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Die Seele des Bösen – Todesliebe

Sadie Scott 20

von Dania Dicken (Autor:in)
280 Seiten
Reihe: Sadie Scott, Band 20

Zusammenfassung

Voller Stolz begleitet Sadie ihren Mann Matt nach Los Angeles, als seine Fotos in einer renommierten Galerie gezeigt werden und freut sich über ein Wiedersehen mit ihren früheren Kollegen vom FBI und LAPD-Detective Nathan Morris. Sogar BAU-Profiler Nick Dormer ist in der Stadt, um gemeinsam mit Morris und dem hiesigen FBI in einem bizarren Fall von kannibalistischem Serienmord zu ermitteln. Als er Sadie als externe Beraterin hinzuziehen will, zögert sie keine Sekunde und will ihre Freunde bei den Ermittlungen unterstützen. Ein weiteres Opfer verschwindet, obwohl sie schnell ein präzises Täterprofil erarbeitet haben. Dass das Profil mitten ins Schwarze trifft, begreifen die Ermittler jedoch zu spät, denn zwei von ihnen sind plötzlich wie vom Erdboden verschluckt – ein Wettlauf auf Leben und Tod hat begonnen …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Samstag, 28. Mai

 

Im Dämmerlicht wirkte ihre Haut ganz sanft und weich. Er betrachtete sie entzückt und lächelte, während er seine Hand langsam über ihre warme Haut gleiten ließ. Die Berührung elektrisierte ihn. Er beugte sich über sie und sog ihren Geruch ein, während er liebevoll über ihren ganzen Körper strich.

Sie war so perfekt. Wunderbar weiche, weibliche Rundungen, nicht zu viel und nicht zu wenig. Auch ihr Gesicht war bildschön. Sie war die Richtige.

Er nahm sich Zeit. Das war wichtig, denn er musste es auskosten. Dieser Moment war so wertvoll – die Zeit, in der die Wärme blieb. In solchen Augenblicken hatte er das Gefühl, eins mit dem Universum zu sein.

Und er wollte eins mit ihr sein. Er zog sich aus und blieb für einen Moment stehen, um sie anzusehen, um alles in sich aufzusaugen.

Sie hieß ihn willkommen, hatte die Arme weit ausgebreitet und blieb still, als er eins mit ihr wurde. Er lächelte gelöst und genoss das Gefühl. Dafür lebte er, für diesen Augenblick. Jetzt war er ihr ganz nah, spürte sie an sich und war wunschlos glücklich. Wenn dieser Moment doch nur nie enden würde.

Er genoss jede Sekunde ihrer Nähe, während er sie streichelte und liebkoste. Es war perfekt. So perfekt, dass er irgendwann nicht mehr an sich halten konnte und von einem Gefühl der Erlösung ergriffen wurde.

So musste es sein. So und nicht anders. Glücklich löste er sich von ihr und betrachtete sie wieder. Auch sie wirkte glücklich, da war er sich ziemlich sicher.

Langsam zog er sich wieder an. Sie lag einfach nur da, wurde mit jedem Moment kälter. Die süße Cindy … Hätte er diesen Moment doch nur für die Ewigkeit konservieren können, diese Hingabe und diesen intimen Moment der Zweisamkeit.

Jetzt musste er dafür sorgen, dass sie ihn nicht verließ, sondern für immer bei ihm blieb. Etwas Anderes hätte er nicht ertragen. So musste es sein, das war die Lösung gegen die Einsamkeit, die er so lange gespürt hatte, dieses lähmende, kalte Gefühl von Leere und Traurigkeit. Auf diese Weise hörte es auf, in diesem Moment maximaler Nähe.

Er sah nicht hin, als das Blut heraustropfte. Das war nichts, was ihm gefiel, aber es war leider notwendig. Jetzt musste er Geduld haben, bevor er weitermachen und die Erinnerung an diesen Moment konservieren konnte. Eine Erinnerung, die noch für Monate anhalten konnte, zart und endgültig. Er würde regelmäßig davon kosten können, was ihn am Leben halten würde.

Sein Blick blieb auf dem scharfen Messer hängen, mit dem er sich nehmen würde, was er brauchte. Schweißtreibende körperliche Arbeit wartete auf ihn. Arbeit, die ihn hungrig machen würde. Aber er wusste, die Belohnung wartete schon auf ihn.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Samstag, 18. Juni

 

„Du siehst nervös aus.“ Liebevoll legte Sadie einen Arm um Matt, der stocksteif dastand und an seiner Krawatte herum nestelte.

„Wenn sie dich stört, zieh sie aus. Die braucht es nicht“, sagte Sadie.

„Hast eigentlich Recht.“ Kurz entschlossen zog Matt die Krawatte wieder aus und straffte die Schultern. Sadie reckte sich zu ihm empor und gab ihm einen Kuss.

„Du bist wunderschön heute“, raunte er ihr zu und zog sie enger an sich heran.

„Danke für die Blumen, mein lieber Ehemann.“

Sie schenkten einander ein verliebtes Lächeln, was Sadie in diesem Moment alles andere als schwer fiel. Sie war furchtbar stolz auf Matt, stolz auf das, was er schon erreicht hatte.

Sie befanden sich in der Besucherlounge des Annenberg Space of Photography, einer renommierten Galerie mit wechselnden Fotoausstellungen im Herzen von Los Angeles. Nur noch wenige Minuten bis zur Ausstellungseröffnung. Als Sadie sich wieder zu Danny wandte, spürte sie noch mehr Nervosität. Sie konnte es verstehen.

„Meine Damen und Herren, bitte kommen Sie“, sagte die Direktorin und ging voran in die große Halle. Auch die anderen Fotografen, deren Arbeiten in der Ausstellung gezeigt wurden, waren gekommen, um der Eröffnung beizuwohnen. Am Kopf der Halle war ein kleines Podest errichtet worden, auf das die Direktorin die Fotografen und anderen Ehrengäste freundlich hinauf bat. Sadie blieb davor stehen, aber sie beobachtete Danny und Matt, die gleich nebeneinander standen und einander etwas zuflüsterten.

Augenblicke später betraten die ersten Besucher die Halle. An den Wänden der lichtdurchfluteten Halle hingen bereits zahlreiche Fotos, von denen Sadie einige von Matt wiedererkannte.

Er hatte es geschafft.

Sadie bemerkte Andrew Rhodes erst, als er zielstrebig auf sie zusteuerte. Mehr als erfreut reichte sie ihm die Hand und begrüßte ihn fröhlich.

„Wie schön, dich hier zu sehen! Ich hatte keine Ahnung, dass du kommen würdest.“

„Ich bis vorhin auch nicht. Matt hat mich zwar eingeladen, aber ich wusste nicht, ob ich es schaffe. Im Moment ertrinke ich fast in Arbeit, aber das konnte ich mir nicht entgehen lassen.“

„Matt wird sich riesig freuen“, vermutete Sadie. Sie hatten Andrew nicht gesehen, seit sie aus Los Angeles fortgezogen waren, dabei verdankte Matt ihm so viel. Der Strafverteidiger hatte Matts Unschuld bewiesen und dafür gesorgt, dass ihm viele Jahre im Gefängnis erspart blieben. Matt hatte Andrew auch bereits entdeckt und lächelte ihm zu. Rhodes hob die Hand zum Gruß und blieb bei Sadie stehen, während weitere Besucher in die Halle strömten. Darunter entdeckte Sadie Nathan, seine Frau Lauren, Cassandra und Jason mit ihrem kleinen Sohn Ethan und zu Sadies großer Überraschung Nick Dormer. Die anderen kamen gleich zu ihr und begrüßten sie mit freundschaftlichen Umarmungen.

„Wie schön, dass ihr alle hier seid! Nick, was tust du denn hier?“, fragte Sadie ihn vollkommen überrascht.

„Arbeiten“, sagte er und grinste. „Ich erzähle es dir später.“

„Ich bitte darum.“

„Der Moment jetzt gehört deinem Mann, würde ich sagen.“ Nick blickte zu Matt, der ihn ebenfalls bereits entdeckt hatte und gleichermaßen erfreut und überrascht war, ihn zu sehen.

„Das neben ihm ist Danny, nehme ich an?“, fragte Nick.

„So ist es. Er ist seit zwei Monaten wieder draußen. Matt hat ein Porträt von ihm aufgenommen, das hier gezeigt wird.“

„Sieht so aus, als würde dein Mann sich einen Namen als Fotograf machen.“

Sadie nickte mit einem Lächeln. „Du hast keine Ahnung, wie glücklich mich das macht.“

„Wenn ich dich ansehe, ist das sehr offensichtlich“, erwiderte Nick.

Sadie wollte auch mit Cassandra und Jason ein paar Worte wechseln, aber sie kam nicht mehr dazu, weil die Direktorin das Wort ergriff. Sie zwinkerte nur Ethan zu, der gleich übers ganze Gesicht strahlte.

„Meine verehrten Damen und Herren, es ist mir eine große Freude, Sie zur Eröffnung unserer Ausstellung Street Laws: Images of Crime and Justice begrüßen zu dürfen. Noch bis Ende Juli zeigen wir Fotos und Bilderserien, die den Alltag auf den Straßen unserer Stadt widerspiegeln – Bilder von Verbrechen, von Polizisten bei ihrer Arbeit, von Straßengangs, von Waffengewalt und auch von den Konsequenzen, die dieses Handeln mit sich bringt. Wir freuen uns besonders darüber, zahlreiche auch bislang unveröffentlichte Aufnahmen aus Matt Whitmans Bilderserie für Jeff Meades preisgekrönte Reportage im Los Angeles Magazine über den kriminellen Alltag auf den Straßen von Compton zeigen zu können.“

Applaus wurde laut. Jeff Meade trat vor und lächelte in die Runde, was Matt ihm schließlich gleich tat.

„Überdies hat Matt Whitman, der viele Jahre selbst Polizist und FBI-Ermittler war, Alltagsaufnahmen und Porträts von Insassen der California Institution for Men in Chino angefertigt, die wir hier erstmalig zeigen dürfen. Vielen Dank für diese tolle Gelegenheit!“

Erneut wurde Applaus laut. Matt trat vor und verbeugte sich leicht. Sadie hätte wirklich vor Stolz platzen mögen. In der Folge verlor die Direktorin noch lobende Worte über die Werke der übrigen Fotografen, aber Matt und Jeff waren definitiv die Stargäste an diesem Tag.

Kurz nach den aufreibenden Ereignissen um die Geiselnahme in San José war Jeff Meade auf Matt aufmerksam geworden und hatte ihn kontaktiert. Er saß an einer Reportage über das tägliche Leben auf den Straßen von Compton für das Los Angeles Magazine, für die er noch die richtige Bildbegleitung gesucht hatte. Man hatte ihm Matt empfohlen, da er nicht nur wusste, wie man gute Fotos machte, sondern als ehemaliger Ermittler traute er sich auch auf die Straßen Comptons, ohne gleich um sein Leben fürchten zu müssen. Matt hatte keine Sekunde gezögert und zugesagt, weil ihn die Aufgabe reizte. Er hatte einiges von Jeff gelesen und schätzte seine Arbeit, deshalb war er motiviert nach Los Angeles gefahren und hatte Jeff dort eine Weile in Compton begleitet. Zur Sicherheit hatte er die ganze Zeit Sadies Waffe getragen und sich und Jeff vor einigen brenzligen Situationen bewahrt oder sie hindurch geführt, weil er gewusst hatte, wie er damit umgehen musste. Er hatte Alltagsszenen aus der Vorortstadt von Los Angeles eingefangen, atmosphärische Bilder von besetzten Häusern, von neben ausgebrannten Autos spielenden Kindern oder älteren Damen, die mit jugendlichen Gangmitgliedern stritten.

Das alles hatte ihn so begeistert, dass er im Anschluss nach Chino gefahren war und um eine Genehmigung gebeten hatte, Fotos vom Gefängnisalltag machen zu dürfen. Die Idee war ihm spontan gekommen und weil er Chino kannte, hatte er sich seinen eigenen Dämonen stellen und das Leben in dem Gefängnis einfangen wollen, in dem er selbst eingesessen hatte.

Tatsächlich hatte er vom Direktor relativ schnell die Genehmigung bekommen und dann in Begleitung eines Wärters, mit dem er sich gut verstanden hatte, sehr eindrucksvolle Bilder in Chino aufgenommen. Er hatte Gefängniszellen in ihrer Trostlosigkeit abgelichtet, Häftlinge beim Mittagessen, Graffitis in den Waschräumen und eben Porträts derjenigen, die dazu bereit gewesen waren. Im Nachgang war auch Jeff nach Chino gekommen und hatte die Häftlinge befragt, die Matt porträtiert hatte. Auch darüber sollte noch eine Reportage erscheinen, auf die beide jetzt schon stolz waren.

Natürlich hatte Matt auch Danny fotografiert, der exakt eine Woche später erfahren hatte, dass er vorzeitig entlassen wurde. Er wollte trotzdem, dass sein Bild veröffentlicht wurde, denn er stand zu seiner Zeit im Gefängnis. Matt hatte inzwischen ebenfalls beschlossen, nicht zu lügen, wenn man ihn fragte, warum er diese Bilderserie gemacht hatte. Er hatte unschuldig im Gefängnis gesessen, inzwischen schämte er sich dafür nicht mehr. Dabei hatte ihm auch die Rückkehr nach Chino geholfen.

Und jetzt stand Danny mit ihm und Jeff vorn und befand sich im Mittelpunkt des Interesses. Für Sadie war das sehr aufregend. Gerade drei Wochen zuvor hatten Matt und Jeff gemeinsam einen renommierten Journalismuspreis für ihre Berichterstattung gewonnen. Sadie hatte nie damit gerechnet, dass diese Fotos solche Wellen schlagen würden, aber sie freute sich wahnsinnig und ehrlich für ihren Mann. Es war eine Ehre für sie, an diesem Tag dort mit ihm zu stehen.

Nachdem die Direktorin ihre Empfangsrede beendet hatte, stürzten sich einige Reporter auf die Fotografen. Schnell hatte sich um Matt, Jeff und Danny eine Traube gebildet, deshalb unternahm Sadie gar nicht den Versuch, zu ihrem Mann zu kommen. Sie begrüßte lieber Nathan mit einer Umarmung und blickte schließlich zu ihren Freunden.

„Es ist so schön, dass ihr gekommen seid. Das bedeutet uns viel.“

„Ist doch selbstverständlich“, sagte Jason. „Matt hat ein unheimlich gutes Auge, das muss ich schon sagen. Er schafft es ja, die Atmosphäre in Compton so einzufangen, dass man sich hautnah dabei fühlt, ohne voyeuristisch zu sein.“

Sadie nickte. „Das hat er in Chino auch gemacht. Ich glaube, die Fotos werden in der oberen Etage gezeigt.“

„Darauf bin ich sehr gespannt. Ich bin ja berufsbedingt öfter in Gefängnissen, aber ich bin gespannt auf die Perspektive, mit der Matt nun auf das alles blickt“, sagte Andrew Rhodes.

„Ich glaube, es war tatsächlich nicht leicht für ihn, das zu machen – aber er liebt die Herausforderung“, sagte Sadie und lachte.

„Es freut mich so, euch zu sehen. Ich muss sagen, ich denke gelegentlich an euch und freue mich darüber, dass ich Matts Unschuld beweisen und euch so wirklich helfen konnte.“

„Wahrscheinlich hast du solche Fälle nicht allzu oft, oder?“

„Nein“, sagte Andrew kopfschüttelnd.

Sie schlenderten gemeinsam durch die Ausstellung und sahen sich die ausgestellten Bilder an. In der oberen Etage angekommen, begegneten ihnen Matts Fotos aus Chino. Sadie kannte die Bilder zwar alle, aber sie groß hinter Acryl zu sehen, entfaltete eine ganz eigene Wirkung. Sie konnte den Bildern ansehen, wie Matt sich mit seinen eigenen Dämonen auseinandergesetzt hatte. Er zeigte Häftlinge in verschlossenen Zellen, hatte einen dabei eingefangen, wie er auf dem Sportplatz vor dem Basketballkorb in die Luft sprang und den Ball hineinwarf. Von Danny hatte er ein Porträt geschossen, in dessen Hintergrund unscharf ein Verbotsschild zu sehen war, das man aber nur teilweise lesen konnte. Im Mittelpunkt des Bildes stand Danny, der ohne ein Lächeln, aber trotzdem mit einem freundlichen Blick in die Kamera schaute. Man sah nur am unteren linken Bildrand einen winzigen Teil seiner orangen Uniform, was der einzige Hinweis auf seine Identität als Häftling war. Das Bild zeigte den Menschen, nicht den Insassen.

„Hat er toll gemacht, oder?“

Überrascht drehte Sadie sich um. Danny stand schräg hinter ihr und lächelte.

„Hast du mich erschreckt“, sagte sie.

„Tut mir leid. Alles konzentriert sich gerade auf Matt und Jeff, deshalb konnte ich die Flucht ergreifen.“

„Sei froh. Aber ja, das hat er wirklich toll gemacht.“

„Er ist ein talentierter Fotograf. Das hat er mir damals erzählt, irgendwann, und da hätte ich mir niemals träumen lassen, dass er mich mal so ablichtet. Aber da hätte ich mir auch nicht träumen lassen, jetzt schon wieder frei zu sein.“

„Ich freue mich wahnsinnig für dich.“

„Danke. Inzwischen habe ich mich wieder dran gewöhnt, würde ich sagen. Ich bin froh, dass diese Episode vorbei ist, aber sie gehört zu mir. Das drückt dieses Foto auch irgendwie aus.“

„Man spürt aber in dem Bild, dass Matt dich kennt.“

„Irgendwie schon, dabei ist er mit den anderen nicht weniger respektvoll umgegangen als mit mir. Das war er sowieso immer. Sie waren auch alle interessiert, weil sie ihn noch kannten. Das kam ziemlich gut an.“

„Hat man ihn schon danach gefragt?“

Danny nickte. „Er hat es vorhin erzählt, ja. Finde ich mutig von ihm.“

„Du bist auch hier, das ist nicht weniger mutig.“

„Ja, aber ich bin auch schuldig und stehe dazu. Er war immer unschuldig.“

„Deshalb kann er auch dazu stehen.“

„Hast Recht. Auf jeden Fall freue ich mich darüber, dass er das gemacht hat.“

Nick erschien bei den beiden. „Danny Warren?“

„Richtig“, erwiderte Danny.

„Nick Dormer von der BAU in Quantico.“ Freundlich hielt Nick Danny die Hand hin, der sie sofort beherzt schüttelte.

„Freut mich sehr, Agent Dormer. Ihr Name sagt mir noch was von damals. Matt hat erzählt, dass Sadie auch mit Ihnen gesprochen hat, als es um seine Verteidigung ging.“

„Ja, ich habe ihr die Gutachter vermittelt, die für Matt ausgesagt haben.“

„Richtig. Schön, wenn man solche Freunde hat.“

Nick lächelte und sie unterhielten sich noch ein wenig. Cassandra und Jason waren mit ihrem Sohn zum Wickeln verschwunden und Nathan und Lauren betrachteten die Fotos. Augenblicke später erschien Matt bei ihnen und wirkte ein wenig erschöpft.

„Da bist du ja wieder“, sagte Sadie.

„Ja, endlich … Die Reporter fanden mich unglaublich interessant und haben mir viele Fragen gestellt, weil ich mal beim FBI war. Und natürlich kam die Frage, wie ich denn auf die Idee kam, Fotos in Chino zu machen. Als ich den Grund genannt habe, war ich natürlich erst recht interessant.“

„Was hast du gesagt?“

„Dass Ex-Bürgermeister Evans mir einen Mord in die Schuhe schieben wollte und fast Erfolg damit hatte. Natürlich kamen wir auch darauf zu sprechen, dass ich es war, der Tyler umgebracht hat und das hat ihnen dann tatsächlich als Erklärung gereicht.“

„Ist doch gut.“

„Ja, zum Glück. Ich weiß nun natürlich nicht, wer da noch Nachforschungen anstellt, aber vorhin waren sie fürs Erste zufrieden.“

Sadie lächelte beruhigt und während Matt und Danny sich ein wenig unterhielten, raunte Nick Sadie zu: „Ich schulde dir noch die Erklärung dafür, was ich hier mache.“

Sie nickte nur und ging mit ihm zu einer kleinen Sitzbank am Fenster.

„Ich bin hier, um Cassandra und Detective Morris in in einer Ermittlung zu unterstützen“, sagte Nick, nachdem sie Platz genommen hatten.

„So etwas hatte ich vermutet. Cassie und Nathan arbeiten zusammen?“

„Maggie unterstützt sie auch. Es ist ja nicht so, dass sie nicht genügend Kapazitäten hätten, aber der Fall ist speziell. Es geht um Kannibalismus.“

Überrascht zog Sadie die Brauen hoch. „Verstehe.“

„Dachte ich mir, dass du da neugierig wirst.“

„Ich bin immer neugierig, wie du weißt.“

Nick grinste, wurde dann aber schnell wieder ernst. „Deine Meinung dazu würde mich sehr interessieren.“

„Ah, jetzt verstehe ich. Steckt ihr etwa fest?“

„Das wäre zu viel gesagt, aber ein bisschen frischer Input schadet sicher nicht. Wie sieht eure Tagesplanung aus?“

„Du gehst aber ran“, sagte Sadie scherzhaft. „Und du willst wirklich nur meine Meinung hören?“

Nick verstand. „Nicht mehr als das. Großes Ehrenwort. Ich weiß, du bist fertig mit dem FBI.“

„Das klingt jetzt aber sehr hart.“

„Ist es denn nicht so?“

„Ich bin fertig mit den Verrückten dieser Welt. Wie auch immer – die Direktorin hat die ausstellenden Fotografen zum Abendessen eingeladen, aber davor und danach habe ich Zeit.“

„Hervorragend. Dass du dich für Kannibalismus interessierst ...“

„Sicher. Das ist ein seltenes Phänomen, ich hatte noch nie damit zu tun.“

„Und das ist genau der Grund, weshalb ich hier bin. Im Gegensatz zu allen anwesenden Profilern hatte ich zumindest mal einen Fall in der Vergangenheit, aber wir haben uns trotzdem etwas festgefressen.“

Sadie blickte gespannt zu Nick und lächelte. Ihr Interesse war geweckt. Natürlich hatte sie nicht vergessen, dass sie ein halbes Jahr zuvor dem Director des FBI persönlich eine Abfuhr gegeben hatte, was einen Wiedereintritt als Profilerin beim FBI betraf, aber Nick unter die Arme zu greifen war etwas anderes.

In diesem Moment kehrten Cassandra und Jason mit Ethan zurück. Der Kleine saß auf den Schultern seines Vaters und hatte sichtlich Spaß dort oben.

„Sadie will uns über die Schulter schauen“, sagte Nick in Cassandras Richtung.

„Tatsächlich? Großartig“, freute Cassandra sich.

„In Sachen Kannibalismus bin ich kein Experte“, erinnerte Sadie sie.

„Ich auch nicht, deshalb habe ich ja schon Nick aus Quantico hergebeten. Er sagte gestern schon, dass er dir den Fall vorstellen wollte und ich war erst dagegen, aber er war nicht davon abzubringen.“

„Nein, das ist schon in Ordnung.“

„Das ist toll. Ich wollte dich erst nicht fragen, weil ich dachte, du hast bestimmt Besseres zu tun, wenn du einmal in Los Angeles bist …“

„Ehrlich gesagt nicht. Zumindest nicht bis heute Abend.“

Als Matt sich zu ihnen gesellte, berichtete Sadie ihm von ihrem Vorhaben, womit er auf Anhieb einverstanden war.

„Macht ihr mal, ich bin hier noch eine Weile beschäftigt und außerdem sind Danny  und Andrew ja auch hier“, sagte er.

„Dann werden wir deine Frau gleich mal zum FBI entführen“, sagte Nick augenzwinkernd.

 

Sie hatten sich die gesamte Ausstellung noch in Ruhe bis zum Ende angesehen und anschließend aufgeteilt. Jason war mit seinem Sohn nach Hause gefahren und Matt blieb bei Danny und Andrew. Cassandra, Nick und Sadie fuhren mit Nathan zum FBI.

Während Sadie auf dem Freeway aus dem Fenster schaute, freute sie sich über das vertraute Gefühl, das sich in diesem Moment einstellte. Sie war mit Menschen zusammen, die sie schätzte und die ihr vertraut waren. Sie waren mehr als nur Kollegen. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, musste sie sich eingestehen, dass sie das ein wenig vermisste. Seit ihrem Umzug nach Pleasanton war sie nicht oft in Los Angeles gewesen und erst recht nie mit dem Hintergedanken, noch einmal an frühere Zeiten anzuknüpfen. Aber ein Fall, an dem all ihre Freunde zusammen arbeiteten, reizte sie ungemein – ungeachtet der unangenehmen Geschichte mit der Geiselnahme in San José. Das Thema war für sie auch noch nicht vom Tisch, die Gerichtsverhandlung in dem Fall hatte noch nicht einmal begonnen.

Beim FBI fand sie sich in der ungewohnten Situation wieder, erst um einen Besucherausweis bitten zu müssen. Die Mitarbeiter der Security kannten sie noch und mit Nick und Cassandra im Hintergrund war es kein Problem, aber es verdeutlichte ihr nur umso mehr, dass sie eigentlich nicht mehr dazu gehörte. Sie bereute es allerdings nicht, dem Director im Herbst eine Abfuhr erteilt zu haben.  

Es fühlte sich vertraut an, als sie mit den anderen im Aufzug zur Etage der Major Crimes Unit hinauffuhr, wo an einem Samstag nicht allzu viel Betrieb herrschte. Cassandra ging voraus und lotste sie ins Büro der Profiler. Das Whiteboard stand unverändert in derselben Ecke und war gespickt mit Fotos. Sadie, Nathan und Nick machten es sich davor gemütlich, während Cassandra ihnen etwas zu trinken besorgte.

„Dann legt mal los“, sagte Sadie gespannt. „Es war dein Fall, Nathan?“

Der Angesprochene nickte. „Es ging los mit einer Leiche im Angeles National Forest vor knapp drei Wochen, zumindest für mich.“

„Du musst dich unweigerlich an Carter Manning erinnert gefühlt haben.“

Nathan lachte. „Kann man so sagen, ja. Der Fundort war nicht mal besonders weit von dem entfernt, wo wir damals Mannings weitere Opfer gefunden haben. Mir war relativ schnell klar, dass das ein Fall werden könnte, in dem ich Cassandras Hilfe brauche, und zwar deshalb.“

Er griff auf Cassandras Schreibtisch nach einem Hefter und zeigte Sadie die Fotos vom Leichenfundort. Mitten im Wald auf den Hügeln nördlich von Los Angeles hatte ein Wanderer die Leiche einer jungen Frau entdeckt, die seit etwa einem Monat vermisst wurde. Sie war nackt und Sadie entdeckte auf den ersten Blick die blutunterlaufenen und wundgescheuerten Stellen an ihren Hand- und Fußgelenken. Man hatte sie also gefesselt. Weder Nathan noch die anderen sagten etwas, während Sadie die Fotos der Leiche betrachtete. Sie stand auf, breitete sie nebeneinander auf einem freien Schreibtisch aus und ließ sie auf sich wirken.

Die junge Frau war dunkelhaarig, hatte ein hübsches Gesicht und eine attraktive Figur. Außer den Fesselmalen hatte sie keine Verletzungen, die auf Gewalteinwirkung hinwiesen wie Blutergüsse oder ähnliches, aber sie hatte Verletzungen am Körper. Sehr offensichtliche. Der Täter hatte Fleisch an ihrem Gesäß, ihren Oberschenkeln, ihrem Bauch und ihren Brüsten entfernt. Scharfe Schnittkanten wiesen darauf hin, dass das nicht von einem Tier stammen konnte.

„Ist das post mortem passiert?“, fragte Sadie.

„Ist es“, sagte Nathan.

„Wir halten ihn nicht für einen Sadisten“, sagte Cassandra. „Er hat die Frau nach ihrem Verschwinden noch mindestens eine Woche gefangen gehalten, aber er hat sie gut ernährt. Sie wurde gefesselt, aber er hat sie nicht geschlagen oder ihr anderweitig Gewalt angetan.“

„Er hat sie nur nach ihrem Tod verstümmelt“, sagte Sadie.

„Er hat Fleisch von ihrem Körper behalten. Zum Verzehr, wie wir annehmen, denn bei der Analyse ihres Mageninhaltes fiel auf, dass sie selbst Menschenfleisch gegessen hatte.“

Sadie machte große Augen. „Ist nicht euer Ernst.“

„Als ich das erfahren habe, habe ich sofort zum Hörer gegriffen und Cassandra angerufen“, erzählte Nathan. „Der Gerichtsmediziner hat ja bei der Obduktion schon vermutet, dass das in Richtung Kannibalismus gehen könnte, weil genau die Fleischteile fehlen, die man auch bei einem Tier als delikat bezeichnen würde. Sie wurden mit einem scharfen Messer geübt herausgeschnitten, das konnte er uns trotz des Verwesungszustandes der Leiche noch eindeutig sagen. Dieser Kerl hat die Frau gefangen gehalten und vergleichsweise gut behandelt, aber er hat ihr Menschenfleisch zu essen gegeben.“

„Und er ist nekrophil“, sagte Nick von der Seite. „Er hatte nach ihrem Tod noch Sex mit ihr.“

Sadie holte tief Luft. „Jetzt weiß ich wieder, warum dieser Job einem so an die Nieren geht.“

„Wir stecken fest“, gab Cassandra zu. „Wir haben einige Fragen immer noch nicht beantwortet, vor allem wissen wir nicht, warum er seine Opfer selbst mit Menschenfleisch ernährt. Der Gerichtsmediziner ist sich ziemlich sicher, dass er die Frau vor ihrem Tod nicht angerührt hat und es keine Vergewaltigung gab, als sie noch gelebt hat.“

Sadie fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. „Was heißt überhaupt seine Opfer? Es gibt mehrere?“

„Die gibt es“, sagte Nathan. „Der Gerichtsmediziner sprach davon, dass das vermutlich nicht seine erste Tat war, also habe ich mich auf die Suche gemacht und noch zwei weitere Fälle gefunden, die ihm vermutlich zuzuschreiben sind. Beim ersten ist offensichtlicher, dass er dazugehört. Der liegt etwas über ein Jahr zurück und damals haben einige meiner Kollegen in dem Fall ermittelt. Da wurde auch eine Frauenleiche im Angeles National Forest entdeckt, ich habe das am Rande mitbekommen. Auch an dieser Leiche fehlte Fleisch, allerdings hatten Kojoten in der Zwischenzeit an ihr gefressen, deshalb blieb es bei der Vermutung, dass da ein Mensch Hand angelegt haben könnte. Das konnte nicht bewiesen werden.“

Nathan griff zu einer weiteren Akte und zeigte Sadie die Fotos, nachdem er die anderen Bilder auf dem Schreibtisch wieder eingesammelt hatte.

„Sie war zum Zeitpunkt des Leichenfundes deutlich stärker verwest und eben von den Kojoten angefressen, deshalb war es wirklich nicht mehr so gut sichtbar. Der Gerichtsmediziner hat aber auch hier Spuren einer Vergewaltigung gefunden, die vermutlich post mortem stattgefunden hat. Das ist vermutlich der erste Fall oder zumindest der erste, den wir finden konnten. Der andere ist jetzt etwas über ein halbes Jahr her und wurde auch von Kollegen bearbeitet. Die hatten einen noch schlechteren Ausgangspunkt, weil die Leiche erst nach Wochen gefunden wurde. Sie war schon so stark verwest, dass überhaupt nicht mehr klar gesagt werden konnte, ob Kojoten an der Leiche gefressen hatten oder warum auch immer da Fleisch fehlt. Was allerdings nachgewiesen werden konnte, und zwar in allen Fällen, sind Messerspuren an den Knochen der Opfer. Das ist ja ein deutlicher Hinweis darauf, dass jemand das Fleisch vom Körper geschnitten hat.“

„Klingt ganz so“, stimmte Sadie zu.

„Beim zweiten Opfer war keine Vergewaltigung mehr nachweisbar, aber in allen Fällen hatten die Opfer Menschenfleisch im Magen. Das habe ich mit Cassandra und Maggie Ryan zusammen erarbeitet, aber dann kamen wir erst einmal nicht weiter. Uns war nicht klar, aus welchem Grund er seinen Opfern Menschenfleisch gibt. Im Moment versuchen wir, eine Idee von Nick zu überprüfen.“

„Ich habe angenommen, dass das Menschenfleisch im Magen der Opfer von den früheren Opfern stammt“, sagte Nick. „Unser letztes Opfer heißt Cindy Wallace und ich habe so ein Gefühl, dass wir in ihrem Magen Fleisch von ihrer Vorgängerin Patricia Marks gefunden haben.“

Sadie setzte sich und seufzte. „Nick, du hast mir vorhin ganz verschwiegen, dass mir davon übel werden könnte …“

Er lachte kurz und sagte dann: „Tut mir leid, du bist aus der Materie raus, das hätte ich berücksichtigen müssen.“

„Ich bin nicht aus der Materie raus, aber so einen Fall hatte ich noch nie. Das kratzt hart an der Grenze dessen, was ich noch wegstecken kann, das gebe ich ehrlich zu“, sagte sie.

„Wir finden das alle ziemlich krass“, sagte Nathan.

„Und was erwartet ihr jetzt von mir?“, fragte Sadie mit gequältem Gesichtsausdruck.

„Ich bin seit Mittwoch hier und mich beschäftigt gerade die Frage, warum der Täter seinen Opfern das Fleisch der anderen zu essen gibt – vorausgesetzt, das ist tatsächlich der Fall. Ihr eigenes Fleisch kann es nicht sein, denn er hat es ja erst nach ihrem Tod entfernt. Die Leichenschändung kann ich mir noch erklären, wenn ich mir überlege, dass er vermutlich nekrophil ist … aber generell haben wir gerade alle das Gefühl, dass dieser Fall uns an unsere Grenzen bringt.“

„Das glaube ich euch gern“, sagte Sadie. „Also gibt es bislang drei tote Frauen, die selbst Menschenfleisch essen mussten und von deren Leichen der Täter eben Fleisch entfernt hat. Er ist nekrophil und scheint sich irgendwo um die San Gabriel Mountains herum aufzuhalten.“

Nathan nickte zustimmend. „So weit sind wir bis jetzt. Nun läuft der DNA-Test, um zu bestimmen, wessen Fleisch Cindy im Magen hatte. Noch haben wir gar kein vollständiges Profil, in einigen Punkten sind deine Kollegen sich uneins.“

„Und das wäre?“, fragte Sadie.

„Wir streiten noch darüber, warum er den Opfern das Fleisch der anderen gibt und auch darüber, ob er es selbst isst. Das widerspricht der These, dass er kein Sadist ist – es sei denn, die Opfer wissen nicht, was sie da essen“, sagte Cassandra.

„Wir halten ihn für einen heterosexuellen Mann mit einer schweren Persönlichkeitsstörung, über die wir ihn eigentlich finden können sollten. Wir sind uns nur noch nicht einig, ob er das Menschenfleisch jetzt aus religiösen oder, sagen wir, spirituellen Gründen braucht oder ob das eben doch eine sexuelle Komponente des Einverleibens beinhaltet, weshalb er ja auch die Leichen schändet“, fuhr Nick fort.

„Verstehe“, sagte Sadie. „Und vor dem Hintergrund, dass Kannibalismus in solcher Gestalt selten ist, haben wir natürlich auch nicht viele Fallbeispiele, auf die wir uns beziehen können.“

„Das ist genau das Problem“, sagte Nick. „Aus meiner Zeit als ganz junger Agent in der BAU kenne ich noch den Fall Sean Vincent Gillis, der 2004 festgenommen wurde, weil er acht Frauen in Louisiana entführt, vergewaltigt und ermordet hat. Er hat sie auch verstümmelt, weshalb ihm Kannibalismus vorgeworfen wurde. So wie unser Täter hier hat er sich auch an den Leichen vergangen, obwohl wir da immer vermutet hatten, dass er es deshalb getan hat, weil Tote sich nicht wehren.“

„Und daraus können wir nichts ableiten?“

„Wir erzielen da noch keinen Konsens. Vielleicht bringst du noch eine neue Sichtweise hinein, denn wir tun uns da gerade wirklich schwer.“

Sadie zögerte nur kurz. „Ich kann es versuchen, aber ich denke, mit heute Nachmittag wird es da nicht getan sein, oder?“

Ihr Blick traf Nicks. Schließlich seufzte er und sagte: „Du musst nicht.“

„Dir muss ich ja nicht sagen, was beim letzten Mal passiert ist, als ich ungewollt dem FBI geholfen habe …“

„Nein, musst du nicht und ich erwarte nichts von dir, das sollst du wissen. Das ist ganz allein deine Entscheidung.“

Sadie wusste nicht, was sie erwidern sollte. Das Ganze reizte sie inhaltlich ungemein, aber seit den Ereignissen in San José war sie noch vorsichtiger geworden. Das hatte ihre ganze Familie betroffen und das durfte niemals wieder passieren.

„Ich halte mich im Hintergrund“, sagte sie. „Ich trete vor keine Kamera, nichts. Ich will nicht, dass meine Mitarbeit an der Sache bekannt wird. Ich erarbeite mit euch am Schreibtisch das Profil und das war’s.“

Dormer nickte sofort. „Selbstverständlich, das verstehe ich.“

„Davon abgesehen … Im Moment sind Semesterferien, ich werde also nicht pünktlich in San Francisco zurück erwartet und Matt hat ohnehin diese Woche noch einige Folgetermine in Los Angeles.“

Nick lächelte erleichtert. „Danke, Sadie. Ich bin froh, das zu hören. Ich sorge dafür, dass das beim FBI offiziell gemacht wird und du als Beraterin eine Aufwandsentschädigung bekommst. Das FBI weiß ja, was es an dir hat.“

„In Ordnung.“

Nick zögerte kurz, bevor er sagte: „Du verstehst die sexuelle Motivation solcher Täter. Ich hoffe einfach, dass du siehst, ob es hier sexuelle Motive sind oder ob etwas anderes ist, was ihn antreibt.“

„Denkst du, ich kann die Fallakten gleich mitnehmen? Dann schaue ich sie mir heute noch in Ruhe an.“

„Einverstanden“, sagte Cassandra und auch Nathan nickte.

„Wenn du noch mehr brauchst, sag Bescheid. Es ist toll, dass du mit an Bord bist“, sagte er.

„Ich gebe zu, ich bin neugierig.“

Das zu hören überraschte die anderen wenig. Cassandra verabschiedete sich rasch, um nach Hause zu ihrem Mann und ihrem Sohn zu kommen, wohin Nathan sie mitnahm. Nick bat Sadie indes, ihn zu begleiten, um den nötigen Papierkram fertigzumachen, der anfiel, wenn sie das FBI nun offiziell beraten wollte.

„Ich kann nicht glauben, dass ihr da nicht weiterkommt“, sagte sie, während sie zusammen auf dem Flur warteten.

„Vorhin klang es vielleicht, als hätten wir einen Disput darüber – das ist es nicht, es ist eher, dass jede Seite gute Argumente für ihre Sichtweise hat und wir nun einfach die Ermittlung nicht in eine falsche Richtung lenken wollen. Ich sehe eine stärkere sexuelle Motivation als Cassandra, weiß aber nicht warum.“

„Sexualität und Kannibalismus hängen eng zusammen. Kannibalen wollen sich ihr Opfer einverleiben, mit ihm verschmelzen.“

„Ich weiß, aber warum gibt er seinen Opfern das Fleisch der anderen Opfer?“

„Vielleicht als eine Demonstration absoluter Macht?“

„Ich weiß es nicht. Über vieles können wir nur spekulieren, weil die beiden ersten Leichen eben stärker verwest waren. Auf jeden Fall bin ich froh, deine Meinung dazu hören zu können. Nach San José hätte ich verstanden, wenn du es abgelehnt hättest.“

„Ich erstelle auch Gutachten in San Francisco und das ist vollkommen ungefährlich“, erwiderte Sadie.

„Übrigens finde ich es toll, wie die Dinge sich für deinen Mann entwickeln. Vorhin habt ihr beide auf mich so glücklich gewirkt wie … ich weiß überhaupt nicht, wann ich euch zuletzt so gesehen habe.“

Darauf wusste Sadie nichts zu erwidern, weil sie sich fragte, ob Nick sie überhaupt je so gesehen hatte – ob er sie je so hatte sehen können.

„Ich finde es aber auch schön, wieder hier zu sein“, sagte Sadie. „Schöner, als ich dachte.“

„Du machst aber auch einen zufriedenen Eindruck.“

„Ja, das bin ich durchaus.

„Und wie geht es deinen Töchtern?“

„Oh, Hayley hält gerade Norman auf Trab und Libby lernt fleißig für das Fernziel Quantico.“

„Das ist toll. Zu dumm nur, dass das noch ein bisschen dauert.“

„Das liegt an euch“, sagte Sadie augenzwinkernd. „Ich höre mal nach, ob Matt mich hier vielleicht abholen kann. Sollen wir dich dann mitnehmen?“

„Das wäre natürlich praktisch.“

Kurzerhand rief Sadie ihren Mann an und erfuhr, dass er noch mit Danny und Andrew durch die Ausstellung schlenderte, aber er erklärte sich sofort dazu bereit, sie abzuholen. Es dauerte auch nicht mehr lang, bis alle Unterlagen fertig waren. Sadie konnte ihren Besucherausweis behalten und musste nur noch etwas unterschreiben, dann konnte sie gehen.

Sie hatten das Gebäude kaum verlassen, als sie unweit des Haupteingangs Matts Challenger entdeckten. Die Galerie lag nur zehn Autominuten entfernt, deshalb hatte er es rasch zu ihnen geschafft.

„Du hast Arbeit mitgebracht“, sagte er, als er Sadie mit den Heftern unter dem Arm kommen sah.

Etwas unsicher hielt sie ihm ihren Besucherausweis vor die Nase. „Ich berate jetzt offiziell das FBI als Profilerin in einem Fall von Kannibalismus-Serienmord. Am Schreibtisch.“

Matt erwiderte nicht gleich etwas. „Das hätte ich nicht erwartet.“

„Nick hat mich um Rat gebeten. Ich helfe ihnen nur dabei, das Profil zu erstellen. Kein Außeneinsatz, keine Gefahr.“

„Du kannst einfach nicht anders“, sagte Matt kopfschüttelnd und grinste.

 

Nachdem die ganz große Aufregung um sie sich gelegt hatte, schaffte Matt es endlich, sich die Ausstellung selbst auch einmal anzusehen. Dabei begleitete ihn Andrew Rhodes, der sich irgendwann zu ihm durchgekämpft hatte. Matt freute sich sehr darüber, dass sein Anwalt es doch geschafft hatte.

„Wir haben uns viel zu lang nicht gesehen“, sagte er, während er mit Andrew durch die Halle schlenderte.

„Ja, aber das nehme ich auf meine Kappe. Ich arbeite zu viel.“

„Du nimmst deinen Job auch ernst.“

Andrew lächelte. „Dass du eine hohe Meinung von mir hast, wundert mich nicht.“

„Das Vermögen, das wir dir gezahlt haben, hast du definitiv verdient!“

„Oh, jetzt machst du mir ein schlechtes Gewissen!“, sagte Andrew und lachte.

„Nein, das musst du nicht haben. Du hast deinen Job gemacht, das stand dir zu. Du hast mir nicht nur die Freiheit geschenkt und die Chance, noch mal von vorn anzufangen. Du hast mir auch die Gewissheit gebracht, dass ich nicht der bin, für den ich mich selbst gehalten habe.“

„Gehst du deshalb jetzt so offensiv damit um?“

„Ich bin unschuldig, wofür sollte ich mich also schämen?“

Andrew zuckte mit den Schultern. „Oft ist es trotzdem so.“

„Mag sein, aber mit dem Fotoprojekt hier habe ich es ein wenig aufgearbeitet. Stellenweise war das hart, aber ich wollte es ja so.“

„Und du startest gerade richtig durch, scheint mir.“

„Es läuft gut“, sagte Matt bescheiden, dann fügte er hinzu: „Eine Chance, die du mir beschert hast. Dank deiner Arbeit sehe ich meine Tochter jetzt aufwachsen und ich konnte in Pleasanton noch mal ganz von vorn anfangen. Ich bin dir auf ewig zu Dank verpflichtet.“

Andrew klopfte ihm auf die Schulter. „Wirklich gern, Matt. Ich denke gern an den Fall zurück, denn ich war so von deiner Unschuld überzeugt, dass ich nichts anderes als einen Freispruch akzeptiert hätte. Du warst mir immer sympathisch, das war in meiner bisherigen Laufbahn einer der großartigsten Fälle.“

Matt lächelte. Er hatte sich immer gut mit Andrew verstanden und freute sich wirklich darüber, dass er zur Ausstellungseröffnung erschienen war.

Augenblicke später tauchte Danny bei ihnen auf. „Störe ich?“

„Mitnichten, ich muss gleich leider wieder los. Bist du noch länger hier?“, erkundigte Andrew sich bei Matt.

„Ein paar Tage noch.“

„Schön, vielleicht schaffen wir es ja noch, zusammen was essen zu gehen, was meinst du?“

„Ich würde mich freuen.“

„Gut, ich melde mich bei dir!“

Matt nickte und verabschiedete sich von Andrew, ehe er sich Danny zuwandte. Nun schlenderten sie gemeinsam weiter durch die Ausstellung.

„Als ich das Bild von dir aufgenommen habe, hätte ich nicht gedacht, dass wir jetzt zusammen hier stehen“, gab Matt ehrlich zu.

„Ich auch nicht. Eigentlich hätte ich acht Jahre absitzen müssen, so waren es nur knapp sechs. Wenigstens beim Schulabschluss meines Sohnes werde ich dabei sein. Es hat schon seine Vorteile, wenn man sich im Knast gut benimmt.“

„Ich freue mich so, dass du wieder draußen bist. Wie geht es dir damit?“

„Natürlich bin ich froh, aber ich bin gerade erst wieder dabei, die Arbeit aufzunehmen. Es ist nicht so leicht. Tatsächlich war es auch eigenartig, wieder zu Hause zu sein. Meine Familie hat ihren Alltag gelebt und plötzlich war ich zwar wieder da, hatte aber keinen Alltag. Meine Kids sind in der Zwischenzeit ganz schön erwachsen geworden, Zach ist inzwischen ein Mann und Chelsea ist schon auf dem College.“

„Wie geht es ihr?“, fragte Matt.

„Gut, so weit ich das beurteilen kann. Sie hat jetzt einen Freund. Der Therapeut, den meine Frau für sie ausgesucht hat, scheint gute Arbeit geleistet zu haben. Und deine Töchter?“

„Hayley ist schon fünf, kannst du dir das vorstellen?“

„Was? Ich sehe doch noch dieses winzige Mädchen auf deinem Schoß sitzen!“, sagte Danny kopfschüttelnd.

„Nein, so winzig ist sie nicht mehr. Und Libby ist ebenfalls auf dem College.“

„Toll, was studiert sie?“

„Verhaltensforschung. Sie will meiner Frau nacheifern.“

„Tatsächlich?“

„Ja, ich glaube auch, sie wird gut darin. So ganz gefällt mir das nicht, aber sie ist nicht davon abzubringen.“

„Wie kam sie denn auf die Idee? Das war doch vorher nie ein Thema?“

„Nein …“ Matt zog unbehaglich die Schultern hoch. „Deshalb habe ich gerade gefragt, wie es deiner Tochter geht. Libby musste vorletztes Jahr auf dem College eine ähnliche Erfahrung machen.“

„Oh nein.“ Dannys Miene versteinerte augenblicklich.

„Jetzt weiß ich, wie du dich damals bei deiner Tochter gefühlt haben musst.“

„Aber offensichtlich hast du den Kerl nicht in seine Einzelteile zerlegt.“

„Nein, zu seinem Glück nicht. Sie hat ihn angezeigt und gegen ihn ausgesagt. Das wollte sie selbst. Er ist jetzt da, wo er hingehört.“

„Das ist gut. Mutig von ihr. Und das hat den Ausschlag gegeben?“

Matt nickte. „Ich bin ziemlich stolz auf sie.“

„Das wäre ich an deiner Stelle auch. Du kannst aber auch auf dich selbst stolz sein. Ich meine, du bist jetzt preisgekrönter Fotograf. Vermisst du denn die Arbeit als Ermittler gar nicht?“

Da musste Matt nicht lange überlegen. Kopfschüttelnd sagte er: „Ich war lang genug Polizist und habe den Kopf hingehalten. Wobei ich sagen muss, dass meine Arbeit als Polizist längst nicht so aufreibend war wie die als FBI-Agent. Du hast meine Narben ja gesehen …“

„Ja. Ich muss gestehen, ich habe ein bisschen nachgelesen, als ich draußen war. Du hast mir wirklich nicht alles erzählt.“

„Nein, aber nicht, weil ich dir nicht vertraut hätte. Ich wollte es nur nicht aufwärmen.“

„Das dachte ich mir schon. Nicht schlimm. Aber nach all dem hätte ich an deiner Stelle auch die Nase voll vom Ermittlerdasein.“

Matt nickte bloß, während er eins der Fotos eingehend betrachtete. Ermittler wollte er wirklich nicht wieder sein, da war er sich mit Sadie einig gewesen – vor allem im letzten Herbst, nachdem man ihn und Hayley gekidnappt hatte, um Sadie unter Druck zu setzen. Da war es ihm auch nicht schwer gefallen, das Angebot zum Wiedereinstieg beim FBI abzulehnen.

Generell vermisste er das Leben in Los Angeles kaum. Als freiberuflicher Fotograf konnte er seinen Alltag freier gestalten und mehr für Hayley da sein. Seit sie in Pleasanton lebten, führten sie ein weitgehend normales Leben und das wollte er um nichts in der Welt wieder hergeben.

Entsprechend betrachtete er die Tatsache, dass Sadie nun ihren früheren Kollegen helfen sollte, mit gemischten Gefühlen. Er war unsicher, ob er das ansprechen sollte, denn er wollte ihr kein schlechtes Gewissen machen und schließlich hatte sie ja auch als Dozentin immer noch gelegentlich mit solchen Fällen zu tun. Aber sie war endlich einmal ganz bei sich, glücklich und voller Selbstvertrauen. So hatte er sie nicht einmal kennenlernen dürfen, denn als er sie damals getroffen hatte, war sie von Selbstzweifeln und Ängsten zerfressen gewesen, die sich in der ersten Zeit ihrer Beziehung durch all das, was sie erlebt hatten, erst noch vertieft hatten, bevor es umgeschlagen war und Sadie hatte zeigen können, was eigentlich in ihr steckte.

Ihm war klar, dass das erst zum Vorschein gekommen war, als er selbst in Gefahr geschwebt hatte. Da war sie über sich hinaus gewachsen und sie hatte wie eine Löwin um ihn gekämpft, als Stacy versucht hatte, ihn zu brechen und zu töten. Er war ihr dankbar dafür, dass sie ihn nie aufgegeben und ihn auch nicht verlassen hatte, als er ihr gestanden hatte, dass er sich für einen Mörder hielt. Nein, stattdessen hatte sie, als er glaubte, sein Leben zerrinne in seinen Händen, eine neue Zukunft gesucht und ihn zu einem Vater gemacht. Er würde nie aufhören, ihr dafür dankbar zu sein.

Inzwischen fühlte er sich wieder wie der Matt, der er gewesen war, bevor alles gedroht hatte, den Bach runterzugehen. Und jetzt hatte ausgerechnet die Tatsache, dass er früher Ermittler gewesen war, dazu geführt, dass seine Fotos nun die Wände einer Galerie füllten.

Er freute sich darüber, dass Danny nun endlich wieder in Freiheit war und bedauerte gleichzeitig, dass sie fünf Autostunden voneinander entfernt lebten. Sie hielten allerdings regen Kontakt miteinander, den Danny gleich nach seiner Entlassung intensiviert hatte. Sie hatten sich darüber ausgetauscht, wie es war, endlich wieder in Freiheit zu sein, aber Matt hatte auch deutlich gespürt, dass ein großer Unterschied zwischen vier Monaten und fast sechs Jahren im Gefängnis lag. Danny tat sich deutlich schwerer damit, wieder im Leben anzukommen, was Matt gut verstehen konnte. Er hatte immer ein offenes Ohr für ihn und hatte ihm auch Unterstützung angeboten, sollte er welche brauchen.

Sein Handy klingelte. Er lächelte, als er sah, dass es Sadie war.

„Hallo, meine Ehefrau, was kann ich für dich tun?“, fragte er charmant.

„Du könntest mich vielleicht abholen, wenn du die Gelegenheit dazu hast. Wir sind gerade fertig geworden.“

„Aber selbstverständlich. Ich war gerade noch mit Danny unterwegs, aber ich bin gleich bei dir. Ist ja zum Glück nicht weit.“

„Das stimmt. Bis gleich.“

Matt verabschiedete sich von ihr und sagte bedauernd zu Danny: „Ich muss los, aber wir sehen uns ja zum Glück noch.“

„Kein Problem. Ich freue mich schon drauf.“

„Bis dann“, sagte Matt mit einem Lächeln.

 

„So ganz wohl ist mir trotzdem nicht dabei“, gab Matt zu, nachdem sie Nick an seinem Hotel abgesetzt hatten.

Sadie antwortete nicht gleich. „Das kann ich verstehen. Ich tue es nicht, wenn du ein Problem damit hast.“

Matt ließ sich Zeit mit seiner Antwort. „Wenn du den anderen nur über die Schulter schaust, kann doch eigentlich nichts passieren.“

„Eben, das denke ich auch. Sie stecken fest und haben mich um Hilfe gebeten.“

„Was, und das, obwohl Nick hier ist?“

„Ja, offenbar sind sie sich nicht einig. Ich muss gestehen, ich bin wirklich neugierig. Es fühlte sich vorhin gar nicht so seltsam an, wieder in meinem alten Büro zu stehen.“

„Oh, du willst nun nicht etwa doch wieder SSA Whitman werden?“

„Nein“, sagte Sadie sofort mit heftigem Kopfschütteln. „Aber ich gebe zu, ich bin neugierig und es macht mir Spaß. Und das, obwohl es ein ziemlich krasser Fall zu sein scheint.“

„Solange es mich nicht betrifft … Wollen wir noch kurz ins Hotel, bevor es zum Abendessen geht?“

„Gern. Ich möchte Norman sagen, dass wir länger hier bleiben. Und ich möchte mit Hayley sprechen.“

„Ja, natürlich. Eine kurze Pause wäre mir auch sehr willkommen.“

Wenig später waren sie am Ziel. Sie hatten sich ein zentral gelegenes Hotel gesucht und es war Sadie gar nicht so unrecht, dass nun wohl das FBI den größten Teil der Rechnung übernehmen würde. Sie wunderte sich wirklich darüber, dass ihre Kollegen sich hinsichtlich des Profils so uneins waren, aber sie würde sich den Fall genauer zur Brust nehmen.

Auf ihrem Zimmer angekommen, riss Matt sich erst mal die Hälfte seiner Kleidung vom Leib, so dass er schließlich nur noch in Jeans und mit nacktem Oberkörper auf dem Bett saß. Sadie war nicht sicher, ob sie sich jemals wirklich an seine vielen Narben gewöhnen würde.

Sie machte es sich ebenfalls auf dem Bett gemütlich, hatte die Hefter vor sich liegen und griff nach ihrem Handy, um bei ihrem Onkel in Waterford anzurufen. Matts Vater kümmerte sich im Alltag sehr oft um Hayley, so dass sie bei solchen besonderen Gelegenheiten meist die Zeit bei Norman und Christine in Waterford verbrachte. Es war allerdings auch so abgemacht, dass Jim Hayley am Sonntagabend wieder abholte und sie montags in den Kindergarten in Pleasanton brachte.

Inzwischen betrachtete Hayley Normans Freundin als ihre Großmutter, was Sadie einerseits freute, ihr aber andererseits einen Stich versetzte. Hayley hatte Fanny schließlich niemals kennenlernen dürfen, was sie traurig stimmte.

„Schön, dass du anrufst, Kind“, meldete Norman sich. „Wie ist es gelaufen?“

„Oh, es war großartig. Matt war der Star, würde ich sagen. Die Reporter haben sich um ihn, Danny und Jeff geprügelt, zumindest sah es so aus.“

„Das freut mich. Er verdient diesen Erfolg wirklich, die Aufnahmen sind großartig. Möchtest du mit Hayley sprechen?“

„Unbedingt. Ich muss gleich noch Jim anrufen, aber ich wollte dir auch sagen, dass wir länger bleiben. Nick ist hier und ermittelt mit Nathan, Cassandra und ihren Kollegen. Sie haben mich offiziell als Beraterin dazu geholt.“

Norman lachte. „Du kannst es auch nicht lassen, oder?“

„Mach dich ruhig lustig.“

„Nein, im Gegenteil. Offenkundig wissen sie immer noch, was sie an dir haben.“

„Klar, das hast du ja gesehen, als wir im November in Washington waren.“

„Ah, hier kommen gerade Hayley und Rusty. Weißt du, wer am Telefon ist?“

„Ist es Mommy?“

„Genau. Hier.“ Norman reichte das Telefon an Hayley weiter, die inzwischen telefonierte wie ein echter Profi.

„Hallo, Mum. Ich gehe gleich mit Rusty und Boomer spazieren.“

„Oh, das ist doch toll. Hast du Spaß bei Grandpa und Granny?“

„Ja“, antwortete Hayley piepsig.

„Ist es okay für dich, wenn du nächste Woche ein bisschen länger bei Granddaddy bleibst? Wir müssen noch ein bisschen in Los Angeles bleiben und hier arbeiten.“

„Okay“, sagte Hayley schlicht. Sie war gern bei ihren Opas und sie war mit Jim ähnlich vertraut wie mit Norman, deshalb hatte Sadie auch mit keiner anderen Reaktion gerechnet.

„Du fehlst mir, weißt du das?“, sagte Sadie.

„Ihr fehlt mir auch. Aber es ist schön hier. Wir gehen morgen ins Kino!“

„Oh, in Modesto?“

„Ja. Das wird schön.“

„Da bin ich sicher. Und dann holt Granddaddy dich ab?“

„Ja, gleich nach dem Kino. Wann ist Libby wieder zu Hause?“

„Du, das weiß ich nicht. Aber du kannst sie ja anrufen und fragen.“

„Okay. Ich hab dich lieb, Mum.“

„Oh, und Dad? Möchtest du mit ihm sprechen?“

„Ja.“ Hayley klang ganz erwartungsvoll, als sie das sagte, deshalb reichte Sadie ihr Handy weiter und hörte zu, wie ruhig und liebevoll Matt mit seiner Tochter sprach. Das tat er immer, er hatte da eine ganz wundervolle Art, die Sadie sehr an ihm schätzte. Er hing wahnsinnig an Hayley und liebte sie abgöttisch, aber Sadie wusste auch, warum. Sie hatte ihm einen neuen Sinn im Leben gegeben.

Als Matt das Gespräch beendet hatte, rief er selbst seinen Vater an und fragte ihn, ob er länger auf Hayley achten konnte. Für Jim war das kein Problem, er freute sich schon darauf.

Beruhigt griff Sadie zu dem Hefter, in dem alle wichtigen Unterlagen zum ersten Mordfall versammelt waren, und studierte sie in Ruhe. Die Fotos zeigten eine verwesende Leiche, an der die Tiere des Waldes sich gütlich getan hatten. Sadie las von den Vermutungen hinsichtlich einer Vergewaltigung nach dem Tode und auch bezüglich des möglichen Kannibalismus. Die Tote hatte Menschenfleisch im Magen, das hatte man festgestellt, und tatsächlich hatte auch jemand überprüft, ob es ihr eigenes war, doch dem war nicht so.

„Dann muss es noch ein Opfer geben“, murmelte Sadie leise. In diesem Moment stand Matt auf und wollte ins Bad gehen, aber er blieb kurz stehen, als er die Fotos sah.

„Na lecker“, sagte er trocken.

„Ich weiß auch noch nicht so genau, warum ich mir das antue.“ Sadie lachte leise. Während Matt kopfschüttelnd weiterging, griff sie zur nächsten Fallakte. Hier hatte man zwar festgestellt, dass das Opfer Menschenfleisch gegessen hatte, aber die Herkunft hatte nicht mehr geklärt werden können. Hier konnte auch keine Vergewaltigung mehr nachgewiesen werden. Trotzdem war anhand des ähnlichen Fundorts und der gleichen Vorgehensweise davon auszugehen, dass die Taten zusammenhingen.

Sadie schnappte sich den kleinen Block mit Haftnotizen, der auf dem Nachttisch lag, und begann, sich ihre Fragen zu notieren. Sie wollte von den anderen wissen, wann und wie die Frauen verschwunden waren. In den Fallakten befanden sich Fotos der Frauen und Sadie notierte, dass sie alle unterschiedlich aussahen. Zwei waren dunkelhaarig, eine war blond. Gemeinsam hatten sie nur, dass sie alle eine sehr weibliche Figur hatten. Sie waren nicht dünn, allerdings auch nicht übergewichtig. Sadie notierte es sich, weil sie es für wichtig hielt. Ebenso war es wohl von Bedeutung, dass der Täter sie während der Gefangenschaft gut ernährt hatte. Er hatte sie alle mindestens eine Woche gefangen gehalten, bevor er sie getötet hatte.

Sie blätterte durch alle Akten, weil sie gar nicht wusste, wie die Frauen gestorben waren, und stellte fest, dass der Täter wohl allen die Kehle durchgeschnitten hatte, so weit man das noch hatte sagen können. Darüber hinaus waren auch weitere Stichwunden gefunden worden, so dass Verbluten als wahrscheinlichste Todesursache angenommen wurde.

Er lässt sie ausbluten, notierte Sadie sich auf ihrem Zettel. Das konnte kein Zufall sein und Sadie vermutete, dass es etwas mit seinem Wunsch, ihr Fleisch zu essen, zu tun hatte.

Sadie überlegte, warum er sie erst entführte und gefangen hielt, bevor er sie tötete, obwohl sein Ansinnen nicht war, sie zu quälen. Tatsächlich verstand sie die Zweifel der anderen hinsichtlich der Frage, ob der Täter sadistische Tendenzen hatte. Diese Frage war auch gar nicht so unerheblich, weil sie nur so wirklich eingrenzen konnten, unter welcher Persönlichkeitsstörung er möglicherweise litt.

Warum gab er seinen Opfern Menschenfleisch zu essen? Und warum hatte er nach ihrem Tod Sex mit ihnen?

Erstes Opfer?, notierte Sadie auf dem Block. Sie konnten seinen Modus Operandi erst zur Gänze erfassen, wenn sie das erste Opfer fanden. Da hatte sich seine Vorgehensweise gefestigt.

Dabei musste sie auch an Sean Vincent Gillis denken, der bei seinem ersten Opfer versucht hatte, sie zu vergewaltigen, als sie noch gelebt hatte. Er hatte sie nur getötet, weil sie so laut geschrien hatte und sich fortan an den Leichen seiner Opfer vergangen. Er hatte gar nicht mehr versucht, über lebende Opfer herzufallen. Vielleicht war es hier ähnlich gelaufen. Gillis hatte überhaupt nur Glück gehabt, lang unentdeckt morden zu können, weil zur gleichen Zeit in Baton Rouge tatsächlich ein anderer Killer namens Derrick Todd Lee sein Unwesen getrieben hatte und erst nach dessen Festnahme auffiel, dass manche der aktuellen Morde auf das Konto eines anderen Täters gehen mussten.

In mancherlei Hinsicht behandelte der aktuelle Täter seine Opfer gut, aber Sadie vermutete den Grund darin, dass er ihr Fleisch nicht verderben wollte. Kannibalen waren häufig von allerhand seltsamen Ideen besessen und sie vermutete, dass er seine Opfer entführte, gefangen hielt und mit Menschenfleisch ernährte, um etwas Bestimmtes zu erreichen.

Er wollte mit ihnen verschmelzen. Vielleicht wollte er auch, dass sie untereinander verschmolzen, weshalb er ihnen Fleisch der anderen Opfer zu essen gab und sie nach ihrem Tod noch vergewaltigte. Er wollte sie vollständig besitzen.

Sie stützte den Kopf in die Hände, blätterte konzentriert durch die Akten und machte sich Notizen. Dass Matt sich neben sie setzte und sie gespannt dabei beobachtete, merkte sie gar nicht.

Der Täter musste Zugang zu einem abgelegenen oder anderweitig gut gesicherten Ort haben, wo er die Opfer entsprechend lang festhalten konnte. Über sein DNA-Profil verfügten sie aufgrund der Vergewaltigungen bereits, aber in der Datenbank gab es keinen Treffer. Dennoch ging Sadie davon aus, dass er schon mal irgendwie in Erscheinung getreten war, vermutlich als Tierquäler. Zumindest wusste man von Jeffrey Dahmer, dass er sich schon als Kind sehr für tote Tiere und ihre Anatomie interessiert hatte.

Aufmerksam vertiefte sie sich in Fallbeispiele, um sich inspirieren zu lassen. Kannibalismus war ein seltenes Phänomen und häufig Ausdruck einer schwerwiegenden psychischen Störung. Zwar gab es Religionen, in der heutigen Zeit noch in Papua-Neuguinea, die Kannibalismus praktizierten, aber Sadie glaubte hier nicht an religiöse Motive. Kannibalismus war auch schon in Kriegszeiten aufgetreten oder in Fällen wie dem Absturz des Air Force Fluges 571 in den Anden im Jahr 1972, in dem die Überlebenden aus einer puren Notlage heraus in 4000 Metern Höhe und ohne Aussicht auf Rettung irgendwann dazu gezwungen waren, das Fleisch verstorbener Absturzopfer zu essen, um nicht zu verhungern.

Aber mit so etwas hatte sie es hier nicht zu tun. Das hier war anders.

Wenn sie an Kannibalen dachte, fielen ihr zuerst Namen wie Jeffrey Dahmer, Albert Fish, Andrej Tschikatilo oder auch Edmund Kemper ein. Sean Vincent Gillis war eigentlich kein Paradebeispiel für einen Kannibalen, aber Nick hatte ihn natürlich angeführt, weil er ihn kennengelernt hatte. Tschikatilo, Dahmer und Fish hatten nie geleugnet, Menschenfleisch gegessen zu haben und Dahmer hatte angegeben, neugierig gewesen zu sein. Ihn interessierte menschliches Fleisch und die Anatomie. Seinen homosexuellen Neigungen entsprechend hatte er nur junge Männer getötet und man war immer davon ausgegangen, dass er ihr Fleisch verzehrt hatte, um eine besondere Nähe herzustellen.

Das war bei keinem der bekannten Kannibalen anders. Ausgehend von Dahmer vermutete Sadie auch in diesem Fall, dass der Täter schwer gestört sein musste, denn allein bei Dahmer hatte man nach seiner Festnahme zahlreiche Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert. Er war immer ein Einzelgänger gewesen, hatte sich einsam gefühlt, aber durch den Verzehr von Menschenfleisch hatte er die ultimative Nähe herstellen können.

Sie hatte in diesem Moment keinen Zugriff auf VICAP, aber auch im Internet konnte sie problemlos nachlesen, dass bei Dahmer ebenfalls strittig gewesen war, ob es sich bei ihm um einen Sadisten handelte oder nicht. Er selbst hatte immer angegeben, seine Opfer nicht quälen zu wollen und sie vor seinen Experimenten betäubt zu haben. Allerdings hatte es einen Gutachter gegeben, der Dahmers Angaben bezweifelt hatte.

Als sie in diesem Moment wieder aufsah, blickte sie genau in Matts neugieriges Gesicht. Fasziniert sah er sie an und lächelte, als ihre Blicke sich trafen.

„Was?“, fragte Sadie überrascht.

„Ich war gerade ganz beeindruckt davon, wie du auf einem Hotelbett Jagd auf einen Kannibalen machst, als wäre nichts dabei. Ich möchte ja kein Ermittler mehr sein, aber dir dabei zuzuschauen, ist irgendwie etwas Besonderes. Du bist da ganz bei der Sache und zu allem entschlossen. Das liebe ich so an dir, weißt du das?“

Mit dieser Offenbarung hatte Sadie nicht gerechnet. Seine Worte rührten sie und entlockten ihr ein Lächeln. „Das ist süß von dir.“

„Das ist mein Ernst. Du bist voll in deinem Element, das ist einfach großartig.“

Wortlos beugte Sadie sich zu ihm hinüber und küsste ihn.

 

 

Zwei Wochen zuvor

 

Die Spielshow hatte bereits begonnen, als er sich mit einer Flasche Corona aufs Sofa setzte. Auf diese Art konnte er am besten entspannen: Seichte Unterhaltung im Fernsehen und dazu eine Flasche Bier. Das gefiel ihm. Ihm war rätselhaft, warum andere Menschen in eine Bar gingen, um dort etwas zu trinken. Das war zu laut, dort waren zu viele andere Menschen. Das lag ihm nicht. Ihm war auch vollkommen bewusst, dass er selbst an seiner Einsamkeit schuld war. Niemand außer ihm selbst würde etwas daran ändern – es war ja niemand da.

Mit den Kollegen kam er zurecht, auch wenn sie ihn wohl etwas kauzig fanden. Und wenn schon – so war er eben. Immer schon gewesen.

Früher hatte er als einziges Kind aus der Nachbarschaft im Sommer lieber still in seinem Zimmer an seinen Modellflugzeugen gebastelt, als ins Freibad zu gehen. Seine Mutter hatte dagegen keine Einwände gehabt, denn das Busticket, der Eintritt und die Snacks im Freibad hätten Kosten bedeutet, für die eigentlich nichts übrig war. Das war okay für ihn, denn das war nicht Mums Schuld, sondern Dads. Wäre er nicht gegangen …

Da hatte die Einsamkeit begonnen. Immer dieses Geschrei, wenn sie sich stritten. Er hasste es. Es war besser gewesen, als Dad nicht mehr bei ihnen war, aber fortan war das Geld knapp und er musste im Haushalt mit ran. Wenn er bei seinen gleichaltrigen Freunden sah, dass sie mit ihren Dads zum Football in die Rose Bowl gingen, fehlte es ihm, auch wenn er wusste, dass sein Dad das sowieso nicht mit ihm gemacht hätte.

Nein … er hatte andere Beschäftigungen gefunden. Begonnen hatte das alles mit dem Tod der Nachbarskatze. Die Schwelle zwischen Leben und Tod war etwas, das ihn seitdem ungemein faszinierte. Der Garten war irgendwann zu einem Friedhof der toten Tiere geworden, die er entweder so gefunden oder schließlich selbst getötet hatte. Jacob, sein bester Freund, hatte es gewusst und es ähnlich faszinierend gefunden. Er hatte ihn niemals dafür verurteilt. Er nicht – wohl aber die anderen Kids. Vor allem die Mädchen.

Er hatte noch nie eine Lebende geküsst.

Manchmal, wenn er als Jugendlicher sehr einsam gewesen war, hatte er sich vorgestellt, seine Mutter zu küssen. Sie hatte ihn schon oft geküsst, aber das war etwas anderes. Obwohl er irgendwann angefangen hatte, es zu genießen.

Vielleicht war er auch deshalb nie bei ihr ausgezogen. Bis zu ihrem Tod hatten sie in diesem Haus zusammen gelebt. Er war zur Arbeit gegangen – auf dem Friedhof, das hatte er sich immer gewünscht. Wenig Kontakt zu Menschen, die über ihn urteilten, aber viel Kontakt zu Toten. Zu diesen friedlichen Gestalten, die einfach dalagen und bei aller fehlenden Lebendigkeit so unendlich friedlich, beinahe göttlich, wirkten.

Und da hatte er auch zum ersten Mal echte Nähe gespürt. Bis dahin hatte er sich kaum bewusst gemacht, dass sie ihm fehlte. Aber als dieses tote Mädchen vor ihm lag – eine Selbstmörderin, die eine Überdosis Pillen geschluckt hatte – hatte er sich zu ihr hingezogen gefühlt. Er hatte sie berühren müssen, sie streicheln und küssen müssen und er war froh, dass niemand es bemerkt hatte. Bis heute nicht.

Seine Mutter hatte ihn für seine Unzulänglichkeiten niedergemacht und ihn einen Versager genannt, ihn mit seinem Vater verglichen. Er wusste, sie konnte nichts dafür, Männer hatten sie enttäuscht. Auch er. Dabei wünschte er sich nichts sehnlicher, als sie glücklich zu machen.

Er war nicht sicher, ob er das geschafft hatte. Zweieinhalb Jahre war es jetzt her, dass sie an Krebs gestorben war. Ein langsamer, siechender Tod. Sie hatte zu Hause in ihrem eigenen Bett einschlafen wollen und er hatte es ihr ermöglicht. Einen Bestatter verständigt hatte er jedoch erst nach einem Tag und bis dahin die Totenwache gehalten, die kälter werdende Hand seiner Mutter gehalten und beobachtet, wie der Tod sie veränderte. Sie erstarrte, dann ließ die Starre wieder nach. Sie wurde blass, das Blut sammelte sich an den tiefstgelegenen Punkten des Körpers. Von den Tieren, mit denen er experimentiert hatte und natürlich von seiner täglichen Arbeit wusste er, dass dieser Prozess fortlaufend und unaufhaltsam war. Bakterien begannen, den Körper zu zersetzen. Irgendwann verflüssigten sich die Organe, am Ende blieb nur das Skelett übrig. Und der Geruch des Todes war äußerst charakteristisch.

Er mochte ihn nicht. Er hatte seine Mutter abholen lassen, bevor es unzumutbar für ihn wurde, und das erklärte auch seine Hemmungen, weibliche Leichen bei der Arbeit zu berühren, so hübsch sie vielleicht auch waren. Und das waren sie nicht oft, denn meist begrub er ja doch eher ältere Menschen.

Aber da hatte er gewusst, dass es der Tod war, der ihn faszinierte. Weibliche Leichen. Frische weibliche Leichen. Wenn sie bei ihm am Arbeitsplatz auftauchten, war es zu spät. Sie waren für ihn nicht mehr nutzbar.

Doch als seine Mutter tot war, hatte er es gewagt. Endlich. Zum allerersten Mal. Er hatte die wunderschöne Blanche in sein Versteck gebracht und dort ihr Leben beendet. Sie war die erste Frau in seinem Leben gewesen – und wie hatte er diesen ekstatischen Rausch genossen! Ihr schöner, noch warmer Körper hatte nur ihm gehört. In diesem Moment hatte er gewusst, dass er am Ziel war. Dass er etwas gefunden hatte, das nur ihm gehörte und endlich dafür sorgte, dass er sich vollständig fühlte.

Da hatte er beschlossen, ihr Fleisch zu essen und als er es getan hatte, hatte er sich stark und unbesiegbar gefühlt. Es war so warm, so wunderbar, sie war ihm nah und würde es immer bleiben.

Sie und die anderen.

 

 

Sonntag, 19. Juni

 

Bevor sie abends zum Essen aufgebrochen waren, hatte Sadie die anderen kontaktiert und sie gefragt, ob sie sich sonntags sehen konnten. Cassandra hatte vorgeschlagen, Maggie Ryan mit ins Boot zu holen, was Sadie sehr begrüßte. Sadie hatte sich auch erkundigt, ob sie Matt mitbringen konnte. Er war zwar mit Danny verabredet, aber erst am Nachmittag. Andere Verpflichtungen hatte er an dem Tag nicht, er hatte erst montags wieder zwei Termine.

So machten Sadie und Matt sich nach einem ausgiebigen Frühstück gemütlich auf den Weg zum FBI, wo auch Matt problemlos einen Besucherausweis bekam. Sie waren noch gar nicht durch die Sicherheitsschleuse, als Nick auftauchte und sie herzlich begrüßte.

„Mutig, dass du mitgekommen bist“, sagte er augenzwinkernd zu Matt.

„Muss ich mir Sorgen machen?“

„Ich weiß nicht, ich vermute, es wird nichts Neues für dich sein.“

„Ich habe meiner Frau gestern dabei zugesehen, wie sie auf dem Bett in einem Meer unschöner Fotos saß und einfach nur versucht hat, darin zu lesen. Das beeindruckt mich immer wieder. Ich nehme an, das wird nicht anders, wenn ich euch allen zuhöre.“

Sie betraten den Aufzug und begaben sich ins Büro, in dem sich bereits Cassandra und Maggie befanden. Sadie ging gleich zu Maggie und begrüßte sie freundlich.

„Wie schön, dich wiederzusehen“, sagte sie. „Das ist ja ewig her.“

„Stimmt“, sagte Maggie, die mehr als einen Kopf kleiner als Sadie war und immer ein wenig unruhig wirkte. Sie trug ihr braunes Haar inzwischen kinnlang, ihre blauen Augen blickten wachsam.

„Kennst du meinen Mann Matt?“, fragte Sadie.

„Wir sind uns noch nicht persönlich begegnet, aber es freut mich sehr.“ Maggie reichte Matt gleich die Hand. Während Nick, Sadie und Matt es sich im Büro der Profiler gemütlich machten und Sadie die Akten auf Cassandras Schreibtisch legte, holte Maggie allen etwas zu trinken und brachte auf dem Rückweg gleich Nathan mit.

„Damit wären wir komplett“, sagte Cassandra. „Wo fangen wir an?“

Sadie zückte ihre Notizen und sagte: „Ich glaube, das bisherige erste Opfer ist nicht das erste.“

„Wie kommst du darauf?“, fragte Nathan.

„Wessen Fleisch hatte sie im Magen? Es war nicht ihres, das hat man getestet, aber wessen war es dann?“

„Das haben wir uns auch schon gefragt“, sagte Nick.

„Das ist wichtig, weil es wie bei Gillis sein könnte. Vielleicht war sein Modus Operandi beim ersten Opfer noch ein völlig anderer und könnte uns viel über ihn verraten. Es könnte uns sagen, ob er ein Sadist ist.“

Dormer nickte. „Das stimmt.“

„Habt ihr denn bislang gar nichts über das Verschwinden der Frauen?“, fragte Sadie.

„Doch, sicher“, erwiderte Nathan. „Sie sind alle abends spät auf dem Heimweg verschwunden, das wissen wir. Zuverlässige Zeugenangaben dazu gibt es nicht, wir wissen nur, wann man sie als vermisst gemeldet hat und wann sie zuletzt gesehen wurden.“

„Also keine Hinweise auf den Täter.“

„Bislang nicht, nein.“

„Noch mehr Gründe, nach weiteren Opfern zu suchen“, sagte Sadie.

„Das hatten wir schon ins Auge gefasst“, sagte Nathan.

„Ich halte das für sehr wichtig. Er hat auch gewissermaßen einen Typ, würde ich sagen … seine Opfer sind allesamt attraktive Frauen, die vielleicht ein paar Kilos zu viel auf den Rippen haben. Das halte ich für keinen Zufall, das interessiert ihn als Kannibalen.“

„Das habe ich auch so gesehen“, sagte Cassandra.

„Viele seiner Handlungen zielen, würde ich sagen, darauf ab, dass er ihr Fleisch verzehren will“, sagte Sadie und ignorierte Matts irritierten Blick. „Er entführt sie, sperrt sie bei sich ein, ernährt sie gut – aber er gibt ihnen auch Menschenfleisch. Er ist nicht übermäßig brutal zu ihnen, was mir auch sagt, dass sie eine große Bedeutung für ihn haben, aber er ist garantiert ein Einzelgänger mit Kontaktschwierigkeiten, der über den Kannibalismus und die Leichenschändungen versucht, Nähe zu schaffen. Er will sich seine Opfer buchstäblich einverleiben, eins mit ihnen werden, die Macht über sie erlangen. Ich bin bislang auch nicht davon überzeugt, dass er ein Sadist ist, weil es wenige Hinweise darauf gibt. Für mich wäre das einzige echte Indiz, dass er seine Opfer hat wissen lassen, was er ihnen zu essen gibt. Das glaube ich aber gar nicht, das passt nicht ins Bild.“

„Du hast Recht, jetzt wäre es interessant zu wissen, wie es mit dem wirklichen ersten Opfer gelaufen ist. Musste sie Menschenfleisch essen? Wenn dem so ist, hätte es nur ihr eigenes sein können“, sagte Nick. Verstört sah Matt ihn an, sagte aber nichts.

„Du wolltest mit herkommen“, erinnerte Nick ihn grinsend.

„Ich weiß. Ich habe nur vergessen, wieso“, sagte Matt kopfschüttelnd.

Für einen Moment sagte niemand was, doch dann ergriff Sadie wieder das Wort.

„Ich fand es interessant, zu sehen, welche Mordmethode er gewählt hat. Er hat ihnen ja nicht grundlos die Kehle aufgeschnitten, denke ich. Vermutlich hat er sie ausbluten lassen.“

„Das hatten wir uns auch schon überlegt“, sagte Cassandra. „Daran können wir also einen Haken machen.“

„Inwiefern habt ihr schon die Fälle anderer Kannibalen studiert? Ich habe gestern meine Nase ein wenig in Dahmers Fall gesteckt und bin da auch auf die Diskussion gestoßen, ob er nun ein Sadist war oder nicht. Definitiv war er schwer gestört, da waren sich alle einig. Das lässt sich hier auch festhalten, denke ich, und wenn wir das Profil veröffentlichen, wird ihn vermutlich auch jemand wiedererkennen. Vielleicht ist er auch tatsächlich vorbestraft.“

„Wir waren noch dabei, die Fälle anderer Kannibalen zu studieren“, sagte Nick. „Damit würde ich jetzt weitermachen.“

„Dabei würde ich dir gern helfen.“

„Ich wühle mich derweil durch VICAP und die Vermisstenmeldungen der letzten drei Jahre“, sagte Nathan. „Vielleicht finde ich noch mehr Opfer. Wonach soll ich suchen? Welche Abweichungen könnte es geben?“

Sadie überlegte kurz. „Such nach nackten Frauenleichen an abgelegenen Orten, deren Verletzungsmuster auf Verstümmelungen hinweisen. Sie werden Stich- und Schnittwunden haben und er hat sie höchstwahrscheinlich vergewaltigt, vielleicht sogar vor ihrem Tod. Im Magen würde ich kein Menschenfleisch vermuten, deshalb ist der Fall bislang nicht aufgefallen. Ihre Verletzungsmuster werden auch so dezent sein, dass man nicht unbedingt daran denkt. Aber sie wurden vielleicht erstochen oder ihnen wurde die Kehle aufgeschnitten, daran wird sich vermutlich nichts geändert haben.“

Nathan nickte konzentriert. „Okay.“

„Ich würde ihn dabei unterstützen“, bot Cassandra an.

„Soll ich euch dabei helfen?“, fragte Matt.

„Wenn du magst“, erwiderte Nathan.

„Dann beschäftigen Maggie, Sadie und ich uns weiter mit den Fallbeispielen anderer Kannibalen“, sagte Nick.

Mit dieser Aufgabenverteilung waren alle einverstanden. Maggie warf Sadie immer wieder neugierige Seitenblicke zu, weshalb Sadie sich fast ein wenig unbehaglich fühlte.

„Ich glaube, wir sind uns einig, dass Sexualität ein Hauptmotivator unseres Täters ist, oder?“, fragte Nick.

„Das würde ich sagen, ja. Ich habe mich gestern recht ausführlich mit Jeffrey Dahmer beschäftigt, der uns sicherlich streckenweise weiterhilft, obwohl er ja nun bekennender Homosexueller war. Bei ihm ist mir aufgefallen, dass er zumindest behauptet hat, er hätte seine Opfer betäubt, bevor er sie verstümmelt hat.“

„Ich weiß, das ist ein strittiger Punkt. Hätte er sie gar nicht quälen wollen, hätte er all das, was er mit ihnen gemacht hat, aber auch nach ihrem Tod tun können – so wie unser Täter hier“, sagte Nick.

„Da hast du Recht. Bitte korrigiere mich, wenn ich etwas falsch im Kopf habe oder etwas vergesse, aber bei Dahmer hat man Borderline, eine schizoide und eine schizotypische Persönlichkeitsstörung festgestellt, ihn für dissozial und psychotisch gehalten. Er war ja eigentlich Zeit seines Lebens ein Einzelgänger, von Kindheit an.“

„Diese Parallele haben wir eigentlich bei den meisten Kannibalen. Sie waren schon in der Kindheit auffällig“, sagte Nick. „Ed Kemper zeigte früh soziopathische Züge, er ist ein Pyromane und wir wissen, dass er mit den Puppen seiner Schwestern Morde und sexuelle Rituale nachgespielt hat. Er war, genau wie Jeffrey Dahmer, schon als Kind von toten Tieren fasziniert und hat Katzen gequält und getötet. Aufgrund dieser Verhaltensweisen hat seine Mutter ihn in den Keller gesperrt, weil sie Angst hatte, dass er sich an der jüngsten Schwester vergreift. Er war immer verhaltensauffällig, wenn auch hochintelligent. Getötet hat er seine Opfer auf verschiedene Arten, später hat er mit ihren Körpern experimentiert, sie ausgeweidet und geköpft, wonach er sich daran oral befriedigt hat.“

Sadie schüttelte sich fast, als Nick das sagte, und war froh, dass Matt nicht in der Nähe war. Maggie hingegen verzog keine Miene.

„Bei ihm war aber Sadismus erkennbar“, sagte Sadie. „So etwas tut unser Täter nicht.“

„Das stimmt. Mich erinnert er auch eher an Dahmer, wobei da immer noch fraglich ist, ob man es als Sadismus werten sollte. Ja, Dahmer hat seine Opfer betäubt, aber das kann auch gewesen sein, um sie wehrlos zu halten. Zwei seiner Opfer waren ja noch am Leben, als er versucht hat, ihnen die Schädel aufzubohren. Das ist hier anders.“

„Unser Täter ist definitiv nicht homosexuell“, sagte Sadie. „Mit Jeffrey Dahmer und Albert Fish fallen mir spontan zwei homosexuelle Serienmörder mit kannibalistischen Neigungen ein.“

„Das stimmt, außerdem hat Fish sich in der Hauptsache an Kindern und Jugendlichen vergriffen. Dahmers Opfer waren älter. Fish hat auch Mädchen getötet, sich allerdings nie sexuell an ihnen vergangen. Das hat er nur bei seinen männlichen Opfern getan.“  

„Unser Täter hier findet Sex wichtig. Aber wenn sich jetzt nicht herausstellt, dass seine Opfer wussten, was sie gegessen haben und er das erste Opfer nicht über die Maßen gequält hat, gehe ich davon aus, dass er kein Sadist ist.“

„Das sehe ich auch so“, stimmte Maggie zu. „In den meisten Fällen, an die ich denken muss, spielt Sadismus zwar eine Rolle – Tschikatilo hat seine Opfer ja gebissen, sie ähnlich wie Ted Bundy Dreck schlucken lassen und nach ihrem Tod hat er sie ja ausgeweidet und ihre Augen entfernt. Diese ganze Folter und dieses Ausüben vollkommener Macht spricht auch hier für Sadismus.“

„Deshalb widerspricht Cassandra uns auch, sie ist sicher, dass wir die Anzeichen für Sadismus nur nicht sicher erkennen“, sagte Nick.

„Kann sein“, sagte Sadie. „Als extremes Beispiel für ausgelebten Sadismus in einem Fall von Kannibalismus fallen mir noch die Chicago Rippers ein. Denen ist ja sogar ein Opfer entkommen, nachdem sie sie vergewaltigt und verstümmelt haben.“

„Nicht nur eins“, sagte Nick. „Aber du verstehst unsere Schwierigkeiten. Die meisten Fallbeispiele sprechen auch von Sadismus, nur unserer nicht. Cassie möchte sich an der Statistik orientieren, aber davon bin ich kein Freund. Mir fällt auch tatsächlich ein Beispiel ein, das gar nicht auf Sadismus hinweist, und das ist das des Kannibalen von Rotenburg.“

„Der ist aber auch kein Serienkiller“, sagte Sadie.

„Nein, das ist richtig. Das ist ein völlig anders gelagerter Fall, weil das Opfer sich ja freiwillig hat töten lassen. Trotzdem ist Armin Meiwes mir gerade als Fallbeispiel hochwillkommen, denn sein Handeln war immer fern von Sadismus.“

Sadie nickte zustimmend. Sie kannte den Fall des deutschen Computertechnikers, der im Jahre 2001 einen anderen Mann auf dessen Verlangen hin getötet hatte. Meiwes und sein Opfer Bernd Jürgen Brandes hatten zuerst gemeinsam Teile von Brandes’ Genitalien gegessen und schließlich hatte Meiwes sein Gegenüber durch einen Stich in den Hals getötet, bevor er die Leiche zerlegt hatte. Er hatte Brandes mit Schlaftabletten und Hustensaft betäubt, die Vorgänge filmisch dokumentiert und sein Fleisch eingefroren. Bekannt geworden war das alles nur, weil jemand, der auf eine Kontaktanzeige von Meiwes geantwortet hatte, schließlich die Polizei informiert hatte. Der Fall war sehr gut untersucht und verschiedene Gutachter hatten die Vermutung angestellt, dass Meiwes durch den Verzehr von Fleisch mit seinem Opfer hatte verschmelzen wollen. Schon als Kind hatte Meiwes kannibalistische Tendenzen verspürt. Er war bei seiner Mutter aufgewachsen, hatte sich früh minderwertig gefühlt und unter einer Bindungsstörung gelitten. Bis zum Tod seiner Mutter hatte er mit ihr zusammengelebt und danach hatte er sich auf die Suche nach jemandem gemacht, den er töten und essen konnte.

Die Eltern, speziell die Mutter, spielten in vielen Fällen kannibalistischer Serienmorde eine Rolle, weil vielfach die abnorme Veranlagung der Täter schon in der Kindheit spürbar gewesen war. Für Sadie war das ein wichtiger Hinweis, über den sie den Täter vielleicht finden konnten.

„Ich glaube, ich stelle die ganzen Fälle einander mal gegenüber“, schlug Maggie vor. Sie stand auf und ging zum Whiteboard, wo sie eine Tabelle aufmalte, in der sie verschiedene Täter und die Merkmale ihrer Taten sammelte. Sadie fand die Idee großartig und sah ihr gespannt dabei zu. Ihr Täter beanspruchte die letzte Spalte für sich.

Maggie nahm auch die Chicago Rippers auf, die in einem Team bestehend aus vier jungen Männern um Robin Gecht Anfang der 1980er Jahre in Chicago hauptsächlich Prostituierte entführt und in Gechts Wohnung einer grausamen Folter ausgesetzt hatten. Gecht hatte aus der satanischen Bibel gelesen, während die anderen drei ihre Opfer geschlagen, vergewaltigt und bei lebendigem Leibe verstümmelt hatten, bevor sie sie auf verschiedene Art töteten und sich auch an den Leichen vergingen. Die Chicago Rippers waren unter anderem deshalb berüchtigt, weil ihnen eine Verbindung zu John Wayne Gacy nachgesagt wurde – ein Gerücht, das Gacy selbst in die Welt gesetzt hatte. Die vier jungen Männer hatten damals fast zwanzig Frauen getötet und nach den Verstümmelungen auch ihr Fleisch verzehrt.

Sadie war nicht sicher, inwiefern der Fall relevant für sie war, weil sie es in den übrigen Fällen nur mit Einzeltätern zu tun hatten. Doch dann merkte sie, dass sie einem Denkfehler aufsaß.

„Was, wenn unser Täter nicht allein handelt?“, überlegte sie laut. „Hat darüber mal jemand nachgedacht?“

„Bislang noch nicht“, gab Nick zu. „Siehst du einen Hinweis darauf?“

„Keinen konkreten, aber da wir gerade die Chicago Rippers in die Liste mit aufgenommen haben, müssen wir das doch hinterfragen.“

„Da hast du wohl Recht“, sagte Nick. Maggie füllte derweil die Tabelle weiter mit Informationen. Sie hatte neben den Chicago Rippers und Jeffrey Dahmer auch Armin Meiwes, Ed Kemper, Andrej Tschikatilo, Albert Fish und Vincent Gillis aufgenommen. Sadie wusste, es gab noch weitere Fälle von Kannibalismus, aber sie stellte Nicks Eingrenzung da nicht in Frage und hätte auch keine weiteren mehr in Betracht ziehen wollen.

In der Zeile, die Maggie mit „Sadismus“ beschriftet hatte, machte sie bei fast allen Tätern ein Plus, setzte bei Dahmer ein Fragezeichen und ließ das Feld bei ihrem Täter offen. Sie alle erhielten ein Plus bei der Frage, ob sexuelle Motive eine Rolle spielten. Maggie schrieb bei der Täteranzahl bei den Chicago Rippers eine Vier und notierte auch die Anzahl der Opfer, die diese Täter gefordert hatten. Tschikatilo führte mit 53, es folgten die Chicago Rippers mit 18, bei Dahmer trug sie 17 ein, bei Meiwes nur eine Eins. Bei dem Täter, den sie gerade suchten, notierte sie eine Drei mit einem Plus. Überdies schrieb Maggie auch auf, welche Täter als vorbestraft galten und hielt fest, bei wem welche Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert worden waren.

„Bei allen fällt auf, dass bei ihnen Persönlichkeitsstörungen festgestellt wurden oder sie unter psychischen Störungen leiden“, sagte Sadie. „Gecht und Kemper waren schon als Kinder sexuell verhaltensauffällig, oft war das Verhältnis zu den Eltern, speziell zur Mutter, gestört und sie haben kein normales Bindungsverhalten entwickelt.“

„Mach noch eine Zeile und beschrifte sie mit Scheidung der Eltern“, schlug Nick in Maggies Richtung vor, die den Vorschlag sofort in die Tat umsetzte. „Und mach mal überall ein Plus.“

„Überall?“, fragte Sadie, doch während sie noch überlegte, fiel ihr auf, dass Nick Recht hatte. Bei den Chicago Rippers wussten sie es nicht im Einzelnen, weshalb Maggie das Feld frei ließ, aber bei allen anderen hatten sich die Eltern früher oder später scheiden lassen. Im Falle von Dahmer erst, als er siebzehn gewesen war, aber er hatte fortan bei seinem Vater gelebt, was ihn von den anderen Fällen unterschied.

„Über Armin Meiwes habe ich mal eine interessante Abhandlung gelesen“, sagte Nick, während Maggie mit vor der Brust verschränkten Armen vor ihrer Tabelle stehen blieb und sie genau in Augenschein nahm. „Dort wurde exemplarisch beschrieben, was wohl auf die meisten dieser Fälle hier zutrifft. Nach der Scheidung kam die männliche Bezugsperson abhanden und wenn es dann zu einer Abwertung des männlichen Geschlechts kommt, die möglicherweise durch die Mutter noch befeuert wird, gerät der Betroffene natürlich schnell in einen Identitätskonflikt. Es wird angenommen, dass er möglicherweise versucht hat, es seiner Mutter sehr recht zu machen, sich mit ihr zu identifizieren, ihre Denkweisen zu übernehmen. Bei Meiwes wissen wir, dass er mit zwölf Jahren das erste Mal den Wunsch verspürte, einen anderen Jungen zu essen, ihn sich einzuverleiben und nie mehr verlassen zu werden. Er fühlte sich einsam. Das war auch in vielen anderen Fällen so, manchmal waren die Eltern auch gewalttätig.

Bei Meiwes kam das alles zum Ausbruch, als die Mutter, von der er sich bis ins Erwachsenenalter abhängig fühlte und mit der er ja auch zusammen lebte, plötzlich starb. In dem Moment stand er ganz allein da und hatte keinen Orientierungspunkt mehr, deshalb hat er sich auf die Suche gemacht und darauf hingearbeitet, seinen alten Wunsch in die Tat umzusetzen.“

Sadie nickte nachdenklich. „Um überhaupt kannibalistische Handlungen durchführen zu können, müssen wir wohl eine dissoziale Persönlichkeitsstörung annehmen, oder? Um einen anderen Menschen verstümmeln und sein Fleisch verzehren zu können, muss man ihn entmenschlichen.“

Nick zögerte kurz. „Ich weiß nicht, ob ich bei der Entmenschlichung zustimmen würde, aber der Rest ergibt Sinn. Kannibalen fühlen sich oft einsam, ausgegrenzt, sie führen keine Beziehung zu einer liebenden Bezugsperson. Sie sind orientierungslos, versuchen deshalb, sich einen anderen Menschen einzuverleiben, damit er bei ihnen ist und sie nicht mehr verlassen kann.“

„Und Ed Kemper und Jeffrey Dahmer haben ja auch schon früh Tiere gequält“, sagte Maggie und nahm das in ihrer Tabelle noch mit auf.

„Mir fällt vor allem auf, dass das alles Männer sind“, sagte Sadie. „Haben wir keinen Fall von einer Frau?“

„Selbst wenn, bringt uns das nicht weiter, denn wir haben es hier definitiv mit einem Mann zu tun. Und wenn ich mal überlege, wann die Verbrechen in den anderen Fällen stattgefunden haben, wird er nicht mehr so ganz jung sein. Die Verbrechen der jüngeren Täter in unserer Liste waren brutaler, das passt nicht zu dem, was wir hier haben.“

Sadie nickte zustimmend. „Was würdest du sagen?“

„Er ist wahrscheinlich um die dreißig, jüngstens fünfundzwanzig, vielleicht auch schon vierzig“, sagte Nick.

„Er lebt allein“, ergänzte Sadie. Maggie zog eine Linie neben ihrer Tabelle und begann, die Stichpunkte aufzuschreiben. Darüber schrieb sie Profil.

„Hatte er schon mal eine Beziehung?“, überlegte Sadie.

„Tschikatilo war fünffacher Vater“, warf Maggie ein.

„Ja, aber in unserem Fall halte ich es für unwahrscheinlich“, sagte Nick. „Er ist jetzt allein und vielleicht war er es auch immer.“

Sadie nickte. „Die Eltern haben sich scheiden lassen.“

Maggie schrieb es sofort auf und sagte: „Er ist schon früh als Einzelgänger aufgefallen, leidet höchstwahrscheinlich unter einer dissozialen Persönlichkeitsstörung, vielleicht auch unter einer schizotypischen. Typisch für ihn sind magisches Denken, paranoide Vorstellungen, unangemessene Affekte, exzentrisches Verhalten, Mangel an engen Beziehungen und soziale Ängste.“

Dormer nickte zustimmend. „Er ist schon in der Kindheit als jemand aufgefallen, der sich für tote Tiere interessiert. Ich bin nicht sicher, ob er wegen Tierquälerei vorbestraft ist. Mag sein, dass er Tiere getötet hat, aber er quält sie nicht. Das passt nicht.“

„Er fühlt sich einsam und er hat wenig Kontrolle über sein Leben. Er wird vermutlich nur einer einfachen Tätigkeit nachgehen, weil seine Störungen es ihm verwehren, sich besser in die Gesellschaft einzugliedern. Er sehnt sich nach Nähe und deshalb entführt er die Frauen, behandelt sie gut, erlebt sie als Partnerin und Verbündete, was hinterher in dem gemeinsamen Verzehr von Menschenfleisch gipfelt, bevor er sie tötet und Sex mit der Leiche hat“, sagte Sadie. „Und um all das konservieren zu können, behält er auch ihr Fleisch und wiederholt das Ritual mit der Nachfolgerin.“

Für einen Moment sah Nick sie nur an, aber dann sagte er: „Sehr stimmig. Er ist kein Sadist.“

„Glaube ich auch nicht“, stimmte Maggie zu.

„Ich glaube, wir haben hier was“, sagte Nathan aus der anderen Ecke des Büros. „Ich denke, wir haben unseren ersten Fall gefunden.“

„Erzähl“, sagte Sadie und ging hinüber, um auf den Bildschirm schauen zu können.

„Eine Tote, die vor etwa anderthalb Jahren unweit der Eaton Canyon Falls in den San Gabriel Mountains gefunden wurde. Du hast sie vorhin genau beschrieben, Sadie. Sie ist unbekleidet und sie wurde verstümmelt, allerdings nur leicht. Es ist hier in der Akte auch nicht als möglicher Kannibalismus abgelegt, sondern man hat es für Spuren von Kojoten gehalten. Das hat sich wohl vermischt. Im Magen hat sie kein Menschenfleisch, aber ihr wurde die Kehle durchgeschnitten und der Täter hatte nach ihrem Tod Sex mit ihr.“

Sadie nickte sofort. „Das ist sie. Das ist das erste Opfer.“

„Blanche Hawkins, zweiundzwanzig.“

„Und ich habe hier noch mehrere Frauen, die kürzlich erst als vermisst gemeldet wurden … eurer Viktimologie folgend sind sie im passenden Alter und sie alle sind abends auf dem Heimweg verschwunden“, sagte Matt.

„Wir haben überprüft, wo die übrigen Opfer verschwunden sind“, sagte Cassandra. „Sie stammen alle aus Pasadena, Alhambra und Monterey Park. Das tun auch die Vermissten, die Matt hier noch gesammelt hat.“

„Es könnte ja sein, dass er sogar jetzt gerade noch ein Opfer bei sich hat“, sagte Cassandra.

„Ist er ein Einzelgänger?“, fragte Sadie.

„Ich denke, schon“, sagte Nick. „Und ich denke auch, dass er kein Sadist ist. Sollen wir euch unser Profil vorstellen?“

„Unbedingt“, sagte Cassandra. „Jetzt bin ich gespannt.“

Sie scharten sich alle ums Whiteboard und Nick stellte ihre Überlegungen vor. Cassandra nickte sehr interessiert und sagte schließlich: „Ihr habt mich. Sadismus passt nicht in dieses Profil.“

„Veröffentlichen wir es?“, fragte Maggie.

„Wenn wir nicht bald irgendwelche Hinweise auf ihn kriegen, die uns weiterhelfen, müssen wir“, sagte Nathan. „Außer eurem Profil haben wir exakt nichts. Keine Beschreibung, kein Hinweis auf sein Auto, gar nichts. Natürlich haben wir seine DNA, aber die hilft uns nicht weiter.“

„Noch nicht“, sagte Matt augenzwinkernd.

 

Die gemeinsame Arbeit hatte sie alle hungrig gemacht, deshalb war ihnen Cassandras Vorschlag, gemeinsam essen zu gehen, nur recht gekommen. Sie stiegen bei einem etwas teureren Italiener ab und Sadie genoss es aus vollen Zügen, sich mitten unter ihren Vertrauten und Freunden zu befinden. Sie sprachen über Matts Ausstellung und Sadies Arbeit, über aktuelle Fälle von Nick und das, was die Profiler in Los Angeles so bearbeiteten. Auch Nathan berichtete ein wenig von seiner Arbeit. Cassandra blieb nach dem Essen nicht mehr sehr lang, weil sie nach Hause zu ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn wollte, wofür die anderen großes Verständnis hatten. An ihrer Stelle hätte Sadie es ähnlich gehandhabt.

„Ich muss schon sagen, du wirkst gerade sehr zufrieden auf mich“, richtete Nick sich schließlich an Sadie.

„Das bin ich auch. Woran machst du das denn fest?“

„Verschiedene Dinge … wie du weißt, bin ich Profiler“, sagte er und lachte. „Nein, wirklich, du strahlst inzwischen ein enormes Selbstvertrauen und große Entschlossenheit aus. Du weißt, wer du bist und was du willst. Gleichzeitig ruhst du in dir, du musst dir nichts mehr beweisen. Es ist schön, das zu sehen.“

„Danke.“ Sadie spürte, wie sie errötete. „Es ist auch ganz angenehm, nicht mehr ständig persönlich den Kopf hinhalten zu müssen. Gut, das in San José war natürlich ziemlich haarsträubend, aber es ist schon sehr viel Ruhe eingekehrt. Man kann das nicht mit vorher vergleichen.“

„Ja, das denke ich mir. Das ist auch wichtig und ich denke, ich an deiner Stelle hätte meiner Familie zuliebe auch nicht anders entschieden.“

„Hayley ist immer noch so klein. Libby ist längst flügge, sie geht ihren Weg …“

„Auch wenn ihr Weg beinahe deiner ist.“

„Ja, und in gewisser Hinsicht bereitet mir das natürlich Bauchschmerzen“, gab Sadie zu.

„Hast du Angst um sie?“

Sadie nickte. „Wie du dir sicher denken kannst … aber du weißt ja, warum sie das überhaupt tut. Davor konnte ich sie auch nicht schützen, und das war ja noch, bevor überhaupt im Raum stand, dass sie in meine Fußstapfen tritt.“

„Das muss für dich ähnlich hart gewesen sein wie für sie.“

„Ja“, sagte Sadie und es berührte sie, dass Nick sie wieder einmal so gut verstand. „Ich wusste ja nur zu gut, wie das ist.“

„Deshalb musste ich daran denken. Aber sie ist dir wahnsinnig ähnlich, weißt du das? Sie kanalisiert ihre Ängste und wandelt sie in Energie um. Das hast du auch immer getan. Du wurdest fast von einem Serienmörder erschossen, also hast du beschlossen, Serienmörder zu jagen. Genau das tut sie gerade, oder?“

„Das hat sie zumindest gesagt. Ihre Begegnung mit Brian Leigh hat nicht ausgereicht, um sie zu dieser Entscheidung zu bringen. Ich nehme an, dass sie damals noch zu jung war, um das alles zu überblicken. Aber ich glaube, bei Ron hatte sie immer das Gefühl, sie hätte etwas tun, es verhindern müssen.“

„Brian hat es auch nie so weit getrieben“, sagte Nick. „Vermutlich macht das einen Unterschied, aber das weißt du besser als ich.“

„Ich denke, du hast Recht. Was denkst du, warum ich mich traumapsychologisch habe fortbilden lassen, nachdem Sean mich selbst so traumatisiert hat? Ich wollte anderen Betroffenen helfen, das hat es auch für mich einfacher gemacht.“

„Ich sage ja, sie ist dir wahnsinnig ähnlich.“

„Ich mache auch keinen Unterschied zwischen ihr und meiner leiblichen Tochter.“

„Nein, das denke ich mir. Du hättest keinen Grund dazu.“ Nick lächelte und fragte nach einer kurzen Pause: „Matt geht es gut, wie ich sehe.“

Sadie verstand die Äußerung und nickte. „Ja, sehr sogar. Ihm tut die Normalität auch gut.“

„Und natürlich das Wissen darum, dass er nie schuldig war.“

„Natürlich. Ich bin froh, dass er das endlich hinter sich lassen und nach vorn blicken kann. Es geht ihm auch besser, seit ich nicht mehr an vorderster Front stehe.“

„Auch ihm merkt man die Veränderung an. Weißt du noch, wie Andrea dir in London sagte, dass er sich gar nicht mehr aufrecht hält? Das hat sich wieder verändert.“

„Ich weiß“, sagte Sadie und lächelte. In diesem Moment sprach Nathan Nick von der Seite an, nachdem er sich mit Matt unterhalten hatte und nun Nicks Meinung hören wollte. Sadie hörte ihnen kurz zu, doch dann spürte sie, wie Maggie Ryans Blick auf ihr ruhte und erwiderte ihn freundlich.

„Können wir kurz reden?“, fragte Maggie.

„Sicher“, erwiderte Sadie, die auch neugierig war, was Maggie auf dem Herzen hatte. Die beiden verließen das Restaurant und blieben unweit der Raucherecke vor der Tür im Schein der untergehenden Sonne stehen. Gespannt wartete Sadie ab.

„Ich freue mich über die Gelegenheit, wieder mit dir zusammenzuarbeiten. So wirklich lang warst du damals ja leider nicht meine Chefin“, begann Maggie.

„Oh, das klingt irgendwie so, als wärst du nicht glücklich mit Cassandra“, fand Sadie.

„Doch, sehr sogar. Ich habe jetzt die ganze Zeit überlegt, ob ich es dir sagen soll, weil weder Cassandra noch Dormer es für nötig gehalten haben, aber ich habe gemerkt, dass du dich wunderst und finde es nur fair, dir die Wahrheit zu sagen.“

„Ich bin immer ein Freund der Wahrheit.“

„Ich weiß. Der Grund dafür, dass Nick dich dabei haben wollte, ist eine Fehlentscheidung von Cassandra in einem unserer letzten Fälle.“

Sadie registrierte Maggies Wortwahl sehr wohl. Also ging das alles auf Nick zurück. Genau so hatte es sich auch angefühlt.

„Was ist passiert?“, fragte Sadie.

„Es ging um einen Serienvergewaltiger. Unser Profil war recht eindeutig und weil er immer brutaler wurde, sind wir davon ausgegangen, dass ihm die Vergewaltigungen irgendwann nicht mehr reichen, sondern dass er zum Mörder wird. Eine junge Frau kam zu uns, die behauptete, sie sei das neueste Opfer dieses Typen. Die erste Vernehmung habe ich mit ihr geführt und ich hatte so ein eigenartiges Gefühl bei der Sache. Die Frau hat mir genau das erzählt, was man aus den Medien über den Kerl wusste. Wir hatten zahlreiche Tatmerkmale veröffentlicht, um weitere Opfer ausfindig zu machen, die sich bei uns melden sollten. Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass sie mir nicht die ganze Wahrheit sagt, hätte das aber nicht begründen können. Ihre Story war verdammt nah dran, verstehst du?

Sie hat uns jedenfalls eine Personenbeschreibung geliefert, die uns schließlich zu einem Verdächtigen geführt hat. Ich habe Cassandra gesagt, dass ich ein schlechtes Gefühl bei der Sache habe und nicht glaube, dass ihr Fall wirklich zu unserem passt, aber Cassandra hatte auch schon mit ihr gesprochen und teilte meine Bedenken nicht. Unsere Spur führte schließlich zum Ex-Freund einer Bekannten der jungen Frau. Er hatte sie zwar tatsächlich vergewaltigt, aber während wir uns damit aufgehalten haben, ihn zu vernehmen und auf die Ergebnisse seines DNA-Tests zu warten, wurde die erste Tote gefunden, die unser echter Täter ermordet hatte. Diese junge Frau, wegen der ich solche Zweifel hatte, war sozusagen eine Trittbrettfahrerin, weil sie unbedingt wollte, dass wir in der Sache ermitteln. Ihre Vergewaltigung ist eigentlich ganz anders abgelaufen und sie hat die Tat nur zu unserem Fall passend umgedichtet. Es ist noch eine zweite junge Frau gestorben, bevor wir den echten Täter dingfest machen konnten. Es gab dann eine Untersuchung in der Sache, weil ich in meinem Bericht nicht lügen wollte und ehrlich geschrieben habe, dass ich der Meinung war, Cassandra hätte eine Fehlentscheidung getroffen. Und weißt du auch, warum?“

Sadie schüttelte den Kopf. Die ganze Sache hörte sich ernst an.

„Dieser Ex-Freund, der dann nicht unser Täter war, sah Lucas Whittaker halbwegs ähnlich.“

„Du kennst die Geschichte?“, fragte Sadie überrascht.

„Ja, Cassandra hat sie irgendwann erzählt und ich habe nachgelesen, weil ich neugierig bin. Deshalb weiß ich, wie Whittaker aussieht. Ich habe Cassandra mehrmals darauf angesprochen und ihr gesagt, dass ich sie nicht für objektiv halte, woraufhin wir ziemlich aneinandergeraten sind. Cassandra hatte hinterher wirklich Ärger wegen meines Berichts und ich bereue inzwischen, dass ich das geschrieben habe, weil es letztlich nicht geholfen hat. Es hat mich nur geärgert, dass sie meine Einwände, sie sei voreingenommen, absolut nicht hören wollte und ich dachte, ich könnte so vielleicht verhindern, dass das wieder passiert …“

„Verstehe“, murmelte Sadie ernst.

„Ich klinge jetzt bestimmt wie eine Verräterin, aber Cassandra wollte unbedingt diesen Kerl in den Knast bringen. Er hat auch die eine Frau vergewaltigt, aber wir haben uns total auf ihn konzentriert, während gerade das erste Todesopfer von unserem wahren Serientäter gekidnappt wurde. Mich lässt der Gedanke nicht los, dass wir sie vielleicht hätten retten können.“

„Das weißt du nicht.“

„Nein, sicher, und ich weiß auch, dass Cassie sich selbst inzwischen die größten Vorwürfe macht. Aber dann sind sie und Nick am Donnerstag heftig über die Frage aneinandergeraten, ob unser Kannibale ein Sadist ist oder nicht. Da hat sie ihm an den Kopf geworfen, sie wisse schließlich, wie ein Sadist tickt, weil sie selbst welche kennengelernt hat und er das nie wirklich nachvollziehen könne. Seine Einwände, dass es hier einfach keine wirklichen Hinweise auf Sadismus gebe, wollte sie nicht hören. Dich ins Boot zu holen, hat er schließlich mit Gewalt durchgesetzt, weil er sonst in der Angelegenheit zu McNamara gegangen wäre.“

Überrascht zog Sadie die Brauen hoch. Allmählich wurde ihr der Ernst der Angelegenheit klar. „So kenne ich ihn gar nicht.“

„Nein, aber er hat Recht. Cassandra ist einfach nicht objektiv, das geht nicht. Er wollte dich jetzt dabei haben, weil ihn deine Meinung tatsächlich interessiert hat und weil er denkt, dass sie auf dich hört. Sie hält große Stücke auf dich.“

Das wusste Sadie, aber in dem Moment war das kein Grund zur Freude für sie. Was sie da hörte, bereitete ihr Sorgen. Sie kannte Cassandra als gewissenhafte Ermittlerin, die auch in hitzigen Situationen einen kühlen Kopf bewahrte. Wenn sie das nun vermehrt nicht mehr schaffte, gab es dafür einen Grund. Etwas musste im Argen liegen.

„Danke, dass du mir das gesagt hast“, richtete sie sich schließlich an Maggie.

„Ich komme mir gerade wirklich wie eine Verräterin vor …“

„Bist du nicht. Wir kennen Cassandra beide gut genug, um zu wissen, dass das nicht typisch für sie ist. Es ist gut, dass ich das weiß, denn es erklärt einiges und es hilft mir jetzt dabei, auf bestimmte Dinge zu achten.“

„Genau das wollte ich damit erreichen. Du warst damals auch immer offen und ehrlich zu uns, als es um deinen Mann ging, obwohl ich immer verstanden hätte, wenn du da nicht mit offenen Karten gespielt hättest.“

Sadie zuckte mit den Schultern. „Hatte ich eine Wahl?“

„So ziemlich jeder andere Mensch, den ich kenne, hätte an deiner Stelle gelogen. Eine FBI-Agentin, deren Mann des Mordes verdächtigt wird … das hätte das Aus deiner Karriere sein können.“

„Das war das Aus meiner Karriere beim FBI“, präzisierte Sadie. „Aber inzwischen ist das okay für mich. Ich wollte euch nie anlügen, weil ich euch kannte. Ich wusste, ihr denkt deshalb nicht schlecht über mich.“

„Nein, und wie sich ja herausgestellt hat, ist dein Mann unschuldig.“

„Dafür, dass er sich für schuldig gehalten hat, gab es einen guten Grund und ich bin sicher, auch für Cassandras Verhalten gibt es den.“

Maggie lächelte scheu. „Es ist wirklich schade, dass du nicht mehr bei uns bist.“

„Ja, manchmal vermisse ich es sehr“, gab Sadie ehrlich zu. „Ich war immer gern FBI-Profilerin, ich hatte es nur satt, dass diese verfluchten Irren das immer persönlich nehmen und mir deshalb dauernd ans Leben wollten.“

„Das kann ich verstehen, deine Geschichte ist da auch speziell. Mir hat man auch schon gedroht und mir Dinge geschickt, um mich zu erschrecken. Ich habe mich auch schon verfolgt gefühlt. Aber man kann es nicht vergleichen.“

„Sei froh.“

„Das bin ich. Danke für dein Verständnis.“

Sadie wusste, dass Maggie sich auf Cassandra bezog, und nickte. „Wir kriegen das schon hin.“

Maggie lächelte und die beiden gingen wieder ins Restaurant. Nick beobachtete sie, während sie sich wieder setzten, und bedachte Maggie mit einem kritischen Blick.

„Hast du es ihr jetzt doch gesagt?“

„Hat sie und es war richtig so“, versuchte Sadie, ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen. „Ich kann mir schon denken, warum ich das nicht wissen sollte.“

„Ich wollte dich nicht beeinflussen“, sagte Nick.

„Ja, und das verstehe ich auch. Trotzdem bin ich froh, dass Maggie es mir gesagt hat. So kenne ich Cassandra nicht, aber jetzt habe ich auch ein Auge darauf und kann euch vielleicht helfen.“

„Was ist los?“, fragte Matt verwirrt.

„Cassandra steht irgendwie unter Druck“, sagte Sadie diplomatisch. „Sie hat vor kurzem eine Fehlentscheidung getroffen und Maggie fürchtet, dass sie deshalb nicht so objektiv ist, wie sie sein müsste.“

Dormer nickte bestätigend. „Spricht man sie jedoch darauf an, streitet sie es ab.“

„Ich kann ja mal mit Jason sprechen, ob ihm was aufgefallen ist“, bot Matt an.

„Ja, versuch das mal“, sagte Sadie. „Vielleicht braucht sie jemanden zum Reden.“

Matt nickte und schon bald beschlossen sie alle, sich auf den Weg zu machen. Inzwischen war es kurz nach acht Uhr abends und Sadie und Matt sehnten sich nach ein wenig Ruhe im Hotel. Sie verabschiedeten sich von den anderen und als sie am Ziel waren, ließ Matt sich langsam aufs Bett sinken und schloss entspannt die Augen.

„Du siehst zufrieden aus“, stellte Sadie fest.

„Das Essen war gut. Und ich muss zugeben, dass es mir Spaß gemacht hat, heute mit den anderen zu arbeiten.“

„Mir auch. Ich frage mich nur, was bei Cassandra los ist.“

„Was hat Maggie dir denn erzählt?“

Sadie berichtete Matt von allem und er lauschte gespannt und gleichermaßen nachdenklich.

„Ich horche wirklich mal unauffällig bei Jason nach, denke ich. Wenn du möchtest. Oder willst du mal mit ihr sprechen?“

„Sicher, aber mit Jason zu sprechen ist sicher nicht unnütz.“

„Okay. Ich wollte ihn sowieso noch besuchen, das passt ja.“

Sadie nickte und beschloss, duschen zu gehen. Das würde jetzt guttun und alle Gedanken an Kannibalen wegspülen, zumindest hoffte sie das.

Allerdings löschte es nicht den Gedanken an Libby aus. Dass sie mit Nick über ihre Tochter gesprochen hatte, ließ sie irgendwie unruhig werden. Er hatte Recht, es behagte ihr nicht, dass sie es jetzt mit den Verbrechern dieser Welt aufnehmen wollte, aber sie würde Libby in allem unterstützen, was sie sich vornahm und sie konnte sie ohnehin nicht vor allem beschützen. Sie war mit sexueller Gewalt konfrontiert worden, bevor sie sich für die Ermittlerlaufbahn entschieden hatte, und zwar mehrfach. Risiken gab es immer und überall.

Als sie fertig war, setzte sie sich mit noch feuchten Haaren aufs Bett, griff nach ihrem Handy und schrieb Libby eine Nachricht. Hast du Zeit? Alles in Ordnung bei dir?

Sie erhielt nicht gleich eine Antwort, deshalb legte sie das Handy wieder weg. Allerdings dauerte es nur ein paar Minuten, bis es klingelte und Libby anrief.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739459653
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (November)
Schlagworte
Serienkiller Profiler Kannibalismus Serienmord Krimi Spannung Los Angeles FBI Nekrophilie Ermittler Psychothriller

Autor

  • Dania Dicken (Autor:in)

Dania Dicken, Jahrgang 1985, schreibt seit der Kindheit. Die in Krefeld lebende Autorin hat Psychologie und Informatik studiert und als Online-Redakteurin gearbeitet. Mit den Grundlagen aus dem Psychologiestudium setzte sie ein langgehegtes Vorhaben in die Tat um und schreibt seitdem Psychothriller zum Thema Profiling. Bei Bastei Lübbe hat sie die Profiler-Reihe und ihre neue Serie "Profiling Murder" veröffentlicht, im Eigenverlag erscheinen "Die Seele des Bösen" und ihre Fantasyromane.
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Titel: Die Seele des Bösen – Todesliebe