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Die Seele des Bösen - Ruhe in Frieden

Sadie Scott 4

von Dania Dicken (Autor:in)
270 Seiten
Reihe: Sadie Scott, Band 4

Zusammenfassung

Etwas angeschlagen kehrt Profilerin Sadie zum FBI zurück und ist überrascht, als Besuch aus England dort ist. Teamchef Nick hat Andrea Thornton, die britische Profilerin mit deutschen Wurzeln, zum allgemeinen Wissensaustausch eingeladen. Schnell stellt Sadie fest, dass sie erheblich mehr Gemeinsamkeiten mit Andrea hat als nur den Beruf. Als die BAU ein Hilfegesuch aus Boston erreicht, bietet Andrea den Profilern ihre Unterstützung an und reist mit nach Boston. Sadie ist froh, jemanden bei sich zu haben, mit dem sie vorbehaltlos sprechen kann, zumal sie im Moment ohne ihren Freund Matt auskommen muss, der gerade in der FBI-Academy die Schulbank drückt. Der Fall, der sie in Boston erwartet, ist jedoch auch nicht ohne: Seit Monaten werden dort junge Männer ermordet - ohne jegliche Brutalität, aber die Polizei hat keinen Hinweis auf den Täter. Die Profiler ahnen, dass sie es mit einer schwerwiegenden psychischen Störung zu tun haben ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Waterford, Kalifornien: Donnerstag

„Ich glaube, der ist ganz gut geworden.“ Zufrieden verschränkte Norman die Arme vor der Brust. Sadie warf ebenfalls einen Blick in den Backofen und nickte zustimmend.

„Verhungern werden wir wohl nicht.“

Wortlos legte Norman einen Arm um die Schultern seiner Nichte und seufzte. In diesem Moment dachten sie beide an Fanny, die sonst immer den Truthahn zu Thanksgiving zubereitet hatte. Sadie hatte ihr oft dabei geholfen und konnte sich deshalb noch daran erinnern, was zu tun war. Sie hatte Norman von sich aus angeboten, früher zu kommen, um ihm dabei zu helfen. Er hatte das Angebot dankbar angenommen.

„Ich merke erst jetzt, was Fanny eigentlich alles im Haushalt getan hat“, sagte Norman verhalten. „Eigentlich war ich der Meinung, dass ich sie dabei unterstütze und die Hälfte übernehme, aber jetzt weiß ich, dass das nicht stimmte.“

„Sie hat sich doch nie beklagt“, sagte Sadie.

„Nein, natürlich nicht. Aber es gibt so viele Handgriffe, bei denen mir bewusst wird, dass sie fehlt. Ich habe schon die Wäsche schrumpfen lassen und wenn ich nachts allein in meinem Bett liege, ist es ganz vorbei.“

„Das Angebot steht“, sagte Sadie. „Ich kann die Katzen auch wieder zurückholen, damit sie bei dir leben.“

Norman schüttelte den Kopf. „Nein, behalt du mal schön deine Katzen. Ich nehme dir nicht die Haustiere weg. Aber vielleicht hole ich mir eigene ... oder gleich einen Hund?“

„Warum nicht? Der hält fit. Das ist doch gerade auch nicht so verkehrt.“

„Eben.“ Kritisch spähte Norman in den Kühlschrank und inspizierte die Vanillecreme. Sie hatten so viel Essen, dass es für eine ganze Kompanie reichen würde, wie er scherzhaft gesagt hatte. Aber inzwischen war sein Appetit auch wieder besser. Die Chemotherapie war vorüber, ihm sprossen wieder erste Haare und er konnte immerhin so gut kochen, dass er nicht verhungerte.

Aber Sadie konnte ihrem Onkel ansehen, dass er nicht glücklich war. Er war einsam und er trauerte immer noch um Fanny. Für Sadie war es auch unbegreiflich, dass ihre Tante nie wieder bei ihnen sein würde. Nachdem Norman vor wenigen Wochen das Krankenhaus verlassen hatte, hatte er sofort begonnen, das Schlafzimmer zu renovieren. Nur so ließen sich die Blutspuren endgültig beseitigen. Gary hatte ihm dabei geholfen, denn Sadie und Matt waren beide nicht dazu in der Lage gewesen. Es war noch nicht lang her, dass Matt seine Armschlinge nicht mehr tragen musste und Sadie hatte auch ziemlich lang auf Krücken laufen müssen.

Als das vorüber gewesen war, hatten sie sich den Wetterbericht angesehen und sich in den ersten Flieger gesetzt, als klar gewesen war, dass die Nationalparks im Südwesten noch problemlos befahrbar waren. An manchen Stellen hatte zwar schon Schnee gelegen, aber Sadie erinnerte sich an unvergeßliche Stunden, die so bald nicht wiederkommen würden.

Denn inzwischen hatte Matt die Ausbildung an der FBI Academy begonnen. Das war nur möglich, weil er sich mit den Ausbildern darauf geeinigt hatte, zu Anfang den Schwerpunkt auf die theoretische Ausbildung zu legen und mit dem Training etwas später zu beginnen. Seine Schulter heilte zwar gut, aber auch seine Ausbilder wollten ihn nicht zu früh dem anstrengenden Parcours im Wald, der berühmten Yellow Brick Road, aussetzen.

In diesem Augenblick betrat er die Küche. Er hatte den Tisch gedeckt und schnupperte demonstrativ.

„Das Schätzchen im Ofen riecht aber gut“, stellte er lobend fest.

„Hoffen wir, dass er die Versprechen hält“, sagte Norman. „Sadie, weißt du noch, wie uns der Braten in einem Jahr fast verbrannt ist?“

„Der Ofen war auch kaputt“, sagte sie entschuldigend.

„Ja, aber essbar war er nicht mehr. Wir mussten uns Pizza kommen lassen!“

„Wirklich?“ Matt lachte.

„Ja, wirklich. War das nicht im Jahr vor deinem Highschool-Abschluss, Sadie?“

Sie nickte. „Das war wirklich vollkommen absurd. Aber auch sehr lustig! Und die Pizza war wenigstens gut.“

„Da kann ich nicht mithalten“, gab Matt zu. „Ich habe nur eine Geschichte, in der unser Hund damals unseren Weihnachtsbaum umgerissen hat. Aber das ist bestimmt fünfundzwanzig Jahre her.“

Sadie lächelte. In diesem Moment klingelte es an der Haustür und sie schaute nach, wer dort war. Sie erkannte Matts Vater und vermutete, dass die junge Frau neben ihm Matts Schwester war.

„Matt, deine Familie ist da“, rief sie und öffnete den beiden.

„Sadie“, sagte Mr. Whitman und begrüßte sie mit einer väterlichen Umarmung.

„Schön, dass Sie da sind“, erwiderte Sadie, bevor er zurücktrat und seiner Tochter Platz machte. Sie trug ihr braunes Haar schulterlang und hatte schon auf den ersten Blick eine große Ähnlichkeit mit Matt.

„Du musst Tammy sein“, sagte Sadie und reichte ihr zur Begrüßung die Hand.

„Stimmt genau“, sagte Tammy und lächelte.

„Da seid ihr ja“, sagte Matt aus dem Hintergrund. Tammy quiekte vor Freude und war mit einem Satz an Sadie vorbei, um ihren Bruder zu umarmen.

„Hey, man könnte ja glauben, du hast mich seit einer Ewigkeit nicht gesehen“, sagte er.

„So kommt es mir auch vor! Du machst ja Sachen, Großer, also ehrlich. Kaum passt man eine Sekunde nicht auf ...“

Er ging gar nicht weiter darauf ein. „Kommt rein“, sagte er.

Im Wohnzimmer wartete Norman auf sie alle. Matt übernahm die Vorstellungsrunde, aber dafür, dass sie einander gerade erst kennenlernten, fiel die Begrüßung sehr vertraut aus.

„Vielen Dank für die Einladung“, sagte Mr. Whitman. Er war fast so groß wie sein Sohn und ein eher hemdsärmeliger Typ, auch wenn er sich für Thanksgiving ein wenig herausgeputzt hatte. Er war älter als Norman und entsprechend etwas ergrauter. Tammy war gerade dreißig, wie Sadie wusste.

„Bitte setzen Sie sich doch“, sagte Norman und deutete aufs Sofa. Tammy hatte gerade erst Platz genommen, als sie ihrem Bruder bedeutete, sich zu ihr zu gesellen. Sie rutschen alle ein wenig zusammen, damit Sadie auch noch Platz hatte. Matts Vater schaute sich neugierig um.

„Ein schönes Haus“, stellte er mit einem anerkennenden Nicken fest. Derweil spähte Tammy an ihrem Bruder vorbei zu Sadie.

„Matt hat nicht übertrieben“, sagte sie. „Du hast ja wirklich so schöne Haare!“

Sadie errötete. „Alles echt.“

„Ja, so ein schönes Rot kann man auch nicht färben! Das muss so wachsen.“

„Du starrst sie an“, mahnte Matt mit brüderlicher Strenge.

„Ich starre sie überhaupt nicht an! Ich muss doch mal gucken, wen du da heiraten willst.“

„Das ist Starren, Tammy“, fand er.

„Ist es nicht!“

Sadie lachte, denn sie fühlte sich durch Matts Schwester ein wenig an ihre beste Freundin erinnert.

„Lass gut sein“, sagte sie. „Wir wollen uns doch kennenlernen, oder nicht?“

„Siehst du“, sagte Tammy triumphierend zu ihrem Bruder. „Wir verstehen uns schon.“

Sadie lächelte, denn Tammy war ihr auf Anhieb sympathisch. Matts Vater kannte sie bereits, sie hatten ihn gemeinsam besucht, bevor sie sich auf ihren Wüstentrip begeben hatten. Matt hatte seinem Vater eröffnet, dass er heiraten wollte und Sadie gleich mitgebracht, damit sein Vater die zukünftige Schwiegertochter kennenlernen konnte. Für Thanksgiving war es Normans Idee gewesen, Matts Familie nach Waterford einzuladen, denn so konnten sie sich gleich ein wenig beschnuppern. Tammy war aus New York angereist, wo sie lebte und arbeitete. Thanksgiving war für sie alle ein besonderes Familienfest.

„Es freut mich, dass Sie gekommen sind“, wandte Norman sich an Matts Familie.

„Sehr gern, wir haben uns wirklich über die Einladung gefreut. So lernen wir uns alle einmal kennen!“, sagte Mr. Whitman. „Nun, Sadie kenne ich natürlich schon, aber damit ist es ja nicht getan.“

„Nein, auch wenn ich Sie enttäuschen muss, dass wir uns heute nicht alle kennenlernen können“, sagte Norman. „Meine Tochter Joanna konnte es nicht einrichten, zu kommen.“

„Vielleicht Weihnachten“, sagte Mr. Whitman. Er warf einen Blick auf seinen Sohn. „Wie geht es der Schulter?“

„Besser“, sagte Matt. „Zwar habe ich dadurch noch eine gewisse Schonfrist in der Academy, aber die geht leider auch vorbei ...“

„Und wie geht es dir?“, erkundigte Mr. Whitman sich bei Sadie.

„Alles in Ordnung“, sagte sie. „Nach dem Wochenende fange ich auch wieder an, zu arbeiten.“

Norman beugte sich vor. „Haben Sie keine Vorbehalte. Sie dürfen uns alle Fragen stellen. Es war bestimmt eigenartig für Sie, von Matt zu hören, wer Sadie ist.“

Von dieser offensiven Äußerung war Mr. Whitman beeindruckt. Dennoch zögerte er einen Moment.

„Das stimmt schon ... Matt rief mich an und sagte mir, dass er angeschossen wurde und warum. Ich wusste ja aus den Nachrichten, was passiert ist. Aber dann sagte Matt mir, wer Sadie wirklich ist und dass die beiden heiraten wollen. Natürlich hatte er mir vorher schon von ihr erzählt, aber er hat mir nur gesagt, dass er eine neue Freundin hat. Ich wusste ja von nichts!“

Norman nickte verstehend. „Rick Foster war in unserer Familie nie ein sehr beliebtes Thema, wie Sie sich denken können. Trotzdem können Sie vorbehaltlos mit uns darüber sprechen. Nun, da er tot ist und unsere Identität kein Geheimnis mehr sein muss, wollen wir auch keins mehr daraus machen.“

„Das finde ich toll“, sagte Tammy. „Ich könnte verstehen, wenn Sie gar nicht darüber reden wollten.“

„Aber ich hasse es, zu lügen“, sagte Sadie und griff nach Matts Hand. „Ich habe Matts Nähe lang gescheut, weil ich fürchtete, ihn anlügen zu müssen.“

„Das hat sich ja zum Glück nicht bewahrheitet“, sagte er und blickte zu seiner Familie. „Es hat mich nie interessiert, wer Sadies Vater war. Für mich zählt, wer sie ist – und sie ist ein ganz wundervoller Mensch.“

„Daran habe ich keinen Zweifel“, sagte Mr. Whitman, während Sadie wieder errötete. Sie kamen aber nicht dazu, das Thema weiter zu vertiefen, weil es wieder klingelte. Diesmal ging Norman zur Tür. Er kehrte mit Phil zurück, den er auch eingeladen hatte – genau wie Tessa. Norman hatte sich ein fröhliches und geselliges Thanksgiving gewünscht. Auf dem Kamin neben dem Esstisch stand ein großes, gerahmtes Foto von Fanny, so dass Sadie das Gefühl hatte, auch ihre Tante wäre dort.

Sie stand auf, um Phil zu begrüßen. Die beiden umarmten einander, dann übernahm Matt erneut die Vorstellung aller.

„Wie schön, alle kennenzulernen“, sagte Tammy. „Ein solches Thanksgiving hatten wir seit Mums Tod nicht mehr!“

„Matt hat schon viel von Ihnen erzählt“, richtete Mr. Whitman sich an Phil. Die beiden waren gerade ins Plaudern geraten, als Gary, Sandra und Ben eintrafen. Ein Lächeln stahl sich auf Sadies Lippen, als sie ihren Neffen in der Trage entdeckte.

„Hat der Kleine viele Haare bekommen!“, staunte sie, während sie Gary und Sandra nacheinander umarmte.

„Erstaunlich, was?“ sagte Gary. „Schön, dich zu sehen. Alles gut?“

Sadie nickte. Sie waren gerade noch damit beschäftigt, sich alle vorzustellen, als Tessa dazustieß und die Runde komplett war. Zu Sadies Erstaunen hatte ihre Freundin sich die Haare komplett schwarz gefärbt, es war nichts Buntes mehr darin zu sehen.

„Wie siehst du denn aus?“, fragte Sadie überrascht.

Tessa grinste verschwörerisch. „Sylvie gefällt das besser.“

„Sylvie?“, fragte Sadie, aber dann knuffte sie ihre Freundin in die Seite. „Du hast mir gar nichts erzählt!“

„Ist ja auch noch ganz frisch. Ich dachte, ich hebe mir die Überraschung für heute auf!“

„Hast du etwa eine neue Freundin?“, fragte Phil, der inzwischen hellhörig geworden war.

Tessa nickte. „Sie ist gerade bei ihrer Familie. Warum bist du nicht bei deiner?“

„Und du?“, fragte Phil lachend. Die Antwort war jedoch einfach, denn Phil hatte nur noch einen Vater, der im Pflegeheim lebte, und Tessas Mutter war vor einigen Jahren weggezogen. Allerdings hatte Tessa Weihnachten ganz für sie und ihren Bruder reserviert.

Bevor sie sich um den Tisch scharten, gehörte die Aufmerksamkeit aller dem kleinen Ben. Fröhlich glucksend lag das Baby in seiner Trage und beobachtete die vielen Gesichter, die ihn verzückt bestaunten. Mit seinen winzigen Fingern fuchtelte er in der Luft herum.

„Nein, wie süß“, sagte Tammy. „Wie alt ist er?“

„Gut zwei Monate“, sagte Sandra. „Er ist ein richtiger kleiner Schatz!“

„Lass mich raten, Jo kommt nicht?“, fragte Gary in Richtung seines Vaters.

Norman nickte. „Sie sagte, sie schafft es nicht.“

„Gut, dann ist heute die Stimmung besser“, sagte Gary. Sadie seufzte. Sie vermisste Jo auch nicht sonderlich, aber sie fand es trotzdem nicht schön, dass ihre Cousine wirklich nicht zu Thanksgiving erschien. Vor allem fiel ihr kein gescheiter Grund dafür ein. Jo war schon eine Kratzbürste gewesen, als sie alle noch jünger gewesen waren und zu Hause gelebt hatten, aber seit sie alle ihrer eigenen Wege gingen, schien Jo sich gar nicht mehr für die Familie zu interessieren. Gary war es recht und auch Sadie störte es nicht, aber sie wusste, dass es Norman wehtat. Vor allem in diesem Moment. Jo hatte sich seit der Beerdigung ihrer Mutter, die sie fluchtartig verlassen hatte, nicht mehr zu Hause blicken lassen.

Sadie fragte sich, ob sie der Grund für Joannas Fernbleiben war. Schließlich glaubte ihre Cousine, es sei ihre Schuld, dass ihr Vater Fanny ermordet hatte. Das hatte Sadie verletzt, denn sie hatte Fanny auch geliebt und sie verstand nicht, warum ihre Ermordung ihre Schuld sein sollte.

Alle scharten sich um den langen Tisch. Matt setzte sich mit Sadie neben seinen Vater und gegenüber seiner Schwester. Gary und Sandra hatten sich mit dem kleinen Ben an eine Ecke des Tisches gesetzt und Bens Trage auf einem Hocker abgestellt. Als alle Platz genommen hatten, ging Sadie Norman in der Küche zur Hand. Allerdings bestand Norman darauf, dass er den Truthahn aus dem Ofen holte. Wenig später stand das Prachtstück auf dem Tisch, umgeben von Gemüse und vielen anderen Leckereien. Sadie war nervös, während die anderen den ersten Bissen nahmen, aber die Aufregung war unnötig.

„Vorzüglich!“, lobte Mr. Whitman das Essen. Sadie und Norman tauschten einen erleichterten Blick. Matt sagte vorzugsweise gar nichts, sondern genoss das Essen einfach.

„Wie war die Scharfschützenausbildung?“, wandte er sich jedoch kurz darauf an Phil.

„Die war klasse“, erwiderte der Angesprochene. „Ich hätte nicht gedacht, wie umfangreich diese Ausbildung wirklich ist. Aber der Umgang mit Präzisionsgewehren ist gar nicht so leicht. Man muss immer die Windgeschwindigkeit beachten und man muss die Nerven haben, stundenlang auf dem Bauch zu liegen und das Ziel im Auge zu behalten.“

„Die Nerven hast du doch“, behauptete Matt.

„Schon, aber das ist wirklich nicht ohne. Macht allerdings Spaß.“

„Und welche Pläne hast du jetzt?“, fragte Sadie. „Immer noch das Hostage Rescue Team?“

Phil nickte verlegen. „Da du es jetzt ansprichst ... ja. Wahrscheinlich wirst du mich jetzt hassen, aber ... ich war vor drei Wochen drüben in Quantico und habe die Aufnahmeprüfungen gemacht.“

Für einen Moment starrte Sadie ihn sprachlos an. „Ist nicht dein Ernst.“

„Doch.“ Phil grinste.

„Du warst drüben und hast nichts gesagt?“

Er nickte. „Ich wollte erst sehen, ob ich das packe.“

„Ja, und? Hast du?“, fragte sie neugierig.

„Ja“, sagte er und strahlte übers ganze Gesicht.

„Wahnsinn!“, sagte Sadie. „Sie haben dich genommen?“

Er grinste. „Am Dienstag komme ich rüber nach Quantico. Ich habe mir auch in Dale City eine Wohnung genommen.“

„Du bist aber wirklich gemein“, sagte Matt. „Weder sagst du uns, dass du bei uns drüben bist, noch erzählst du uns von diesem Erfolg!“

„Ich wollte euch überraschen“, sagte Phil. „Ich hatte nicht wirklich geglaubt, dass sie mich einladen würden. Eigentlich habe ich ja nicht besonders viel Erfahrung, sowohl beruflich als auch als Scharfschütze ... aber die haben rausgefunden, dass ich der Schütze im Grimes-Fall war. Scheinbar hat sie das beeindruckt.“

„Das kann es ja auch“, sagte Matt.

Mr. Whitman hörte aufmerksam zu, er fand das alles sehr spannend. Schließlich fragte er: „Können Sie sich das denn wirklich vorstellen – beruflich Menschen erschießen?“

Phil nahm ihm die direkte Frage nicht übel. „In letzter Zeit habe ich natürlich viel darüber nachgedacht, aber ich bin gut darin. Genaugenommen habe ich das ja auch schon hinter mir, aber an diesem Tag hatte ich die Wahl: Grimes oder Matt.“

Mr. Whitman nickte ernst. Ihm war bewusst, dass Phil damals das Leben seines Sohnes gerettet hatte.

„Ich wollte das auch nicht werten“, sagte er. „Es hat mich nur interessiert. Ich war immer so ein friedliebender Mensch und könnte mir das gar nicht vorstellen, aber ich bewundere Ihren Mut. Und ich weiß zu schätzen, dass Sie meinen Sohn damals gerettet haben.“

Phil lächelte. Die beiden verstanden sich auf Anhieb.

„Ich ziehe den Hut vor dir“, sagte Matt. „Ich hab die Jungs vom HRT schon in Quantico rumlaufen sehen. Die trainieren ja den ganzen Tag!“

„Nicht den ganzen“, sagte Phil. „Aber ich kann euch sagen, die zweiwöchige Aufnahmeprüfung war hart genug. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so viel im Matsch gelegen!“

„Glaub ich dir“, sagte Matt. „Das blüht mir auch noch.“

„Das heißt, du bist demnächst auch beim FBI“, stellte Sadie fasziniert fest.

„So ist es“, sagte Phil. „Als Quereinsteiger. Ich meine, richtig drin bin ich noch nicht. Jetzt stehen mir erst mal sechs Monate Training bevor. Und wenn die vorbei sind ... man hat ja nicht ständig Einsätze. Aber man trainiert täglich ein paar Stunden. Immer fit bleiben, nichts verlernen.“

„Ich kann es nicht glauben“, sagte Matt. „Dann sind wir mit etwas Glück demnächst alle drei beim FBI!“

Sadie lächelte, denn der Gedanke gefiel ihr. Sie freute sich riesig für Phil, denn darauf konnte er mächtig stolz sein. Er war seinem großen Ziel auch endlich näher gekommen.

Während die Männer sich angeregt unterhielten, wandte sie sich Tammy zu.

„Matt sagte, du arbeitest in New York bei einem Fernsehsender.“

„Ja, das klingt jedoch spannender, als es ist. Ich arbeite dort im Schneideraum. Das macht Spaß, aber eine Berühmtheit bin ich nicht!“

„Das macht ja nichts“, sagte Sadie augenzwinkernd.

„Finde ich auch, aber die meisten Leute, denen ich das erzähle, verbinden immer jede Menge Glamour mit dem Fernsehen.“

„Wunschdenken“, sagte Sadie grinsend.

„Wahrscheinlich.“ Tammy zögerte für einen Moment, aber dann sprach sie es doch aus. „Als ich erfuhr, wer Matts neue Freundin ist, musste ich daran denken, dass ich dein Bild zuerst im Schneideraum gesehen habe. Das war schon irgendwie absurd. Und niemand hat herausgefunden, in welcher Beziehung du zu Foster standest?“

Sadie schüttelte den Kopf. „Zum Glück nicht. Ich befürchte immer, dass das noch kommt ... aber zum Glück tut es das nicht.“

„Ja, das stimmt. Wirklich eine verrückte Sache.“

„Da sagst du was.“ Sadie lächelte verlegen.

„Also ich kann dir versichern, Sadie ist nicht verrückt“, mischte Tessa sich von der Seite ein. „Ich kenne sie schon ewig und sie ist ein echter Goldschatz!“

„Besten Dank“, sagte Sadie grinsend. Ihre beste Freundin war wie immer unmöglich. „Erzähl du mal lieber von deiner neuen Freundin.“

„Du stehst auf Frauen?“, fragte Tammy. „Cool.“

„Cool?“, wiederholte Tessa. „Das hat auch noch keiner gesagt.“

„Ich finde das cool. Bei Frauen weiß man doch viel eher, woran man ist.“

„Nur weil du kein Händchen für Männer hast“, ärgerte Matt sie von der Seite.

„Komm du mal nach New York und guck dir die Kerle an! Die sind nicht wie hier“, beschwerte Tammy sich.

„Wo wohnst du in New York?“, fragte Tessa.

„Ich bin in einer WG in Brooklyn. Ist ganz nett. Für immer will ich dort nicht bleiben, aber im Moment macht es Spaß.“

„New York ist doch cool! Ich meine – Waterford.“ Tessa lachte. „Aber zum Sommersemester werde ich noch Informatik studieren, dann komme ich hier raus.“

„Lenk nicht vom Thema ab“, sagte Sadie streng. „Was ist mit Sylvie?“

Grinsend sagte Tessa: „Die habe ich vor zwei Wochen auf einer Queer-Party in San Francisco kennengelernt. Es gibt da eine Ebene, auf der wir perfekt harmonieren ...“

„Ich kann es mir denken“, sagte Sadie amüsiert. „Hast du ein Foto?“

Tessa nickte und nahm ein Foto aus ihrem Portemonnaie. Es zeigte eine junge Frau etwa in ihrem Alter mit langen braunen Haaren. Sie war sehr hübsch.

„Hoffentlich ergibt sich eine Gelegenheit für mich, sie kennenzulernen“, sagte Sadie.

„Ach, bestimmt. Es läuft gerade super bei uns!“

Während des Essens unterhielten sich alle angeregt miteinander. Sadie fand es toll, zu sehen, dass all die Menschen, die ihr wichtig waren, an einem Tisch saßen. Die Stimmung war super, Matts Familie fühlte sich willkommen und Norman hatte ein wenig Ablenkung und Beschäftigung.

Aber Fanny fehlte. Sadie konnte auf ihr Foto schauen, das ihr genau gegenüber auf dem Kaminsims stand. Es war ein schwacher Trost für sie, zu wissen, dass Fannys Mörder ebenfalls tot war. Ihr Tod war trotzdem vollkommen sinnlos gewesen.

Norman hielt sich darüber ziemlich bedeckt, aber Sadie wusste, dass es ihm etwas ausmachte. Das hörte sie an seiner Stimme, wenn sie mit ihm telefonierte, und sie sah es ihm an, wenn sie ihm gegenüberstand. So gut kannte sie ihn nach all den Jahren.

Aber Fannys Tod lag, genau wie Bens Geburt, auch erst etwa zwei Monate zurück. Dasselbe galt für Ricks Tod. Sadie wusste, dass er anonym auf einem Friedhof in Oregon bestattet worden war. Sie wusste jedoch nicht, wo, und sie wollte es auch gar nicht wissen. Inzwischen konnte sie zwar wieder ohne Krücken laufen, aber sie musste regelmäßig gymnastische Übungen machen und ging auch noch zur Physiotherapie, damit ihr Bein wieder ganz in Ordnung kam. Allein das erinnerte sie an die Entführung durch ihren Vater – an die vielen Stunden voller Angst, in denen sie ihm ausgeliefert gewesen war, und an die Schmerzen, die er ihr zugefügt hatte. Nicht nur durch den Schuss in ihren Oberschenkel, sondern auch durch alles andere, was er getan hatte.

Entschlossen verbannte sie diese Gedanken aus ihrem Kopf und konzentrierte sich auf den Nachtisch, den Norman und Sandra aus der Küche geholt hatten. Sie hatten viel von dem Truthahn geschafft, aber den Nachtisch ließ sich auch niemand nehmen. Besonders die zuckersüchtige Tessa griff begeistert zu.

„Wie kannst du so viel Süßkram verputzen und trotzdem so dünn sein?“, fragte Sandra. „Seit der Geburt würde ich mir wünschen, endlich wieder abzunehmen!“

„Kommt noch“, versuchte Norman, seiner Schwiegertochter Mut zu machen.

„Wollt ihr eigentlich Kinder?,“ fragte Tammy an ihren Bruder und Sadie gewandt. Überrascht blickten die beiden einander an und suchten nach Worten.

„Keine Ahnung“, sagte Matt, der sich zuerst gesammelt hatte. „Darüber haben wir noch gar nicht gesprochen.“

„Nein“, stimmte Sadie zu, um auch etwas zu sagen. Dabei wusste sie gar nicht, was sie antworten sollte. Sie hatte nicht oft darüber nachgedacht, ob sie sich eine Familie wünschte. Bis sie Matt getroffen hatte, hatte sie ja nicht mal einen Freund gehabt.

Aber wenn sie ehrlich war, war Familie etwas, was sie mit Schmerz verband. Sie hatte ihre Mutter und ihre Geschwister geliebt, aber sie hatte sie auch verloren. In der Familie hatte sie Gewalt, Angst und Missbrauch kennengelernt. Bislang hatte ihr immer das Bedürfnis gefehlt, selbst eine Familie gründen zu wollen. Sie ertrug ja schon den Gedanken daran nicht, Matt vielleicht einmal zu verlieren. Wie sollte das erst mit Kindern sein?

„Im Moment kommt das sowieso nicht in Frage“, sagte Matt, dem Sadies Schweigsamkeit nicht entging. „Ich habe gerade mit der Academy angefangen und weiß noch gar nicht, wo ich danach lande. Und Sadie ist ja auch noch nicht lang beim FBI.“

„Ach, und dabei hätte ich doch auch so gern einen niedlichen kleinen Neffen wie Ben da drüben ...“ seufzte Tammy.

„Da hätte ich einen Vorschlag für dich“, sagte Matt grinsend. „Du suchst dir einfach einen Kerl und machst selbst ein Kind!“

„Danke, lieber Bruder.“ Tammy grinste ihn breit an und versuchte, sich nicht ärgern zu lassen. In diesem Moment begann Ben, zu plärren. Er hatte die Windel voll, deshalb ging Gary mit ihm nach oben ins Bad. In der Zwischenzeit räumten die anderen den Tisch ab. Sadie brachte einige Schälchen in die Küche, aber dann ergriff sie plötzlich die Flucht auf die Terrasse.

Es war kühl und wolkenlos. Inzwischen war es schon spät und der Mond stand am Himmel. Sadie sog die kalte Luft tief in ihre Lunge und schloss die Augen.

„Hier bist du“, riss Tessas Stimme sie aus ihren Gedanken. Schlagartig fuhr sie herum.

„Tessa“, entfuhr es ihr.

„Ja, das bin nur ich.“ Tessa stellte sich neben Sadie und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das war vorhin die falsche Frage, oder?“

„Was meinst du?“

„Ob ihr Kinder wollt.“

„Ach, Tammy wollte nur plaudern“, winkte Sadie ab.

„Schon klar. Aber du willst gar nicht, oder?“

Die Blicke der beiden trafen sich.

„Wie kommst du darauf?“, fragte Sadie.

„Wie lang kenne ich dich jetzt? Du liebst die Verbrecherjagd. Matt liebst du auch, das weiß ich ... aber ich sehe dich nicht mit einem Kind zu Hause sitzen.“

„Ich mich auch nicht“, murmelte Sadie leise. „Aber der Grund ist ein anderer.“

„Welcher denn?“

„Meine eigene Familie ist tot ... selbst die Mutter meiner neuen Familie ist tot. Familie ist etwas, das mir bislang nur wehgetan hat.“

„Kann ich verstehen“, murmelte Tessa.

„Ich habe noch gar nicht darüber nachgedacht, seit ich mit Matt zusammen bin. Im Moment reicht es mir, ihn zu haben.“

„Das glaube ich dir. Vor allem jetzt, oder?“

Sadie nickte nur. Sie lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ist denn alles okay?“, fragte Tessa.

„Denke schon“, sagte Sadie.

„Was soll das denn heißen?“

Sadie zuckte mit den Schultern. „Es ist alles okay.“

„Gut ... also wenn dem mal nicht so ist und du reden willst – ich bin hier. Du hast meine Nummer.“

„Ich weiß“, sagte Sadie. Sie wusste dieses Angebot zu schätzen, aber sie wollte jetzt nicht über ihren Vater reden. Nicht schon wieder.

„Was macht ihr denn hier?“, schreckte Matt die beiden auf.

„Frauenkram“, erwiderte Tessa knapp.

„Störe ich?“

„Nein“, sagte Sadie. Als er vor ihr stand, floh sie sich in seine Umarmung und drückte den Kopf an seine Brust.

„Immer diese Heteros“, stichelte Tessa.

„Was soll das denn heißen?“, fragte Matt und lachte.

„Sie will uns nur ärgern“, sagte Sadie.

„Klar“, sagte Tessa. „Na, ich gehe dann mal rein.“

„Bis gleich“, sagte Sadie. Matt wiegte sie in den Armen und küsste sie auf die Stirn.

„Alles in Ordnung?“, fragte er.

„Ja“, behauptete Sadie. „Mir war nur nach frischer Luft. Die Luft drinnen ist ja zum Schneiden.“

„Das stimmt. Was denkst du über meine Familie?“

„Sie sind toll“, sagte Sadie mit einem Lächeln. „Dein Dad ist sowieso super und Tammy ist richtig nett.“

„Das freut mich. Komm, gehen wir wieder rein.“

Sadie nickte, auch wenn sie sich kaum von ihm lösen wollte. Sie liebte es, ihm ganz nah zu sein. Seine muskulösen Arme versprachen Schutz und Geborgenheit. Und er roch so gut ...

Als sie wieder ins Wohnzimmer kamen, stand Gary gerade mit seinem Sohn auf dem Arm mitten im Raum.

„Willst du ihn mal halten?“, fragte er Sadie. Sie nickte, denn gegen ihren Neffen hatte sie absolut nichts einzuwenden. Sie nahm den Kleinen auf den Arm, der aber zu allem Überfluss sofort wieder anfing, zu weinen.

„Ach, das tut er im Moment ständig“, sagte Gary unbeeindruckt und nahm seinen Sohn zurück. Er plärrte jedoch fröhlich weiter und beruhigte sich erst auf dem Arm seiner Mutter wieder.

„Wann wollt ihr denn eigentlich heiraten?“, erkundigte sich Mr. Whitman. „Gibt es da schon Pläne?“

Sein Sohn schüttelte den Kopf. „Bisher noch nicht. Irgendwann nächstes Jahr vielleicht.“

„Ich freue mich schon. Du hast dir ein nettes Mädchen ausgesucht“, sagte Mr. Whitman und zwinkerte Sadie freundlich zu. Sofort lächelte sie und freute sich, dass ihr zukünftiger Schwiegervater sie so schätzte.

Nachdem alles aufgeräumt war, versammelten sich alle auf dem Sofa. Es wurde eng, aber es funktionierte. Ben hatte sich inzwischen beruhigt und war wieder eingeschlafen. Norman und Matts Vater waren in ein Gespräch verwickelt, Gary plauderte mit Phil, Tessa und Tammy unterhielten sich mit Sadie und Matt.

In diesem Moment fühlte Sadie sich wieder ganz ruhig. Sie war zu Hause, bei ihrer Familie, sicher und geborgen. Norman hatte das Haus schon weihnachtlich dekoriert, so dass es auch schon Weihnachten hätte sein können. Sadie hatte Thanksgiving immer gemocht und sie war froh, dass die Academy über die Feiertage schloss, so dass sie mit Matt nach Hause geflogen war.

„Hattest du jemals einen Freund?“, fragte Tammy an Tessa gerichtet.

„Nicht wirklich“, sagte Tessa. „Ich habe mal versucht, mit einem Jungen zu knutschen, aber das war nicht mein Fall. Ich stand nie wirklich auf Typen. Mädels sind mein Ding!“

„Kann ich verstehen“, sagte Matt augenzwinkernd.

„Ja, schon klar.“ Tessa streckte ihm die Zunge heraus.

„Und wie ist Sylvie so?“, fragte Sadie.

„Sie ist Kindergärtnerin. Das ist ziemlich cool. Sie wohnt in Livermore und wir besuchen uns jetzt, wann immer es geht. Sie hat übrigens auch Katzen, Sadie. Ihr würdet euch verstehen!“

Sadie lächelte. Das konnte sie sich vorstellen. Allerdings würde es wahrscheinlich noch eine Weile dauern, bis sie Sylvie wirklich kennenlernen konnte.

Als Gary und Sandra sich mit ihrem Sohn auf den Heimweg machten, brachen auch die anderen nach und nach auf. Irgendwann waren nur noch Norman, Matt und Sadie übrig. Sie räumten noch ein wenig auf, aber dann beschlossen auch sie, ins Bett zu gehen.

„Das war sehr schön“, sagte Norman oben im Flur. „Genau so hatte ich mir das gewünscht. Bunt und gesellig.“

„Dass Tessa dir nicht zu schrill ist“, sagte Sadie.

„Ach was, ich kenne sie doch schon ewig. Sie ist in Ordnung. So, gute Nacht, ihr beiden!“

Norman wandte sich ab und ging in sein Schlafzimmer. Sadie blickte ihm hinterher und folgte dann Matt in den Nachbarraum, den Norman als Gästezimmer hergerichtet hatte. Er musste sich allein in dem großen Haus fühlen, dachte sie.

Matt ließ sich aufs Bett fallen und stöhnte. „Ich habe mich vollkommen überfressen.“

„Das glaube ich dir“, sagte Sadie und setzte sich neben ihn auf die Bettkante. Matt richtete sich auf und legte einen Arm um sie.

„Da hat Tammy vorhin ja die richtige Frage gestellt“, sagte er.

„Wegen Kindern?“

Er nickte. „Willst du Kinder?“

Sadie zuckte mit den Schultern. „Das ist die falsche Frage, weißt du ...“

„Ich habe darauf auch keine eindeutige Antwort. Ich weiß es nicht. Es ist nicht, dass ich Kinder nicht mag. Aber eigene?“

Sadie hätte ihm gar nicht sagen können, welcher Stein ihr angesichts dieser Worte vom Herzen fiel.

„Und du willst gar keine eigene Familie?“, fragte er.

„Ich weiß nicht. Irgendwie wollte ich das nie so recht. Im Augenblick reicht es mir, dich zu haben“, gab sie zu.

Matt lächelte und küsste sie zärtlich. „Wir müssen das ja auch nicht überstürzen.“

„Danke“, sagte Sadie erleichtert. Sie war immer wieder so froh, dass sie ihn hatte und blieb noch eine ganze Weile einfach bei ihm sitzen.

Allmählich entschlossen sie sich doch, ins Bad zu gehen. Gemeinsam putzten sie die Zähne, dann zog Sadie ihren Schlafanzug an. Matt hatte ihn ihr zum Geburtstag geschenkt – weicher Stoff und ein hübscher Schnitt. Es war ein neues und ungewohntes Gefühl für sie, von einem Mann angesehen zu werden und sich hübsch für ihn zu machen. Zwar gewöhnte sie sich allmählich daran, aber in diesem Moment hätte sie sich am liebsten in irgendeiner Ecke verkrochen. Sie bemühte sich, es sich nicht anmerken zu lassen, denn für ihr Befinden konnte Matt schließlich nichts. Er machte ja nichts falsch.

Schließlich lagen sie zusammen im Bett. Sadie lag auf der Seite und Matt hatte sich von hinten an sie geschmiegt. Im Handumdrehen war er eingeschlafen, das konnte sie an seinen ruhigen Atemzügen merken. Einen Arm hatte er um sie geschlungen, was zwar schwer war, aber ihr auch ein wohliges Gefühl schenkte. Daran lag es jedenfalls nicht, dass sie kein Auge zumachen konnte – wie so oft in letzter Zeit.

 

Dale City, Virginia: Sonntag

 

Auf ihrem Rückflug von San Francisco nach Washington spielte ihnen die Zeitverschiebung nicht in die Hände. Es war schon später Nachmittag, als sie in ihrem Apartment in Dale City eintrafen, wo zwei maunzende Katzen sie erwarteten. Inzwischen hatten Mittens und Figaro sich in ihrem neuen Zuhause eingelebt, auch wenn sie dort in der Wohnung bleiben mussten. Allerdings war die Wohnung inzwischen endlich eingerichtet. Sie hatten Möbel und die waren auch schon eingeräumt. Ihre Verletzungen hatten Matt und Sadie zwar beim Aufbauen und Einräumen ziemlich behindert, aber durch ihre Krankschreibung hatten sie immerhin genug Zeit gehabt, sich um alles zu kümmern.

So richtig zuhause fühlte Sadie sich in dem Apartment jedoch noch nicht. Während Matt im Schlafzimmer seine Tasche auspackte, setzte Sadie sich mit den Katzen aufs Sofa und kraulte die beiden. Sie beobachtete Matt, als er in die Küche ging.

„Hast du Hunger?“, rief er über seine Schulter zurück.

„Schon“, erwiderte Sadie. Also stellte Matt kurzerhand eine Tiefkühllasagne in den Ofen und ging wieder ins Schlafzimmer, um neue Sachen in seine Tasche zu packen. Er wollte noch an diesem Abend zurück nach Quantico; das wurde von den Rekruten an der Academy erwartet. Während der Ausbildung lebte man dort, das war Sadie auch nicht anders gegangen. Allerdings hatte es ihr damals nichts ausgemacht. Nun jedoch graute es ihr schon wieder davor, abends allein mit den Katzen in der gemeinsamen Wohnung zu sitzen. Matt hatte die Ausbildung ja gerade erst begonnen und so würde er noch mehr als drei Monate weg sein.

Sadie fand es erstaunlich, wie sehr sie sich bereits daran gewöhnt hatte, mit ihm zusammenzuleben. Manchmal machte es ihr Angst, wie sehr sie an Matt hing und dass sie am liebsten jede Minute ihres Lebens mit ihm verbracht hätte. Nie zuvor hatte sie einen anderen Menschen so nah an sich herangelassen. Sie hatte aber auch nie zuvor das Gefühl gehabt, jemandem so sehr vertrauen zu können.

Mittens sprang vom Sofa und lief in die Küche zum Napf, um dort lautstark kundzutun, dass sie ebenfalls Hunger hatte. Während Sadie ihr folgte, um ihr Futter in den Napf zu geben, trottete Figaro gemütlich hinterher. Er hatte es selten eilig. Seufzend beobachtete Sadie die beiden beim Fressen und war froh, dass sie die Tiere bei sich hatte. Sie hatte sich so sehr an die beiden gewöhnt, als sie noch allein gelebt hatte und die Anwesenheit der Katzen sorgte schon immer dafür, dass sie sich nicht so einsam fühlte.

Gemeinsam mit Matt räumte sie ein wenig auf, bis sie ebenfalls essen konnten. Matt spähte derweil auf die Uhr.

„Ich denke, es sollte reichen, wenn wir so gegen neun losfahren“, sagte er.

„Ich hasse es, dass du schon wieder gehen musst“, murmelte Sadie.

„Ich weiß. Aber es sind doch nur ein paar Wochen, dann ist die Ausbildung vorbei und alles ist wieder wie immer.“

„Und mit Pech wirst du versetzt.“

Er zuckte mit den Schultern. „Hoffentlich nicht, ich habe auch keine Lust, schon wieder umzuziehen. Aber könntest du mitkommen? Würdest du das wollen?“

Sadie zuckte mit den Schultern. „Profiler werden ja überall gebraucht ... aber eigentlich mag ich es hier gerade.“

„Na ja, eine etwas größere Wohnung wäre schon gut gewesen. Und eine ruhige Lage mit Garten für die Katzen. Ich sehe das hier nur als vorübergehende Lösung.“

Da musste Sadie ihm eigentlich zustimmen, aber etwas Ruhe und Beständigkeit wären ihr in diesem Moment wirklich recht gewesen. Und eigentlich wollten sie ja auch heiraten ... Das war im Moment wirklich kein Thema. Dafür hatte Matt keine Gelegenheit. Wenn sie ihn in ein paar Stunden nach Quantico brachte, würde sie ihn erst einmal auf unbestimmte Zeit nicht wiedersehen.

„Was ist los?“, fragte er. „Du wirkst so traurig.“

Sadie seufzte. „Ich dachte nur gerade daran, dass du gleich wieder weg bist und ich gar nicht weiß, wann ich dich wiedersehe.“

„Ich bin doch nicht aus der Welt, Süße. Ganz im Gegenteil, ich bin ganz in deiner Nähe! Ich werde dir schreiben und dich anrufen und sobald man uns rauslässt, bin ich wieder bei dir“, sagte er.

„Ich weiß ... da müssen wir jetzt wohl durch.“

Matt griff nach ihrer Hand und drückte sie liebevoll. „Das schaffen wir schon. Allerdings bin ich froh, dass du weißt, was mich da jetzt erwartet. Dadurch verstehst du es ja besser.“

„Das stimmt“, sagte Sadie. Bald hatten sie das Essen bis auf den letzten Krümel verputzt. Während Matt in der Küche aufräumte, schlang Sadie von hinten die Arme um ihn und drückte ihn fest an sich. Lächelnd hielt er inne und drehte sich zu ihr um. Er küsste sie aufs Haar, auf die Stirn und versank schließlich in einem zärtlichen Kuss mit ihr.

„Jetzt will ich auch nicht mehr weg“, murmelte er. „Das hast du ja gut hinbekommen!“

Sadie steckte ihre Hände unter seinen Pullover. Er verstand die Einladung und tat es ihr gleich. Unter Küssen zog er ihr den Pullover aus und fuhr fort, sie am Hals und weiter abwärts zu küssen. Sadie schloss die Augen und genoss jede seiner Berührungen.

„Ich weiß, was wir jetzt machen sollten“, sagte er grinsend. „Wer weiß, wann wir das nächste Mal dazu kommen?“

Das ließ Sadie sich auch nicht zweimal sagen. Augenblicke später lagen sie im Schlafzimmer auf dem Bett und Matt gab der Tür einen Stoß, um die Katzen auszusperren. Die beiden wollte er gerade nicht sehen.

Sadie lag rücklings auf dem Bett und Matt beugte sich über sie. In einer liebevollen Bewegung strich er ihr Haar aus der Stirn und ließ seine Hand über ihren Körper wandern. Als er seinen Pullover auszog, sah Sadie sich außerstande, noch die Finger von ihm zu lassen. Sein muskulöser Körperbau machte sie schwach. Als sie seine Schulter berührte, hielt sie inne. Anders als sie seinerzeit hatte er einen Durchschuss gehabt, der gut verheilte. Trotzdem musste sie bei dieser Verletzung immer daran denken, wer sie ihm beigebracht hatte.

Matt spürte genau, woran sie dachte, ging aber nicht darauf ein. Er versuchte, sie abzulenken, indem er sich an ihrer Hose zu schaffen machte und sie ihr ganz langsam auszog.

„Du bist wunderschön“, sagte er, als sie schließlich nur noch in Unterwäsche neben ihm lag. Sie lächelte gerührt, denn solche Komplimente konnte sie gar nicht oft genug hören.

„Ich liebe dich“, sagte sie leise. Matt erwiderte diese Worte und begann, sie sanft durch die Unterwäsche zu streicheln. Sadie schloss die Augen und gab sich seinen Zärtlichkeiten vollkommen hin. Er wusste genau, was ihr gefiel. Seine Erfahrung hatte es ihr erleichtert, das überhaupt selbst einmal herauszufinden. Es war ihr nie schwergefallen, Matt zu vertrauen und sich mit ihm auf Entdeckungsreise zu begeben.

Langsam zog er ihr den BH aus. Als sie seine Hände auf der bloßen Haut spürte, entrang sich ihr ein leiser Seufzer. Matt wertete es als Ansporn und liebkoste ihre Brüste mit den Lippen. Sadie krallte sich an seinen Haaren fest und hielt die Luft an. Gleichzeitig ließ er eine Hand unter ihrem Slip verschwinden und streichelte sie im Schoß.

Sie glaubte, wahnsinnig werden zu müssen. Mit zitternden Fingern machte sie sich an seiner Hose zu schaffen und wollte ihm etwas von den Zärtlichkeiten zurückgeben, die er ihr zuteil werden ließ, aber er hielt ihre Hand sanft fest.

„Genieße es doch einfach“, sagte er und küsste sie. Er zog ihr den Slip aus und fuhr unbeeindruckt fort, sie zu liebkosen. Sadie krallte sich in der Decke fest und schnappte nach Luft. Es bereitete ihm gar keine Mühe, sie in Ekstase zu versetzen.

„Du bist so gemein“, sagte sie leise.

„Das gehört dazu“, sagte er.

„Matt ...“

„Was denn?“

„Komm schon.“

„Du bist aber ungeduldig“, sagte er und grinste. Er drückte ihre Beine auseinander und legte sich über sie, aber weiter tat er nichts. Gequält sah sie ihn an und brachte ihn damit zum Lachen.

„Sei nicht so gierig“, sagte er und schlang seine Finger um ihre. Er schenkte ihr einen tiefen Kuss und wurde dann doch endlich eins mit ihr. Sadie vergaß kurz, zu atmen und bäumte sich unter ihm auf. Das war der schönste Ansporn für ihn. Sie hatte die Beine um seine geschlungen und gab sich ganz dem intensiven Gefühl von Wärme hin, das sie überkam. Sie liebte es, ihn ganz dicht an sich zu fühlen und seine Wärme zu spüren. Genau das brauchte sie in diesem Moment.

Matt konzentrierte sich darauf, sie um den Verstand zu bringen. Er streichelte und liebkoste sie zärtlich und beobachtete, wie sie zunehmend die Kontrolle verlor, bis sie schließlich mit einem erstickten Schrei unter ihm erstarrte und ihn keuchend an sich drückte. Er ließ sich einfach mitreißen, küsste sie und sank zitternd neben sie. Er schaffte es gerade noch, die Decke halb über sie beide zu breiten, bevor er das Gefühl hatte, sich nicht mehr rühren zu können. Keuchend schmiegte er sich an Sadies Schultern und vergrub die Nase in ihrem wunderbar duftenden Haar. Sadie legte sich auf die Seite und schlang einen Arm um ihn. Am liebsten hätte sie ihn nie wieder losgelassen. Sie spürte seinen beschleunigten Herzschlag und beobachtete, wie sich seine Brust unter schnellen Atemzügen hob und senkte.

In diesem Moment fühlte sie sich endlich wieder richtig lebendig, aber Matt anzusehen, zerriss ihr fast das Herz. Im Augenwinkel sah sie immer noch seine Schusswunde. Es hatte sich in ihre Erinnerung eingebrannt, ihn in Handschellen und mit der blutigen Schulter zu sehen. Das Wissen, dass sie ihn nur ganz instinktiv davor bewahrt hatte, dass ihr Vater ihn doch noch erschoß, nagte an ihr. Niemand durfte ihr Matt wegnehmen.

Augenblicke später bemerkte sie, dass Matt eingeschlafen war. Lächelnd beobachtete sie, wie er friedlich dalag und schlief. Sie selbst hatte auch keine große Lust, sich zu bewegen. Allerdings war sie in diesem Moment auch ganz ruhig und zufrieden. Das war ein perfekter Moment.

Nein, etwas anderes als das wollte sie gar nicht. Nichts trieb sie dazu, eine eigene Familie haben zu wollen. Nicht noch mehr, was man verlieren konnte. In ihrem Leben hatte sie genug verloren.

Instinktiv krallte sie ihre Finger in Matts Oberarm, aber das merkte er nicht. In ihren Augen brannten Tränen, als sie ihn ansah. Sie fühlte sich wie ein verliebter Teenager, der sich nicht einen einzigen Moment lang von seiner ersten Flamme trennen wollte. So ähnlich war es ja auch fast, wenn man davon absah, dass sie zehn Jahre zu alt dafür war.

Seine kurzen Bartstoppeln verleiteten sie geradezu, sie zu streicheln, aber damit hätte sie ihn nur geweckt und das wollte sie nicht. Sie wollte, dass er einfach nur dalag, damit sie ihn ansehen konnte.

Bis sie ihn getroffen hatte, hatte sie sich nie viel aus Männern gemacht und sie hatte sich auch nicht wirklich nach Liebe oder Sex gesehnt. Beim Gedanken daran hatte sie zu oft an ihren Vater denken müssen, der das alles pervertiert und Frauen entführt hatte, um sie zu foltern und zu vergewaltigen. Dieses Wissen hatte sie ihr Leben lang mit sich herumgeschleppt. Erst später war ihr klar geworden, was das eigentlich bedeutete, aber das hatte es fast noch schlimmer gemacht.

War ihr Leben je normal verlaufen?

Sie hatte keine Gelegenheit, weiter darüber nachzudenken, denn der Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es langsam Zeit war. Sie weckte Matt, der sie selig ansah und noch schnell unter die Dusche sprang, bevor er sich seine Tasche schnappte und sie sich in seinen Challenger setzten, um nach Quantico zu fahren. Sadie mochte seinen Wagen und war schon ein paar Mal mit ihm gefahren, deshalb traute sie sich zu, den Wagen wieder nach Hause zu bringen. Auf dem Hinweg fuhr Matt jedoch. Das Radio spielte leise, auf der Interstate war um diese Zeit nichts los. So brachten sie den Weg nach Quantico für Sadies Geschmack viel zu schnell hinter sich.

Vor den Unterkünften der Academy parkte Matt und stellte den Motor ab. Sie stiegen beide aus und Matt stellte seine Tasche noch einmal ab, bevor er Sadie umarmte und ihr einen liebevollen Kuss schenkte.

„Ich werde dir schreiben“, versprach er noch einmal und klopfte auf seine Hosentasche, in der er sein Handy verstaut hatte.

„Du wirst mir fehlen“, murmelte Sadie. Fast hätte sie ihm gesagt, dass er alles für sie war, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass ihn das nur unter Druck setzen würde.

„Gute Heimfahrt“, sagte Matt, während er nur noch ihre Hand festhielt.

„Du schaffst das schon, das weiß ich.“ Sadie hob einen Daumen und lächelte.

„Na klar, und dann sind wir bald beide beim FBI.“ Er küsste sie noch einmal. „Ich liebe dich, Sadie Scott.“

Ihr Herz machte einen Sprung. „Ich liebe dich auch“, sagte sie.

Matt wandte sich ab, griff nach seiner Tasche und ging hinüber zum Gebäude. Sehnsüchtig blickte Sadie ihm hinterher. Er drehte sich noch einmal um, bevor er in der Tür verschwand, aber das machte es nicht besser für sie. Mit Tränen in den Augen starrte sie zur Tür hinüber, aber Matt war schon verschwunden.

Nur langsam setzte sie sich ins Auto und startete den Motor. Alles roch nach Matt. Das war sein Auto, aber jetzt war er weg. Es war die Hölle für Sadie, aber sie konnte und wollte ihm das nicht nehmen. Er hatte doch immer so gern zum FBI gewollt. Und jetzt hatte er es fast geschafft ...

Sie löste die Handbremse und rollte langsam vom Parkplatz. Verbissen kämpfte sie die Tränen zurück, denn jetzt musste sie fahren.

Im Radio lief ein Song von Monster Magnet, die Matt sehr gern hörte. Trotzig drehte Sadie das Radio lauter und konzentrierte sich auf das Lied. Auf der Interstate angekommen, trat sie das Gaspedal bis zur erlaubten Höchstgeschwindigkeit durch und lauschte auf das Röhren der V8-Maschine unter der Motorhaube. Das tat jetzt gut.

Well I’ve wasted enough time on the edge of forever, dröhnte Dave Wyndorf ins Mikrofon. Sadie trommelte auf dem Lenkrad herum und sang mit. „And I’ve paid all the goddamn dues that I wanna pay ...“

Interessanter Zufall, dachte sie stumm und sang weiter mit. Sie wusste nicht, ob sie gut singen konnte, aber im Auto war ihr das egal.

Trotzdem hatte sie es bis zu Hause nicht geschafft, das Gefühl von Einsamkeit abzulegen. Sie betrat das Apartment, aber die Katzen kümmerten sich nicht um sie. Figaro und Mittens hatten sich aufs Sofa gelegt; einer links und einer rechts. Sadie setzte sich in die Mitte dazwischen und betrachtete ihre beiden Katzen, die so taten, als würden sie schlafen.

„Jetzt sind wir wieder allein“, murmelte sie und kraulte Figaro. Der Kater begann zu schnurren. Sadie schaltete den Fernseher ein, aber es kam nichts, was sie ablenkte. Außerdem war sie müde, deshalb beschloss sie zeitig, ins Bett zu gehen.

Als sie allein im Bad stand und sich die Zähne putzte, betrachtete sie sich missgelaunt im Spiegel. Das gefiel ihr gar nicht. Sie wollte nicht allein sein. Sie wollte nicht ohne Matt sein.

Aber er war fort. Im Bett wurde ihr das geradezu schmerzhaft bewusst. Die Decken und Laken waren zerwühlt, aber sie legte sich ganz allein hinein und seufzte.

„Mau“, machte es in der Tür. Figaro hatte einen untrüglichen Instinkt dafür, wann Sadie Zuspruch brauchte, und sprang mit einem Satz aufs Bett. Sadie breitete einladend den Arm aus und tatsächlich schmiegte sich der Kater an ihre Seite. Gerührt lächelte sie und kraulte den schnurrenden Haufen Fell.

Aber Figaro täuschte auch nicht darüber hinweg, dass Matt nicht dort war. Und dass es dunkel war. Sadie hatte bewusst die Tür offengelassen, so dass ein wenig Licht aus dem Flur ins Schlafzimmer drang. Vollständige Dunkelheit hätte sie nicht ertragen. Nicht, nachdem ihr Vater sie in dieses Loch gesperrt hatte.

 

 

 

 

Montag

 

„Mein eigen Fleisch und Blut ist so eine hübsche Frau geworden. So verlockend ...“

Sie wimmerte erstickt und schloss die Augen, aber die Tränen kamen trotzdem. Ihr war nach Schreien zumute, aber sie konnte ja nicht. Am liebsten hätte sie gebettelt und ihn angefleht, aber auch das konnte sie nicht.

Er drückte ihr das Messer immer fester an die Kehle. Sie wagte kaum zu atmen. Als sie spürte, wie er sie anfasste, schluchzte sie erstickt und ballte die gefesselten Hände zu Fäusten.

Er war ihr Vater. Das konnte er nicht machen. Das war völlig verrückt ...

Aber er machte es. Er zerrte ihr den letzten Fetzen Kleidung vom Leib, bis sie splitternackt war, und warf sie bäuchlings auf den Boden. Sie versuchte, sich umzudrehen, aber sie schaffte es nicht. Er hielt sie davon ab.

„Folter ist Lust, verstehst du, Kim?“

Sie schrie, aber geknebelt waren das nicht mehr als ein paar hoffnungslose Laute. Sie lag gleich neben der geöffneten Falltür, die tief und schwarz neben ihr aufklaffte.

Wenn er fertig war, warf er sie dort wieder hinein ...

„Du wirst deinen Matt nie wiedersehen. Jetzt hast du ja mich ...“

Sadie zappelte und protestierte wie wild, aber es half nicht. Der Schmerz kam trotzdem.

Schweißgebadet riss sie die Augen auf. Fast hätte sie um sich geschlagen. Mit gesträubtem Fell stand Figaro neben ihr auf dem Bett und starrte sie an. Er machte einen Buckel, aber als er merkte, dass alles in Ordnung war, legte er sich wieder neben sie und leckte seine Pfoten.

Langsam setzte Sadie sich aufrecht. Nicht schon wieder. Sie hatte gehofft, dass sie endlich nachts ihren Frieden haben würde. Viel zu oft suchten diese Bilder sie nachts im Traum heim. Und wenn es nicht das war, dann sah sie sich in einem finsteren Loch, in absoluter Dunkelheit. Ein Loch, in dem das Einzige, was sie sehen konnte, die bösen Augen ihres Vaters waren.

Sie wusste nicht, was sie schlimmer fand – das Loch oder die Träume, in denen er sie vergewaltigte. Seine eigene Tochter. Zitternd warf Sadie die Decke zurück, streifte auf dem Weg zum Bad ihre Kleidung ab und stellte sich, ohne zu zögern, unter die Dusche. Das Wasser, das auf ihren Körper prasselte, war anfangs eiskalt, aber das war ihr egal. Allmählich wurde es wärmer. Sie begann, ihr Haar einzuseifen und sich abzuwaschen, denn sie war am ganzen Körper schweißgebadet.

Es hörte einfach nicht auf. Sie hatte schon nachts um sich geschlagen, so dass sogar Matt davon aufgeschreckt worden war. Sie hatte ihn nicht getroffen, aber es hatte ihn überrascht. Oder auch nicht, denn dass sie unter den Ereignissen litt, wunderte ihn nicht. Ihn wunderte nur die Vehemenz, mit dem sich die Erinnerung Aufmerksamkeit verschaffte. Tagsüber versuchte Sadie ja, nicht daran zu denken oder es zumindest zu verstecken.

Aber es war immer noch da. Ihr Vater war tot und endlich aus ihrem Leben verschwunden – aber es war noch da.

Nachdem sie sich geföhnt und angezogen hatte, gab sie den Katzen etwas zu fressen und aß selbst ein paar Cornflakes. Mehr Hunger hatte sie nicht. Aus dem Wohnzimmer plärrte der Fernseher, damit sie sich nicht so einsam in der Wohnung fühlte. Das konnte sie in diesem Moment nicht gebrauchen.

Schließlich griff sie nach ihrer Tasche und dem Autoschlüssel und verließ das Haus. Mit der Musik im Radio versuchte sie, sich während der Fahrt abzulenken, aber das gelang nur ganz langsam. Es war ihr erster Arbeitstag nach monatelanger Krankschreibung und sie wollte voll da sein. Sie wollte nicht abgelenkt sein und an ihren Vater denken. Das war vorbei.

In Quantico angekommen, stellte sie ihr Auto auf dem Parkplatz ab und ging zum Gebäude. Mit vielen Menschen, von denen sie nur die Gesichter kannte, fuhr sie nach oben. Auf dem Flur roch es vertraut, obwohl Sadie sich immer noch fremd fühlte. Sie hatte ja noch nicht viel Zeit im Gebäude des FBI Headquarters verbracht, seit sie zur BAU gehörte. Auch jetzt hatte sie wieder ihre Tasche geschultert, mit der sie jederzeit bereit war, sich auf den Weg zum nächsten Einsatz zu machen.

Sie betrat das Büro ihres Teams und spürte, wie die Unsicherheit noch wuchs, anstatt endlich nachzulassen. Ian kam ihr mit einer Kaffeetasse entgegen und hob diese zum Gruß.

„Willkommen zurück“, sagte er. Sadie lächelte ihm zu.

„Hey, da bist du ja wieder“, schreckte Cassandras Stimme sie von hinten auf. Sadie drehte sich um und lachte, als Cassandra sie impulsiv umarmte. Vorbehaltlos erwiderte sie die Umarmung und spürte, wie alle Nervosität von ihr abfiel.

„Muss ja eine Ewigkeit gewesen sein“, sagte Cassandra. „Bist du jetzt wieder fit? Wie geht es dir?“

„Es geht mir gut“, sagte Sadie. „Ich kann wieder ganz normal laufen und es gibt nichts mehr, was mich belastet.“

„Wie schön, willkommen zurück! Die anderen werden sich sicher auch freuen!“

Schon war Cassandra wieder verschwunden. Lächelnd blickte Sadie ihr hinterher und war erstaunt, Nick neben zwei fremden Frauen mit Besucherausweisen zu sehen. Sie waren gerade durch die Tür gekommen und in ein angeregtes Gespräch vertieft. Sekunden später entdeckte Nick Sadie, brachte noch seinen Satz zuende und eilte dann auf sie zu.

„Sadie“, sagte er und umarmte sie halb. „Wie schön, dass du endlich wieder da bist. Wie geht es dir?“

Sadie gab ihm eine ähnliche Antwort wie kurz zuvor Cassandra und spähte dann an ihm vorbei auf die Besucherinnen. „Wer ist das?“

„Oh, das hast du ja gar nicht mitbekommen. Das sind zwei Profilerinnen aus England, die sich mit uns auf fachlicher Ebene austauschen möchten. Ich habe sie eingeladen. Komm, ich stelle sie dir vor!“

Ohne Umschweife folgte Sadie ihm und musterte die beiden Besucherinnen neugierig. Nick blieb neben ihnen stehen und übernahm die Vorstellung.

„Meine Kollegin Sadie Scott – das ist Andrea Thornton vom britischen Profiler-Team in London. Sie gehört zum Team von Dr. Joshua Carter, der hier bei uns ausgebildet wurde“, erklärte er und deutete auf die größere der beiden Frauen. Sie trug eine schlichte Bluse, eine unauffällige Hose und ­– zu Sadies Überraschung – Turnschuhe. Ihr schulterlanges braunes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Beherzt reichte sie Sadie die Hand und schüttelte sie.

„Sehr angenehm“, sagte sie mit unüberhörbar britischem Akzent.

„Mrs. Thornton wird von ihrer Kollegin Sienna Bower begleitet. Sienna ist jetzt etwa genauso lang dabei wie du, Sadie.“

Freundlich reichte Sadie Sienna die Hand und schüttelte sie. „Freut mich, Sie kennenzulernen.“

„Mich ebenso“, erwiderte Sienna und lachte kurz. „Ich bin total nervös! Noch gar nicht lang dabei und schon stehe ich hier ...“

„Wir sind alle ganz lieb“, sagte Nick und entführte die beiden gleich wieder. Interessiert blickte Sadie ihnen hinterher. Die schlanke, goldblonde Sienna schätzte sie etwa so alt wie sich selbst, aber Andrea war bereits Mitte dreißig. Sie war gespannt darauf, die beiden näher kennenzulernen.

Bevor sie sich alle im Besprechungsraum trafen, begegnete Sadie auch schon den meisten anderen ihrer Kollegen und wurde von allen sehr herzlich begrüßt. Ihre Nervosität verlor sich langsam und sie fühlte sich wieder ganz wie zuhause.

Der Vortragsraum der BAU war erstklassig ausgestattet. Es gab einen riesigen Bildschirm, an den sich jeder erdenkliche Computer anschließen ließ. Andrea Thornton hatte eine Präsentation vorbereitet, die Dormer gerade einspielte. Kaffeeduft hing in der Luft, ein U-förmiger Tisch lief auf den Bildschirm zu. Sienna Bower hatte irgendwo an der Seite Platz genommen.

Schließlich war es soweit. Die meisten Plätze rund um den Tisch waren besetzt, Belinda schloss als Letzte die Tür hinter sich. Nick stellte sich neben Andrea, die eine ganz eigenartige, ruhige Ausstrahlung hatte, und ergriff das Wort.

„Ich freue mich sehr, unsere Kolleginnen aus London begrüßen zu dürfen. Viele von Ihnen dürften die wissenschaftlichen Arbeiten von Andrea Thornton kennen, etwa ihr Essay über Sadismus und Serienmord.“

Plötzlich fiel es Sadie wieder ein. Sie hatte den Artikel tatsächlich einmal während ihres Studiums gelesen. Dabei hatte sie unweigerlich an ihren Vater denken müssen.

„Ich bin ziemlich sicher, dass auch ihre junge Kollegin Sienna Bower noch eine große Laufbahn vor sich hat.“ Nick lächelte Sienna zu. „Der fachliche Austausch mit Kollegen auf der ganzen Welt ist uns wichtig, denn trotz unterschiedlicher Methoden erreichen Profiler weltweit dieselben beeindruckenden Ergebnisse. Mrs. Thornton wird uns heute einen ersten Überblick über die Methoden des Teams vom Londoner Birkbeck College geben und uns auch Einblick in die Fälle gewähren, die sie in ihrer Laufbahn bearbeitet hat.“

Er nickte Andrea zu, die mit einem Lächeln in die Runde blickte und zur Fernbedienung griff.

„Ich möchte mich sehr herzlich für SSA Dormers Einladung bedanken. Es hat mich immer schon gereizt, den Gründervätern des Profiling einen Besuch abzustatten, denn mein Mentor Dr. Joshua Carter hat unser Team nach Ihrem Vorbild gegründet. “

Sie wechselte zur nächsten Seite und begann damit, die Arbeitsweise ihres Teams zu beschreiben. Dabei widmete sie einem Kollegen einen besonderen Exkurs, der mit seiner Ausbildung zum Traumatherapeuten eine weltweit einzigartige Funktion ausfüllte. In keinem anderen Profiler-Team gab es jemanden, der sich neben der Profilerstellung auch explizit um die Opfer kümmerte.

„Wenn ich einhaken darf“, sagte Dormer und blickte in die Runde, „diesen Aspekt finde ich hochinteressant. Wir sollten ernsthaft diskutieren, ob jemand aus unseren Reihen ebenfalls eine entsprechende Zusatzausbildung machen möchte. Leider ist es ja immer noch so, dass die Opfer nicht die Hilfe bekommen, die ihnen zusteht. Wir gehören ja zur großen Gruppe derjenigen, die sich mehr mit den Tätern als mit den Opfern beschäftigen – von der Viktimologie mal abgesehen.“

„Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht“, sagte Andrea. „Und da will ich mich persönlich nicht ausnehmen. Dr. Weaver verfügt neben seinen Fertigkeiten als ausgebildeter Therapeut auch über einen besonderen Instinkt und ein großes Einfühlungsvermögen. Er ist ein wichtiger Bestandteil unseres Teams.“

Sadie hörte wie gebannt zu. Sie konnte sich tatsächlich gut vorstellen, dass ein Traumaexperte in der BAU Sinn machte. Aber was hatte Andrea da gerade gesagt – sie hatte seine Fähigkeiten selbst beansprucht?

Während Andrea begann, die Profilerausbildung am College zu beschreiben, verfiel Sadie ins Grübeln. Andrea Thornton, Profilerin aus England ... sie kannte den Namen von diesem wissenschaftlichen Aufsatz, aber war da noch mehr? Es wollte ihr partout nicht einfallen.

Nick diskutierte mit Andrea darüber, in welchen Punkten die britische Ausbildung sich von der unterschied, die das FBI anbot. Die Londoner Profiler bildeten wesentlich theoretischer aus und wissenschaftlicher orientiert, während das FBI eine Fortbildung für Kriminalermittler durchführte. Gemeinsam war den Teams, dass sie nur auf Anforderung hin aktiv wurden. Das handhabten die Engländer jedoch weitaus weniger strikt als die Amerikaner.

Schließlich ging Andrea auf die wissenschaftlichen Methoden und den Unterricht ein, was Dormer und seine Kollegen erneut zu lebhaften Diskussionen anregte.

„Die älteren Ausbilder hier gehen immer noch stark auf die Unterscheidung von organisiertem und unorganisiertem Täter ein“, sagte Ian. „Da sind die Briten eindeutig weiter!“

„Wir arbeiten doch gar nicht mehr danach“, sagte Dormer mit hochgezogener Augenbraue.

„Das greift auch zu kurz“, sagte Andrea. „Trotzdem stammt das meiste Datenmaterial, auf das ich mich beziehe, von Ihnen. Man kann über Robert Ressler und John Douglas denken, was man will, aber sie haben die Disziplin vorangebracht.“

„In der Tat“, stimmte Nick zu. „Ich habe aber auch mit großem Interesse Ihre Abhandlung über die dissoziative Identitätsstörung gelesen. Mit ihr haben Sie sich ja sehr eingehend beschäftigt.“

„Ja, das stimmt.“ Andrea sprang in ihrer Präsentation weiter nach hinten. „Ich kenne die Diskussionen über die dissoziative Identitätsstörung, aber wenn Sie mich fragen, gibt es das – oder zumindest ein Phänomen, das der multiplen Persönlichkeit sehr ähnlich ist. Damals in Norwich bin ich selbst jemandem begegnet, der alle entsprechenden Merkmale auf sich vereint. Eine solche Opfer-Täter-Karriere ist selten, aber bei zwei verschiedenen Persönlichkeiten ist das gleich wieder geklärt.“

„Ich habe die Abhandlung ebenfalls gelesen“, sagte Belinda. „Das war ein Ausnahmefall. Aber gibt es einen, der Sie besonders bewegt hat?“

Andrea nickte. „Ja, da fällt mir der Yorkshire Infant Ripper ein. Als ich mich das letzte Mal nach dem Täter erkundigt habe, lebte er immer noch in einem Hochsicherheitskrankenhaus. Er wird niemals ein normales Leben führen können. Soweit ich weiß, haben die Medikamente gegen die paranoide Schizophrenie bei ihm nur eine begrenzte Wirkung. Er ist ein Serienmörder und wird immer noch als gefährlich eingestuft. Mein Kollege Dr. Weaver hat das letzte Gutachten angefertigt.“

„Wirklich traurig. Seit ich hier bin, gab es keinen solchen Fall“, sagte Dormer. Während Sadie gespannt zuhörte, fühlte sie sich immer uninformierter. Es ärgerte sie, dass sie nichts vom Besuch der beiden Engländerinnen gewusst hatte, sonst hätte sie sich vorher schlau gemacht.

„Ich fand den Fall der Archer-Schwestern auch sehr beeindruckend“, sagte Belinda.

Andrea nickte langsam. „Der Fall hat mich auch sehr lang beschäftigt.“

„Ich habe mit Michelle Knight gesprochen, einem der Opfer des Cleveland-Kidnappers Ariel Castro“, sagte Dormer. „Nur kann man das nicht vergleichen. Sie war schon volljährig, als sie entführt wurde. Wie alt waren die Archer-Schwestern nochmal?“

„Neun und elf“, sagte Andrea. Aus dem Gespräch konnte Sadie erschließen, worum es höchstwahrscheinlich ging. Zwei Mädchen, die entführt und jahrelang in einem finsteren Loch gefangengehalten wurden. Da fielen ihr ähnliche Fälle wie der von Natascha Kampusch in Österreich ein.

„Ich hatte die Jüngere bei mir, Katie“, fuhr Andrea fort. „Tracy hingegen kenne ich kaum. Die beiden Schwestern sind sehr unterschiedlich, Tracy ist eine liebevolle Mutter, die bis heute nicht wissen will, welcher ihrer Entführer eigentlich der Vater ihres Sohnes ist. Sie begreift ihn tatsächlich als Geschenk. Das hatte Katie natürlich nie. Sie lebt aber heute in einer glücklichen Beziehung.“

„Und Dr. Weaver hat bei ihr nichts erreicht?“, fragte Nick überrascht.

Andrea schüttelte den Kopf. „Nein, Katie hat nur zu mir Vertrauen gefasst. Einerseits natürlich, weil ich eine Frau bin, aber andererseits habe ich aufgrund meiner eigenen Erfahrungen mit Jonathan Harold einen Zugang zu ihr gefunden, der anderen Menschen natürlich verwehrt bleibt.“

Für einen Moment vergaß Sadie, zu atmen. Plötzlich wusste sie, wer Andrea Thornton war. Der Name Jonathan Harold war das entscheidende Stichwort.

Während ihrer Ausbildung hatte Sadie den Fall des Campus Rapist von Norwich studiert, weil er noch recht aktuell gewesen war. Monatelang hatte ein Unbekannter die dortige Universität durch wiederholte Vergewaltigungen in Angst und Schrecken versetzt und schließlich begonnen, seine Opfer zu entführen und zu ermorden. Sadie hatte vergessen, wie viele Studentinnen ihm zum Opfer gefallen waren; das hatte sie sich nicht gemerkt, denn die Schilderungen seiner Taten hatten sie viel zu sehr an ihren eigenen Vater erinnert. Auch der Campus Rapist hatte seine Opfer in ein düsteres Loch gesteckt, vergewaltigt und gefoltert. Und auch er hatte es genossen, sie zu erwürgen. Ganz genau wie ihr Vater ...

Wie hypnotisiert starrte sie Andrea an. Sie war es, die den Campus Rapist damals bei einer Vergewaltigung gestört hatte. Sadie konnte sich noch an den Namen des Opfers erinnern: Caroline Lewis. Monate später hatte er erst sie und wenig später Andrea entführt, die er in der Zwischenzeit gefunden und wochenlang terrorisiert hatte. Er hatte sie zu Caroline in seinen Keller gesperrt und Caroline vor ihren Augen gefoltert und ermordet, um sie zu brechen. Es war nur ihrem damaligen Freund zu verdanken gewesen, dass die Polizei sie rechtzeitig gefunden hatte, denn er hatte Jonathan Harold gesehen und eine präzise Personenbeschreibung abgegeben.

Und jetzt stand sie drei Meter entfernt – die Frau, die einem Kerl wie Sadies eigenem Vater gegenübergestanden und es überlebt hatte. Die Profilerin geworden war, genau wie Sadie, um solche Täter zur Strecke zu bringen. Jetzt erinnerte sie sich auch an das alte Foto von Andrea. Obwohl sie sich äußerlich gar nicht so sehr verändert hatte, hatte sie doch eine vollkommen andere Ausstrahlung. Sadie erinnerte sich an das Foto einer schüchternen, unsicheren Studentin, aber vor ihr stand eine selbstbewusste, kluge und zielstrebige Frau.

Nick riss Sadie aus ihren Gedanken, als er Andrea ansprach. „Mich beeindruckt noch immer, dass Sie sich schon als Studentin mit ihm auseinandergesetzt haben. Ihr Profil war ausgesprochen gut.“

„Danke“, sagte Andrea und errötete. „Es hat mir nur leider nicht geholfen. Es ist der Polizei nicht gelungen, ihn aufgrund dieses Profils zu fassen. Und ich hätte auch nicht für möglich gehalten, dass er es tatsächlich wagt, bei uns einzubrechen und die wachhabenden Polizisten niederzustechen. Er war vollkommen besessen.“

Dormer nickte ernst. „Wie es für solche Täter typisch ist. Jeder hier hat eine Vorstellung von dem, was Sie damals erlebt haben. Wir alle sind hier, um solche Täter zu schnappen und die Opfer zu schützen.“ Er zögerte kurz. „Wie stehen Sie heute zu dieser Erfahrung?“

„Ich begreife es inzwischen als Geschenk“, sagte Andrea. „Aber ich mache mir nichts vor, ich hatte nur Glück.“

Sadie konnte Nick ansehen, dass ihn das beeindruckte.

„Ich denke, Ihr Profil hat Sie gerettet“, sagte er.

Andrea nickte ihm nachdenklich zu. „Es gab nur zwei Punkte, die ich bei ihm vollkommen unterschätzt habe: Der erste betrifft seine Fixierung auf mich. Mir war zwar klar, dass sie existiert, denn warum sonst hätte er sich über Monate an mich herantasten und mir Botschaften zukommen lassen sollen? Aber ich hatte nicht mit dem gerechnet, was sie bei ihm auslöst. In dem Moment, als er mir in meiner Wohnung gegenüberstand, rechnete ich damit, dass er mich umbringen würde. Das hat er auch gesagt, als er mich ins Haus seiner Eltern gebracht hat. Er hat mir das Versprechen gemacht, dass ich es nicht mehr lebend verlassen würde. Aber dann kam alles anders. Wahrscheinlich hat ihn das selbst überrascht und mir ist klar, dass ich unbewusst einen nicht unerheblichen Teil zu dieser Verhaltensänderung beigetragen habe.“

Sie nahm einen Schluck Wasser und fuhr nach einem tiefen Atemzug fort. „Mein Wissensvorsprung hat mich gerettet. Dadurch, dass ich im Vorfeld sein Verhalten studiert hatte, war ich dazu in der Lage, ihn zu manipulieren. Zwar habe ich mich die meiste Zeit aus reinem Selbstschutz so unbeirrt verhalten, aber das hat Jonathan Harold gereizt und herausgefordert. Er hielt mich für zäher als die anderen Mädchen, das hat er so zu mir gesagt. Ein Gedanke, der ihn fasziniert hat.“ Reflexhaft zog sie die Schultern hoch, während Sadie wie gebannt an ihren Lippen hing.

„Er wollte mich brechen und versprach sich viel davon, dass es bei mir augenscheinlich länger dauerte. Bevor ich bei ihm war, war der Höhepunkt, auf den er hingearbeitet hat, immer der Mord. Er wollte seine Opfer qualvoll töten. Aber ich habe ihn auf die Idee gebracht, dass er mich auch einfach bei sich behalten und dieses Spiel ewig fortführen könnte.“

Beifälliges Nicken ging durch die Reihen der Zuhörer.

„Es hat Ihnen geholfen, all das zu wissen, nicht wahr?“, fragte Nick nach einem Augenblick des Schweigens. Sadie vergaß fast zu atmen.

„Ja, das hat es“, sagte Andrea. „Bis zu dem Moment, in dem zur psychischen Erschöpfung auch noch die körperliche dazukam. Nach neun Stunden und einer Nacht ohne Schlaf hatte ich keine Widerstandskräfte mehr. Die Schwäche, die ich ab diesem Moment gezeigt habe, hat mich hinterher am meisten belastet.“

„Was nur Sinn macht, traumatisierend wirkt ja nicht die Gewalterfahrung an sich, sondern der Kontrollverlust“, sagte Nick.

„Genau so ist es“, bestätigte Andrea.

„War diese Erfahrung ein Grund für Dr. Carter, Sie einzustellen?“

Sie nickte. „Das hat er mir auch offen gesagt. Ich hatte damit nie ein Problem. Allerdings muss ich zugeben, dass es mir so manches Mal Schwierigkeiten bereitet hat, mich mit Sexualsadisten auseinanderzusetzen. Getan habe ich es trotzdem, weil ich dafür immer ein besonderes Verständnis hatte. Klingt verrückt, ist aber so.“

Dormer nickte. „Kann ich verstehen. Bei Dr. Carter handelt es sich wirklich um ein Ausnahmetalent. Ich kenne ihn nicht gut, aber ich hatte hier mal einen Kollegen, der mit ihm gemeinsam die Ausbildung durchlaufen hat.“

Sadie holte tief Luft und sagte: „Es ist mir schon fast unangenehm, zu fragen, aber da ich bis jetzt krankgeschrieben war, trifft mich das alles vollkommen unvorbereitet. Ich habe während meiner Ausbildungen Artikel und Essays von Joshua Carter gelesen und ich erinnere mich auch an Ihren Text über Jonathan Harold. Macht es Ihnen gar nichts mehr aus, über ihn zu sprechen?“

„Inzwischen nicht mehr“, sagte Andrea. „Ich betrachte es eher als eine Art Fallstudie.“

Nick lächelte. „Über welche anderen Fälle können Sie uns berichten?“

Andrea hatte noch einiges zu erzählen. An jedem ihrer Fälle zeigte sie exemplarisch die Herangehensweise des britischen Teams auf, die sich weniger von der Arbeit der BAU unterschied, als Nick vorab erwartet hatte. Das begründete er jedoch mit Joshua Carters Ausbildung.

Andrea erzählte, dass sie an der University of East Anglia Vorlesungen eingerichtet hatte, durch die man zum Profiler werden konnte. Auch in London kümmerte sie sich um die Ausbildung zukünfigter Profiler. Die Ausbildung hatte einen stark psychologischen Schwerpunkt, aber auch Angehörige der Polizei durchliefen sie.

Sie machten nur kurze Pausen. Die ganze Zeit über hörten die Mitglieder der BAU aufmerksam zu, einzig Sadie hatte das Gefühl, dass ihre Gedanken zwischendurch immer wieder abschweiften. Im Augenwinkel beobachtete sie Sienna, die ganz anders wirkte als ihre ältere Kollegin. Sienna erinnerte Sadie in mancher Hinsicht an sich selbst. Andrea war jedoch eine geradlinige, starke Frau, die einiges an Erfahrung mitbrachte.

Sadie ertappte sich dabei, dass sie Andrea beneidete.

 

Sie saßen bis zum frühen Abend zusammen. Schließlich ließ die Konzentration aller merklich nach, weshalb Nick vorschlug, in ein Restaurant vor Ort umzuziehen. Für diesen Vorschlag waren sie alle dankbar, auch wenn nicht das gesamte Team mitkam. Das erwartete aber auch niemand.

Sie gingen zu Fuß nach Quantico hinein. Ein Pickup fuhr mit einem blubbernden Motorgeräusch an ihnen vorüber. Ein paar kleine Geschäfte, ein Supermarkt und mehrere Hotels, Motels und Restaurants säumten die Straße. Ein frischer Wind wehte, es war bewölkt und ungemütlich, aber das war der Jahreszeit geschuldet. Nacheinander betraten sie Macy’s Diner, ein typisch amerikanisches Restaurant mit lederbezogenen Barhockern und ebensolchen Bänken. Der Geruch von frischem, heißem Fett lag in der Luft. Eine Kellnerin begleitete sie zu einem freien Tisch und nahm ihre Getränkebestellung auf.

„Unglaublich, was Sie während Ihrer Laufbahn schon erlebt haben“, nahm Nick das Gespräch wieder auf. „Nicht, dass wir hier nicht ähnlich spektakuläre Fälle hatten, aber diese Bandbreite ...“

„Das bleibt bei dem kleinen Team nicht aus“, sagte Andrea. „Wir sind da alle persönlich involviert.“

„Das stimmt, aber Sie haben selbst in der eigenen Familie ermittelt.“

„Würde ich auch nicht mehr machen“, erwiderte sie augenzwinkernd.

„Ich fand es wirklich beeindruckend, das alles zu hören“, schaltete Sadie sich ein. „Mir war erst ganz lange nicht klar, wer Sie eigentlich sind. Aber Sie haben ja schon eine beeindruckende Erfahrung gesammelt!“

Andrea lächelte verlegen. „Darauf habe ich es nicht angelegt. Auf vieles hätte ich auch verzichten können.“

Die Kellnerin kehrte mit den Getränken zurück und nahm die Gerichte auf. Sadie spürte einen Blick von Sienna auf sich und erwiderte ihn mit einem Lächeln.

„Sie sind auch neu dabei?“, fragte sie.

Sienna nickte. „Erst seit ein paar Wochen. Ich habe vor kurzem die Ausbildung beendet.“

„Ich bin auch erst seit kurzem bei der BAU, aber vorher habe ich als Polizistin gearbeitet.“

Sienna nickte anerkennend. „Dabei sehen Sie so jung aus!“

„Ich bin sechsundzwanzig“, sagte Sadie.

„Ich bin fünfundzwanzig. Da hatte Agent Dormer ja recht.“

„Das liegt schlicht und ergreifend daran, dass ich die Geburtstage weiß“, sagte Nick augenzwinkernd. „Und nennt mich bitte Nick!“

Andrea und Sienna schlossen sich dieser Bitte nach weniger Förmlichkeit an. Sie unterhielten sich angeregt über ihre Arbeit und andere Dinge, bis das Essen kam. Erst da wurden sie ein wenig schweigsamer und konzentrierten sich mehr aufs Essen.

Trotzdem kam Sadie nicht umhin, Andrea verstohlen anzusehen und ihre Unbefangenheit zu beobachten. Sie wusste nicht, ob sie sie beneidete oder bewunderte.

„Wie kommt dein Mann mit deiner Arbeit zurecht?“, erkundigte Nick sich bei Andrea.

„Inzwischen ist das kein Thema mehr. Noch vor ein paar Jahren haben wir da echte Kämpfe ausgefochten, das muss ich zugeben. Du kennst das vielleicht. Aber wir haben uns da immer wieder zusammengefunden. Er hat ein besonderes Verständnis, aber ich glaube immer, dass das auch an seiner persönlichen Begegnung mit Jonathan Harold liegt.“

Dormer nickte. „Ihr habt kurz danach geheiratet, nicht wahr?“

„Ja, er hat mir zwei Wochen nach meiner Entführung einen Antrag gemacht. Bis heute glaube ich, dass er sich die Schuld dafür gegeben hat, mich nicht beschützt zu haben.“

„So sind wir Männer“, sagte Nick. „Wie alt ist deine Tochter?“ 

„Dreizehn ... das ist spannend, kann ich dir sagen!“, sagte Andrea lachend.

Nick grinste. „Das kann ich mir vorstellen. Erste Jungsgeschichten?“

„Unter anderem.“

Sie unterhielten sich ein wenig über Kinder, doch Sadie hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie brachte sich auch nicht ins Gespräch ein, sondern beobachtete Andrea nur und überlegte. In der Zwischenzeit verabschiedeten sich schon die ersten Kollegen, aber Sadie dachte gar nicht daran, jetzt zu verschwinden. Sie verspürte den Wunsch, mit Andrea zu reden – und nur mit ihr. Allerdings traute sie sich nicht, Andrea auch wirklich anzusprechen.

„Ich denke, ich mache mich auch langsam auf den Heimweg“, sagte Nick schließlich. „Wir werden ja auch morgen einiges zu besprechen haben!“

„Da hast du recht“, stimmte Andrea ihm zu. Im allgemeinen Tumult vor der Garderobe stellte Sadie sich in einem günstigen Moment gleich neben sie.. Als sie Andreas Blick auf sich spürte, fragte sie: „Hast du noch einen Augenblick Zeit?“

„Sicher“, sagte Andrea mit einem Lächeln. Sie stellte keine weiteren Fragen, sondern wandte sich Sienna zu und sagte: „Geh ruhig schon mal vor ins Hotel, ich komme nach.“

„Okay“, erklärte Sienna achselzuckend.

„Bis morgen, Nick!“, sagte Andrea. Mit heftig klopfendem Herzen stand Sadie an die Wand gelehnt da und blickte den anderen hinterher, die sich verabschiedeten und das Diner verließen. Andrea sah ihnen ebenfalls mit einem Lächeln nach und drehte sich schließlich zu Sadie um.

„Jetzt sind nur noch wir übrig“, begann sie. Sadie befürchtete, dass man ihr die Aufregung ansehen konnte und glaubte, dass Andrea ihr ein wenig entgegenkommen wollte.

„Es ist nett, dass du dir die Zeit nimmst“, erwiderte sie und lächelte scheu. Gemeinsam setzten sie sich wieder an ihren Tisch. Sadie verschränkte die Finger ineinander und atmete tief durch. Ihr Blick verlor sich irgendwo in der Ferne.

„Worum geht es denn?“, fragte Andrea und wartete, bis Sadie sie wieder ansah. Doch noch bevor Sadie ein Wort sagen konnte, spürte sie, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.

„Jetzt fehlen mir die Worte“, stellte sie verlegen fest. „Ich glaube, das ist sehr persönlich ...“

„Fang einfach irgendwo an“, ermutigte Andrea sie. „Wie du dir denken kannst, gibt es nicht mehr vieles, was mich noch schockiert.“

Sadie nickte und nahm einen ersten Anlauf. „Bis du vorhin den Namen Jonathan Harold erwähnt hast, war ich mir gar nicht sicher, wen ich eigentlich vor mir habe“, sagte sie. „Am meisten hat mich dabei beeindruckt, wie ruhig du über ihn gesprochen hast.“

„Dass ich ihm begegnet bin, ist ja nun auch schon eine ganze Weile her“, sagte Andrea.

„Vergisst man so etwas?“, fragte Sadie und sah Andrea dabei geradeheraus an.

Seufzend erwiderte Andrea ihren Blick. „Vergessen ist das falsche Wort. Ich habe nie vergessen, wie seine Stimme klang und wie es dort gerochen hat. Aber die Erinnerung verblasst.“ Dann hielt sie inne und etwas Prüfendes trat in ihren Blick. „Warum fragst du?“

Sadie starrte auf den Tisch, dann sprudelte es plötzlich nur so aus ihr heraus. „Ich weiß nicht, ob es bei euch in den Nachrichten thematisiert wurde, aber vielleicht hast du trotzdem von Rick Foster gehört, dem Serienmörder.“

„Sicher. Das Meiste weiß ich zwar aus den US-Nachrichten, aber ich habe es mitbekommen.“ Plötzlich hielt Andrea inne und machte ein ernstes Gesicht. „Das warst du, oder? Ich habe dein Foto gesehen.“

Ohne sie anzusehen, nickte Sadie. „Ja, die FBI-Agentin, die er entführt hat, war ich.“

„Verstehe“, sagte Andrea leise und nickte ernst.

„Aber das ist nicht alles“, fügte Sadie hinzu. „Wie gut kennst du den Fall?“

„Das kann ich schlecht sagen. Ich weiß, dass er über zwanzig Frauen getötet hat und nur durch den Mord an seiner Familie aufgeflogen ist. Und dass irgendjemand die absurde Idee hatte, man könnte doch sein Todesurteil in eine lebenslängliche Haft umwandeln.“

Jetzt blickte Sadie auf. Diese Worte hatten bei ihr einen Nerv getroffen. Trotzdem gab es zuerst etwas anderes, das sie sagen wollte.

„Erinnerst du dich auch, dass seine Tochter überlebt hat?“

Andrea nickte. „Das habe ich gelesen.“

Sadie nickte stumm und atmete tief durch. „Ich bin seine Tochter.“

Wortlos erwiderte Andrea ihren Blick. Sadie konnte ihr ansehen, wie sie nachdachte.

„Jetzt ergibt das alles Sinn“, sagte Andrea leise. Sie kam nicht dazu, noch mehr dazu zu sagen, weil die Kellerin sie unterbrach. Kurzerhand bestellte Andrea zwei Getränke und konzentrierte sich dann wieder ganz auf Sadie.

„Wie kann ich dir helfen?“, fragte sie.

„Ich weiß es nicht. Es ist nur ... niemand versteht das wirklich. Ich habe einen ganz tollen Freund und eine liebe Familie und auch meine beste Freundin bemüht sich ... von meinen Kollegen ganz zu schweigen. Ich war bis jetzt krankgeschrieben, weil er mir auf unserer Flucht ins Bein geschossen hat. Ich muss immer noch trainieren und sehen, dass ich wieder fit werde. Jeder zeigt dafür Verständnis – aber niemand versteht wirklich, was das heißt.“ Für einen kurzen Moment schloss Sadie die Augen, weil darin Tränen brannten. Andrea sah sie einfach nur an und wartete ab.

„Er ist jetzt tot und eigentlich war das alles, was ich mir gewünscht habe ... so hart das auch klingt. Aber es ist immer noch da. Ich weiß, das ist vermutlich normal, aber vorhin wurde mir klar, dass du das vielleicht verstehst.“ Traurig und beschämt wandte Sadie den Blick ab und starrte aus dem Fenster. Die Kellnerin stellte die Getränke auf dem Tisch ab.

„Ich kann es versuchen“, sagte Andrea ruhig. „Auch wenn ich nie nachempfinden kann, was es heißt, einem solchen Täter so nah zu stehen. Jonathan Harold war für mich ein vollkommen Fremder.“

„Ich weiß ... aber du bist ihm begegnet und deshalb wolltest du Profilerin werden, oder? Das war bei mir genauso. Ich bin zur Polizei gegangen und jetzt bin ich beim FBI. Das war alles seinetwegen“, sprudelte es aus Sadie heraus.

„Ich wollte ohnehin Profilerin werden“, sagte Andrea. „Aber seit ich Harold begegnet bin, ist es mir ein Bedürfnis, Typen wie ihn unschädlich zu machen.“

Das konnte Sadie bestens verstehen. „Ich habe dich heute gesehen und dachte nur: So will ich auch sein. Aber so fühle ich mich nicht. Ich bin jetzt den ersten Tag wieder hier und alle haben mich willkommen geheißen, aber mir ist eher danach, mich in einem Loch zu verkriechen.“

Andrea griff nach ihrem Getränk und nahm einen Schluck, während sie überlegte, was sie erwidern sollte. „Dass ich ihm begegnet bin, ist fünfzehn Jahre her. In dieser Zeit war nicht alles so, wie es jetzt ist. Mein Kollege Dr. Weaver, von dem ich heute gesprochen habe, hat mich wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung behandelt. Ich weiß nicht, wo ich ohne ihn heute wäre.“ Sie zögerte kurz. „Hilft dir jemand?“

Sadie schüttelte den Kopf. „Ich wusste nicht, ob das nötig ist ...“

„Das kommt ganz darauf an. Aber du hast ein Redebedürfnis, sonst säßen wir jetzt nicht hier.“ Andrea streckte ihre Hand nach Sadies aus und war überrascht, wie kalt ihre Finger waren. Sie drückte Sadies Hand ganz fest.

„Lass uns reden“, sagte Andrea. „Egal worüber.“

Sadie nickte und starrte erst auf den Tisch, aber dann nahm sie auch einen Schluck. „Ich glaube, Jonathan Harold und mein Vater waren sich sehr ähnlich.“

„Von dem, was ich gelesen habe, würde ich das bestätigen“, sagte Andrea. „Sexualsadisten, die es bevorzugt haben, ihre Opfer gefangenzuhalten und zu erwürgen. Ich habe da einige Parallelen erkannt.“

Eine Träne lief über Sadies Wange. „Er war mein Vater. Ich stamme von ihm ab ... Es gab vor zehn Jahren schon mal eine Phase, in der ich das nicht mehr ertragen habe. Doch jetzt ... Als es vorbei und er gerade tot war, war ich total froh. Aber ...“

„Das hält nicht an“, brachte Andrea den Satz für sie zuende.

„Nein. Ich wäre so gern gleich wieder arbeiten gegangen, um das alles zu vergessen.“

„Das hilft nicht, glaub mir. Ich habe das auch mal geglaubt, aber das funktioniert nicht“, sagte Andrea kopfschüttelnd.

Deprimiert ließ Sadie die Schultern hängen und murmelte: „Es überrascht mich, dass du sein Todesurteil befürwortest.“

„Was, weil ich Europäerin bin?“ Andrea lachte. „Nein, das heißt nichts. Für eine Europäerin habe ich da ziemlich radikale Ansichten.“

„Ich kann verstehen, dass du Jonathan Harold den Tod gewünscht hast“, sagte Sadie.

„Ach, um ihn geht es dabei gar nicht, auch wenn ich natürlich froh bin, dass er tot ist.“ Andrea nahm noch einen Schluck aus ihrem Glas.

„Aber ich verstehe mein Problem nicht. Mein Vater ist tot. Warum lässt mich das nicht endlich in Ruhe?“, fragte Sadie verzweifelt.

„Kontrollverlust“, erwiderte Andrea knapp. „Ich würde vorschlagen, dass wir gleich eine Runde um den Block laufen, denn ich denke, das sollten wir nicht hier besprechen. Aber ich glaube, dass ich dir sagen kann, was dein Problem ist.“

„Mein Problem ist mein Vater“, knurrte Sadie bitter. „Das war er immer.“

Mitfühlend drückte Andrea ihre Hand. „Niemand hat gesagt, dass es leicht ist. Dr. Weaver hat mich damals gegen das Trauma behandelt, aber soll ich dir etwas sagen? Meine Tochter war damals nichts weiter als ein Unfall. Natürlich wollten wir Kinder, aber ich war jünger als du und plötzlich schwanger. Wenn du sagst, dass du jemanden hast, der Verständnis für dich hat, ist das viel wert.“

Sadie zog ihr Portemonnaie aus ihrer Tasche und holte das Foto von sich und Matt heraus, das sie immer bei sich trug. Andrea betrachtete es interessiert und lächelte.

„Wie heißt er?“

„Matt ... er ist gerade hier an der Academy. Er war auch Polizist, genau wie ich.“

„Oh, wie schön!“ Andrea zog ein Familienfoto aus ihrem Portemonnaie. Neugierig nahm Sadie ihre Familie in Augenschein. Andreas Tochter war ihren Eltern unglaublich ähnlich, hatte die dunklen Locken ihres Vaters.

„Ist dein Mann älter als du?“ fragte Sadie.

„Ja, sechs Jahre.“

„Matt ist acht Jahre älter als ich. Das ist irgendwie schön“, sagte Sadie und seufzte verträumt.

„Man fühlt sich sicher“, sagte Andrea.

„Ja ... Matt hat schnell herausgefunden, wer ich bin. Das hat ihn nicht gestört. Er hatte immer Verständnis.“

„Ziehst du das in Zweifel?“

„Nein, überhaupt nicht ... Ich habe nur Angst, ich könnte ihm nichts zurückgeben.“

„Diese Angst hatte ich bei Greg auch immer, aber er sagte, das sei überflüssig. Wir haben uns inzwischen zusammengerauft.“

Sadie trank ihr Glas in einem Zug leer und stellte es geräuschvoll ab. „Matt und ich wollen auch heiraten. Er ist mein erster Freund überhaupt.“

Andrea trank ebenfalls aus und kramte in ihrem Portemonnaie herum. „Du hast dich wahrscheinlich schwer getan, jemandem zu vertrauen, oder?“

Als Antwort hielt Sadie ihr eins ihrer vernarbten Handgelenke hin. „Ich konnte mich ja selbst nicht leiden. Ich war fünfzehn, als ich versucht habe, mich umzubringen.“

Die beiden tauschten nur einen Blick und Sadie legte ebenfalls Geld auf den Tisch, dann verließen sie das Diner. Stumm vergrub Sadie die Hände in den Hosentaschen und blinzelte, weil eine der Straßenlampen sie blendete. Es war kalt.

„Ich weiß nicht, ob ich wirklich verstehe, wie es dir geht“, nahm Andrea das Gespräch wieder auf. „Dein Vater hat damals auch versucht, dich umzubringen, oder?“

Sadie antwortete mit einem Nicken und erzählte, was passiert war.

„Wie alt warst du?“, fragte Andrea.

„Elf. Danach bin ich bei meinem Onkel und meiner Tante aufgewachsen und habe zwei Jahre später eine neue Identität bekommen.“

Andrea nickte verstehend. „Ich war dreiundzwanzig, als ich dem Campus Rapist begegnet bin. Er war ein Fremder für mich, den ich manipuliert habe. Ich konnte in ihm lesen wie in einem offenen Buch. Aber trotzdem habe ich unter dem gelitten, was ich in seinem Keller durchgemacht habe. Er hatte meine Freundin entführt, um mich damit einzuschüchtern. Er hat sie vor meinen Augen gefoltert und vergewaltigt und erwürgt ... und irgendwann ist mir bewusst geworden, dass ich trotz allem keine Kontrolle über die Situation habe. Das hat mich traumatisiert. Das Bewusstsein, nichts, aber auch gar nichts tun zu können. Vermutlich ist es bei dir ähnlich.“

Sadie verschränkte die Arme vor der Brust. „Wahrscheinlich ... weißt du, auf einmal stand er da und hat Matt mit einer Waffe bedroht. Den Mann, der mir so viel bedeutet ...“ Sie blieb stehen und kämpfte erneut mit den Tränen. „Mir war ja egal, was er mit mir macht. Aber ich war erst ein paar Stunden bei ihm, als er klar gemacht hat, worauf das hinauslaufen wird. Er hat mich eingesperrt, in so einem finsteren, kleinen Loch ... eigentlich wollte er mich vergewaltigen, aber irgendwie habe ich ihn mir vom Leib gehalten. Mein eigener Vater, verstehst du?“

Der letzte Satz ging fast in einem Schluchzen unter. Sadies Lippen bebten und ihr Blick verlor sich im Nirgendwo.

Andrea blieb neben ihr stehen und legte eine Hand auf Sadies Schulter. „Dunkelheit ist das Schlimmste“, sagte sie.

„Geht es dir auch so?“, fragte Sadie weinend.

Andrea nickte. „Harold fand es auch lustig, mich mit Dunkelheit einzuschüchtern. Das hat mich jahrelang nicht losgelassen.“

„Aber es hat?“, fragte Sadie hoffnungsvoll.

„Ja, irgendwann hat es aufgehört.“ Mitfühlend verzog Andrea das Gesicht. „Ich habe erlebt, was du erlebt hast, Sadie. Aber ich kann mir wirklich nicht vorstellen, was es bedeutet, wenn der Täter der eigene Vater ist. Das hat eine ganz eigene Dimension.“

„Ich wusste ja, dass er krank ist“, stammelte Sadie. „Aber ich hatte nicht erwartet, dass er so weit gehen würde. Mit seiner eigenen Tochter ...“

„Aber er hat nicht“, sagte Andrea. „Das ist viel wert, glaub mir.“

Flink wischte Sadie sich die Tränen aus den Augen und blinzelte in Andreas Richtung. „Aber Harold hat dir doch auch nichts getan.“

„Nein, ihn meine ich nicht.“ Andrea zögerte einen Moment. „Er nicht, aber jemand anders. Sie haben ihren Frust an mir abreagiert ... das hat verdammt weh getan, auch noch lange danach.“

Sadie verstand, auch ohne dass Andrea es ausgesprochen hätte. Für einen kurzen Moment empfand sie Mitleid, aber dann wuchs ihr Respekt vor dieser Frau nur noch. Sie erweckte nicht den Anschein, dass sie so etwas durchgemacht hatte.

„Das tut mir leid“, murmelte Sadie betroffen.

Andrea erwiderte ihren Blick geradeheraus. „Ich habe sie erschossen, als ich die Chance dazu hatte.“

„Damit bist du durchgekommen?“, fragte Sadie überrascht.

„Denen hat keiner eine Träne nachgeweint. Ich habe in Notwehr gehandelt und es ein bisschen übertrieben. Wie du dir denken kannst, halte ich mich aus Diskussionen über die Todesstrafe tunlichst heraus. Als rechtsstaatliches Mittel finde ich sie schwierig, aber es gibt Fälle, in denen das erlittene Leid der Opfer mit keiner Freiheitsstrafe wettgemacht werden kann.“

„So ähnlich habe ich das auch gesehen“, sagte Sadie. „Ich habe das immer sehr subjektiv gesehen – ich wollte, dass mein Vater hingerichtet wird für das, was er all diesen Frauen angetan hat. Ihren Familien. Und seiner eigenen.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, wie du empfunden haben musst, als er vor dir stand.“

„Es war seltsam, weißt du? In diesem Moment war er mir fremd und vertraut zugleich. Ich habe ihn wirklich gereizt, war frech zu ihm, habe getestet, wie weit ich gehen kann. Das hat auch ziemlich gut funktioniert. Bis er mir zu verstehen gegeben hat, dass er in mir nur ein weiteres seiner Opfer sieht. Ich bin ja ungefähr so alt wie die Frauen, die er damals getötet hat.“

Andrea erwiderte nichts. Dazu fiel ihr nichts ein. Also sprach Sadie einfach weiter.

„Er sagte, dass es etwas Besonderes für ihn sei, das mit seiner Tochter zu machen, was er vorher mit Fremden getan hat. Und ich wusste ja, was das bedeutet. Wenn die anderen ihm nicht auf der Spur gewesen wären, dann hätte er mich ewig in diesem finsteren Loch gelassen“, sagte Sadie. Die beiden standen am Straßenrand etwas abseits der Häuser und achteten weder auf Kälte noch auf Dunkelheit.

Andrea atmete tief durch. „Du ahnst gar nicht, wie sehr diese Schilderung dem ähnelt, was ich erlebt habe. Diese Kerle sind alle gleich. Es gibt nichts, was ich so sehr hasse wie Sexualsadisten. Ich weiß, wie es dir damit gehen muss.“

„Aber du bist so stark“, sagte Sadie.

„Weißt du, was mir geholfen hat?“

Sadie schüttelte den Kopf.

„In der Traumatherapie hat Dr. Weaver sich damals zunutze gemacht, dass mein Mann damals am Tatort aufgetaucht ist. Er hat Jonathan Harold ja erschossen. Er hat mir geraten, meine Alpträume weiterzuträumen, bis ich gerettet wurde. Mein Mann wurde mein Rettungsanker. War Matt auch dort?“

„Ja, er und mein Polizeikollege waren es, die mich aus diesem Loch gezogen haben.“

„Dann nutze das. Immer, wenn dich die furchtbaren Erinnerungen überkommen, solltest du an Matt denken und vielleicht auch an deinen Kollegen. Das hilft wirklich. Kannst du mit Matt sprechen?“

„Ja ... aber ich will ihn nicht damit belasten“, sagte Sadie zögerlich. „Mein Vater hat ihn ja auch angeschossen und das hat ihn alles sehr mitgenommen.“

„Das dachte ich von meinem Mann damals auch, aber er war mir eine große Hilfe. Er hat zugehört und er hat das weggesteckt. Aber unterschätze nie männlichen Stolz!“, sagte Andrea grinsend. „Daran ändern wir nichts. Wenn du Matt nur versicherst, dass du ihm nicht böse bist, reicht das.“

„Ihm böse sein? Nein, ich bin nur froh, dass er noch bei mir ist. Als er mir sagte, dass er weiß, wer ich bin, dachte ich erst, meine Welt stürzt ein. Aber er war immer für mich da. Ich weiß nicht, warum.“

„Das solltest du dich nicht fragen. Nimm es einfach hin. Wenn du seine Liebe erwiderst, reicht das.“

Mit einem Lächeln blickte Sadie zu Andrea auf. Sie hatte noch nie so mit jemandem sprechen können wie mit ihr. Sie musste Andrea gar nicht viel erklären – die Engländerin verstand es trotzdem und gab Sadie das Gefühl, zu wissen, wovon die Rede war.

Langsam schlenderten die beiden zurück in den Ort und schwiegen für einen Moment. Abends war es in Quantico oft sehr still, vor allem um diese späte Tages- und Jahreszeit. Sadie hatte die Hände in den Taschen ihrer Winterjacke vergraben und atmete die kalte Luft ein.

„Sie kriegen uns nicht klein“, sagte Andrea. „Das könnte ihnen so passen. Aber wir verstehen, wie sie ticken und wir lassen uns nicht unterkriegen.“

„Nein“, sagte Sadie. „Da hast du recht, so sollten wir das sehen.“

Plötzlich blieb Andrea wieder stehen. „Wenn ich dir irgendwie helfen kann ... ich lebe zwar fast auf der anderen Seite der Welt, aber du kannst dich an mich wenden.“

„Wirklich?“, fragte Sadie.

„Ja, jederzeit. Es ist wichtig, über solche Erlebnisse zu sprechen, das weiß niemand so gut wie ich. Ich habe damals sehr lang den Fehler gemacht und versucht, alles mit mir selbst auszumachen. Das ist mir selten gut bekommen. Mach du diesen Fehler nicht auch.“

„Okay. Ich werde es versuchen.“

„Wenn ich dir helfen kann, sag nur Bescheid. Wir haben eine besondere Motivation, uns solchen Tätern zu stellen. Das ist wichtig und wir sollten das auf jeden Fall durchhalten.“

Sadie nickte zustimmend. Inzwischen waren sie vor Andreas Hotel angekommen, deshalb blieben sie stehen und verabschiedeten sich voneinander. Andrea machte den ersten Schritt und umarmte Sadie.

„Wir sehen uns morgen“, sagte sie. „Und denk dran: Er ist tot und du lebst. Das ist eine Chance, die wir uns nicht entgehen lassen dürfen.“

Sadie erwiderte die Umarmung und nickte. „Danke, Andrea. Wirklich.“

„Immer gern.“ Andrea lächelte ihr zu, bevor sie sich umdrehte, um ins Hotel zu gehen. Nachdenklich blickte Sadie ihr hinterher. Für einen Moment stand sie einfach nur so da, bis sie sich abwandte und zum FBI-Komplex zurückschlenderte. Sie war noch nicht weit gekommen, als sie spürte, wie das Handy in ihrer Tasche vibrierte. Ein Blick aufs Display des Gerätes verriet ihr, dass es Matt war, der anrief. Sie verlangsamte ihren Schritt.

„Hey“, sagte sie und lächelte.

„Guckst du gar nicht auf dein Handy?“ Matt klang verwirrt.

„Oh ... nein, ich hatte heute den ganzen Tag zu tun. Gerade bin ich auf dem Weg zum Parkplatz.“

„Aber ich störe dich nicht?“

„Nein, gar nicht. Jetzt habe ich Zeit“, sagte sie.

„Ich habe dir zwischendurch geschrieben und mich gewundert, weil gar keine Antwort kam“, sagte Matt betreten.

„Ja, tut mir leid ... wir hatten heute Besuch aus England. Eine bekannte Profilerin, von der ich während meiner Ausbildung schon Essays gelesen habe.“

„Oh, wirklich? Wie spannend!“

„Ich wusste nicht, dass sie kommt“, erklärte Sadie. „Auf einmal stand sie da und erst wusste ich gar nicht, wer sie ist ... aber dann habe ich sie erkannt.“

„Dann wart ihr ja richtig fleißig heute.“

„Ach, es geht ... wir sind vorhin zusammen essen gegangen, die meisten meiner Kollegin und die Engländerinnen.“ Weil Sadie keine Überleitung fand, unterbrach sie sich selbst.

„Ist doch schön“, sagte Matt und fügte fragend hinzu: „Alles in Ordnung? Du klingst irgendwie abwesend.“

„Ja, ich habe mich lang mit ihr unterhalten. Ihr Name ist Andrea Thornton. Gib ihren Namen im Internet ein und du siehst, was ich meine ...“ Sadie zögerte. „Vor fünfzehn Jahren hatte sie selbst mal mit einem Typen zu tun, der sich bestens mit meinem Vater verstanden hätte. Er hat auch Frauen entführt und erwürgt ...“

„Oh“, machte Matt. „Ist ja irre. Verstehe ...“

„Ich habe bis jetzt mit ihr gesprochen“, sagte Sadie. „Irgendwie musste ich das einfach tun.“

„Na klar, das kann ich verstehen. Wegen deinem Vater, oder?“

„Ja ...“ Sadie atmete tief durch und suchte nach Worten. „Ich musste ihr das nicht erklären, verstehst du? Ich habe die ganze Zeit überlegt, wie ich sie darauf ansprechen soll. Das war total verrückt! Aber dann habe ich ihr gesagt, wer ich bin – und sie hat es verstanden. Alles. Sie kannte den Fall. Das war der Wahnsinn, Matt.“

„Hey, das ist doch toll, Süße“, sagte er. „Du weißt, du kannst mir auch alles sagen, aber ich werde das nie so verstehen können, wie sie das jetzt kann.“

„Ja, aber es tut mir leid, dass ich dich ignoriert habe. Das wollte ich nicht.“

„Ist doch nichts passiert. Ich habe mich auch nur gewundert, was los ist und dachte, ich rufe dich mal an.“

„Das ist schön.“ Sie lächelte. „Wo bist du?“

„Ich liege auf meinem Bett und habe Kopfschmerzen. Mir schwirrt ganz schön der Kopf“, erzählte er.

„Das kenne ich!“, sagte sie lachend. „Ist anstrengend, oder?“

„Ja, und dabei haben sie mich noch gar nicht durch den Wald gejagt. Ich habe echt Respekt vor dir, dass du das schon geschafft hast. Über die Yellow Brick Road kursieren die wildesten Geschichten.“

„Ich wollte das immer ... genau wie du.“

„Ja, aber manchmal bin ich mir da nicht mehr so sicher!“, sagte er und lachte verlegen.

„Ach, du schaffst das. Mach dir da keine Sorgen, Matt.“

„Das ist aber nicht einfach.“ Er atmete tief durch. „Du fehlst mir.“

„Du fehlst mir auch.“ Inzwischen hatte Sadie den Parkplatz erreicht.

„Also habt ihr noch keinen neuen Fall.“

„Nein, die englischen Profiler sind gerade zum fachlichen Austausch hier. Wir sprechen über die unterschiedlichen Ermittlungsmethoden und sie hat von ihren Fällen berichtet. Die Frau ist der absolute Wahnsinn, wirklich. Sie hat schon Fälle bearbeitet ...“

„Ich gebe den Namen hier gleich mal am Computer ein, jetzt hast du mich neugierig gemacht“, sagte Matt.

„Okay. Aber die Ausbildung macht dir immer noch Spaß?“, fragte Sadie.

„Sicher. Ungefähr fünfzig Prozent der Zeit bereue ich, hier zu sein, aber ansonsten ist es großartig!“

Sadie grinste. „Das kenne ich. Aber ich weiß, dass du das schaffst, Matt.“ Sie stand vor ihrem Auto und stieg ein. „So, gleich fahre ich nach Hause.“

„Immerhin hast du die Katzen.“

„Ja, wenigstens das ... wenn du schon nicht da bist.“

„Ich komme ja wieder“, sagte er.

„Aber das dauert ...“

„Wenn du wilde Träume hast, dann denk an mich, ja?“

Unwillkürlich errötete Sadie. „Sag sowas nicht.“

„Doch, sicher. Ich denke auch die ganze Zeit an dich.“

„Du bist lieb.“

„Das ist mein Ernst. So, und jetzt klemme ich mich ans Internet und lasse dich nach Hause fahren.“

„Okay ... ich liebe dich“, sagte sie und seufzte.

„Ich liebe dich auch. Gute Nacht, Sadie.“

Seufzend legte sie auf. An Matt hatte sie überhaupt nicht mehr gedacht, sie war viel zu beschäftigt gewesen. Sie wollte nicht, dass er glaubte, sie hätte Geheimnisse vor ihm. Aber jetzt wurde ihr nur noch bewusster, wie einsam sie war ... und wie unsicher sie sich fühlte.

 

 

Dienstag

 

Mit einem irgendwie unbehaglichen Gefühl verließ Sadie am nächsten Morgen den Aufzug. Am Vorabend hatte sie Andrea bedenkenlos ihr Herz ausgeschüttet, auch wenn sie dafür eigentlich gar nicht der Typ war. Plötzlich war es ihr unangenehm. Wahrscheinlich bestand dazu gar kein Anlass, aber Sadie war trotzdem verunsichert. Vorsichtig spähte sie ins Büro, wo noch nicht sehr viel Betrieb war. Sie war früh dran. Allerdings entdeckte sie bereits Andrea und Sienna. Ausgerechnet ...

Mit gestrafften Schultern ging sie zu ihrem Schreibtisch, aber es dauerte nur wenige Momente, bis Andrea sie bemerkt hatte und zu ihr kam.

„Guten Morgen“, sagte sie. „Ich hoffe, ich konnte dir irgendwie helfen. Wenn du noch irgendetwas auf dem Herzen hast – sag es ruhig.“

„Danke“, erwiderte Sadie, während langsam die Anspannung von ihr abfiel. „Es war gut, darüber reden zu können, ohne wirklich etwas erklären zu müssen.“

„Nein, das musst du nicht ... ich weiß genau, wovon du sprichst. Ich muss aber zugeben, dass ich gestern Abend im Hotel noch ein wenig recherchiert habe. Nick hat mir einen Zugang für eure Datenbank gegeben und darin steht wirklich eine ganze Menge mehr als in allen Quellen, die ich kannte.“

„Muss ja eine entspannte Nacht gewesen sein“, murmelte Sadie.

Andrea lächelte. „Es geht. Eigentlich hat es nur meine Annahme bestätigt, dass dein Vater und Jonathan Harold sich bestens verstanden hätten. Nur war dein Vater ja noch eine ganze Ecke fleißiger ...“

„Er hatte ja auch genug Zeit“, murmelte Sadie. „Er hat vor meiner Geburt schon angefangen.“

„Ja, er hatte wirklich genug Zeit. Ich habe auch ein altes Foto von dir gesehen. Wundert mich nicht, dass dein Vater dir auf die Schliche gekommen ist, denn das sah dir noch sehr ähnlich.“

„Ich weiß. Er war ja gar nicht der Einzige, der auf diesem Wege dahintergekommen ist. Matt und einer meiner alten Kollegen haben es genauso herausgefunden“, sagte Sadie.

„Kann ich mir vorstellen. Aber ich fand es erschreckend, wie viel die beiden wirklich gemeinsam hatten.“ In diesem Moment wandte Andrea den Blick zu Sadies Überraschung ab und starrte auf den Fußboden. „Ich hasse es.“

„Wenigstens hat Harold nicht deine Familie umgebracht“, sagte Sadie.

„Nein, sicher ... aber ich bin froh, dass dein Vater nicht weit mit dir gekommen ist. Was passiert ist, war schlimm genug.“

Plötzlich hatte Andrea einen ganz seltsamen Tonfall. Sie war jetzt nicht mehr der starke, selbstbewusste Profi – auf einmal wirkte sie verletzlich und klein.

„Wie kommst du darauf?“, fragte Sadie.

„Weil ich weiß, was das sonst anrichtet. Ich musste irgendwie an die Archer-Schwestern denken ...“

„Ich glaube, wir wären keine Menschen, wenn uns das nicht berühren würde“, sagte Sadie.

„Das stimmt wohl.“ Andrea schüttelte nachdenklich den Kopf. „Und es ist so wichtig, damit nicht allein zu bleiben.“

„Ich glaube, du bist dadurch sehr stark geworden.“

Andrea wollte schon etwas erwidern, aber sie kam nicht dazu, weil Nick geradewegs auf die beiden zusteuerte.

„Man bekommt ja ein richtig schlechtes Gewissen, wenn man sieht, dass ihr alle schon hier seid!“

„Musst du nicht“, sagte Andrea. „Wir tauschen uns gerade auf privater Ebene aus.“

Mit seinem Gesichtsausdruck machte Nick deutlich, dass er verstand, was Andrea meinte. „So etwas hatte ich gestern Abend schon vermutet.“

„Du hast ja mit keinem Ton gesagt, wessen Tochter in deinem Team ist“, sagte Andrea beinahe vorwurfsvoll.

„Nein, und vermutlich kennst du auch den Grund“, erwiderte er augenzwinkernd.

„Sicher. So war das nicht gemeint.“

„Ich weiß“, sagte er. „Das war alles etwas unglücklich, da Sadie ja auch gestern den ersten Tag wieder hier war. Ich wollte ihr eigentlich vorher sagen, dass du kommst und das alles im Vorfeld besprechen, aber ich bin nicht mehr dazu gekommen.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739338712
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (April)
Schlagworte
USA Profiling Bombe Krankenschwester Serienmord Krimi Spannung FBI Anschlag Trauma Psychothriller Ermittler

Autor

  • Dania Dicken (Autor:in)

Dania Dicken, Jahrgang 1985, schreibt seit ihrer Kindheit. Die in Krefeld lebende Autorin hat in Duisburg Psychologie und Informatik studiert und als Online-Redakteurin gearbeitet. Mit den Grundlagen aus dem Psychologiestudium setzte sie ein langgehegtes Vorhaben in die Tat um und schreibt seitdem Psychothriller mit Profiling als zentralem Thema.
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Titel: Die Seele des Bösen - Ruhe in Frieden