschrift am unteren Bildschirm sprach von einer Schießerei auf der San Francisco Pride. Plötzlich ertönten weitere Schüsse, die Menschen duckten sich und schrien.

„Wir wissen noch nicht, wer die Schützen sind und warum sie das tun. Die ersten Polizisten und Sanitäter sind vor Ort, die Verletzten brauchen unbedingt Hilfe. Ein Krankenwagen ist soeben eingetroffen“, sagte ein Reporter atemlos, der nicht im Bild zu sehen war.

Wortlos griff Sadie nach ihrem Handy und wählte Libbys Nummer. Es war besetzt. Als sie nun versuchte, Tessa anzurufen, sprang ihr vom Display Kein Netz ins Auge.

„Verflucht!“, rief Sadie und griff zum Festnetztelefon, von dem aus sie noch einmal versuchte, beide Nummern zu wählen. Sie hatte keinen Erfolg.

„Phil ist bestimmt gleich mit seinen Kollegen da“, sagte Matt leise.

Flehend legte Sadie die Hände an die Lippen und starrte wie hypnotisiert auf die Fernsehbilder. Sie konnte nichts sagen. Erreichen konnte sie offensichtlich auch niemanden, das Netz war längst überlastet.

„Noch können wir keine Angaben zu Toten und Verletzten machen, aber ich höre gerade von meinem Kollegen aus dem Hubschrauber, dass wohl das erste SWAT-Team des SFPD am Ort des Geschehens eingetroffen ist.“

Das Bild wechselte auf eine Luftaufnahme. Der Helikopter war ohnehin wegen der Parade vor Ort gewesen und nun filmte jemand von oben herab auf das Chaos in Downtown San Francisco. Menschen flohen in Panik durch die Straßen, es waren reglose Gestalten auf dem Asphalt erkennbar. Sadie versuchte, ruhig zu bleiben und nicht pausenlos daran zu denken, dass Libby, Kieran, Tessa und Sylvie dort waren.

Dann entdeckte sie den SWAT-Mannschaftsbus zwei Straßen vom Rathaus entfernt. Er stand quer auf der Market Street, ein Stück weiter stand ein Pick-Up. Man konnte auf den Fernsehbildern das Mündungsfeuer erkennen, sie befanden sich mitten in einem Feuergefecht.

„Daddy, was passiert da?“, fragte Hayley besorgt. Matt hob seine Tochter auf den Arm und legte den anderen um Sadie.

„Er ist schon da. Er und seine Kollegen kriegen das hin“, sagte er zu ihr und versuchte, beruhigend auf Hayley einzureden.

Sadie hatte Tränen in den Augen und blickte erneut auf ihr Handy. Sie hatte immer noch keinen Empfang.

Als sie wieder auf den Fernseher schaute, sah sie plötzlich eine Gestalt im schwarzen Kampfanzug am Boden liegen. Am liebsten hätte sie geschrien.

„Jemand vom SWAT scheint getroffen worden zu sein“, sagte der Reporter. „Die Szenen, die sich hier gerade abspielen, sind einfach furchtbar.“

Kopfschüttelnd starrte Sadie auf den Fernseher. Als ihr die Tränen kamen und Hayley allmählich Angst bekam, verließ Matt mit ihr den Raum. Sadie war ihm dankbar, dass er in diesem Moment so weit dachte. Sie konnte nicht, denn sie befürchtete, dass die schwarz gekleidete Gestalt auf dem Boden Phil war.

 

 

13.18 Uhr

 

„Komm, setzen wir uns da hinter den Sessel“, schlug Kieran vor. Er deutete auf eine Sitzgruppe am Fenster, hinter dem Sessel würden sie unsichtbar für Blicke von außen sein. Libby nickte und huschte mit ihm hinüber. Zusammen kauerten sie sich hinter den Sessel, der an der Wand stand und sie so wirklich unsichtbar werden ließ.

Andere Menschen hatten sich hinter dem Tresen, an der Garderobe oder in den Toiletten versteckt. Der Hotelangestellte blieb hinter der Theke stehen und beobachtete das Treiben draußen.

Libby wusste nicht, wie weit entfernt Phil stationiert war und wann er dort sein konnte, aber sie betete, dass es nicht lang dauerte.

Wieder ertönten Schüsse. Der Lärm mischte sich mit den ersten Sirenen. Immer wieder linste Kieran am Sessel vorbei. Vereinzelt hastete noch jemand über die Straße. Libby setzte sich ebenfalls aufrecht und sah den jungen Mann in der Latexhose draußen vor dem Fenster auf dem Boden liegen. Er gab kein Lebenszeichen von sich.

„Was, wenn er noch lebt?“, wisperte sie.

„Willst du da etwas raus?“, fragte Kieran ungläubig.

„Er könnte noch am Leben sein. Wir können ihn da nicht einfach liegen lassen.“

„Du bist wahnsinnig! Hat Phil nicht gesagt, wir sollen …“

„Ich lasse den da nicht einfach liegen.“ Mit diesen Worten stand Libby auf und rannte hinüber zur Theke, um den Angestellten um den Schlüssel für die Tür zu bitten. Er händigte ihn ihr aus und als sie zur Tür ging, stieß Kieran wortlos dazu.

Libby schloss die Tür auf und verließ vorsichtig das Hotel. Aufmerksam spähte sie die Straße entlang, aber außer vereinzelt herumlaufenden Menschen war niemand zu sehen. Kein Pick-Up in der Nähe.

Sie kniete sich neben den Angeschossenen. Die Kugel war irgendwo zwischen seinen Rippen eingedrungen, steckte vermutlich in seiner Lunge. Libby konnte nicht sehen, ob er atmete, aber sie tastete nach seinem Puls.

„Er lebt noch“, entfuhr es ihr und Kieran nickte verstehend. Vorsichtig drehten sie den jungen Mann um. Er war bewusstlos, Blut tropfte ihm aus dem Mund. Kieran griff ihm unter die Arme, Libby packte seine Beine und dann versuchten sie, ihn ins Hotel zu bringen. Bei einem Bewusstlosen war das ganz schön schwer.

Der Angestellte traute sich wieder zur Tür und hielt sie für die beiden auf. Dann ertönten wieder Schüsse. Libby blickte auf, als sie ein Motorengeräusch hörte. Ihre Augen weiteten sich panisch, als sie den Pick-Up erkannte.

„Schnell!“, rief sie und hastete mit Kieran zusammen zur Tür. Sie schleiften den Verletzten unter Aufbietung all ihrer Kräfte ins Hotel. Der Pick-Up kam immer näher. Hastig verriegelte der Angestellte die Tür wieder hinter ihnen.

„Auf das Sofa“, sagte Kieran. Gemeinsam trugen sie den jungen Mann auf das Sofa und legten ihn mit den Füßen auf der Armlehne darauf ab. Libby griff nach ihrem Handy, um den Notruf zu wählen und einen Krankenwagen anzufordern, doch sie hatte keinen Empfang und fluchte leise.

Der Pick-Up kam draußen ins Sichtfeld. Er rollte nun etwas langsamer die Straße entlang und blieb zu ihrem Entsetzen vor dem Hotel stehen.

„Shit!“, entfuhr es Kieran. „Hinter den Sessel, schnell!“

Libby wollte dem Verletzten immer noch helfen, aber sie sah ein, dass Kieran Recht hatte. Sie kauerten sich hinter den Sessel und beobachteten das Treiben auf der Straße, indem sie vorsichtig über die Armlehne spähten.

Zwei Bewaffnete sprangen von der Ladefläche des Trucks. Libby erstarrte innerlich, als sie auf das Hotel zu gingen. Sie wechselten ein paar Worte und wirkten wirklich furchteinflößend mit ihren schwarzen Sturmhauben. Dann schoss einer der beiden mit seinem Maschinengewehr auf die Glastür, die klirrend zerbarst. Schreie wurden laut. Kieran tastete mit seiner eiskalten Hand nach Libbys. Sie drückten sich neben dem Sessel auf den Boden und Libby versuchte, den Reflex zu unterdrücken, beten zu wollen. Gott hatte ihr auch noch nie geholfen, als sie noch an ihn geglaubt hatte.

„Was haben wir denn hier?“, rief einer der beiden Bewaffneten. „Hier verstecken sich ja noch ein paar von euch Schwuchteln. Und was ist aus dem kleinen Wichser geworden, der vorhin draußen auf der Straße lag?“

Er schoss einmal in die Decke, woraufhin Libby zusammenzuckte. Kieran schob sich fast unmerklich vor seine Freundin.

„Er liegt da auf dem Sofa“, sagte der andere und deutete auf den Verletzten.

„Ach was. Sag jetzt nicht, der lebt noch. Das können wir ändern.“

Mit diesen Worten zielte der Maskierte auf den Bewusstlosen auf dem Sofa und schoss ihm mit einem gezielten Schuss aus einer Handfeuerwaffe in den Kopf. Libby hielt sich den Mund zu, um nicht zu schreien.

Sie hatte es versucht …

„Wer war das? Wer dachte, das wäre eine gute Idee, die Schwuchtel zu retten?“, brüllte er und schaute in die Runde. Hinter dem Tresen hatten sich alle geduckt, weshalb der andere Bewaffnete dort nachsehen ging und schließlich lachte.

„Sieh mal an, noch mehr Schwuchteln, die kein Recht zu leben haben.“

Mit diesen Worten drückte er den Abzug seines Maschinengewehrs. Libby schrie. Sie konnte nicht anders. Sie klammerte sich an Kieran fest und schloss die Augen, konzentrierte sich aufs Atmen.

„Die waren das nicht“, sagte der andere. „Ich glaube, das waren die zwei hier.“

Als Libby blinzelte, stellte sie zu ihrem Entsetzen fest, dass die beiden Bewaffneten tatsächlich Kurs auf sie und Kieran nahmen. Nervös drückte Kieran sie hinter sich an die Wand und starrte die Männer an.

„Wart ihr das mit der kleinen Schwuchtel?“, fragte einer von ihnen.

„Und wenn?“, erwiderte Kieran.

„Sag schon. Du bist doch nicht schwul, oder? Ist das deine kleine Freundin?“

„Ja!“, rief Libby unter Tränen. „Lasst uns in Ruhe und verschwindet!“

„Ihr seid Nestbeschmutzer“, sagte einer der beiden. Kieran und Libby waren wie versteinert, als die Männer sich zu ihnen herab beugten und sie nacheinander packten.

„Lass mich los!“, schrie Libby, während einer der Männer sie rücklings an die Wand drückte.

„Ihr seid ja krank“, zischte sie. „Warum tut ihr das, wollt ihr Schwule töten?“

„Ganz genau. Dieser Abschaum hat es nicht verdient, in unserem Land zu leben!“

„Und das entscheidet ihr oder was?“

Sie spürte den Lauf des Maschinengewehrs unterm Kinn und wagte kaum zu atmen.

„Wie kommt denn ein so reinblütiges junges Ding wie du dazu, einer Schwuchtel helfen zu wollen?“

„Reinblütig?“, schnaubte Libby.

„Jung, weiß, blonde Haare … in deinen Adern fließt das reinste Blut.“

„Glaubt ihr diesen Rassenschwachsinn wirklich?“

„Wie heißt du denn, meine Hübsche?“

„Warum sollte ich dir das sagen?“

„Weil dein Leben davon abhängt.“

Sie schluckte. „Aber wieso?“

„Wie heißt du?“, brüllte er ihr ins Gesicht.

„Liberty Whitman“, erwiderte sie stammelnd.

Seine Augen begannen zu strahlen. „Sogar ein reiner Name. Liberty … ich verstehe schon. Du bist ganz schön vorlaut, kleine Liberty.“

„Ich habe nur eine Allergie gegen Dummheit“, sagte sie und biss sich schon fast auf die Zunge, aber es war zu spät. Es war gesagt.

„Ach ja? Du hältst uns also für dumm?“

Sirenen wurden laut. Der andere Mann eilte zum Fenster und brüllte: „Scheiße, das SWAT!“

„Was?“, rief der Mann, der genau vor Libby stand und rannte zu seinem Mitstreiter. Dankbar schloss Libby die Augen und atmete tief durch.

„Du bist wahnsinnig!“, zischte Kieran. Libby reagierte nicht, sie versuchte noch immer, die Todesangst niederzuringen, die sie im Griff hatte. Sie hatte einen unheimlichen Druck auf der Blase und wusste, das war bloß Angst.

Kieran linste um die Mauerecke und entdeckte einen SWAT-Truck gegenüber vom Hotel. Schwarz gekleidete Gestalten schwärmten aus. Es wurde geschossen. Auch die Männer im Hotel feuerten auf das Polizeifahrzeug, doch das Feuer wurde umgehend erwidert.

Als Libby sich beruhigt hatte, beobachtete sie ebenfalls, was geschah. Der SWAT-Truck stand unter heftigem Beschuss. Plötzlich sah sie, wie einer der Polizisten getroffen zu Boden ging. Er war vollständig vermummt, deshalb erkannte Libby ihn nicht, aber sie hielt sich den Mund zu, um nicht zu schreien.

„Suchen wir uns einen anderen Platz weiter oben!“, rief einer der Bewaffneten an der Tür. Sie rannten zum Treppenhaus und verschwanden. Ängstlich beobachtete Libby sie und sah dann im Augenwinkel, wie der verletzte SWAT-Mann hinter den Truck gezogen wurde.

Bitte nicht Phil. Bitte nicht.

 

 

13.16 Uhr

 

Es waren gut zwei Meilen bis zum Civic Center. Weil sie nicht wussten, womit sie es zu tun hatten, hatten sie die Kollegen aus der anderen Schicht als Verstärkung angefordert, aber das konnte dauern.

Etwa eine Minute nach Libbys Anruf hatten sie auch die offizielle Anforderung erhalten, die aus der Notrufzentrale kam, aber da waren sie schon fast unterwegs.

Er würde Sadies Tochter finden und beschützen. Sie war so ein liebes, kluges Mädchen und hatte verdammt richtig gehandelt, als sie ihn gleich angerufen hatte.

Es war von Maschinengewehren die Rede gewesen, deshalb hatten sie standardmäßig ihre Sturmgewehre ausgerüstet. Im Holster hatte Phil außerdem seine Handfeuerwaffe – unter anderem. Bei einem solchen Einsatz waren sie immer bis an die Zähne bewaffnet.

Sie wussten noch nicht viel – nur, dass Bewaffnete auf einem Pick-Up in die Menge vor der Hauptbühne bei der San Francisco Pride gefeuert hatten. Mit Sirene und Blaulicht jagte der Truck durch die Straßen zum Civic Center. Sie wollten den Einsatz bei der Adresse beginnen, die Libby ihm genannt hatte, weil sie seitdem keine neue sichere Information darüber hatten, wo der Pick-Up sich befand.

Der Truck schoss die Hyde Street hinab und war nach vier Minuten am Ziel. Sie waren gerade erst auf die Market Street abgebogen, als der Truck abrupt stoppte.

„Verdächtiges Fahrzeug bei bekannter Adresse gesichtet! Erkenne vier Personen, zwei in der Fahrerkabine und zwei auf der Ladefläche. Mindestens zwei Maschinengewehre. Äußerste Vorsicht!“, rief Saulter von vorn. Phil verstand und wollte schon mit seinen Kollegen hinten aus dem Fahrzeit springen, als erste Schüsse fielen.

„Mindestens zwei weitere Bewaffnete im Hotel! Sichern!“

Phil verstand und hob die Hand. Cartwright und Sumner folgten ihm und huschten geduckt mit ihm über die Straße. So schnell sie konnten, rannten sie auf die 8th Street, um aus der Schusslinie zu kommen und versuchten, einen Weg zum Hintereingang des Hotels zu finden. Sie eilten an den geparkten Autos der Hotelgäste vorbei und fanden den Eingang. Es war nicht auszuschließen, dass die Kerle im Hotel Wind davon bekommen hatten, dass sie kamen und eigentlich wären sie auch zu viert ausgerückt, aber gerade mussten die anderen sich auf das Feuergefecht konzentrieren.

Phil liebte diesen Job. Er wurde nie langweilig, er bot die richtige Dosis Adrenalin und er war verdammt sinnvoll.

Cartwright öffnete die Tür, so dass Phil und Sumner geräuschlos das Gebäude betreten konnten. Sie landeten auf einem Flur, von dem Lagerräume und die Küche abgingen. Sie sicherten jede Tür, wechselten sich ab, überholten einander und passten auf, dass ihnen ja nichts entging.

„Kollege getroffen, brauchen dringend medizinische Hilfe“, vernahm Phil im Funk. Er zwang sich, jetzt nicht die Nerven zu verlieren. So etwas konnte jederzeit passieren, das war ihnen allen klar.

Der Flur mündete nach einer Tür ins Treppenhaus. Durch die Scheiben in den Türen konnten sie sehen, dass sich dahinter die Lobby befand. Das war gut. Die drei nahmen hintereinander Aufstellung und spähten durch die Tür. Als sie Schüsse vernahmen, wussten sie, dass sie richtig waren.

Phil betrat als Erster die Lobby und versuchte, mit einem Blick alles zu erfassen. Keine drei Meter von ihm entfernt standen Libby und ihr Freund Kieran. Auf dem Sofa lag ein Toter, zumindest legte das Einschussloch in seiner Stirn das nahe. Hinter der Empfangstheke befanden sich ein paar verängstigte Zivilisten. Es waren keine Schützen zu sehen.

Cartwright war schon zum Tresen unterwegs und Sumner huschte zu dem Toten auf dem Sofa, als Phil Anstalten machte, zu Libby und Kieran zu gehen. Libby starrte ihn bereits hoffnungsvoll an und erkannte ihn schließlich. Zwar waren von ihm gerade nur seine Augen sichtbar, aber das reichte ihr wohl. Erleichtert fiel sie ihm um den Hals und wollte ihn gar nicht mehr loslassen.

„Du bist hier …“  

„Seid ihr okay?“, fragte er und legte Kieran eine Hand auf die Schulter.

„Ja, uns geht es gut. Zwei Männer sind vorhin ins Treppenhaus gegangen, sie wollten sich einen Platz weiter oben suchen, um besser auf euch schießen zu können“, sagte Libby.

Phil verstand und zog sein Mikrofon näher heran. „Achtung, Schützen aus erhöhter Position im Hotel möglich.“

„Verstanden“, schallte es aus seinem Ohrhörer. In diesem Moment beobachtete er, wie die Schützen auf dem Pick-Up fast zeitgleich getroffen zu Boden gingen. Die Kollegen beeilten sich, sie zu überwältigen und festzunehmen. Die beiden Männer aus dem Fahrerhaus stiegen langsam und mit erhobenen Händen aus.

„Habt ihr noch mehr Männer außer denen auf dem Pick-Up gesehen?“, fragte Phil.

„Nein, bis jetzt nicht. Keine Ahnung, ob das alle sind“, sagte Kieran. In diesem Moment betraten einige seiner Kollegen die Lobby und verschwanden im Treppenhaus. Sumner schloss sich ihnen an, während Cartwright beschloss, mit Phil bei den Zivilisten zu bleiben. Solange nicht alle Schützen festgenommen waren, konnten sie die Menschen nicht allein lassen.

Sirenen näherten sich. Phil hoffte, dass es ein Krankenwagen für den getroffenen Kollegen war. Getroffene Kollegen waren nie gut. Ihn hatte es auch schon erwischt, er konnte das nachfühlen.

Tatsächlich tauchte kurz darauf ein Krankenwagen auf, der gleich hinter dem Truck hielt.

„Haben wir Entwarnung?“, kam es im Funk.

„Konnten die Schützen noch nicht lokalisieren.“

Verdammt. Irgendwo waren die noch unterwegs und konnten vielleicht auf die Sanitäter schießen, die den Kollegen versorgen mussten. Das war nicht gut. So lange konnten sie auch mit den Menschen das Hotel kaum sicher verlassen.

„Tessa ist heute auch hier“, sagte Libby leise. Phil nickte nur, erwiderte aber nichts. Er erinnerte sich daran, dass sie es angekündigt hatte. Hoffentlich hatten diese Kerle sie nicht gesehen und verletzt. Die schienen ja gezielt Jagd auf Homosexuelle zu machen.

Phil wartete ab, beobachtete die Tür zum Treppenhaus mit dem Sturmgewehr im Anschlag. Da konnte jederzeit einer dieser Typen zum Vorschein kommen und darauf wollte er vorbereitet sein. Draußen waren alle außer Gefecht gesetzt, aber für hier galt das nicht.

„Haben wir Entwarnung?“, rauschte es erneut im Funk.

„Bis jetzt keine Schützen.“

Ach, verflucht. Wo versteckten die verdammten Mistkerle sich? Phil hasste es. Sie mussten die Leute hier rausbringen. Sie mussten Entwarnung geben, damit die übrigen Einsatzkräfte sich sicher bewegen konnten.

„Wurden bislang weitere Schützen gesichtet?“, fragte er in sein Mikrofon.

„Bis jetzt nicht. Wir haben alle bis auf die zwei im Hotel.“

Immerhin etwas. Anscheinend hatten sie die Lage langsam wieder im Griff.

„Gibt es schon Angaben zu den Opfern?“, fragte er dann.

„Noch nicht. Das Fernsehen berichtet von einem guten Dutzend Verletzten, die sie vom Hubschrauber aus sehen können.“

Phil schloss kurz die Augen. Das war schon viel zu viel. Hoffentlich bestätigte es sich nicht.

Er blieb reglos vor Libby und Kieran stehen und wartete darauf, dass die beiden übrigen Schützen zum Vorschein kamen. Sie würden sie schon kriegen.

 

 

13.32 Uhr

 

Sadie hatte das Gefühl, verrückt werden zu müssen. Immer wieder spielte sie mit dem Gedanken, Amelia zu kontaktieren, aber die würde auch nicht mehr wissen, vielleicht ganz im Gegenteil. Gebannt beobachtete sie am Fernseher, wie das SWAT-Team es schließlich schaffte, die Schützen auf dem Pick-Up zu überwältigen. Zwei Tote, zwei Männer konnten sie festnehmen.

„Wie es aussieht, scheint die Lage allmählich unter Kontrolle zu sein“, sagte der Studiosprecher, der inzwischen zugeschaltet war. „Zahlen über Tote und Verletzte liegen uns noch nicht vor. Wir wissen auch noch nichts über die Täter und ihre Motive. Fest steht nur, dass um 13.12 Uhr die ersten Schüsse an der Hauptbühne gefallen sind. Das Fahrzeug der Verdächtigen hat eine der Straßensperren durchbrochen und ist ungehindert durch die Menschenmenge gerast. Es sind zahlreiche Krankenwagen vor Ort, die Polizei ist inzwischen ebenfalls mit vielen Officers und dem SWAT-Team dort, das vorhin zwei der Täter festnehmen konnte. Wir können nun bloß über die Motive der Schützen spekulieren, aber vermutlich war das ein Hassverbrechen.“

Ach was, dachte Sadie bitter. Ihr Handy hatte immer noch keinen Empfang. Sie konnte niemanden erreichen.

Diese Ungewissheit machte sie rasend. Es ging hier gleich um drei Menschen, die sie liebte, und mindestens bei einem bestand die realistische Chance, dass er tot war. Die Sanitäter hatten den Mann vom SWAT nicht in den Krankenwagen geladen, das hatte Sadie gesehen. Stattdessen hatten sie einen seiner Kollegen mitgenommen.

„Wie wir soeben erfahren haben, werden zwei Schützen noch immer vermisst. Das SWAT-Team durchkämmt jetzt die Gegend, um die Flüchtigen festzumachen. Sollten Sie in der Nähe sein und diese Männer sehen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Polizei.“

Und wie? Doch höchstens per Festnetz, alles andere hatte ja den Geist aufgegeben. Sicher versuchten zahllose besorgte Angehörige, ihre Liebsten zu erreichen.

Matt erschien wieder im Wohnzimmer. „Hayley spielt jetzt in ihrem Zimmer. Gibt es was Neues?“

Sadie schüttelte den Kopf. „Ein toter SWAT-Mann, zwei flüchtige Schützen.“

„Mein Gott. Wer tut denn so etwas? Das ist doch krank.“

Sadie erwiderte nichts, sie verfolgte weiter die Berichterstattung. Was für ein furchtbares, entsetzliches Verbrechen. Es erinnerte sie an die Sarinanschläge in Los Angeles vor einigen Jahren. Blinder Hass und Terror ließen sie meist so sprachlos zurück.

Sie zuckte zusammen, als plötzlich das Telefon klingelte. Hastig sprang sie auf und griff nach dem Hörer, denn sie war näher dran als Matt.

„Whitman“, meldete sie sich.

„Mum, ich bin es, Libby.“

Sadie hatte selten ein paar bloße Worte so erlösend erlebt. Dankbar schloss sie die Augen.

„Geht es dir gut? Wo bist du?“, fragte Sadie.

„In dem Hotel, vor dem das SWAT gerade die Schützen festgenommen hat. Kieran und Phil sind bei mir. Bei uns ist alles in Ordnung.“

Sadie hatte Tränen in den Augen. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, das zu hören.“

„Ich bin hier gerade an einem Festnetztelefon im Hotel. Mein Handy hat kein Netz.“

„Meins auch nicht, deshalb konnte ich dich nicht erreichen.“

„Was, selbst bei euch noch? Ich wollte nur, dass du weißt, dass es uns gut geht.“

„Von Tessa weißt du nichts?“

„Nein, keine Ahnung. Tut mir leid.“

„Okay. Halt dich an Phil, wenn du kannst.“

„Ja, schon klar. Ich melde mich wieder.“

Sadie legte auf und berichtete Matt von dem, was Libby ihr gesagt hatte.

„Also ist der tote SWAT-Mann nicht Phil“, sprach Matt das aus, worüber auch Sadie gerade froh war.

„Nein, das scheint einer seiner Kollegen zu sein“, murmelte Sadie mit einem bedauernden Unterton. Sie griff nach ihrem Handy und schrieb Tessa eine Nachricht. Wenn du das liest, melde dich bitte bei mir. Ich mache mir große Sorgen.

Sie konnte nicht anders. Das machte die Netzüberlastung nicht besser, aber sie hatte einfach Angst.

Gemeinsam mit Matt verfolgte sie die Berichterstattung weiter. Allmählich wurde das Fernsehen auch mit Opferzahlen versorgt: Bislang sieben Tote, neunzehn zum Teil schwer Verletzte. Unter den sieben Toten befand sich auch der Polizist. Die Parade war abgebrochen worden, es herrschte ein heilloses Chaos in San Francisco. Von den Schützen waren zwei tot, zwei flüchtig und vier in Gewahrsam. Weder ihre Identität noch ihr Motiv waren bislang bekannt, aber Sadie konnte sich gut vorstellen, worum es hier ging.

Und das ausgerechnet in San Francisco. Die Stadt war bekannt für ihre fröhliche, offene und friedliche queere Szene. Das war ein harter Schlag ins Gesicht aller Einwohner der Stadt, denn San Francisco war eigentlich sehr tolerant.

So ein sinnloses Hassverbrechen. Sadie war nur froh, dass Libby, Phil und Kieran zumindest wohlauf waren. Sie hoffte dasselbe für Tessa.

Einer Eingebung folgend, schnappte sie sich das Festnetztelefon und rief bei Amelia an.

„Sadie, du bist es“, sagte ihre Freundin. „Phil geht es gut, falls du das wissen willst. Er hat mich vorhin angerufen.“

„Oh, dann bin ich beruhigt. Hast du fern gesehen?“

„Eigentlich nicht, er hat mich vorhin angerufen und meinte, wenn ich den Fernseher anmache, soll ich keine Angst haben, er ist wohlauf und er hat Libby und Kieran bei sich. Mehr hat er mir in dem Moment nicht gesagt. Wahrscheinlich wollte er nur, dass ich weiß, dass er da vorhin nicht erschossen wurde.“

„Das ist total verrückt“, murmelte Sadie.

„Hast du etwas von Tessa gehört?“

„Nein, die Handynetze sind zusammengebrochen, selbst hier funktioniert es nicht.“

„Ich hoffe so sehr, dass es ihr gut geht.“

„Ich auch …“

Sadie redete noch ein wenig mit Amelia, weil das gut tat. Schließlich schlug sie das vor, was sie zuvor schon überlegt hatte: Sie wollte mit Matt und Hayley hinfahren, das würde ihnen allen die Sache etwas erleichtern.

Sowohl Amelia als auch Matt begrüßten diese Idee sehr. Im Handumdrehen saßen sie im Auto und waren auf dem Weg nach Castro Valley. Amelia war sichtlich erleichtert, sie zu sehen und nicht mehr allein sein zu müssen, was Sadie nur zu gut verstehen konnte. Mit Hayden auf dem Arm bat sie die anderen, hereinzukommen. Alyssa freute sich wahnsinnig, Hayley zu sehen und die beiden verschwanden in Alyssas Zimmer, um dort zu spielen. Amelia legte Hayden auf einen Spielteppich, auf dem er sich mit einigen Kuscheltieren und anderem Spielzeug beschäftigte. Dann bot sie ihren Gästen etwas zu trinken an und setzte sich schließlich zu ihnen.

„Ich bin froh, dass ihr hier seid. Solche Tage hasse ich. Ich hatte ja keine Ahnung, dass überhaupt etwas passiert ist, bis Phil mich vorhin anrief. Der Fernseher war aus. Natürlich waren er und seine Kollegen in besonderer Alarmbereitschaft, aber mit so etwas rechnet ja niemand.“

„Ich hoffe so sehr, dass Tessa nichts passiert ist“, murmelte Sadie.

„Wird schon nicht. Sollen wir den Fernseher noch mal einschalten und nachsehen oder ist euch das nicht recht?“

Es war Sadie und Matt recht. Die Zahl der Toten und Verletzten war zwischenzeitlich gestiegen, was Sadies Nervosität nicht gerade besser machte. Über die Motive der Täter war noch immer nichts bekannt, auch wenn es für Sadie recht offensichtlich war, dass es sich hier um ein Hassverbrechen handelte.

Entsprechende Parallelen zog man inzwischen auch im Fernsehen. Der Nachrichtensprecher erinnerte an den Anschlag auf den Pulse Nachtclub in Orlando, Florida am 12. Juni 2016, der in den USA als schwerster Terrorakt seit dem Elften September in die Geschichtsbücher eingegangen war. In dieser Nacht hatte Omar Mateen 49 Menschen erschossen und weitere 53 verletzt. Hass auf Homosexuelle als Motiv hatte nie zweifelsfrei nachgewiesen werden können, obwohl das Pulse hauptsächlich von Schwulen und Lesben besucht worden war. Das FBI hatte die Schießerei abschließend als Terrorakt eingestuft.

Das hier fühlte sich genau so an.

Die Opferzahlen stiegen weiter. Inzwischen waren es dreizehn Tote und achtundzwanzig Verletzte.

„Furchtbar.“ Entsetzt schüttelte Amelia den Kopf.

„Ich dachte, wir wären inzwischen weiter … Ich finde es schlimm, dass es offenbar immer noch Menschen gibt, die Homosexuelle hassen“, sagte Sadie verständnislos.

„Und das in San Francisco“, brummte Matt.

„Für mich war das normal, seit ich denken kann. Als Kind habe ich nie drüber nachgedacht und seit ich in Waterford zur Schule gegangen bin, ist meine beste Freundin eine Lesbe.“

„Hatte sie je Probleme deshalb?“, fragte Amelia.

„Nicht besonders, nein. Ich verstehe so etwas einfach nicht.“

„Da gibt es auch nichts zu verstehen. Das ist einfach dumm“, sagte Matt.

Sie verfolgten die Nachrichten weiter. In den Krankenhäusern von San Francisco wurden die Verletzten versorgt und die Polizei drehte jeden Stein um auf der Suche nach den beiden flüchtigen Angreifern. Sie waren noch immer nicht gefasst.

Etwa eine Stunde nach ihrer Ankunft bei Amelia vibrierte plötzlich Sadies Handy. Als der Name Tessa auf ihrem Display angezeigt wurde, machte ihr Herz einen Satz. Sie öffnete die Nachricht und überflog sie rasch.

Sylvie und ich sind okay. Wir waren an der Women’s Stage, als es losging, und haben uns in einem Café versteckt. Versuchen jetzt, aus der Stadt rauszukommen. Konnten die Schützen alle gefasst werden? Wie geht es Libby?

Sadie antwortete ihr und brachte sie auf den neuesten Stand – froh darüber, dass es ihr und Sylvie gut ging. Alles andere hätte sie nicht ertragen. Sie schlug Tessa vor, Phil zu kontaktieren, der ihr dabei helfen konnte, aus der Stadt zu kommen.

Nun, da sie wieder Empfang hatte, schrieb sie Nick Dormer ebenfalls eine Nachricht. Hast du schon gehört? Schießerei auf der San Francisco Pride. Was sagt Sheila dazu?

Sheila Hopkins war Nick Dormers langjährige Lebensgefährtin und Terrorismusexpertin beim FBI. Sadie hatte im Fall der Sarinanschläge mit beiden zusammen gearbeitet, was ihr positiv im Gedächtnis geblieben war.

Wenig später erhielt sie Antwort. Noch nicht viel, aber sie haben jetzt wohl die Schützen identifiziert. Irgendwelche homophoben White Power-Spinner, wenn ich das richtig verstanden habe. War Tessa dort?

Das war typisch Nick, er vergaß nie etwas. Sadie schätzte ihn für seine Anteilnahme und beschloss, ihn anzurufen.

„Ermittelst du wieder?“, fragte er lachend, als er in der Leitung war.

„Ich? Wieso?“

„Na, weil du gleich nach Sheila gefragt hast. Du kannst auch nicht aus deiner Haut.“

„Ich sitze gerade mit Matt und Phils Frau vor dem Fernseher und verfolge die Berichterstattung. Tessa war mit ihrer Freundin dort, aber beiden geht es gut. Libby war auch mit ihrem Freund dort und Phil war vorhin dabei, als die zwei Schützen festgenommen wurden.“

„Oh, deine Tochter war auch vor Ort? Aber es geht allen gut?“

„Ja, glücklicherweise schon. Hier steht gerade alles Kopf.“

„Das denke ich mir. Sheila hing vorhin schon am Telefon, deshalb kann ich dir überhaupt was zu den Tätern sagen. Zwei scheinen ja immer noch auf freiem Fuß zu sein.“

„Unglücklicherweise.“

„Die beiden, die sie bis jetzt geschnappt haben, sind wohl noch nicht sehr gesprächig. Man hat sie vorhin identifiziert und sie gehören wohl einer White Power-Gruppierung namens White Front an.“

„White Power? Und dann schießen sie auf der San Francisco Pride um sich?“

„Wir verzeichnen seit 2016 einen Anstieg an Straftaten mit homophoben Motiven. Homosexuelle wurden doch schon von den Nazis im Zweiten Weltkrieg verfolgt. Seitdem hat sich erschreckend wenig geändert.“

„Auch wieder wahr“, musste Sadie einräumen.

„Seit Homosexuelle heiraten dürfen, haben die Gewaltdelikte wieder zugenommen. Leider.“

Sadie seufzte. „Das werde ich nie verstehen.“

„Natürlich, du musst immer an deine beste Freundin denken.“

„Sicher. Ich möchte, dass sie frei und sicher leben kann und zwar so, wie sie will.“

„Verständlich. Na ja, mal sehen, was da noch so alles ans Tageslicht kommt. Gut zu wissen, dass es deiner Familie und Tessa gut geht.“

Sadie pflichtete ihm bei und verabschiedete sich von ihm. Anschließend schaute sie nach Hayley und Alyssa, die jedoch friedlich im Kinderzimmer spielten.

Sie war froh, bei Amelia zu sein. So konnten sie sich besser die Zeit vertreiben. Dass immer noch zwei Täter auf freiem Fuß waren, gefiel ihr überhaupt nicht.

Gegen kurz nach fünf wurde unerwartet die Haustür geöffnet und Augenblicke später erschien Phil mit Libby, Kieran, Tessa und Sylvie im Wohnzimmer. Wortlos ging Sadie zu ihrer Tochter und schloss sie erleichtert in die Arme, während Amelia dasselbe mit Phil tat. Anschließend umarmte Sadie auch die anderen, vor allem Tessa. Ihre beste Freundin wirkte verstört – etwas, was sie von Tessa eigentlich nicht kannte. Geistesabwesend starrte sie ins Nichts, während Sadie sie an sich drückte. Tatsächlich hatte Tessa sich richtig herausgeputzt – sie trug ein ärmelloses, bauchfreies Tanktop, Hotpants, hohe Lederstiefel und hatte sich ihre kurzen Haare stachelig hochgegelt. Es war verdammt lang her, dass Sadie sie zuletzt so gesehen hatte. In dem Aufzug erinnerte sie Sadie ein wenig an Stieg Larssons Romanfigur Lisbeth Salander.

„Es ist mir gerade mit Mühe gelungen, mich abzuseilen und die anderen mit aus der Stadt zu nehmen“, sagte Phil. Auf seinem T-Shirt waren immer noch Schweißflecken zu sehen, sein Gesicht wirkte ein wenig angestaubt. „Was dagegen, wenn ich kurz duschen gehe?“

„Mach nur“, sagte Amelia, bevor sie weitere Gläser holte.

„Bin ich froh, euch wohlauf zu sehen“, sagte Sadie zu den anderen. Tessa hatte noch immer den abwesenden Blick, Sylvie wirkte unruhig, Kieran hatte einen Arm um seine Freundin gelegt. Libby wirkte einfach nur müde.

Sadie setzte sich ihnen gegenüber und musterte sie, während Amelia sich erkundigte, ob sie jemandem etwas bringen konnte. Kieran stürzte ein Glas Wasser herunter, aber Hunger hatte niemand.

„Zum Glück seid ihr schon hier. In den Nachrichten hieß es, die Stadt sei noch immer abgeriegelt, weil zwei der Täter noch flüchtig sind.“

Libby nickte langsam. „Hätte Phil uns jetzt nicht rausgebracht, wären wir auch immer noch dort. Wir haben ihn vorhin zur Polizei begleitet und eine Aussage gemacht. Danach konnte er sich loseisen, als er sagte, er müsse uns nach Hause bringen.“

„Was habt ihr denn ausgesagt?“, fragte Matt.

Libby holte tief Luft. „Was im Hotel passiert ist … sie haben dort neben uns auf dem Sofa einen Schwulen erschossen, den wir vorher noch reingeholt haben. Und sie haben mit uns gesprochen“, erzählte Libby.

„Wer, die Schützen?“ Matt war entsetzt.

„Ja, wir waren mittendrin“, murmelte Kieran. „Wir können froh sein, dass nicht mehr passiert ist.“

„Ihr habt mit denen gesprochen?“, fragte Sadie.

„Ja … sie hatten Kieran und mich auf dem Kieker“, sagte Libby leise. Als sie den Blick zur Decke wandte, sah Sadie die Tränen in ihren Augen.

„Sie haben ihm einfach in den Rücken geschossen. Er sah aus wie ein Schwuler, das war alles. Deshalb haben sie auf ihn geschossen. Er lag sterbend draußen, als wir uns im Hotel verbarrikadiert haben. Das ging nicht, ich musste ihn reinholen. Aber dann sind sie zurückgekommen … und sie kamen ins Hotel. Sie haben die Tür zerschossen, sind reinmarschiert und sie haben ihm in den Kopf geschossen.“ Tränen liefen ihr über die Wangen. Sadie hörte ihr reglos zu.

„Und dann wollten sie wissen, wer ihn reingeholt hat. Auf einmal standen sie vor Kieran und mir und einer hat die ganze Zeit so idiotisches Zeug geredet … meinte, ich wäre reinblütig und er wollte wissen, ob Kieran mein Freund ist. Ich glaube …“ Hastig wischte Libby sich die Tränen ab. „Er wollte auch meinen Namen wissen. Ich glaube, er hat uns nur nicht erschossen, weil er keine Feinde in uns gesehen hat. Anscheinend war ich ein anständiges weißes Mädchen für ihn … blond, heterosexuell, da konnte er mich nicht einfach erschießen.“

Sadie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Sie begriff nur langsam, dass Libby tatsächlich hautnah mit zwei der Terroristen konfrontiert worden war.

Und sie lebte noch. Sie hatte Glück gehabt – im Gegensatz zu inzwischen achtzehn anderen Menschen, die tot waren.

Während Libby leise weinend die Schultern hängen ließ, drückte Kieran sie an sich.

„Ich glaube, das waren die beiden Kerle, die noch auf der Flucht sind“, sagte er. „Die Vorstellung gefällt mir nicht.“

„Mir auch nicht“, stimmte Matt ihm zu. Er blickte zu Libby und griff nach ihrer Hand. „Für mich klingt das so, als wärt ihr verdammt tapfer gewesen.“

„Der Kerl hat mir seine Maschinenpistole ins Gesicht gedrückt! Ich wollte doch einfach nur demjenigen helfen, der verletzt draußen auf der Straße lag, und plötzlich dachte ich … ich dachte, die bringen uns um … Die anderen Menschen hinter dem Tresen haben sie nämlich erschossen …“

Während Libby laut weinend das Gesicht an Kierans Schulter vergrub, tauchten Hayley und Alyssa im Wohnzimmer auf. Sie hatten gehört, dass unten etwas vor sich ging.

„Libby!“, rief Hayley und rannte zu ihrer großen Schwester. Libby registrierte ihre Anwesenheit sehr wohl und streckte einen Arm nach ihr aus, um sie an sich zu drücken.

„Und ihr?“, wandte Sadie sich an Tessa und Sylvie. „Ist alles okay bei euch?“

„Wie man’s nimmt“, sagte Tessa achselzuckend. Sie hatte die Arme um den Leib geschlungen und wirkte in ihrer Kleidung auf einmal besonders verletzlich. Sylvie hatte sich längst nicht so auffällig zurechtgemacht.

„Bei uns sind sie aufgekreuzt, als sie die ersten Menschen schon erschossen hatten. Wir waren an der Women’s Stage, als die ersten Schüsse fielen. Es hat einen Moment gedauert, bis wir begriffen haben, was los ist. Es … nein. Nicht, wenn die Kids zuhören.“

Amelia stand auf und bewegte Alyssa und Hayley dazu, wieder spielen zu gehen. Nervös und mit fahrigen Bewegungen nestelte Tessa an ihren Haaren herum.

„Ich habe den Pick-Up gar nicht kommen sehen, ich war abgelenkt. Ich habe ihn erst bemerkt, als diese Scheißkerle wie die Besessenen mit ihren Waffen in die Menge gefeuert haben. Ich habe mich umgedreht und Sylvie mit mir runtergerissen, als ich sie gesehen und mich zu Boden geworfen habe. Das war wie ein Instinkt. Wir haben uns hinter ein paar Mülleimern zusammengekauert und ich habe gebetet, dass sie uns nicht sehen oder in unsere Richtung zielen. Dann habe ich sie beobachtet … sie waren wie im Blutrausch. Als ob sie auf der Jagd wären. Einer hat verfluchte Schwuchteln gebrüllt … und dann haben sie gezielt auf die Leute geschossen. Das habe ich gesehen. Alle, die besonders auffällige Kleidung trugen, wurden niedergeschossen. Ich weiß nicht, wie viele Menschen. Allein bei uns sicher zehn oder zwölf. Einer hat auch einfach wild in die Menge geballert. Überall waren bloß Schreie und es lagen leblose Menschen am Boden … und ich weiß noch, wie ich gehofft habe, dass sie mich nicht sehen.“ Tessa hatte die Hände zu Fäusten geballt, während sie sprach. Während sie sich aufs Atmen konzentrierte, starrte sie an die Decke und versuchte, ruhig zu bleiben. „Solche Angst hatte ich noch nie. Nicht mal damals bei Lindsay …“

Sadie schluckte. „Mein Gott.“

„Sie haben uns nicht bemerkt. Sie sind wieder gefahren, aber die Schießerei ging weiter. Ich habe mich mit Sylvie unter der Bühne versteckt und wir sind erst wieder rausgekommen, als nicht mehr geschossen wurde. Und dann …“

Tessa suchte nach Worten, aber ihr blieb buchstäblich die Stimme weg. In Tränen aufgelöst saß sie da, ihr Mascara hinterließ seine Spuren in ihrem Gesicht. Sylvie hielt ihre Hand fest gedrückt und sprach weiter.

„Da lagen überall tote Menschen. Die Polizei war schon da und ein paar Sanitäter – längst nicht so viele, wie es gebraucht hätte. Überall war Blut. Ich kann die Schreie immer noch hören.“

Libby nickte heftig. „Das war das Schlimmste.“

„Das werde ich nicht wieder los“, sagte Tessa mit erstickter Stimme.

„Ihr seid in Sicherheit“, sagte Sadie. So überflüssig diese Aussage klang – es war wichtig, das den Betroffenen ins Gedächtnis zu rufen, denn ihre Erlebnisse waren so präsent und überwältigend für sie, dass sie es sonst zu leicht vergaßen.

Phil erschien mit noch feuchten Haaren und in frischer Kleidung im Wohnzimmer. „Ist hier alles in Ordnung?“

„Ich bin so froh, dass du gekommen bist“, sagte Libby mit einem winzigen Lächeln zu ihm. „Ich habe einfach gleich an dich gedacht und gar nicht daran, den Notruf zu wählen.“

„Gern geschehen. Ich bin so froh, dass euch nichts passiert ist.“

Als Tessa und Sylvie den Wunsch äußerten, heimzukehren, bot Phil gleich an, sie hinzufahren. Auch Libby und Kieran wollten nach Hause – und damit meinten sie Pleasanton, wie sich erst herausstellte, als Matt sich bereit erklärte, sie nach San José zu bringen.

„Ruf mich jederzeit an, okay?“, erinnerte Sadie Tessa, während sie mit Sylvie und Phil zum Auto ging.

Tessa nickte bloß. „Danke, Süße. Ich weiß das zu schätzen. Gerade kann und will ich nicht weiter drüber reden.“

„Natürlich. Aber wenn du willst …“

„Okay.“ Tessa umarmte Sadie noch einmal, dann ging sie zu Phils Auto.

Sadie und ihre Familie verabschiedeten sich von Amelia und traten den Heimweg an. Libby saß auf der Rückbank des Challengers zwischen Hayleys Kindersitz und Kieran gequetscht, aber sie beschwerte sich nicht.

„Ist etwas Schlimmes passiert?“, fragte Hayley, während Matt den Weg zum Freeway einschlug. Sadie drehte sich zu ihrer Tochter um.

„In San Francisco ist heute ein Verbrechen geschehen. Onkel Phil hat dabei geholfen, die Verbrecher zu finden und einzusperren.“

„Okay“, sagte Hayley und blickte dann zu Libby. „Hattest du Angst?“

Libby nickte langsam. „Ja, ein bisschen. Das waren ziemlich böse Männer heute.“

„Aber warum haben die das gemacht?“

Es fiel Sadie immer wieder schwer, ihrer Tochter Antworten auf so ungewollt tiefgründige Fragen zu geben.

„Das ist gar nicht so leicht zu sagen. Menschen tun aus den verschiedensten Gründen böse Dinge. Ich versuche ja immer, das zu erklären, das ist ja mein Beruf … oder er war es zumindest. Aber hier weiß man noch nicht, warum sie das getan haben.“

„Okay“, sagte Hayley gleichmütig. Libby strubbelte ihr durchs Haar, woraufhin Hayley pikiert quiekte. Lächelnd blickte Sadie wieder nach vorn und beobachtete, wie Matt auf den Freeway fuhr.

Ja, jetzt wollte sie auch nach Hause. Was für ein verrückter, grauenvoller Tag. Sie wollte wissen, wie der aktuelle Stand in San Francisco war, traute sich aber mit Rücksicht auf Libby und Kieran nicht, das Radio einzuschalten. Deshalb griff sie zu ihrem Handy und schaute im Internet nach. Inzwischen waren die Zahlen auf sechzehn Tote und achtundvierzig Verletzte gestiegen. Sadie schluckte hart, als sie das las. Auch das ließ sie ungewollt wieder an die Sarinanschläge in Los Angeles denken.

So viel sinnloses, grauenvolles Leid. Und die beiden flüchtigen Täter waren immer noch auf freiem Fuß. Das war es, was sie noch am meisten beunruhigte.

Trotzdem war sie unendlich dankbar, dass zumindest die Menschen, die sie liebte, unverletzt waren. Wenigstens diesmal waren sie verschont geblieben.

 

 

 

 

 

Montag, 28. Juni

 

Seit Hayleys Geburt schlief Sadie nicht mehr wie vorher. Ihr Schlaf war leichter geworden, sie wurde von ungewöhnlichen Geräuschen im Haus geweckt. Diesmal waren es Schritte auf der leise knarzenden Treppe. Sie hatte Libby oder Kieran im Verdacht, die im Gästezimmer schliefen.

Halb drei. Sie spürte Druck auf der Blase, deshalb beschloss sie, aufzustehen und schlich ins Bad. Als sie dort fertig war, machte sie sich leise auf den Weg nach unten.

Im Wohnzimmer war nur eine kleine Leselampe eingeschaltet. Auf dem Sofa saß Libby mit Mittens auf dem Schoß. Sie kraulte die Katze, während ihr Blick ins Nichts ging. Als Sadie näher kam, sah sie Tränen in den Augen ihrer Tochter.

Sie setzte sich auf die benachbarte Couch, in achtsamem Abstand, aber immer noch so, dass sie dem Mädchen nah genug war. Stumm weinend konzentrierte Libby sich darauf, Mittens zu streicheln.

Auch wenn es ihr schwer fiel, blieb Sadie einfach sitzen und wartete schweigend ab. Libby hatte sie bemerkt, das wusste sie, und wenn ihre Reaktion nun so lange auf sich warten ließ, dann hatte das sicherlich einen Grund.

„Störe ich?“, fragte Sadie nach ein paar Minuten.

Libby schüttelte den Kopf. „Nein, es ist nur … ich kann es so schlecht in Worte fassen. Die Bilder sind in meinem Kopf, sie haben mich gerade aus dem Schlaf gerissen. Jetzt versuche ich, sie loszuwerden, aber es geht nicht.“

„Ich nehme an, du weißt, warum.“

„Ja, sicher. Nur macht es das nicht besser. Da ist vor allem eine Sache …“

Sadie wartete einfach ab, bis Libby weitersprach.

„Dieser junge Mann, auf den sie vor dem Hotel geschossen haben … Ich wollte ihm helfen. Ich wollte rausgehen und ihn ins Gebäude holen, um ihm dort helfen zu können. Er war ja noch am Leben. Wir haben ihn also reingeholt, Kieran und ich, und auf dieses Sofa gelegt. Aber diese Typen haben uns dabei gesehen. Deshalb sind sie zurückgekommen. Sie sind reingekommen und dann haben sie ihm erst in den Kopf geschossen.“ Libbys Stimme zitterte, als sie das sagte, und sie schniefte. „Ich werde den Gedanken nicht los, dass ich an seinem Tod schuld bin.“

„Du wolltest helfen, Libby! Hättest du das nicht versucht, wäre er doch auf der Straße bestimmt verblutet.“

„Ich weiß es nicht …“ Libby war in Tränen aufgelöst und wischte sich zitternd über die feuchten Wangen. „Dieser Typ hat ihn einfach hingerichtet, genau wie die anderen, die sich versteckt hatten. Das ist alles bloß passiert, weil ich mutig sein und helfen wollte. Nur deshalb sind die Typen ins Hotel gekommen … warum habe ich das gemacht? Warum konnte ich nicht einfach sitzen bleiben und warten?“

Sadie griff nach ihrer Hand und drückte sie fest. „Weil du mutig bist.“

„Wahnsinnig trifft es wohl eher … Ich hab die Typen provoziert. Du weißt, wie vorlaut ich sein kann. Ich hatte die eine Waffe schon am Kopf. Wäre das SWAT-Team in dem Moment nicht gekommen …“

„Du hast etwas Furchtbares erlebt, das steht außer Frage. Du hast dich ohnmächtig gefühlt und das musst du jetzt verarbeiten.“

„Ich weiß … ich weiß das alles … Ein Trauma entsteht, wenn man sich in einer Situation hilflos und ausgeliefert fühlt. Ich hab das in dem Moment gar nicht so empfunden, da konnte ich einfach mein vorlautes Mundwerk nicht halten. Aber jetzt …“

„Das waren zwei Bewaffnete mit Maschinengewehren. Weißt du, wie viel Respekt ich vor dir habe, weil du den Mut besessen hast, dich ihnen entgegenzustellen?“

„Respekt?“ Libby lachte ungläubig.

„Ja, natürlich. Ich weiß nicht, ob ich das gekonnt hätte.“

„Klar hättest du.“

Sadie erwiderte nichts. Sie wusste es nicht. Vielleicht hatte Libby Recht.

„Natürlich hättest du, Mum … was denkst du denn, von wem ich das habe?“, fügte Libby leise hinzu.

Sadie lächelte unwillig. „Du übertreibst.“

„Nein, tue ich nicht. Ich denke jetzt nur mal an den Moment, in dem du dich Brian gegenübergestellt hast … meinetwegen. Ich weiß jetzt, wie du dich da gefühlt haben musst und dass du niemanden weniger in deiner Nähe haben wolltest als ihn, aber das war dir egal. Du bist meinetwegen da reingegangen und hast ihm in die Augen gesehen. Das habe ich mir wohl irgendwie gemerkt …“

Darauf konnte Sadie nichts erwidern. Sie beugte sich zu Libby hinüber und umarmte sie ganz fest. Libby erwiderte die Umarmung seufzend.

„Du hast heute nichts falsch gemacht“, sagte Sadie. „Das, was du da gezeigt hast, war Zivilcourage. Es war wahnsinnig gefährlich, aber es war so mutig. Du kannst verdammt stolz auf dich sein.“

„Danke … Wenn doch da nur diese Schreie nicht wären … So, wie Sylvie gesagt hat. Ich höre sie auch immer noch.“

„Ich weiß, wie das ist. Ich war ja damals in der Westfield Mall, als dort das Sarin freigesetzt wurde.“

„Hört das irgendwann auf?“, fragte Libby ängstlich.

„Schon irgendwie … gerade erinnere ich mich wieder daran, aber das Gefühl, dass man es gar nicht aus dem Kopf kriegt, lässt irgendwann nach.“

„Ich hoffe, du hast Recht.“

„Du hast heute nichts falsch gemacht. Du hast etwas Furchtbares erlebt und überlebt und es wird seine Zeit brauchen, bis diese Wunden heilen. Aber das packst du doch.“

Libby nickte langsam. „Ich hoffe es. Hoffentlich kriegen sie diese beiden Typen noch, die da bei uns waren. Ich kann wirklich nicht fassen, dass die entkommen sind.“

„Die Ermittler glauben inzwischen, zu wissen, wer sie sind. Man wird sie kriegen.“

Wieder nickte Libby bloß. Nach einem langen Augenblick des Schweigens sagte sie: „Es war so eine Erlösung, Phil zu sehen. Er ist ein Held, ganz ehrlich.“

„Ja, das ist er. Ich bin froh, ihn meinen besten Freund nennen zu dürfen. Er hat mir schon so oft das Leben gerettet.“

Schließlich holte Libby sich noch etwas zu trinken, bevor sie beschloss, wieder zu Kieran ins Bett zu gehen. Sie nahm die Katze mit, was Sadie gut verstehen konnte. Sie folgte Libby nach oben und versuchte, sich möglichst leise zu Matt zu legen, aber er war längst wach.

„Alles okay bei ihr?“, fragte er im Flüsterton.

„Ich denke schon. Nichts, was man nach den heutigen Erlebnissen nicht erwarten würde.“

„Ich bin so froh, dass ihr nichts passiert ist.“

Sadie machte ein zustimmendes Geräusch, während sie sich dicht an ihn schmiegte. Seine Nähe tat ihr in diesem Moment so gut.

 

In der vorlesungsfreien Zeit widmete Sadie sich bevorzugt der Forschung. Sie arbeitete gerade an einer Studie, die sich mit der Effektivität unterschiedlicher Bewältigungsstrategien auseinandersetzte, die Gewaltopfer nach dem Erleben einer Straftat anwendeten. Die Durchführung der Interviews, die Dateneingabe und die Auswertung waren bereits abgeschlossen, deshalb war der nächste Schritt, das Ganze zu verschriftlichen und bereit für die Veröffentlichung zu machen.

An diesem Tag war sie froh, nicht nach San Francisco zu müssen, denn die Stadt stand nach dem furchtbaren Massaker immer noch Kopf. Matt hatte nicht so viel Glück, er musste zu einer Redaktionssitzung und fuhr rechtzeitig los. Libby und Kieran lagen noch im Bett, wofür Sadie großes Verständnis hatte.

Bevor sie sich ihrer Arbeit widmen wollte, brachte sie sich im Internet auf den neuesten Stand hinsichtlich der Ermittlungen und war fassungslos, als sie sah, dass die beiden flüchtigen Täter immer noch untergetaucht waren. Bei ihnen handelte es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Thomas Woodrugh und Ricky Purcell. Zwei weitere Männer waren tot. Festgenommen hatte man am Vortag Wiley Turner und seine Mitstreiter Henry Montgomery, Jon Spencer und Alan Wolfe, die bereits auf ein unterschiedlich langes Vorstrafenregister zurückblickten und denen nun die Todesstrafe drohte. Sie hatten mit Phils Kollegen nicht bloß einen Polizisten erschossen, was allein ausreichend gewesen wäre, sondern auch der bloße Umstand des Massenmords war ein Grund dafür, die Todesstrafe zu verhängen. Sadie konnte sich auch nicht vorstellen, dass die Chancen für sie besonders groß waren, dem zu entgehen.

Man hatte das White Front-Hauptquartier in Vacaville am Vortag noch vollkommen auf den Kopf gestellt und ein Bekennervideo sichergestellt, auf dem Wiley Turner seine Hassbotschaften gegen Homosexuelle herausposaunte. Man hatte sich dazu entschieden, dieses Video unter Verschluss zu halten und es nur ausgewählten Journalisten gezeigt, die den Inhalt zusammengefasst in den Medien wiedergaben. Das allein reichte Sadie vollkommen und machte sie fuchtsteufelswild. Er beschwor sinngemäß den Untergang des Abendlandes herauf, sprach von einer Verrohung der Sitten und von einem Verrat christlicher Werte. Überhaupt bezog er sich sehr viel auf die Bibel und bezeichnete Homosexuelle durchweg verächtlich als faggots, was Sadie als Schimpfwort sehr verächtlich fand.

Er und seine Mitstreiter waren sich einig, dass die Ehe für Homosexuelle verboten gehörte, stellte Homosexualität als widernatürlich dar und propagierte den Schutz von Ehe und Familie als Keimzelle einer gesunden Gesellschaft.

Am liebsten hätte Sadie ihm dafür persönlich den Kopf abgerissen und sich den ganzen Tag lang aufgeregt, aber das sah sie als Energieverschwendung an. Klar war in jedem Fall, dass die White Front das von langer Hand geplant und gezielt Jagd auf Homosexuelle gemacht hatte. Sie hatten ein Zeichen setzen und den Abschaum, wie Turner sie bezeichnete, von den Straßen tilgen wollen. Diese Aussage wurde direkt zitiert. Sie hatten sich gezielt die San Francisco Pride ausgesucht und möglichst viele Menschen treffen wollen.

Aber ihre Botschaft kam nicht an. In der Bay Area sowieso nicht, dafür waren die Menschen dort zu aufgeschlossen. Die Menschen empfanden das gestrige Massaker durchweg als Terrorakt. Es hatte so viele Tote und Verletzte gegeben und so viele Menschen hatten den Terror miterlebt, dass es jetzt schon den Anschein hatte, als hätten Turner und seine Gefolgsleute das Gegenteil dessen erreicht, worauf sie es abgesehen hatten. Die Welle der Solidarität mit den Opfern und ihren Familien war riesig. Auf der Market Street hatte man eine Gay Pride-Flagge gehisst, über die ein schwarzer Querstreifen genäht war und ein Meer von Blumen, Fotos und Erinnerungsstücken erstreckte sich an den Stufen des nahen Rathauses. Das Symbol der Regenbogenflagge mit dem schwarzen Streifen zog sich durch die sozialen Medien, es meldeten sich Angehörige der Opfer und warben in ihrem Namen für mehr Toleranz.

Das war etwas, das Sadie freute. Sie hatte Homosexualität immer als etwas Normales erlebt, als eine Spielart der Natur, so wie sie selbst eben feuerrotes Haar hatte. Sie hatte Tessa vor ihrem Outing kennengelernt und auch danach war Tessa immer noch dieselbe gewesen. Ihr ganzes Wesen hatte sich nicht verändert und ihr burschikoses Auftreten hatte sie auch vorher schon gehabt. Es hatte sich dadurch zwar noch ein wenig vertieft, aber die rebellische Art war in ihrem Wesen verankert und es war Sadie herzlich egal, ob Tessa sich nun zu Frauen oder Männern hingezogen fühlte. Sie selbst war zwar in einer typischen amerikanischen Familie aufgewachsen, wenn man die Fakten betrachtete – Vater, Mutter, drei Kinder, Eigenheim. Dass man darauf jedoch nicht viel geben musste, wusste Sadie nur zu gut, denn hinter verschlossenen Türen hatte Rick getrunken, geprügelt und missbraucht und er hatte ja nicht nur seine Familie ermordet, sondern auch noch über zwanzig nicht minder unschuldige Frauen.

Sie hasste es einfach, wenn Menschen ihr unreflektiertes und intolerantes Weltbild nicht nur lautstark zur Schau trugen, sondern auch noch versuchten, es anderen Menschen gewaltsam überzustülpen. Und das hatten die Mitglieder der White Front getan. Sadie hoffte, dass man sie gerecht bestrafen würde, aber daran hegte sie eigentlich keinen Zweifel.

Während sie noch die Reaktionen im Internet verfolgte, regte sich etwas im Haus. Libby kam schlaftrunken in Sadies Arbeitszimmer und deutete mit den Fingern ein Winken an.

„Guten Morgen“, begrüßte Sadie sie mit einem Lächeln.

„Morgen … Mittens ist auf mir herumgetrampelt.“

„Oh nein, das ist ja gemein. Wie geht es dir?“

„Es ist okay, denke ich. Dass ich müde bin, ist gerade mein größtes Problem. Ich glaube, ich gehe mal duschen.“

„Ja, mach das.“ Sadie blickte ihr hinterher, während Libby ins benachbarte Bad ging, und beschloss, sich über die Hintergründe der Tat weiter kundig zu machen. Nick hatte gestern gesagt, dass durch Homophobie motivierte Verbrechen wieder auf dem Vormarsch waren. Sadie konnte zwar nicht verstehen, was jemand gegen die sexuelle Orientierung einer anderen Person haben konnte, so lange die niemandem schadete, aber leider gab es genug Menschen auf der Welt, die das anders sahen.

Ziemlich schnell revidierte sie den Eindruck, dass Tessa in einem Amerika lebte, in dem sie ihre Homosexualität offen zeigen konnte. In der Gegend um San Francisco ging das alles noch, aber die Tatsache, dass die Wikipedia einen eigenen Eintrag zum Thema Hassverbrechen gegen Homosexuelle und Transgender hatte, stimmte sie zornig. In dieser Auflistung las sie von zahlreichen vollkommen sinnlosen Verbrechen.

Ein Vater hatte seine eigene Tochter und ihre Freundin erschossen, weil er nicht damit zurecht kam, dass sie lesbisch war. Im Jahre 2013 war ein nur acht Jahre alter Junge von seiner Mutter und ihrem Freund gefoltert und ermordet worden, weil sie befürchtet hatten, der Junge könnte schwul sein. Mit Tränen in den Augen las Sadie, was man den beiden zur Last legte und fragte sich für einen kurzen Moment, in welcher Welt sie lebte. 2018 hatte ein Mitglied der Neonazi-Gruppierung Atomwaffen-Division einen schwulen jüdischen Collegestudenten erstochen. Nick hatte Recht, Menschen mit rechter Gesinnung waren nicht selten homophob.

Sie las von vielen brutalen Verbrechen, bei denen Menschen einfach nur aufgrund ihrer sexuellen Gesinnung getötet worden waren, teils auf offener Straße, oft von völlig Fremden. Neugierig geworden, schlug Sadie die Atomwaffen-Division nach und stellte fest, dass diese in Florida, Texas und Montana heimische Gruppierung der White Front freundlich gesinnt war. Politisch positionierten sie sich ganz rechts und waren davon überzeugt, dass die weiße Rasse anderen Ethnien überlegen war. Sie waren Anhänger des Neofaschismus, hatten antisemitische Überzeugungen, bekannten sich offen als homophob und rassistisch. Für die White Front galt nichts anderes. Wiley Turner und seine Mitstreiter standen auch im Verdacht, ein jüdisches Gemeindehaus verwüstet und zahlreiche Schwarze und Latinos belästigt oder angegriffen zu haben. Ein Mitglied der White Front saß wegen Mordes an einem Schwarzen im Gefängnis.

Sadie fand heraus, dass zwanzig Prozent aller Hassverbrechen aufgrund der sexuellen Gesinnung des Opfers passierten. Am häufigsten waren schwule Männer betroffen, seltener traf es Frauen. Das hatte sich seit den Tagen der Stonewall Riots im Jahr 1969 nicht geändert. Damals hatte die Polizei in einer  Schwulenbar in Greenwich Village, New York, eine Razzia durchgeführt und damit für Aufstände und Demonstrationen gesorgt. Das hatte den Anfang der Befreiungsbewegung Homosexueller in den USA markiert und weltweit wurde mit dem Christopher Street Day an diese Begebenheit erinnert. Die San Francisco Pride war eine sehr ähnliche Veranstaltung, die sich nur nicht an dieses Ereignis anlehnte.

Doch ganz gleich, was Sadie auch las – sie konnte es nicht nachvollziehen. Sie wusste, dass Homophobie sich aus heteronormativen Ideen speiste, was nicht viel mehr bedeutete, als dass Menschen die Sexualität zwischen Mann und Frau als die Norm ansahen. Zahlreiche Studien legten jedoch nahe, dass ausgerechnet diejenigen, die sich lautstark gegen Homosexuelle positionierten, oftmals selbst unterdrückte homosexuelle Wünsche verspürten, diese jedoch aufgrund ihrer Glaubenssätze stark ablehnten. Homosexuelle Männer wurden oft als unmännlich wahrgenommen und wenn ein Mann sich selbst unsicher über seine eigene Männlichkeit war, richtete er diese Unsicherheit vielleicht in aggressiver Weise gegen Schwule. Das alles diente der eigenen Abgrenzung von sexuellen Ansichten, die man verabscheute – egal, ob das nun anerzogen, aufgeschnappt oder durch religiöse Glaubenssätze begründet war. Im Dritten Reich hatte man Schwule in Konzentrationslager deportiert, wo man sie als die niedrigsten Menschen betrachtet hatte. Man hatte sie dort gefoltert oder Experimente an ihnen durchgeführt, über die Sadie gar keine Details wissen wollte.

Homophobie wurzelte also sehr tief. Sie selbst konnte sich daran erinnern, dass sie zum ersten Mal in Portland als junges Mädchen ein schwules Pärchen gesehen und Norman ihr ganz nüchtern erklärt hatte, dass es auch schon mal vorkam, dass Männer andere Männer oder Frauen andere Frauen liebten. Aus Klamath Falls kannte sie das nicht, aber nach dieser Begegnung hatte sie das als normal abgespeichert und seit ihrer tiefen Freundschaft zu Tessa konnte sie sich auch gar nichts anderes mehr vorstellen.

Hass kochte in ihr hoch, wenn sie sich vorstellte, dass Wiley Turner und seine Leute am Vortag auch Tessa hätten treffen können. Sie versuchte, dieses Gefühl hinunterzuschlucken, als ihr Handy klingelte. Es war Nick Dormer.

„Hey, was gibt es?“, begrüßte Sadie ihn.

„Hast du heute Abend schon was vor?“

„Heute? Nein, warum fragst du?“

„Ich bin mit Sheila und ihren Kollegen hergekommen, um mir Wiley Turner und seine Genossen vorzuknöpfen. Wir sollen herausfinden, wo sich die beiden Flüchtigen versteckt haben könnten.“

„Ihr seid in San Francisco?“

„Ja, wir sind in aller Frühe gelandet. Ich würde dich und deine Familie gern wiedersehen.“

Sadie lächelte. „Na, das ist ja eine tolle Überraschung! Wobei, wenn ich es mir recht überlege, ist das gar nicht so überraschend.“

„Stimmt“, sagte Nick lachend. „Im Übrigen habe ich ihnen gesagt, dass sie eine fähige Profilerin an der UCSF haben, die sie gern fragen können, aber sie wollten nicht.“

„Wie haben sie das begründet?“

„Du bist nicht mehr dabei. Sie haben irgendwas von grundlegender Bedeutung des Falles und nationaler Sicherheit erzählt und haben darauf bestanden, dass keine behördenfremden Personen daran mitarbeiten.“

„Ach du meine Güte. Die stellen sich ja an.“

„Habe ich mir auch gedacht. Es war auch nicht, dass ich nicht herkommen wollte, aber mir hätte deine Unterstützung gefallen.“

„Ich hätte dir auch gern geholfen … aber dann eben nicht. Habt ihr schon eine Unterkunft?“

„Bislang nicht.“

„Prima, dann bleibt doch bei uns, wenn euch die Fahrerei nicht stört.“

„Das würde ich tatsächlich gern tun. Ich freue mich schon sehr. Noch kann ich dir nicht sagen, wann wir heute Abend fertig sind, aber ich melde mich.“

„Kein Problem, sag einfach Bescheid. Ich freue mich.“

„Wir uns auch. Bis später.“

Sadie legte zufrieden auf und beschloss, Libby zu fragen, wann sie mit Kieran nach San José zurückkehren würde. Sie ging davon aus, dass die beiden in dieser Nacht nicht mehr bei ihnen bleiben würden und würde mit ihnen sprechen, wenn sie zum Frühstück kamen.

 

 

Libby und Kieran hatten sich nach ihrem Frühstück zur Mittagszeit auf den Rückweg nach San José gemacht, doch Libby hatte angekündigt, am Abend noch einmal vorbeizukommen. Sie freute sich darauf, Nick wiederzusehen, während Kieran es vorzog, mal zu seinen Eltern zu fahren. Das konnte Sadie gut verstehen. Sie arbeitete produktiv bis zu Matts Rückkehr, als Libby und Kieran fort waren, und um sie bei der Arbeit nicht zu stören, holte Matt Hayley aus dem Kindergarten ab. Er ging auch mit ihr fürs Abendessen einkaufen, denn er hatte überlegt, für Nick und Sheila den Grill anzuwerfen.

Gegen siebzehn Uhr kündigte Nick an, dass sie versuchen wollten, um neunzehn Uhr in Pleasanton zu sein, was Sadie entsprechend an Libby weitergab. Sie half Matt schließlich bei den Vorbereitungen und während Libby gegen halb sieben eintraf, standen Nick und Sheila erst um zehn nach sieben mit einem Dienstwagen des FBI und ihrem Gepäck vor der Tür.

„Ich freue mich so, euch zu sehen“, sagte Sadie und umarmte beide nacheinander. Matt ging ihnen zur Hand, um das Gepäck hereinzubringen, und auch Libby hieß die Gäste willkommen.

„Mit dir muss ich ein ernstes Wörtchen reden“, sagte Nick augenzwinkernd zu ihr.

„Mit mir? Warum?“

„Ich habe vorhin deine Aussage von gestern gelesen. Du warst ja im Zentrum des Geschehens, würde ich sagen.“

„Das ist jetzt keine besondere Leistung“, murmelte Libby verhalten.

„Nach dem, was ich gelesen habe, hast du schon etwas geleistet. Würdest du mir davon erzählen?“

„Ja, von mir aus.“ Libby klang wenig begeistert, rang sich aber ein Lächeln ab.

Matt schaute kurz nach dem Grill, während Sadie Nick und Sheila durchs Haus führte und ihnen das Gästezimmer zeigte.

„Ihr habt es wahnsinnig schön hier“, sagte Nick anerkennend. „Ganz anders als in Los Angeles.“

„Ich genieße es sehr“, sagte Sadie.

„Ja, das kann ich verstehen. Danke für eure Gastfreundschaft! Das wäre absolut nicht nötig gewesen, das weißt du, aber es war auch zu verlockend, um es abzulehnen.“

Grinsend erwiderte Sadie: „Das ist auch gut so, Nick Dormer.“

„Nenn mich nicht so, dann fühle ich mich alt!“

Beide lachten und gesellten sich zu den anderen in den Garten. Matt grillte ihnen fleißig Steaks und andere Köstlichkeiten und vor allem Nick wirkte plötzlich sehr entspannt.

„Das ist genau das Richtige nach einem solchen Tag. Wir sind ja schon seit fünf Uhr in der Früh auf den Beinen – und zwar Eastern Standard Time. Dann fünf Stunden im Flieger, nur damit man sich mit Idioten wie Wiley Turner herumschlagen darf …“

„Wart ihr bei ihm?“, fragte Matt.

Dormer nickte. „Ich habe ziemlich lang mit ihm gesprochen. Er glaubt diesen Mist wirklich. Er ist völlig besessen von seinem Hass gegen alles Andersartige. Wenn es stimmt, und das überprüfen wir noch, liegt der extreme Hass der Gruppierung gegen Homosexuelle darin begründet, dass wohl Jon Spencers Bruder seit einem Jahr mit einem Mann zusammen lebt und deshalb völlig mit der Familie gebrochen hat. Was auch kein Wunder ist, denn die ganze Familie war vollkommen schockiert über sein Coming-Out und der Vater hat ihn prompt enterbt. Joe Spencer hat laut eigener Aussage seinem Bruder – ich zitiere – die Fresse poliert und er wollte ihm den Kopf zurechtrücken, woraufhin sein Bruder mit seinem Lebensgefährten die Flucht ergriffen hat. Beide sind untergetaucht und jetzt fühlt Spencer sich natürlich aufgrund der Homosexualität seines Bruders verraten.“

„Das muss ja unerträglich für ihn sein“, sagte Sadie.

„Das hat die ganze Gruppe aufgemischt. Die Eskalation kündigte sich an, als Spencers Bruder der Familie eine Mail mit einem Foto von seiner Hochzeit aus Las Vegas schickte. Das ist jetzt vier Monate her und seitdem hat die Gruppe darüber nachgedacht, ihrem Hass auf Homosexuelle bei der San Francisco Pride Ausdruck zu verleihen.“

„Und dann waren sie dumm genug, sich erwischen zu lassen“, sagte Matt.

„Wir wissen inzwischen, dass sie einen Fluchtplan hatten, und der war nicht mal schlecht. Wir konnten schon rekonstruieren, dass Woodrugh und Purcell die Kleidung gewechselt haben. Sowohl ihre Tarnanzüge als auch die großen Waffen wurden unweit des Hotels sichergestellt, aber danach ist es ihnen gelungen, unerkannt und immer noch mit ihren Handfeuerwaffen bestückt zu entkommen. Ich habe absolut keine Ahnung, wo sie sich aufhalten – sie haben es vermutlich aus der Stadt geschafft, bevor sie zur Fahndung ausgeschrieben wurden und haben sich jetzt mit Hilfe anderer White Front-Mitglieder irgendwo eingegraben. Bislang konnten ja nicht alle Mitglieder festgenommen und befragt werden.“

„Die dachten sich also, sie ballern mal ein bisschen auf der San Francisco Pride herum, weil ihnen nicht passt, wie Spencers Bruder sein Leben verbringt?“, fragte Matt verständnislos.

„Etwas mehr steckt schon dahinter. Ihnen passt nicht, dass Homosexuelle heiraten dürfen, ihnen passt genausowenig, dass Homosexualität nicht mehr verboten ist, sie machen sie für jedes erdenkliche Übel in unserem Land verantwortlich – Verwahrlosung, Verrohung der Moral, Verfall der christlichen Werte … ihr könnt es euch sicher vorstellen. Sie ist genau so schuld wie Einwanderung, andere Hautfarben und fremde Religionen. “

„Was für kranke Spinner“, sagte Matt kopfschüttelnd.

„Bist du denn überhaupt richtig hier?“, richtete Sadie sich an Sheila. „Das ist ja kein terroristischer Akt als solches, oder?"

„Ich kann dir noch nicht sagen, als was wir es abschließend einstufen werden. Es ist definitiv ein Hassverbrechen und ich tendiere dazu, es ähnlich wie den Anschlag auf den Pulse-Nachtclub als Terrorakt zu bezeichnen. Turner und seine Leute verfolgen ja durchaus ein politisches Ziel, in ihrem Bekennervideo und auch in den Verhören haben sie betont, dass sie diese Unmenschen – diese Bezeichnung haben sie tatsächlich gewählt – von diesem Planeten tilgen wollen. Sie wollen erreichen, dass Homosexuelle nicht mehr heiraten dürfen und Homosexualität wieder als strafbar angesehen wird. Es ist unfassbar viel unreflektierter und hasserfüllter Blödsinn erzählt worden.“

„Wenn ich an meine beste Freundin denke, regt mich das fürchterlich auf. Ich verstehe nicht, warum Spencer nicht auch merkt, dass sein Bruder immer noch derselbe ist“, sagte Sadie.

„Du weißt doch, wie das mit internalisierten Vorurteilen läuft. Du glaubst dein Leben lang, Homosexualität sei widernatürlich, unmännlich und verabscheuungswürdig und auf einmal sagt dir dein eigener Bruder, den du eigentlich liebst, dass er einen Mann heiraten will. Wenn du all deine Glaubenssätze und Meinungen, mit denen du dich identifizierst, schützen und die drohende kognitive Dissonanz vermeiden willst, bleibt dir ja nur noch die Ablehnung deines Bruders und all dessen, was ihn ausmacht. Spencer muss ja schon fürchten, dass er vielleicht doch auch einen Funken Homosexualität in sich hat.“

„Wie furchtbar“, spottete Sadie.

Nick grinste, wurde aber gleich wieder ernst. „Vorurteile speisen sich aus Unwissenheit. Das menschliche Gehirn nimmt Abkürzungen. Etwas ist anders als man selbst – das muss man erst mal ablehnen. Steinzeitlicher Instinkt. Man setzt sich ja nicht gern mit fremd wirkenden Dingen auseinander, das ist anstrengend. Es bedarf ja eines Bewusstseins für solche Problematiken und einer gewissen Intelligenz, um eine von vornherein erfolgte falsche Prägung vielleicht wieder auszugleichen.“

„Das hast du jetzt aber sehr schön formuliert“, sagte Sadie und lachte.

Nick grinste ebenfalls. „Es war in jedem Fall sehr speziell. Mein Job ist es jetzt, ein Profil von Woodrugh und Purcell zu erstellen, um einzugrenzen, wo sie sich jetzt befinden könnten. Dazu kommt es mir ja nicht ungelegen, dass ich hier jetzt mit jemandem sprechen kann, der die beiden erlebt hat.“ Damit blickte er zu Libby, die den Blick unbehaglich erwiderte.

„Und jetzt soll ich dir von ihnen erzählen?“

„Wäre das ein Problem für dich?“

„Das ist vielleicht gerade nicht mein Lieblingsthema, aber es wird schon gehen. Was willst du wissen?“

„Was im Protokoll deiner Aussage fehlte, waren genaue Verweise auf die Wortwahl. Du hast doch mit demjenigen gesprochen, der dich mit der Waffe bedroht hat. Du sagtest, er hat dich als reinblütig bezeichnet.“

„Ja … Er sprach die ganze Zeit von Schwuchteln und wollte wissen, warum wir den Schwuchteln helfen würden. Er fing dann wirklich davon an, dass ich ja weiß bin, blonde Haare habe … er hat ja sogar nach meinem Namen gefragt und hat den auch als rein bezeichnet.“

Dormer nickte verstehend. „Mich hätte auch jedes andere Urteil über den Namen Whitman gewundert. Den hast du doch genannt, oder?“

„Ja, ich sagte ihm, dass ich Liberty Whitman heiße. Daraufhin meinte er noch, dass ich auch entsprechend vorlaut wäre.“

Während Sadie versuchte, sich ein Grinsen zu verkneifen, fragte Nick: „Hat er noch mehr gesagt?“

„Er meinte, mein Leben hinge davon ab, dass ich ihm meinen ganzen Namen nenne.“

„Was nicht bloß eine Behauptung war, fürchte ich. Überlegen wir doch mal, wie seine Glaubenssätze aussehen: Diese Männer sind glühende Anhänger der Neonazi-Ideologie. Sie glauben ja an die Überlegenheit der arischen Rasse und …“ Nick machte eine kurze Pause.

„Was?“, fragte Sadie.

„Ich denke nur gerade darüber nach, wie ich es formulieren soll.“

„Du meinst, ich könnte tot sein, hätte ich keine blonden Haare und würde nicht Whitman heißen, ja?“, brachte Libby es auf den Punkt.

„Das halte ich für sehr gut möglich. Du entsprachst so sehr dem Ideal, an das er glaubt, dass es für ihn nicht in Frage gekommen wäre, dich zu töten. Das ging nicht.“

Libbys Handflächen fühlten sich verschwitzt an, sie hatte ein zittriges Gefühl. „Das habe ich mir auch schon längst gedacht.“

„Kannst du die beiden irgendwie beschreiben oder voneinander unterscheiden?“

„Derjenige, der da mit mir gesprochen hat, war deutlich größer und kräftiger gebaut als der andere. Das war auch derjenige, der vorher um sich geballert hat. Die haben wirklich ganz gezielt Jagd auf Schwule und Lesben gemacht. Ich weiß nicht, wie es weitergegangen wäre, denn während er noch mit mir geredet hat, ist ja das SWAT eingetroffen. Überhaupt war er der dominantere der beiden. Er hat ja auch den Verletzten auf dem Sofa erschossen.“

„Dann vermute ich, dass es Ricky Purcell war. Zumindest hat der das längere Vorstrafenregister und aus den Aussagen der anderen White Front-Mitglieder würde ich schließen, dass er der Tonangeber der beiden ist. Wie würdest du die beiden charaktierisieren?“

„Die waren im Blutrausch, wie Jäger. Es hat ihnen Spaß gemacht. Alles daran. Um sich zu schießen, Menschen zu erschießen, sie einzuschüchtern. In dem Moment haben sie sich groß und mächtig gefühlt. Sie sind aber trotz allem gezielt vorgegangen und haben nicht einfach alles getötet, was sich bewegt. Deshalb wundert es mich auch nicht, dass sie entkommen sind. Die waren absolut nicht dumm.“

„Danke“, sagte Nick. „Ich fürchte, es wird nicht leicht, sie zu finden. Das alles erinnert mich ja nicht bloß an die Nachtclub-Schießerei in Orlando, sondern vor allem auch an den schwersten Anschlag in der Geschichte der USA vor dem Elften September.“

Während Sadie noch überlegte, sagte Matt: „Du meinst das Oklahoma City Bombing.“

„Ganz genau. McVeighs Hass richtete sich zwar hauptsächlich gegen den Staat als solches, weshalb er ja auch beschlossen hatte, einen Transporter voller Sprengstoff vor einem Regierungsgebäude abzustellen. Er war allerdings beeinflusst von antisemitischen und rassistischen Ideologien und er hat es verdammt clever angestellt. Die Suche nach ihm glich ja einer Nadel im Heuhaufen und er konnte ja nur gefasst werden, weil die Fahrzeugachse des Transporters gefunden wurde und diese Fährte zu McVeigh führte.“

„Ich erinnere mich noch an die ganzen Spekulationen hinsichtlich des Motivs. Irgendwie wurde zeitweise ja jeder verantwortlich gemacht: der Ku-Klux-Clan, die IRA, deutsche Neonazis. Da kam ja alles auf den Tisch.“

„Wie alt warst du damals?“, fragte Nick.

„Vierzehn, glaube ich – gerade so alt, dass ich verstanden habe, was da los ist.“

„Ich war sechs“, sagte Sadie. „Ich erinnere mich an die Fernsehbilder und daran, dass auch der Kindergarten im Gebäude getroffen wurde. Das fand ich schlimm. Andere Kinder …“

„Hattest du eine Vorstellung von dem, was da passiert ist?“

„Nicht richtig, nein. Es sah nur entsetzlich aus. Hatte McVeigh das Anschlagsdatum nicht gezielt ausgewählt, um an die Belagerung von Waco zu erinnern?“

Dormer nickte. „Das stimmt. Er wollte es dem Staat zeigen.“

„Ich frage mich, warum die Mitglieder der White Front nicht auch einfach eine Bombe an der Hauptbühne gezündet haben“, sagte Matt.

„Das kann ich dir erklären“, kam Sadie Nick zuvor, aber er bedeutete ihr mit einer Handbewegung, fortzufahren.

„Weil das unpersönlich gewesen wäre. Sie haben mit Sicherheit darüber nachgedacht und es wäre auch mit einem erheblich geringeren persönlichen Risiko verbunden gewesen, aber die wollten nicht einfach irgendwo ein Auto voller Sprengstoff hinstellen und einen Knopf drücken. Die wollten Menschen jagen und erschießen, sie wollten, dass sie Angst vor ihrem Tod haben. Das war der Inbegriff des Hassverbrechens.“

„Habe ich auch so gesehen“, stimmte Nick zu. „Sie sind ja auch gezielt vorgegangen und haben diejenigen getötet, die für sie leicht als Homo- oder Transsexuelle zu identifizieren waren. Andere wie Libby und Kieran haben sie ebenso bewusst verschont.“

„Und was muss es uns jetzt sagen, dass sie Libbys Namen kennen?“, fragte Matt. Plötzlich herrschte Stille am Tisch.

„Denkst du, die suchen jetzt nach mir? Sind die nicht viel zu sehr mit Untertauchen beschäftigt?“, erwiderte Libby.

„Vermutlich ja, aber ich habe genug Mist in meinem Leben erlebt, um vorsichtig zu sein. Das solltest du ebenfalls tun.“

„Wofür sollten sie sich an Libby rächen wollen?“, fragte Nick.

„Das weiß ich nicht, aber es gefällt mir gar nicht, dass zwei flüchtige, bewaffnete Terroristen den Namen meiner Tochter kennen.“

„Wir kriegen sie. Das ist nur eine Frage der Zeit. Die haben keine Kapazität für so etwas“, versuchte Nick, ihn zu beruhigen.

„Solltest du doch noch Unterstützung bei den Verhören brauchen – ich helfe gern“, sagte Sadie.

„Ich weiß, aber du kennst das FBI. Denen ist egal, was du bei uns warst. Du bist nicht mehr dabei.“

„Dann eben nicht.“ Sadie zuckte mit den Schultern.

 

 

Dienstag, 12. Oktober

 

Das FBI hatte, sehr zum Leidwesen von Nick Dormer, auf Sadies Hilfe verzichtet. Er hatte sie auch nicht mit dem Argument ködern können, dass es immerhin ihre Tochter gewesen war, die mit den beiden flüchtigen Terroristen auf Tuchfühlung gewesen war.

Und tatsächlich waren die beiden immer noch flüchtig. Der Anschlag auf die Pride Parade lag nun schon über drei Monate zurück, in San Francisco war man weitestgehend zum Alltag zurückgekehrt. Die Todesopfer waren bestattet, die Verletzten erholten sich, aktuell wurde über die Errichtung einer Gedenkstätte diskutiert.

Wiley Turner und seine Gefolgsleute saßen unverändert in Untersuchungshaft und erwarteten ihren Prozess. Die Staatsanwaltschaft wollte für alle die Todesstrafe beantragen, was Sadie kein Wimpernzucken entlockte.

Auch Tessa und Libby hatten eine ganz eigene Meinung dazu. Tessa hatte Sadie offen davon berichtet, dass ihr dieses Erlebnis immer noch zu schaffen machte und Libby wurde mitunter noch von Alpträumen geplagt. Wenigstens hatte Matts Befürchtung sich nicht bewahrheitet, dass die beiden Flüchtigen sich in irgendeiner Weise für Libby interessieren könnten.

Es war auch nicht, dass es gar keinen Hinweis auf die Männer gegeben hätte. Anfangs hatten sie es ähnlich gemacht wie seinerzeit Rick Foster auf seiner Flucht. Sie waren immer in Bewegung, wurden manchmal von den Überwachungskameras irgendwelcher Tankstellen erwischt und einmal hatte die Polizei sie nur knapp verpasst, als sie einen Hinweis auf eins ihrer Verstecke bekommen hatten. Aber Tatsache war, dass beide immer noch auf freiem Fuß waren. Inzwischen hatte man schon länger keinen Hinweis mehr auf sie erhalten, was besonders Nick frustrierte.

Er hatte mit Sadie über sein Profil der beiden Männer gesprochen, bevor er mit Sheila nach Quantico zurückgereist war. Zwar hatte er sie zutreffend charakterisiert, aber das half letztlich nicht bei ihrer Ergreifung.

Die Verantwortlichen beim FBI hatten es nicht nur als Hassverbrechen, sondern auch als Terrorakt eingestuft. Das ebnete den Weg für weitere Anklagepunkte.

Doch ganz allmählich war wieder Ruhe eingekehrt. Das neue Semester hatte begonnen, was vor allem Libby sehr freute. An einem Tag musste sie jedoch ihren Veranstaltungen am College fern bleiben, weil sie im Bestrafungsverfahren gegen Ron Hawkins aussagen sollte. Für die Staatsanwaltschaft war sie eine wichtige Zeugin, wenn auch bei weitem nicht die einzige.

Die Staatsanwaltschaft hatte Libby die Wahl gelassen, ob sie vor Gericht gegen Ron aussagen wollte oder nicht. Rein von der Beweislage her wäre es nicht nötig gewesen, denn es gab gesicherte DNA-Beweise und auch die Untersuchungsergebnisse bestätigten, dass Libby Gewalt widerfahren war. Zudem hatte Tony Wort gehalten und zu Protokoll gegeben, dass er Ron beinahe dabei ertappt hatte, wie er über Libby hergefallen war. Man hätte Libby jedoch nicht erklären müssen, dass die Verteidigung diese indirekte Beobachtung genau so wie die übrigen Beweise anfechten würde. Ihr war vollkommen bewusst, dass neben allen anderen Hinweisen ihre eigene Aussage ein nicht unerhebliches Gewicht haben würde. Zwar war Ron im ersten Prozess bereits der Vergewaltigung für schuldig befunden worden, aber jetzt ging es um das Strafmaß und darauf hatte sie nun maßgeblichen Einfluss.

Sie würde es tun. Sadie hatte sie davor gewarnt, dass das nicht schön werden würde – etwas, was sie beurteilen konnte, weil sie damals vor Gericht dabei gewesen war, als Lucas Whittakers Anwalt Cassandra noch trotz Videobeweis auseinandergenommen hatte. Zwar fürchtete Libby sich davor, aber sie würde es schaffen.

Als sie schließlich in den Saal gebeten wurde, warf Sadie ihr einen ermutigenden Blick zu und lächelte. Libby erwiderte das Lächeln scheu und folgte dem Gerichtsdiener in den Saal. Für Sadie war es zum Glück in Ordnung, sie nicht zu begleiten. Libby wollte nicht, dass Sadie ihre Aussage hören musste. Das kam einfach nicht in Frage. Kieran war vorsorglich noch überhaupt nicht im Gericht, er war erst nach der Mittagspause an der Reihe und Libby hatte nicht gewollt, dass er dabei war.

Tatsächlich waren überhaupt keine Zuschauer im Saal, die Bänke waren leer. Trotzdem fühlte Libby sich wahnsinnig unbehaglich, als sie den Saal durchschritt und zum Zeugenstand ging. Sie versuchte, möglichst leise Schritte zu machen, aber Ron hatte sie trotzdem gehört und starrte sie an, während sie nach vorn ging, das konnte sie im Augenwinkel sehen. Libby versuchte tunlichst, ihn zu ignorieren, was ihr schwer fiel.

Der Richter lächelte ihr freundlich zu, während sie im Zeugenstand Platz nahm. Sie strich ihre Hose glatt und holte tief Luft. Ron starrte sie immer noch an, aber sie versuchte, dem keine Beachtung zu schenken. Stattdessen versuchte sie, sich auf den Staatsanwalt zu konzentrieren. Und aufs Atmen.

Ihre Personalien wurden festgestellt, sie wurde darüber belehrt, dass sie die Wahrheit sagen musste, aber das alles lief an ihr vorbei. Das kannte sie schon, das war nicht schlimm.

Sie wusste noch, wie Sadie sie seinerzeit darauf vorbereitet hatte, vor Gericht darüber auszusagen, wie ihr Onkel sie missbraucht hatte. Auch das war schlimm gewesen, sowohl der Missbrauch als auch die folgende Aussage, aber das hier war anders. Ron war unberechenbar und vor dem Kreuzverhör hatte sie jetzt schon Angst, auch wenn eigentlich nicht viel schiefgehen konnte.

Aber man wusste ja nie …

Wie immer war der Staatsanwalt zuerst an der Reihe. Er begann mit dem Moment, in dem Ron und Tony Libby nach Fremont gelockt und sich als Kieran ausgegeben hatten. Der Staatsanwalt präsentierte die betreffenden Nachrichten auf Rons Handy als Beweis und bat Libby dann, zu erzählen, wie die beiden sie entführt hatten.

Gewissermaßen war Libby ihm dankbar dafür, dass er ganz vorn begann und ihr so die Möglichkeit einräumte, sich erst mal an die Situation zu gewöhnen. Sie versuchte, sich zu konzentrieren und berichtete davon, wie Ron und Tony sie überwältigt hatten.

„Sie kamen einfach auf mich zu und haben mich gepackt. Ich glaube, es war Anthony, der mir den Mund zugehalten hat, um zu verhindern, dass ich schreie. Sie standen beide hinter mir, deshalb kann ich das nicht sicher sagen. Ich habe erst später gesehen, dass es Ron war, der mich mit den Handschellen gefesselt hat. Er stand dann schon vor mir, während Tony mich noch geknebelt hat. Sie haben da auch den Eindruck gemacht, als wüssten sie ganz genau, was sie vorhaben. Sie haben mich zusammen in den Kofferraum gesteckt und Ron hat mir mein Handy abgenommen. Ich weiß noch, wie Ron gegrinst hat, bevor er den Kofferraum geschlossen hat. Das hat ihm Spaß gemacht.“

„Wen würden Sie als die treibende Kraft in dem Moment beschreiben?“, fragte der Staatsanwalt.

„Das war Ron. Eindeutig. Er meinte sogar, dass Anthony noch dran gezweifelt hat, ob das alles so klappen würde. Sie wollten Kieran und Ryan in eine Falle locken und ich habe gemerkt, dass sie einen Plan verfolgen. Sie wussten genau, was sie tun.“

„Wie haben Sie sich in dem Moment gefühlt?“

„Ich hatte Angst. Große Angst. Ich lag in diesem Kofferraum, alles war dunkel und ich hatte keine Ahnung, wohin sie mich bringen. Ich war überrascht, als ich gesehen habe, dass es das Verbindungshaus ist. Damit habe ich nicht gerechnet.“

„Was hätten Sie erwartet?“

„Das weiß ich nicht, aber im Verbindungshaus befanden sich in diesem Moment andere Bewohner.“

„Die haben aber nicht bemerkt, dass Sie da sind?“

„Nein, Ron hat mich bedroht, ich habe mich nicht getraut, auch nur einen Mucks von mir zu geben.“

„Sie hatten also Angst vor ihm als Person.“

„Ja, irgendwie schon. Ich wusste ja von Kieran und Ryan, wozu er in der Lage ist und ich hatte auch schon so ein seltsames Gefühl, als ich ein paar Stunden vorher am Verbindungshaus war.“

„Was für ein Gefühl war das?“

„Das war die Art, wie er mich angesehen hat. Sein ganzes Verhalten. Ich weiß noch, wie ich zu meiner Mutter sagte, dass er mich an jemanden erinnert, den sie selbst als Psychopathen bezeichnet hat. Meine Mum ist ja Dozentin für Psychologie an der UCSF und sie war vorher Profilerin, sie kennt sich also damit aus. Und dieser Typ damals … der war auch zu allem fähig. Ich hatte also ein sehr ungutes Gefühl bei Ron.“

„Deshalb haben Sie also beschlossen, abzuwarten.“

„Ja, weil ich unsicher war.“

„Was ist dann passiert?“

Libby berichtete, wie Ron und Tony sie in Rons Zimmer gebracht und im Badezimmer eingesperrt hatten. Sie erzählte davon, dass Ron nicht abgestritten hatte, Ryan und Kieran umbringen zu wollen, um Christophers Tod weiterhin zu vertuschen.

„Da ist er zum ersten Mal handgreiflich geworden. Er hat mir einfach ins Gesicht geschlagen, weil ich ihm zu vorlaut war. Anthony war ja nicht mehr da und in dem Moment habe ich gemerkt, wie Ron allmählich die Beherrschung verliert. Ich habe irgendwie versucht, ihn von allem abzubringen und ihn davon zu überzeugen, mich gehen zu lassen. Ich habe ihm ins Gewissen geredet und ihn daran erinnert, dass meine Eltern zwar vielleicht nicht mehr beim FBI sind, aber ihm auf der Suche nach mir trotzdem große Probleme machen würden. Ich sprach von meiner Mutter … davon, dass sie weiß, dass er ein Vergewaltiger ist. Ich wusste, sie würde alles versuchen, um mich zu beschützen. Und als ich das sagte, da hat er mir zwischen die Beine gefasst und gesagt, dass ich mich ja selbst davon überzeugen könnte, wenn ich will.“

„Haben Sie das als Drohung aufgefasst?“

„Ja, natürlich. In dem Moment dachte ich zwar noch, er ist bloß vorlaut und versucht, mich einzuschüchtern. Ich wäre nie im Leben auf die Idee gekommen, dass er das ernst meint. Das war mein Fehler, denn sonst hätte ich da schon versucht, da irgendwie wegzukommen.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739452449
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (August)
Schlagworte
Terrorismus SWAT Hassverbrechen Geiselnahme LGBTQ Krimi Spannung Schwulenhass Geiselverhandlung Ermittler Psychothriller

Autor

  • Dania Dicken (Autor:in)

Dania Dicken, Jahrgang 1985, schreibt seit der Kindheit. Die in Krefeld lebende Autorin hat Psychologie und Informatik studiert und als Online-Redakteurin gearbeitet. Mit den Grundlagen aus dem Psychologiestudium setzte sie ein langgehegtes Vorhaben in die Tat um und schreibt seitdem Psychothriller zum Thema Profiling. Bei Bastei Lübbe hat sie die Profiler-Reihe und ihre neue Serie "Profiling Murder" veröffentlicht, im Eigenverlag erscheinen "Die Seele des Bösen" und ihre Fantasyromane.
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Titel: Die Seele des Bösen – Blutiger Hass