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Endstation gesund!?

Zwischen Psychiatrie und Leben

von Laura Adrian (Autor:in)
220 Seiten

Zusammenfassung

Wie geht ein junger Mensch damit um, wenn er plötzlich in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wird? Wie fühlt man sich, wenn das eigene Verhalten als krankhaft gilt? Was passiert, wenn die Verhaltensweisen, von denen man gedacht hat, dass sie einen befriedigen, erschreckende Namen, wie Bulimie und Magersucht bekommen? All diese Fragen beantwortet Laura Adrian in diesem Buch, in dem sie ihre Reise durch verschiedene Psychiatrien beschreibt. Sie gibt einen Einblick in ihr eigenes Leben, erzählt von Fehlern, die auf beiden Seiten gemacht wurden, aber auch von heilsamen Erkenntnissen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

Laura Adrian

 

 

Endstation gesund!?

 

Zwischen Psychiatrie und Leben

 

 

Biografischer Roman

 

 

 

Widmung

 

 

Dieses Buch widme ich meinem Hund.

Vielen Dank liebe Shari, du denkst täglich daran, dass ich pünktlich aufstehe. Wenn du mir morgens direkt in mein Ohr bellst, wirkt das besser als jeder Wecker! Und ja, du hast Recht, Frühsport mit dem Ball oder ein bisschen Tauziehen vor dem Frühstück hat noch niemanden geschadet. Dank dir habe ich gar keine Möglichkeit um zu einem Morgenmuffel mutieren.

Wenn ich am PC arbeite, achtest du darauf, dass ich nicht zu lange ruhig sitze. Regelmäßig aufstehen, die Haustür öffnen, schließen, schauen, wo du dich rumtreibst ... Bewegung hält fit! Und natürlich müssen nicht nur die Beinmuskeln ausführlich bewegt werden, sondern auch die Arme. Mindestens einmal täglich darf ich deshalb deine gebuddelten Löcher zuschaufeln und den Hof kehren.

Beim Gassigehen übst du mit mir dann das Anti-Aggressionstraining. Hey, mittlerweile bleibe ich echt ruhig, wenn du dich in Wildschweinkot, toten Fischen, Matsch oder sonstigem Zeugs wälzt! Die Gummistiefel und die Regenjacke haben sich beim Abduschen schon mehrfach bewährt.

Also vielen lieben Dank, Shari-Monster, ohne dich wäre ich beim Schreiben bestimmt einige Male schneller fertig.

 

 

1. Endstation gesund! Prolog

„Gesund“ – jetzt hatte ich es schwarz auf weiß: Ich galt als gesund.

Fasziniert, erfreut, erleichtert, traurig und verwirrt zugleich, las ich mir den Entlassungsbericht des Krankenhauses ein fünftes Mal durch. Ja, dort stand tatsächlich, dass ich gesund sei. Doch was bedeutete das? Ich hatte Normalgewicht, meine Blutwerte waren in Ordnung, meine psychische Verfassung hatte sich gebessert, ich fühlte mich wohler in meiner Haut, aber ... aber irgendetwas sagte mir, dass ich mich noch nicht dazu bereit fühlte. Der Arzt musste sich irren: Ich war noch nicht so weit. Man konnte mich nicht einfach so auf die Menschheit loslassen! Hilfe? Ich wusste doch gar nicht, wie man in der chaotischen Zivilisation dort draußen überlebt! Seit Jahren schon spielte sich mein Leben in Kliniken und betreuten Wohngruppen ab. Dort kannte ich mich aus, dort fühlte ich mich sicher. Aber ich wusste, dass dieses durchaus behütete Leben keinesfalls mit dem echten, harten Leben in Freiheit vergleichbar war.

Mit zittrigen Händen hielt ich mich an dem Papier fest, das mir bescheinigte, dass ich ab sofort in der Lage wäre, entlassen zu werden. Monatelang hatte ich diesem Tag entgegengefiebert, doch jetzt? Jetzt fühlte ich mich überfordert damit.

Dr. Weber – der Arzt, der mich über ein Jahr behandelt und schlussendlich dafür gesorgt hatte, dass ich nicht im Grab landete, sondern den Weg zurück ins Leben fand – lehnte sich in seinem ledernen Drehstuhl entspannt nach hinten und lächelte mich an: „Ja, Frau Adrian, das ist doch das, was Sie immer wollten. Sie sind gesund.“

„Äh. Ja.“ Mir gelang es, nicht einen vollständig zusammenhängenden Satz zu bilden. Zu tief saß der Schock über das Schreiben.

 

Ja, so oder so ähnlich fühlt es sich an, wenn man nach jahrelanger stationärer – oder auch ambulanter – Psychotherapie das Ergebnis verkündet bekommt, dass man geheilt oder zumindest so weit stabil ist, dass man auf die normale Menschheit vor den Türen einer Praxis oder Psychiatrie losgelassen werden kann. Man durchlebt ein Wechselbad der Emotionen. Sicherlich freut man sich und ist glücklich darüber, doch neben diesen positiven Gefühlen existieren leider auch ganz viele Zweifel und Ängste. Und diese entstehen meistens nicht nach und nach, sondern sind gefühlt von jetzt auf gleich da und reißen einem den Boden unter den Füßen weg. Am liebsten möchte man den Arzt fragen, ob man nicht noch ein paar Tage länger in der Klinik bleiben kann – nur, um ganz sicher zu gehen, dass man vollkommen stabil ist und nicht direkt wieder einen Rückfall erleidet. Diese Ängste sind bis zu einem gewissen Grad bei jedem Patienten normal. Bei manchen ist es mehr ausgeprägt und bei anderen weniger. Bei mir persönlich war es meiner Empfindung nach sehr schlimm, doch ich glaube, das war nur meine Meinung. Ein Arzt oder Therapeut würde es vermutlich als durchschnittlich deklarieren.

Damals konnte ich es gar nicht in Worte fassen, wie viele unterschiedliche Emotionen bei der Entlassung in mir herrschten. Zumal ich mich nicht getraute, alle Gefühle und Gedanken zu benennen. Mein gesamtes Gedankenchaos und Gefühlsdurcheinander fasste ich mit der Aussage „Ich freue mich unwahrscheinlich auf die Entlassung, endlich habe ich es geschafft“ zusammen. Aber in mir spielte sich bedeutend mehr ab. Vor allem verspürte ich viel mehr Angst und viel mehr Zweifel, doch diese getraute ich mich nicht zuzugeben. Wer behauptet schließlich schon bei einer Entlassung aus einer psychiatrischen Klinik, dass er lieber noch länger dortbleibt, anstatt in einen normalen Alltag zurückzukehren? Das wäre verrückt. Und laut ärztlichem Befund war ich ja nun nicht mehr verrückt. Ich war normal! Oh Mann, dieses Normalsein ist verdammt kompliziert und anstrengend.

Heute kann ich sehr gut erklären, was ich damals fühlte, doch zu dieser Zeit fehlte mir die Fähigkeit, mich so differenziert auszudrücken.

Ich nehme an, den meisten Leuten, die schon einmal in psychiatrischer Behandlung waren, muss ich nicht erläutern, wie es mir erging, doch ich möchte es für alle verständlich erklären: Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Vogel. Sie leben in der freien Wildbahn und können hinfliegen, wohin Sie möchten, doch dann werden Sie krank. Sie werden in einer Tierauffangstation aufgepäppelt. Sie werden beim Essen überwacht, versorgt und die „Gefahren“ von außen werden von Ihnen abgehalten. Langsam kommen Sie wieder zu Kräften, beginnen sich wohlzufühlen, tanken neuen Mut und dann ... Ja dann heißt es: „Guten Flug und tschüss“. Es ist ein riesiger Unterschied, ob man in einer beschützen Voliere fliegt, auch dann umsorgt ist, wenn man an dem Tag keinen Jagd-Erfolg hatte oder sich zu nichts imstande gefühlt hat, weil einem die Kräfte zum Aufstehen gefehlt haben, oder ob man in der freien Wildbahn auf sich gestellt ist. Gewiss, man wird darauf vorbereitet und nicht einfach so entlassen, aber es ist unmöglich, sich so gut vorzubereiten, dass man keine Anpassungsstörungen aufweist, oder nicht zumindest das ein oder andere Mal an seine Grenzen gerät. Es ist und bleibt eine Umstellung, die man nicht unterschätzen sollte.

In diesem Buch möchte ich auf humorvolle Art und Weise meinen Weg in die Freiheit schildern. Ich hoffe, dass ich mit meinen Erzählungen den einen oder anderen zum Schmunzeln bringe und vielleicht auch zum Nachdenken, denn auch wenn vieles lustig klingen mag, haben diese Seiten doch einen ernsten Hintergrund.

Bitte beachten: Das Buch spiegelt meine persönlichen Erfahrungen wider. Es ist kein allgemeiner Ratgeber, der auf jeden zutrifft. Jeder Mensch ist individuell, reagiert auf Erlebtes anders und verarbeitet Gedanken, Gefühle und Erinnerungen unterschiedlich. Ich gehe davon aus, dass viele Betroffene ähnliche Erfahrungen wie ich gemacht haben, dass einige Geschichten mit meiner Geschichte Parallelen aufweisen und sich an gewissen Punkten überschneiden. Allerdings wird es auch Differenzen geben und Stellen, wo manche Leser denken: „Nein, so gestaltete sich das bei mir überhaupt nicht. Das ist Schwachsinn.“ In diesen Situationen wünsche ich mir, dass Sie sich daran erinnern, dass ich hier meine Erfahrungen, Gedanken und Gefühle niederschreibe und keine verpflichtende Gebrauchsanweisung, wie sich jeder zu fühlen hat. Wenn es mir so erging, bedeutet das nicht, dass es allen identisch ergehen muss.

2. Der Weg zur Genesung


Was habe ich mir von der Therapie erhofft? Wie habe ich mir einen Klinikaufenthalt vorgestellt? Was habe ich von Psychologen erwartet? Wenn ich heute darüber nachdenke, welche Bilder ich damals in meinem Kopf hatte, dann muss ich feststellen, dass ich mich ziemlich naiv und unwissend zeigte. Ich dachte, ich gehe einige Male zu einer Gesprächstherapie und dann sind meine Probleme gelöst. Der Psychologe spricht ein paar Hokuspokus-Zaubersprüche, streut ein wenig Feenstaub und danach geht es mir wieder gut. Aber ganz so einfach gestaltete es sich leider doch nicht. Auf meinem Genesungsweg gab es unzählige Hindernisse, ich stand mehr als nur einmal in einer Sackgasse, habe gefühlte tausendmal die Orientierung verloren, und ab und zu hat es zwischen mir und dem Therapeuten auch richtig gekracht. Heute kann ich über die meisten Probleme von damals lachen, aber in der Situation selbst fühlte ich mich oft überfordert. Ich glaube, von außen betrachtet kann man sich kaum vorstellen, wie beschwerlich und anstrengend eine Therapie sein kann. Vom Beobachtungsposten sieht schließlich alles einfach und unspektakulär aus. Reden, zuhören, hin und wieder ein wenig nachdenken, etwas aufzeichnen, mit Spielfiguren reden ... es erinnert ein bisschen an die Kindergartenzeiten, allerdings hat es damit rein gar nichts zu tun.

Um es in einem Satz auszudrücken: Wenn man die Vorstellungen von therapieunerfahrenen Menschen und Personen, die schon in Therapie waren, vergleicht, dann prallen dort zwei Welten aufeinander. Und diese zwei Welten krachen nicht nur einmal, an einem Punkt, aufeinander, sondern sie kollidieren regelmäßig! Zumindest habe ich diese Erfahrung mehrfach gemacht.

Bei mir persönlich entstand der erste Zusammenprall zweier unterschiedlicher Ansichten sogar schon vor der ersten Therapiestunde. Ich selbst habe die festen Diagnosen Magersucht, Bulimie, Depressionen, posttraumatische Belastungsstörung und Borderline Persönlichkeitsstörung in meiner Akte stehen – also nichts, was man auf die leichte Schulter nehmen sollte oder was mühelos zu verleugnen wäre, aber dennoch tat ich genau das am Anfang. Ja, exakt, mein erstes „Therapieproblem“ hieß Einsicht. Wobei, kann man das überhaupt Therapieproblem nennen? Es trat ja schon vor der Therapie auf ...

 

Einsicht soll ja bekanntlich der erste Schritt zur Besserung sein. Doch was unternimmt man, wenn diese Einsicht nicht da ist? Wenn ein junges Mädchen, das 1,67 Meter groß ist, gerade einmal 35 Kilo wiegt und nur noch aus Haut und Knochen besteht, behauptet, dass es kein Problem mit dem Essen hätte? Oder, wenn sich jemand so tief ins eigene Fleisch schneidet, dass die Verletzungen genäht gehören, aber derjenige davon überzeugt ist, dass das definitiv kein Problemverhalten, geschweige denn krankhaft sei? Exakt das tat ich nämlich. Meine Auffassung war: „Wie soll ich eine Essstörung haben, wenn ich gar nichts esse? Da kann mein Essverhalten doch gar nicht gestört sein. Es existiert schließlich nicht.“ Oder: „Wieso soll ich das unterlassen, was mir Linderung verspricht?“ Und ich kann sagen, dass ich definitiv nicht die Einzige bin, die sich so verhalten hat, ihre Krankheit nicht sehen wollte und sich weigerte, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen. Ein Großteil der Betroffenen handelt in der Anfangsphase ähnlich und verleugnet das Unübersehbare. Es ist nämlich nicht leicht sich selbst einzugestehen, dass man gerade nicht mit seinem Leben zurechtkommt und dass einem die Probleme über den Kopf wachsen.

Meine Familie, Lehrer, Freunde und sogar fremde Menschen auf der Straße haben mir sofort angesehen, dass ich krank aussah und Unterstützung benötigte, doch ich selbst konnte oder wollte es nicht erkennen. Ich erfand ständig neue Ausreden, um die Wahrheit zu umgehen. Jedem, der versuchte, mit mir ein Gespräch zu führen oder mir die Augen zu öffnen, verpasste ich eine verbale Ohrfeige. Ich war nicht einfach zu jener Zeit. Ich verhielt mich schlimmer als ein kleines, bockiges Kind. In dieser Phase konnte ich nicht nachempfinden, wie sehr ich damit meine Umwelt belastete und wie stark sie wegen mir litten. Meine kognitiven Fähigkeiten waren zu eingeschränkt, als dass ich mir über andere Dinge Gedanken hätte machen können als über mich selbst und meine Krankheit. Ich dachte ausschließlich an mich und meine persönlichen Vorteile. Betrachte ich heute mein Verhalten von damals, muss ich zugeben, dass ich sehr egoistisch und doof war. Ich dachte, ich sei etwas Besonderes, ich könne die gesamte Welt an der Nase herumführen, meine Lügen würde niemand bemerken, alle wären neidisch auf meine Fähigkeit über einen solch langen Zeitraum auf Nahrung zu verzichten ... doch in Wirklichkeit log ich nur eine Person an; nämlich mich selbst ... Doch dazu folgt in einem anderen Kapitel mehr. Bleiben wir zunächst einmal bei dem Begriff „Einsicht“. Was unternimmt man, wenn vor einem eine offensichtlich magersüchtige, depressive, bulimische oder anderweitig von einer psychischen Erkrankung betroffene Person steht, bei der man deutlich erkennt, dass sie Unterstützung benötigt, aber diese Person alles leugnet? Ganz einfach: gar nichts. Das mag jetzt hart klingen, aber ja, es entspricht der Wahrheit. Man kann niemandem helfen, der sich nicht helfen lassen möchte. Manche Leute sagen dazu: „Das ist ähnlich, als würdest du mit einer Wand reden.“ Wobei ich diesem Vergleich nicht komplett zustimme. Ich würde behaupten, es ist schlimmer. Wenn ich mit einer Wand rede, hört diese nicht zu und bleibt dort stehen, wo sie zuvor bereits stand. Treibt man jedoch einen Betroffenen in die Enge, entfernt er sich zunehmend weiter. Mögliche Reaktionen können von genervtem Gesichtsausdruck über Wutausbrüche bis hin zur Flucht und vollständigem Abblocken jeglicher Kontaktaufnahme reichen. Jeder Streit, jede Auseinandersetzung zieht einen unsichtbaren Graben um die Person herum, der sich stetig weiter ausbreitet. Aber was soll man stattdessen tun? Einfach zuschauen und zusehen, wie der Betroffene sein Leben gegen die Wand fährt oder abstürzt? Jain. Wenn jemand keine Hilfe zulässt, ist es schwer, an ihn heranzutreten. Begibt man sich einen Schritt auf ihn zu, tritt er mindestens einen Schritt zurück. Es befindet sich eine Art unsichtbarer Abstandshalter um die Person herum. Kommt ein Eindringling zu nahe, löst das einen Alarm aus und der Abstand muss wiederhergestellt werden. Versucht man dennoch von außen, in den „Ring“ einzutreten, wird man verletzt. Sprich, mit Hinterherlaufen und Probieren, denjenigen einzuholen, kommt man nicht weiter. Das ist ähnlich, wie wenn man versucht, einem panischen Pferd zu erklären, dass es nicht flüchten muss, sondern ruhig stehen bleiben soll. Damit gelangt man an kein Ziel.

Aus Erfahrung heraus kann ich sagen, dass es besser ist, stehen zu bleiben und als eine Art Anker zu dienen. Wenn jemand jetzt, in diesem Moment, keine Hilfe in Anspruch nehmen möchte, kann man sie ihm nicht aufzwingen. Man kann es lediglich akzeptieren – und das sollte man auch. Denn auch wenn ein Mensch psychisch krank ist oder gerade nicht weiß, wie sein Leben weitergehen soll, sollte man nie den Respekt vor ihm verlieren und seine Meinung herunterspielen. Man ist nicht dazu gezwungen gutzuheißen, was die Person macht, sagt oder denkt, aber man sollte es auch nicht abwerten. Stellen Sie sich vor, Sie haben Ihr absolutes Hassgericht vor sich. Es schmeckt Ihnen nicht und Sie verabscheuen den Geschmack. Doch ein Außenstehender erklärt Ihnen ununterbrochen, dass Sie es essen müssen, weil es sooo unwahrscheinlich lecker ist, und dass Sie es sich nur einbilden, dass es nicht schmeckt. Sie müssen es nur probieren und es wird Ihnen zu einhundert Prozent schmecken! Es kann nicht sein, dass Sie das nicht mögen. Das mag doch jeder! Jeder liebt dieses Essen, also stellen Sie sich nicht so an! – Wie fühlen Sie sich dabei? Gut? Nein, wohl eher nicht. Vermutlich denken Sie: „Was für ein Arsch. Ich mag das nicht. Es schmeckt mir nicht. Aus, basta. Soll er es doch essen, wenn er es liebt.“ Und genau dieses Empfinden verspürt auch ein Betroffener, wenn er ständig zu hören bekommt, dass sein Fühlen falsch ist, seine Denkweise abnormal und sein Verhalten krankhaft.

Wichtiger Hinweis: Das bedeutet keinesfalls, dass Sie sich hinstellen müssen und sagen sollen, dass Sie es gut finden, wie sich der Betroffene aufführt, und dass Sie es voll und ganz akzeptieren, dass er von einer Brücke springen will, seine Gefühle mit Alkohol betäubt, sich zu Tode hungert oder Ähnliches. Nein, bitte nicht! Es soll lediglich vor Augen führen, dass man nicht ständig sagt, wie es richtig wäre, und Vorwürfe von sich gibt. Man kann kundtun, dass man die Situation oder das Verhalten nicht gut findet, aber sollte nicht den Menschen an sich abwerten.

Als Außenstehender ist es verständlicherweise schwer zuzuschauen, wie der Betroffene mit sich und seinem Leben umgeht. Aber ihm deshalb Vorwürfe zu machen oder ihn zu tadeln, sorgt meistens nur für Reibungspunkte. Geht man stattdessen hin und nimmt ihn mit seinen Ecken und Kanten an, öffnet das eine Tür. Und diese Tür heißt Vertrauen. Ich kann anhand meiner Geschichte sagen, dass es mir sehr geholfen hat „normal“ behandelt zu werden. In der Therapie, zu Hause oder von Freunden habe ich andauernd zu hören bekommen, dass ich mehr essen muss, aufhören soll, mich selbst zu verletzen, häufiger lachen und weniger pessimistisch denken soll. Egal, wo ich auftauchte, ständig wurde mir vorgeschrieben, was ich zu tun und zu lassen hätte. Das hat mich so genervt, dass ich von Tag zu Tag meine Schutzmauer um mich herum höher gezogen habe. Die einzige Person, die ich noch an mich herangelassen habe, war Richard, ein Pferdebesitzer aus dem Reitstall, in dem mein Pflegepferd stand. Richard hat nämlich keine Ahnung, wie er mit jemandem wie mir umgehen sollte. Ich glaube, er war ziemlich überfordert. Aber dennoch hat er instinktiv richtig gehandelt. Er hat mich nämlich einfach angenommen, wie ich war. Er hat in mir nicht das magersüchtige, depressive Mädchen gesehen, sondern das Mädchen, welches in den Stall kommt, um sein Pferd zu versorgen und ein paar unbeschwerte Stunden zu verbringen. Er hat mich nicht anders behandelt als andere Gleichaltrige, er hat nicht nachgefragt, wieso ich mich schon wieder selbst verletzt hatte. Wenn ich wütend war, ging er mir aus dem Weg, wenn ich reden wollte, hörte er zu, wenn ich schwieg, schwieg er mit mir. Er hat mir das Gefühl gegeben, für mich da zu sein. Ich wusste, dass ich immer zu ihm kommen konnte – egal, welchen Unsinn ich verzapft hatte. Er fragte nicht nach meinen Gründen, sondern half mir aus dem Dreck heraus. Pädagogisch gesehen hat er vermutlich vollkommen falsch gehandelt. Und auch die meisten Psychologen würden wahrscheinlich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn sie wüssten, dass er „nur“ zugesehen hat, wie es mir ständig schlechter ging, und nie von sich aus eingegriffen hat ... Aber ja, ich muss ehrlich sagen: Menschlich war genau das für mich der richtige Weg. Er ist mir nicht hinterhergelaufen. Er blieb stehen und ich konnte frei entscheiden, ob ich zu ihm ging oder nicht. Er hat jedes Mal darauf gewartet, dass ich den ersten Schritt auf ihn zukam, und mir die Entscheidung überlassen, ob ich reden wollte oder nicht. Ging ich weg, blieb er stehen und wartete, bis ich wieder zurückkam. Und ich behaupte jetzt, dass genau dieses Annehmen, Tolerieren der Stimmungslage, keine Vorwürfe machen und einfach so behandeln, wie jeden anderen auch, die größte Hilfe ist. Vielen Dank, Richard.

 

Bemerkt man als Betroffener wirklich nicht, dass man Hilfe braucht und es nicht mehr alleine aus seinen negativen Gedanken, aus seinem Problem – oder Suchtverhalten schafft?

Zu Beginn entwickelt sich meistens alles so schleichend, dass man es tatsächlich nicht merkt. Man wacht nicht morgens auf und nimmt sich vor, ab diesem Tag psychisch krank zu sein. Meistens ist es ein Aufeinandertreffen vieler verschiedener Ereignisse und die daraus resultierenden Gefühle, eventuelle Überforderung und die Gedanken, die einen dann mit der Zeit verändern. Am Anfang merkt man nichts. Irgendwann fragt man sich: „Ist das tatsächlich richtig, was ich da tue?“ Aber nach kurzem Überlegen kommt man recht schnell zu dem Entschluss, dass es richtig sein muss, weil es hilft, beziehungsweise, dass das sicherlich bloß eine Phase ist. Das geht eine Weile lang gut. Danach kommen größere Zweifel auf, und man beginnt sich darüber zu informieren, ob das alles wirklich normal ist. Die Informationen, die man bekommt, leugnet man jedoch. Einerseits wird einem bewusst, dass man eventuell in eine falsche Richtung steuert und dass man etwas ändern sollte, aber auf der anderen Seite kann man sich nicht vorstellen, dass man wahrhaftig psychisch krank ist. Die Fälle, die in Büchern oder im Internet beschrieben werden, sind schließlich um ein Vielfaches krasser und so weit würde man nie gehen! Außerdem hat man ja alles unter Kontrolle. Ein Psychologe würde einen auslachen, wenn man wegen solcher Kleinigkeiten zu ihm käme. Und was sollen auch Freunde, Familie oder Kollegen denken? Nein, man ist ganz gewiss nicht psychisch krank!

Nach außen hin streitet man alles ab, vor seinen Mitmenschen verstellt man sich, man redet sich ein, dass alles in bester Ordnung ist und die depressive Phase bald vorbeigeht, doch gewisse Zweifel lassen sich nicht zur Seite schieben. Wenn man ganz ehrlich zu sich selbst ist, merkt man, dass irgendetwas mit einem nicht stimmt. Es fühlt sich seltsam an. Bereits in diesem Stadium ist man schon in einer Abhängigkeit. Man besitzt zwar noch das Gefühl, dass man über alles die feste Kontrolle hat, doch diese Kontrolle ist alles andere als fest. Es ist eher ein loser Faden, der kurz davor ist abzureißen. Wenige Wochen oder Monate später kontrolliert man nämlich nicht mehr selbst sein Handeln und sein Leben, sondern die Erkrankung hat die Kontrolle. Sobald die Erkrankung die Macht hat, hat man als Mensch verloren. Man tut so gut wie alles für sie. Die Außenwelt wird einem gleichgültig. Man ist wie eine Maschine. Ohne Rücksicht auf Verluste zerstört man unwillkürlich alles um sich herum. Kommt jetzt nicht die Einsicht durch, dass man ein Problem hat und Unterstützung benötigt, kann das böse enden. Freunde wenden sich von einem ab. Man schafft es vielleicht nicht mehr zur Arbeit zu gehen und verliert dadurch seinen Job, die Familie, eine Ehe kann zerbrechen. Um an mögliche Suchtmittel zu kommen, ist einem so gut wie jedes Mittel recht ... Egal, welche Diagnose man hat, jede psychische Erkrankung ist ein Arschloch, das Leben und Existenzen zerstören kann.

Da die Steigerung und der Einstieg schleichend vonstattengehen, bekommt man gar nicht mit, wie tief man sinkt. Und wenn man es doch mitbekommt, dann fühlt man sich wie in einem Zug gefangen, der mit Maximalgeschwindigkeit auf einen Abgrund zurast und der keine Notbremse besitzt ... man möchte das alles nicht, kann aber nicht damit aufhören oder etwas ändern.

 

3. Hilfe, ich brauche Hilfe?


Erkennt der Betroffene nicht, dass er ein Problem hat, und zeigt keinen Willen etwas an seiner aktuellen Situation zu ändern, ist es so gut wie unmöglich, ihm zu helfen. So weit waren wir bereits beim letzten Kapitel. Doch was unternimmt man, wenn diese Einsicht da ist? Wie geht es weiter? Wie fühlt man sich nach der Erkenntnis, dass man nicht mehr alle Tassen im Schrank hat?

Ich kann mich noch gut an den Moment erinnern, an dem ich überlegt habe, ob ich irre, oder ob ich die einzig normale Person auf dieser Welt bin. Es existierten zwei Ansichten in meinem Kopf. Eine vertrat die Meinung, dass irgendetwas mit mir nicht stimmen konnte, dass es nicht normal war, sich mit Rasierklingen zu verstümmeln und die Waage und das eigene Gewicht in den Lebensmittelpunkt zu stellen. Und ein anderer Teil in mir fand das völlig in Ordnung. Ich wollte dünn sein, also achtete ich auf mein Körpergewicht, ich fühlte mich gut, wenn ich abgenommen hatte, ich verspürte Glück, wenn mein eigenes Blut den Arm herunterlief ... Für mich stand hinter jeder Verhaltensweise eine handfeste Logik. Meine Krankheit half mir. Wobei ich es zu diesem Zeitpunkt nicht als Krankheit ansah. Es stellte für mich eher eine Ersatzhandlung dar. Ich konnte nicht so leben wie andere Menschen. Ich brauchte Schmerz, um mich zu spüren, die Waage, um meinen Körper zu kontrollieren und die Selbstverletzung, um zu überleben. Für mich war alles, was ich tat, logisch. Und ich stelle jetzt mal eine gewagte Behauptung auf, von der ich felsenfest überzeugt bin: Ohne Magersucht, Selbstverletzung und Bulimie wäre ich gestorben. Ja, das klingt verrückt und das ist es auch. Schließlich habe ich mich fast zu Tode gehungert, mir mehrfach wichtige, große Blutadern durchtrennt, Sehnen und Muskeln angeschnitten, die Seele aus dem Leib gekotzt ... Doch das war alles erst später. In erster Linie, in den ersten Monaten, sicherten mir exakt diese Verhaltensweisen mein Überleben.

Bevor ich krank wurde, war mein Leben die reinste Hölle. Ich erlebte mehrere Vergewaltigungen, wurde gemobbt, regelmäßig geschlagen, fühlte mich alleine gelassen. In dem Alter, in dem meine Mitschüler sich das erste Mal verlieben, dachte ich an Selbstmord. Dann, wenn andere auf Partys feierten, verkaufte ich mich an fremde Männer, um weiteren Schlägen zu entgehen. Ich konnte nicht mehr. Bevor mein Leben überhaupt richtig anfing, fühlte ich mich schon tot. Ich sah keinen Ausweg mehr. Gewiss ist meine Krankheitsvorgeschichte krass; nicht jeder, der psychisch krank ist, hat solche eine Vorgeschichte, dennoch besitzt jeder Betroffene einen Grund, einen Auslöser, der ihn zu dem Menschen gemacht hat, der er heute ist. Bei jeder Person, die psychisch krank ist, gab es mindestens einen Punkt in Leben, der so prägend war, dass sich danach alles verändert hat. Meist wurde in diesen Momenten überdurchschnittlich viel gefühlt. Es gab eine oder mehrere Situationen, in denen man überfordert war, etwas gesehen oder erlebt hat, was man nicht verarbeiten kann, einen Verlust, der einen traurig gemacht hat oder eine schwere Enttäuschung. Die Gründe sind so verschieden wie die Menschen selbst. Manchmal liegt die Ursache einer psychischen Erkrankung auch in der genetischen Veranlagung oder es gibt keinen nennbaren Grund. Seelische Erkrankungen sind unberechenbar. Sie können jeden treffen. Man kann sich dagegen nicht impfen lassen oder freikaufen. Geld und sozialer Stand spielen keine Rolle. Genauso wenig wie Beruf oder Ausbildung.

Für mich stellten die Magersucht, Bulimie und das selbstverletzende Verhalten damals eine Fluchtmöglichkeit dar. Viele Symptome haben sich aus meiner Angst und dem Gefühl überfordert zu sein, heraus entwickelt. Und so ist es bei so gut wie jedem Betroffenen. Es gibt niemanden, der abends einschläft und über Nacht beschließt, psychisch krank zu werden. Es ist kein Entschluss, den man fasst. Es ist vielmehr eine Entwicklung. Man spürt, dass im eigenen Leben etwas schiefläuft, dass man so – unter diesen Umständen – kaputtgeht und, um das zu verhindern, entwickeln sich Alternativhandlungen. Oftmals überlegt man sich gar nicht, was man da gerade tut, sondern es ist auf einmal eine Art Geistesblitz da, der befiehlt: „Probiere mal das und das aus und das verspricht dir Linderung.“ Anhand meiner persönlichen Geschichte kann ich sagen, dass ich zuvor nie Probleme mit dem Essen hatte. Ich habe mir nie übermäßig viele Gedanken um das Thema Gewicht oder gesunde Ernährung gemacht, und ich hatte auch nie das Bedürfnis dünn zu sein wie ein Model auf dem Laufsteg. Für mich ging es bei der Magersucht nicht um das Abnehmen, weil ich schön sein wollte, sondern für mich spiegelte Magersucht Kontrolle wider. Mein Leben war zu dieser Zeit unberechenbar und voller Widersprüche. Ich wollte aufgeben und musste kämpfen, mir war zum Weinen und dennoch lächelte ich. Meine Psyche lag in Trümmern, aber mein Umfeld nahm lediglich meine perfekte Fassade wahr. Alles gestaltete sich chaotisch und unberechenbar. Ich sehnte mich nach Kontrolle. Und diese Berechenbarkeit versprach mir die Magersucht. Sie kündigte mir Anerkennung von außen an. Freunde und Familie bewunderten mich für meine tolle Figur. Ich konnte meinen Körper kontrollieren. ICH besaß das Sagen und die Gewalt über ihn. Hatte er Hunger und verlangte nach Essen, musste ich nicht mehr auf ihn hören. Ich verbot es ihm, und er hatte sich daran zu halten. Meiner Meinung nach war ich kein Sklave meines Körpers mehr, sondern beherrschte ihn ab jetzt. Ich entwickelte mich zu einer Meisterin der Selbstkontrolle. Ich fühlte mich dadurch stark. Immer mehr freundete ich mich mit der Magersucht an und immer mehr nahm ich die Vorteile wahr. Auf einmal wurde alles einfach und berechenbar. Aß ich etwas, nahm ich zu, aß ich nichts, nahm ich ab. Vollkommen verständlich und logisch. Ganz anders als in der Realität, in der es keine festen Gesetze gab.

Ähnlich verhielt es sich auch mit der Selbstverletzung. Ich hasste meinen Körper, ich wollte ihn bestrafen, also fügte ich ihm Schmerzen zu. Wenn ich zu viel fühlte, viel mehr, als ich ertragen konnte, versuchte ich, den innerlichen Schmerz aus mir herauszuschneiden. Die Schnitte auf der Haut spiegelten Erinnerungen für mich wider, sie gaben mir das Gefühl zu leben oder zu überleben. Sie bewiesen mir, dass jede Wunde irgendwann verheilt, jeder Schmerz vergeht.

Bulimie drückte für mich ebenfalls Selbsthass aus. Wenn ich versagt hatte, nicht standhaft bleiben konnte gegenüber dem Essen, musste ich mich bestrafen. Wenn mich die Welt ankotzte, kotzte ich wortwörtlich zurück. Wenn sich Kalorien in meinem Magen befanden, die ich nicht haben wollte, dann musste ich sie dort wieder herausholen. Was ich damit sagen will? Es hatte alles einen Sinn. Für mich war damals alles logisch. Für mich war meine selbst erschaffene Hölle aus Magersucht, Bulimie und Selbstverletzung erträglicher als die Hölle der Realität. Sicherlich flüchtete ich mich nur von einem Übel in das nächste, doch das verstand ich noch nicht. In erster Linie fühlte ich mich in der neuen Hölle besser.

Bestärkt wurde ich in meinem krankhaften Verhalten auch durch die Täter. Als ich zu dünn wurde, hörte der Missbrauch auf. Als abgemagertes Knochengerüst verkaufte ich mich nicht mehr. Also, was wollte ich mehr?

Klar hatten meine Verhaltensweisen auch Nachteile. Aber diese blendete ich gezielt aus. Das Positive, was mir mein Verhalten an Nutzen brachte, überwog. Und später, als die Nachteile nicht mehr zu ignorieren waren und ich sie nicht länger ausblenden konnte, wurden sie mir egal. Ich hatte keinen Bedarf mehr mich zurück in ein richtiges Leben zu kämpfen, dafür fühlte ich mich zu schwach. Außerdem, was bedeutete schon Leben? Erneut anschaffen zu gehen, sich mit Problemen auseinanderzusetzen, zu viel Denken, zu lange Grübeln ... nein, da war mir meine kranke Welt lieber. Mein größtes Problem war, wie überstehe ich den kommenden Wiegetermin, wo finde ich eine Toilette zum Kotzen, wie finanziere ich meine Fressanfälle und wo setze ich die Klinge als Nächstes an? Ich lebte alleine für meine Krankheit.

Ab und zu überkam mich zwar der Wunsch gesund zu sein, doch der Weg dorthin erschien mir so weit und beschwerlich, dass ich es für besser hielt, es erst gar nicht zu versuchen. Denn wenn ich nicht mit dem Kämpfen anfing, dann konnte ich auch nicht scheitern. Ich log mich selbst an. So wie immer ... Ich glaube, ich war in diesen Jahren nie ehrlich zu mir selbst. Ich redete mir alles schön. Doch andersherum betrachtet: Wie wäre ich damit umgegangen, wenn ich mich nicht angelogen hätte? Wenn ich die Wahrheit gesehen hätte? Vermutlich hätte ich mich direkt erschossen oder wäre von der nächsten Brücke gesprungen ...

Die kranke Seite in mir hielt also an den Diagnosen fest und baute sich ein durchdachtes Geflecht an Lügen auf, das allem einen Sinn verlieh. Doch was sagte die gesunde Seite dazu? Nun ja, die saß schmollend in der Ecke, an einen Stuhl gefesselt und den Mund mit Klebeband zugeklebt. Sie war noch anwesend und anfangs versuchte sie auch noch, sich einzumischen und mir mitzuteilen, dass ich mich auf einem gefährlichen Weg in Richtung Abgrund bewegte, doch der kranke Anteil in mir war stärker. Ich ignorierte sie, verbannte sie in den Hintergrund, und als sie weiterhin meinte, sich einmischen zu müssen, machte ich sie unschädlich. Ich tötete sie nie – dafür war sie einerseits zu stark und andererseits getraute ich mich das nicht – schließlich gestaltete es sich immer gut, einen Plan B im Hinterkopf zu haben, aber ich engte sie sehr stark ein.

Um solche Gedanken und Gefühle begreiflich zu machen, benutze ich gerne den Ausdruck „Personen im Kopf“. Ich besitze zwar keine richtigen Personen im Kopf und höre keine Stimmen oder Ähnliches, aber mir persönlich fällt es leichter, gewisse Dinge in Worte zu fassen, wenn ich ihnen eine Gestalt gebe. Das heißt, die Personen in meinem Kopf sind keine Menschen, sondern vielmehr unterschiedliche Ansichten, Gedanken, Auffassungen.

Die kranke Seite und die gesunde Seite in meinem Kopf kennen sich. Sie können sich sogar miteinander unterhalten, jedoch mögen sie sich nicht. Sie sind fies zueinander, diskutieren gerne, und wenn sie mit Worten nicht weiterkommen, dann greifen sie zu Waffen. Die gesunde Seite versucht Konflikte gerne mit Reden zu lösen und vernünftig zu diskutieren, doch die kranke Seite zählt mehr auf Granaten, Bomben und Maschinengewehre. Wen ich von den beiden lieber mag und bevorzuge, kann ich nicht eindeutig festlegen. Sie gehören beide zu mir und wohnen in meinem Kopf. Beide haben eine Berechtigung. Wobei die gesunde Seite und ich mittlerweile so weit sind, dass wir die kranke Seite ganz gut eindämmen können. Inzwischen ist die kranke Seite lammfromm geworden. Sie will nicht mehr die Kontrolle in meinem Gehirn haben, sondern überlässt sie mir. Sie darf zu allem ihre Meinung sagen und ich höre sie mir an. Anschließend beratschlagen wir, ob ihre Idee tatsächlich sinnvoll und zielbringend ist – was sie in 99,9 Prozent der Fälle nicht ist – und deshalb wird es auch nicht gemacht.

Ob ich verrückt bin? Ja, ich glaube schon, aber da ich laut Ärzten psychisch krank bin, nimmt mir das niemand übel. Aber ganz ehrlich: Wie soll ich mein Gedanken- und Gefühlsleben anders erklären? Verständlich erklären – wohlgemerkt!

Laut Ärzten und Therapeuten gelte ich mittlerweile als gesund. Rein äußerlich erinnern lediglich meine unzähligen Narben auf meiner Haut an meine Vergangenheit, aber in meinem Kopf haben die Jahre, in denen ich für meine Krankheit gelebt habe, noch deutlich mehr Spuren hinterlassen. Auch wenn ich es schwarz auf weiß stehen habe, dass ich therapiert bin, so bin ich definitiv nicht mehr der Mensch, der ich vor all dem war. Ich bin jemand anderes. Meine Vergangenheit hat mich geprägt. In den Kliniken wird vieles dafür getan, dass man lernen kann, ein halbwegs normales Leben zu führen, aber es wird nie jemandem gelingen, einen Reset-Knopf zu drücken und weiterzuleben, als wenn es diese Monate und Jahre nicht gegeben hätte. Außerdem: Nehmen wir mal an, ich würde die Erinnerung und die Gedanken aus dieser Zeit löschen, würde ich dann nicht auch einen Teil meiner Persönlichkeit, einen Teil von mir selbst ausradieren?

In meinen Gedanken gibt es also noch einen kranken Teil, der sich ab und zu meldet. Ich höre ihm zu und rede viel mit ihm. In den letzten Jahren ist es ein bisschen weniger geworden, aber ich würde diesen kranken Teil in mir nie töten oder komplett rausschmeißen. Er gehört zu mir und ja, ich mag ihn auch ein wenig. Ich bin ihm dankbar, denn ohne ihn wäre ich schon längst tot. Wichtig, und entscheidend, ist für mich lediglich, dass der kranke Teil keine Kontrolle bekommt. Er darf da sein, er darf etwas sagen, aber er darf keine Entscheidungen treffen. Ich kontrolliere ihn und nicht er mich.

Ein verständliches Beispiel aus dem Alltag: Ich gehe mit einer Freundin essen. Ich nehme die Speisekarte, lese sie durch und bei jedem Wort, das ich lese, leuchtet direkt die Kalorienzahl in meinem Kopf auf. Ich kann es nicht ausblenden. Die kranke Seite führt mir bildlich vor Augen, wie ich aussehe, wenn ich 1000 Kalorien zu mir nehme. Ich werde morgen nicht mehr meine Hose zubekommen! Drei Kilo Gewichtszunahme garantiert! Ich lese weiter. Salat. Ja, Salat klingt gut. Aber das Dressing beinhaltet vermutlich Sahne. Also am besten Salat ohne Dressing bestellen. Und ohne Käse, ohne Oliven, ohne Schinken ... nur grünen Salat. Der ist kalorienarm und gesund. Wenn die Kellnerin bei dieser Bestellung verwirrt schaut, dann ist das Neid. Sie ist neidisch, weil sie es nicht schafft, solch vielen leckeren Dingen zu widerstehen.

Die Kellnerin kommt. Ich bestelle. Einen Salat. Aber mit Dressing und mit anderen Zutaten. Wieso? Innerhalb von Sekunden habe ich einen Diskussionskreis in meinem Gehirn einberufen. Alle anwesenden Gedanken durften ihre Meinung, ihre Bedenken und Ängste mitteilen. Zusammen haben wir alles besprochen und analysiert. Ich will nicht, dass man mir meine Essstörung noch ansieht, ich will normal essen, doch die kranke Seite in mir hat Angst. Ich will ihr diese Angst nehmen. Denn drei Kilo Gewichtszunahme wegen eines Salatdressings ist doch etwas übertrieben. Das sieht auch sie ein. Rein theoretisch könnte ich jetzt eine Pizza mit ganz viel Käse bestellen, aber das möchte ich nicht. Zumindest nicht jedes Mal. Ab und zu, wenn alle Anwesenden in der Gesprächsrunde gut gelaunt und optimistisch sind, bestelle ich eine Pizza, doch meistens einigen wir uns auf einen schönen großen Salat. Denn dann sind alle zufrieden. Ob dieses Verhalten noch krankhaft ist? Darüber lässt sich streiten. Für mich ist es nicht krankhaft, sondern völlig in Ordnung. Ich habe noch immer – nach all den Jahren – Respekt davor, vor anderen zu essen. Zu viele Gerichte auf der Speisekarte überfordern mich. Allerdings stelle ich mich dennoch der Situation, flüchte nicht, traue mich und gebe somit der kranken Seite in mir nicht zu viel Macht.

Solch ein Szenario wäre vor drei Jahren für mich noch undenkbar gewesen. Damals wäre ich erst gar nicht in das Restaurant reingegangen, weil ich allein durch die Anwesenheit von vollen Essenstellern Angst bekommen hätte, fett zu werden! Ohne etwas davon zu essen, allein vom Ansehen der Teller sollte ich laut meinen Vorstellungen zunehmen. Wenn ich heute Mitmenschen von dieser Angst berichte, werde ich müde angelächelt. Es ist vollkommen unglaubhaft, dass man allein vom Essen-Anschauen dick wird oder dass man durch das Fett, das sich in Body-Milk befindet, zunimmt, aber das wusste ich damals nicht. Meine Angst erschuf eine andere Realität. Eine Vorstellung, in der alles gefährlich war und ich niemandem trauen konnte. Mittlerweile kann ich ebenfalls darüber lachen und frage mich, wie ich so „doof“ sein konnte, doch damals war meine Furcht real. Sie existierte wirklich.

Allgemein ist es, denke ich, schwierig, sich in das Denken und Fühlen einer Person, die psychisch krank ist, hineinzuversetzen. Das merke ich selbst. Mir fällt es als ehemalige Betroffene schon schwer, mein Denken und Fühlen nachzuvollziehen. Es gibt mehr als einen Punkt in meiner Geschichte, dem ich nicht – oder nicht mehr – folgen kann. Wo ich mich frage, wer oder was damals die Kontrolle über mein Handeln hatte. Ich schäme mich für mein früheres Verhalten und bin geschockt von mir selbst.

4. Erste Therapiestunde


Irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem es unausweichlich wurde: Ich musste in Therapie. Ich war nicht mehr tragbar. Ich versank in einem schwarzen Loch, drohte in negativen Gedanken zu ertrinken, und verletzte mich fast täglich selbst. Eine Psychologin musste her.

Wer schon einmal versucht hat bei einem Psychologen einen Termin zu finden, der fühlte sich vermutlich recht schnell frustriert. Wartezeiten von drei Monaten bis zu einem Jahr sind in vielen Praxen normal und trauriger Alltag. Wie jemand reagiert, der gerade keinen Sinn mehr im Leben sieht und kurz davor ist in seinen Zweifeln zu ersticken, wenn man ihm mitteilt, dass er noch monatelang auf Hilfe warten muss, muss ich, glaube ich, nicht näher ausführen. Sicherlich gibt es als Notfallplan immer die Möglichkeit sich zur Krisenintervention stationär in einer Klinik einweisen zu lassen, aber diesen Schritt zu wagen, kostet noch mal mehr Überwindung, als sich ambulant in Therapie zu begeben. Grundsätzlich erachte ich es sowieso als schwer, diesen Entschluss zu fassen, und sich selbst einzugestehen, dass man Hilfe von einem Psychologen benötigt. Es gibt viele Vorurteile, falsche Annahmen und Gerüchte, die sich um das Thema Psychotherapie tummeln. Dadurch entstehen Berührungsängste. Man weiß, dass Psychologen keine Gedanken lesen können, dass sie keine Aliens sind, nicht mit Elektroschocks therapieren, keine Exorzismen betreiben oder Lobotomien durchführen, doch eine Restangst bleibt. (Lobotomie ist das Durchtrennen der Nervenbahnen zwischen Thalamus und Frontlappen sowie der grauen Substanz. Früher wurde diese Operation am Gehirn durchgeführt, um psychische Erkrankungen zu „behandeln“. Dass dieses gewaltsame Durchtrennen der Nervenbahnen ungesund und gefährlich ist, die Persönlichkeit des Menschen verändert und keinesfalls eine Therapie darstellt, sollte heutzutage klar sein.) Man hat keine Ahnung, was einen erwartet. Man kennt nur die Horrorfilme, in denen Psychologen und Psychiatrien selten positiv verkörpert werden, und die Gerüchte, die in der Gesellschaft kursieren. Natürlich löst das Furcht und Zweifel aus! Des Weiteren kostet es Mut, sich selbst einzugestehen, dass man keine Chance mehr hat, seine Probleme alleine zu managen. Man fühlt sich schwach und unfähig. Es gehört mehr Stärke dazu, Hilfe anzunehmen und in Therapie zu gehen, als so zu tun, als wenn alles in Ordnung wäre.

Ich hatte damals Glück. Ich musste keine Ewigkeit auf einen ambulanten Therapieplatz warten. Ich glaube, ich hätte dieses monatelange Ausharren auch gar nicht mehr ausgehalten. Jeden Tag kamen mehr Bedenken in mir hoch, was mich in der Psychologenpraxis erwarten würde. Hätte ich noch länger warten müssen, wären diese Zweifel eventuell so groß geworden, dass ich es gar nicht mehr gewagt hätte, zum Termin zu erscheinen. Da ich damals noch minderjährig war, besaßen meine Eltern die Oberhand und hätten mich wahrscheinlich davon überzeugt, wie wichtig der Termin sei, aber wenn man volljährig ist und niemanden im näheren Umfeld hat, der in diesen Zweifelmomenten Mut zuspricht, kann die lange Wartezeit zu einer echten Herausforderung werden. In Gedanken können sich die schlimmsten Horrorszenarien abspielen. Aber auch ohne Horrorfilme ist es nicht einfach. Rein sachlich betrachtet bedeutet Psychotherapie, dass man zu einer fremden Person geht und mit ihr über Dinge redet, über die man sonst nie spricht. Man erzählt von Gefühlen, lässt diese Person hinter die harte Fassade sehen und stellt seine verwundbaren und verletzlichsten Stellen zur Schau. Das ist nicht einfach! Es ist nicht mit einem Bewerbungsgespräch vergleichbar oder einer gewöhnlichen Unterhaltung mit Freunden. Es fällt schwer, zu vertrauen und die richtigen Worte zu finden. Da hilft auch der Standardspruch von vielen Psychologen nichts, dass sie ständig Menschen weinen sehen und sich die unterschiedlichsten Lebensgeschichten anhören. Für Personen aus diesem Fachkreis ist ein Therapiegespräch eine alltägliche Situation, aber für Patienten, die ihren ersten Termin wahrnehmen, ist es alles andere als gewöhnlich. Man muss erst lernen, sich zu öffnen, und es dauerte eine Weile, bis man versteht, dass es gar nicht so unheimlich ist, über Gefühle und Gedanken zu sprechen, wie man glaubt, sondern dass es sogar helfen kann. Ich kann mich noch gut an Augenblicke erinnern, bei denen ich Panik hatte, etwas auszusprechen. Ich dachte, dass ich damit die Psychologin schockieren könnte und sie danach die Therapie abbrechen würde, weil ich einen zu krassen Fall darstellen würde. Und als ich es dann aussprach, ist nichts passiert. Die Welt drehte sich normal weiter, die Zeit blieb nicht stehen und die Psychologin sprang auch nicht aus dem Fenster. All meine Überlegungen stellten sich als umsonst heraus. Ich machte mir über unnötige Dinge Gedanken.

Ein weiteres falsches Bild, was ich über Psychotherapie im Kopf hatte, war, dass ich dachte, ich setze mich dort eine Stunde in einen Raum, lasse mich bequatschen, bekomme erzählt, dass das Leben schön ist und fertig. Jedoch stellte sich diese Annahme als nicht richtig heraus. Schon während der ersten Gespräche merkte ich, wie anstrengend es ist, über seine Probleme zu reden, und wie schwer es fällt, Gefühle in Worten zu verpacken. Das ist beschwerlich und ermüdend. Nach der Therapie fühlt man sich gerädert und erschöpft. In den Gedanken herrscht Chaos, man fühlt sich überfordert, aber auch irgendwie befreit. Es tut gut, gewisse Dinge auszusprechen. Viele Probleme lösen sich schon allein dadurch, dass man sie jemandem mitteilt.

Von außen betrachtet, passiert in einer Psychotherapie nichts anderes, als dass über Gedanken, Gefühle und Erlebnisse gesprochen wird. Doch im Inneren des Betroffenen drinnen geschieht noch eine Menge mehr. Alles wird auf den Kopf gestellt, hinterfragt, umgedreht, erforscht und anschließend beurteilt. Man lernt sich selbst besser kennen. Gewiss sind wir vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche und 365 Tage im Jahr mit uns selbst zusammen und eigentlich sollten wir uns auch kennen und verstehen, doch in vielen Fällen tun wir genau das nicht. Wir beschäftigen uns lieber mit der Umwelt und mit den Angelegenheiten unserer Mitmenschen, anstatt mit uns selbst. Schließlich ist es um einiges leichter, die Probleme anderer zu analysieren und zu lösen als die eigenen. Eine besondere Fähigkeit vieler Menschen – vor allem von psychisch Erkrankten – ist es nämlich, dass sie jedes Problem der Welt lösen können. Jedes, außer ihrem eigenen. Weshalb das so ist, dafür gibt es eine Menge Gründe. Der Hauptgrund dürfte sein, dass es immer einfacher ist, eine Situation von außen zu beurteilen, als wenn man sich mittendrin befindet.

Bei der Therapie wird man jedoch gewissermaßen dazu gezwungen, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Man sitzt in einem möglichst ruhigen, reizarmen Raum und bekommt im übertragenen Sinne einen Spiegel vors Gesicht gehalten und muss beschreiben, was man sieht. Man steht seinen größten Ängsten gegenüber, sieht eventuell das ganze Ausmaß der Sorgen und das gigantische Meer der Traurigkeit in einem drinnen ... Man fühlt sich schlecht. Man denkt, man schafft es nie, all das wieder aufzuräumen und an seinen richtigen Platz zurückzulegen. Doch dann lernt man Techniken, wie man Gedanken und Gefühle geordnet bekommt. Man versteht, dass man nicht alles auf einmal betrachten muss, sondern sich erst um die kleineren Dinge kümmern sollte. Man darf nicht annehmen, dass man drei Stunden Therapie besucht und danach wieder topfit ist, auch wenn das vielleicht einige Mitmenschen so erwarten. Ja, diesen Satz habe ich oft gehört: „Wie, du bist nach drei Monaten immer noch in Therapie!“ Oder: „Gibt es da keine Tabletten, dass das schneller geht?“ Hallo? Eine psychische Erkrankung entwickelt sich nicht von einem auf den anderen Tag, deshalb kann man auch unmöglich erwarten, dass sie von heute auf morgen wieder verschwindet! Ein kaputtes Leben ist kein Gerät, das man in Reparatur gibt, bei dem man ein paar Ersatzteile austauscht und anschließend funktioniert alles wieder. Wir sind Menschen und keine Maschinen. Wir besitzen zwar auch einen „Rechner“ im Kopf, doch unser Gehirn besitzt einen kleinen Unterschied zu einem Computerrechner. Wir können zwar ebenfalls neue Programme aufspielen, neue Dinge lernen und neue Verknüpfungen schaffen, allerdings dauert die „Installationszeit“ etwas länger. Des Weiteren ist es uns unmöglich alte Chronologien komplett, rückstandslos zu deinstallieren. Wir können zwar versuchen Installationsfehler oder falsche Programme zu löschen und oftmals gelingt das nach einiger Zeit sogar – aber komplett verschwinden wird etwas Erlerntes nie. Spuren werden zurückbleiben. Und wenn man die falschen Knöpfe drückt, kann „Schadsoftware“ leider auch nach Jahren wieder reaktiviert werden. Auch das ist ein Punkt, der für Unwissende schwer nachvollziehbar ist. Wenn der Betroffene in Therapie war und als gesund entlassen wurde, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass er den Rest seines Lebens geheilt bleibt. Manche Diagnosen verschwinden, andere treten so weit in den Hintergrund, dass man sie der Person kaum noch anmerkt, und wiederum andere gelten als nicht heilbar und der Betroffene kann lediglich lernen, damit zu leben. Doch eines haben alle psychischen Erkrankungen gemeinsam: Gleichgültig, wie gut man sie im Moment im Griff hat, eine Rückfallgefahr bleibt ein Leben lang bestehen. Treffen zu einem unpassenden Zeitpunkt die falschen Ereignisse aufeinander, ist ein erneuter Absturz möglich. Mit dieser Angst muss jeder Betroffene leben.

Das ist eine Art Furcht, die im Hinterkopf bleibt. Man will die dunklen Tage, die man schon einmal erlebt hat, nicht nochmals durchstehen. Man möchte glücklich und zufrieden leben, doch man weiß um die Gefahr, dass sich ein vermeidlich fester Boden innerhalb von kürzester Zeit unter den Füßen in Luft auflösen und es zu einem erneuten Abstürzen kommen kann. Wie geht man mit dieser Angst um? Man akzeptiert sie. Man muss sie akzeptieren! Wenn man nämlich eines als psychisch erkrankte Person lernt, dann ist es den Moment zu leben. Man hört auf, an morgen zu denken, an nächste Woche oder gar an kommendes Jahr. Wenn es einem jetzt – in diesem Augenblick –, gut geht, dann genießt man das. Schließlich weiß man, dass jedes positive Gefühl vergänglich ist. Es wird der Zeitpunkt kommen, in dem man erneut weinend am Boden liegt, alles anzweifelt und keinen Sinn mehr sieht. Und dieser Moment kommt schneller als einem lieb ist! Man kann das Glück nicht festhalten, man kann es lediglich genießen und in den düsteren Zeiten an die positiven Momente zurückdenken. Und das muss man auch. Die Angst, ein weiteres Mal abzurutschen bleibt, sie ist da, daran kann man nichts ändern; allerdings ist es möglich, ihr Einhalt zu gebieten, in dem man ihr nicht zu viel Macht gibt.

 

Wie fühlen sich Depressionen an? Wie fühlt es sich an, keinen Sinn mehr im Leben zu sehen?

Es ist, als hätte man einen Bandwurm im Kopf. Anfänglich ist er klein und richtet keinen großen Schaden an. Man spürt nur, dass etwas anders ist. Plötzlich ist man häufiger müde, schneller erschöpft und das eigene Lachen wird weniger. Die Gedanken werden dunkler und die Stimmung kühler. Nach und nach frisst der Bandwurm alles Positive auf. Er raubt einem die Kraft und die Energie, vernichtet glückliche Gedanken und malt alles grau. Man verliert die Fähigkeit, die vielen bunten Farben zu sehen. Das Einzige, was der gefräßige Bandwurm übrig lässt, sind die Gefühle der Traurigkeit, Verzweiflung und innere Leere. Man verlernt, die Wärme der Sonne auf der Haut zu spüren. Man friert ein. Die Füße fühlen sich an wie gefesselt. Man wird unfähig etwas zu unternehmen. Es ist, wie wenn man in einem Glaskasten sitzt. Man sieht, was sich um einen herum abspielt, aber man nimmt nicht mehr am Leben teil. Man ist gefangen, obwohl es keine sichtbaren Fesseln gibt. Der Bandwurm frisst weiter. Sein Hunger ist unersättlich und er wächst. Da es keine positiven Gefühle mehr gibt, die er verschlingen kann, geht er an die Erinnerungen. Er pickt alles Schöne heraus und verschlingt es, bis man denkt, dass das eigene Leben schon immer trostlos war. Er raubt einem die Hoffnung und das Gefühl, gebraucht zu werden. Die Last der negativen Gedanken raubt einem die Luft. Man fürchtet zu ersticken und fühlt sich wie tot. Das eigene Herz schlägt noch, die Organe arbeiten weiter, aber im Körper befindet sich nichts mehr, was man noch mit Leben verbinden könnte. Ein ehemals lebensfroher Mensch ist zu einer leblosen Hülle geworden. Der Bandwurm im Kopf hat vollkommene Arbeit geleistet ...

Manchen Leuten sieht man an, wie sehr sie unter ihrer Depression leiden. Sie haben eine blasse Hautfarbe, sind ständig müde, können aber nicht schlafen, ziehen sich von ihrer Umwelt zurück und weinen oft. Aber anderen sieht man es nicht an. Ich zum Beispiel gehörte auch zu der Fraktion, die ständig gelacht hat. Je beschissener ich mich gefühlt habe, desto fröhlicher habe ich versucht, zu wirken. In der Öffentlichkeit trug ich ein Dauerlächeln auf den Lippen, ich habe mich um meine Mitmenschen gekümmert, für jeden ein offenes Ohr besessen, bestmögliche schulische und berufliche Leistungen abgeliefert, doch abends, wenn ich alleine war, es draußen dunkel wurde, da bin ich zusammengebrochen. Dann ist mein Make-up verlaufen, meine Maske gefallen und ich habe mein wahres Gesicht gezeigt. In diesen Momenten habe ich begriffen, dass ich nicht glücklich bin. Doch am nächsten Tag habe ich die Tränen weggewischt und weitergelacht. Lange Zeit habe ich meine Gefühle verheimlicht und auch vor mir verleugnet. Wenn ich tagsüber mein Schauspiel vorführte, glaubte ich regelmäßig selbst daran. Ich redete mir so lange ein, dass ich glücklich sei, dass ich es irgendwann selbst annahm. Das einzig wirklich Auffällige für mich war, dass ich, wenn mich jemand fragte, wie es mir ging und ich standardmäßig „gut“ antwortete, einen schmerzhaften Stich in meiner Herzgegend verspürte. Es fühlte sich falsch an, das zu sagen. Es löste einen Stromstoß in mir aus, der mir durch den gesamten Körper fuhr. Es tat weh. Das empfand ich als seltsam.

Weinen tat ich nur, wenn ich alleine war, zu Hause in meinem Bett unter der Zudecke oder unter der Dusche. Die Dusche stellte für mich damals eh einen wunderbaren Ort dar. Dort konnte ich Stunden verbringen. Ich mochte es, wenn ich weinen konnte und niemand meine Tränen sah. Außerdem war das Bad für mich mein Ort, an dem ich mich selbst verletzte, und wo ich mich vor der Kloschüssel erniedrigte, wenn ich beim Essen versagt hatte. Das Badezimmer war für mich meine persönliche Folterkammer, in der ich meinem Hass auf mich selbst Luft machen konnte. Hier durfte ich meine Emotionen rauslassen. Gefühle wie Wut, Selbsthass, Selbstverachtung und Verzweiflung – etwas anderes verspürte ich nämlich nicht mehr.

Von Tag zu Tag spürte ich, wie meine Kräfte schwanden. Am Anfang fiel es mir noch verhältnismäßig leicht, mein Innenleben zu verbergen. Wie ein Clown gab ich jeden Tag im Zirkus des Lebens eine grandiose Vorstellung. Alle lachten und ich lachte mit ihnen. Doch das kostete mich auf Dauer zu viel Kraft. Am Ende gelang es mir nicht mehr, meine Maskerade aufrechtzuerhalten. Nach und nach ließ ich meine Maske fallen. Ich benutzte kein Make-up mehr, und wenn ich mich doch schminkte, dann dunkel, am besten in Schwarz. Ich machte kein Geheimnis mehr daraus, dass ich depressiv war. Ich sah es nicht mehr ein zu kämpfen, ich hatte aufgegeben. In meiner Ausbildung verbrachte ich drei Tage pro Woche in der Berufsschule und die restlichen zwei Tage arbeitete ich im Betrieb, um die Praxis kennenzulernen. Sowohl in der Schule als auch im Betrieb war ich körperlich zwar weiterhin anwesend, zumindest meistens, doch geistig fehlte es mir an Kraft. Meine Noten rauschten ab, Lehrer drohten mir damit, dass ich das Klassenziel nicht erreichen könnte, aber das war mir gleichgültig. Was zählte schon in meinem Leben? Wenn jemand von dem Thema Zukunft sprach, lachte ich ihn müde an und fragte, welche Zukunft er meinte. Ich hatte schließlich keine. Ich glaubte nicht daran, dass ich jemals 18 Jahre alt werden würde, und ich glaube, viele meiner Mitmenschen glaubten ebenso nicht daran ... Bevor mein Leben überhaupt richtig in Gang gekommen war, wollte ich schon sterben. Ich betete jeden Abend zu Gott, dass er mich doch bitte gehen lassen solle. Ich rannte absichtlich vor Autos, balancierte auf den Dächern von Hochhäusern am Abgrund entlang, setzte die Rasierklingen immer näher an den Pulsadern an, aber wollte ich wirklich sterben? Nein und ja. Mir fehlten die Kraft und der Mut, den endgültig letzten Schnitt zu setzen. Ich war so müde vom Leben, dass mir irgendwann selbst meine Suizidgedanken zu anstrengend wurden. Man könnte ja annehmen, dass ein Mensch am Ende ist, wenn er sagt: „Ich bringe mich um, ich kann nicht mehr.“ Aber das ist falsch. Mindestens genauso weit unten sind die Menschen, die sagen: „Leck mich doch am Hintern. Ich kann nicht mehr, ich lasse mich fallen, macht doch mit mir, was ihr wollt.“ Und genau das tat ich. Ich resignierte. Wenn mich nun jemand fragte, wie ich mich fühlte, antwortete ich nicht mehr „gut“, sondern sagte „müde“. Worauf ich dann oft zu hören bekam, dass ich mich mal richtig ausschlafen sollte. Aber das hätte nichts genützt. Egal, wie lange ich zu dieser Zeit schlief, meine Müdigkeit verschwand nicht. Diese Müdigkeit entstand nämlich nicht durch Schlafmangel; ich war müde von Leben. Müde vom Kämpfen, müde vom Durchhalten, müde davon, mich erklären zu müssen, mich zu rechtfertigen, von den vielen Fragen ...

5. Du willst bloß Aufmerksamkeit!


Solche Sätze wie: „Du willst doch bloß Aufmerksamkeit!“ „Geh mal richtig arbeiten, dann hast du keine Zeit mehr für Depressionen.“ „Reiß dich endlich zusammen und kämpfe dich aus dem Loch heraus.“ Ähnliches kennt vermutlich jeder Betroffene. Es sind unüberlegte Aussagen, die einen genau dort treffen, wo es verletzt. Wie ich zu Beginn des Buches erwähnt hatte, gibt es kaum jemanden, der sich eine psychische Erkrankung aussucht. Der Großteil der Betroffenen würde sofort sein „kaputtes“ Leben gegen ein gesundes Leben eintauschen. Doch so einfach, wie es manchmal hingestellt wird, ist das leider nicht. Wenn man jeden Tag um sein Überleben kämpft, seine Suizidgedanken in Schach halten muss, seine gesamte Kraft dazu benötigt, sich aus dem Bett zu quälen, dann bleibt keine Energie mehr übrig, um einem Job nachzugehen.

Während meiner Ausbildung zur Sozialassistentin hatte ich einmal eine interessante Diskussion mit einer Arbeitskollegin über dieses Thema. Zu diesem Zeitpunkt steckte ich wieder in einer depressiven Phase fest und hatte keine Ahnung, wie es mit mir und meinem Leben weitergehen sollte. Diese Kollegin hat mir vor Augen geführt, was ich eigentlich schon wusste, aber wofür ich keine richtigen Worte fand. Ich wollte normal sein, meine Ausbildung absolvieren, aber ich stieß massiv an meine Grenzen. Mit ihr konnte ich gut über solche Angelegenheiten sprechen. Sie gehörte zu der Gruppe Menschen, die mir regelmäßig signalisierten, dass ich gar nicht sooo extrem anders bin. Auch „normale“ Menschen haben Probleme, Sorgen und Ängste und müssen ab und zu kämpfen. Sie erklärte mir, dass fast jeder es hasst, morgens aufzustehen und sich auf den Arbeitsplatz zu schleppen. Es gibt kaum Leute, die beim Klingeln des Weckers senkrecht im Bett stehen, und sich freuen jeden Tag auf die Arbeit zu dürfen. Es gibt Phasen, da fällt einem das Aufstehen leichter, und es gibt Phasen, da fällt es schwerer. Das ist bei jemandem, der depressiv ist, nicht anders. Es gibt gute Tage, Wochen und Monate und es gibt schlechte Tage, Wochen und Monate. Der Unterschied zwischen dem gesunden und dem kranken Menschen ist, dieses Gefühl, den Tag nicht durchzuhalten, keine Kraft zu finden, all das zu meistern und, von allem und jedem überfordert zu sein, eine andere Intensität besitzt. Grundsätzlich verspüren wir alle die gleichen Gefühle und Gedanken, doch das Ausmaß ist nicht miteinander vergleichbar. Deshalb fällt es dem gesunden Menschen leicht, zu sagen: „Stell dich nicht so an, ich habe auch keine Lust aufzustehen und mache es trotzdem.“ Er kennt ausschließlich seine Gefühle und Gedanken und kann dementsprechend nicht nachvollziehen, wie sich Depressionen anfühlen. Ihm das zu erklären ist verdammt schwierig. Denn wir Menschen haben die doofe Angewohnheit, dass wir oft Dinge sehen wollen, damit wir sie glauben können. Allerdings kann man eine psychische Erkrankung nicht sehen. Der Betroffene hat keinen Stempel auf dem Kopf oder ein T-Shirt mit der Aufschrift Ich bin bekloppt an. Er sieht normal aus, ihm fehlt kein Arm, kein Bein, er scheint offensichtlich gesund zu sein und in vielen Fällen lebt er sogar ein vollkommen normales Leben mit Familie, geregelter Arbeit, gewöhnlichen Hobbys etc. Man merkt ihm nichts von seinem innerlichen Kampf an. Er scheint glücklich. Und wenn solch eine Person dann irgendwann über einen längeren Zeitraum hinweg krankgeschrieben ist, eventuell in eine Klinik muss oder offen zugibt, dass ihr aktuell die Kraft fehlt, um in der Berufswelt volle Leistungen zu erbringen, kommt natürlich in erster Linie Unverständnis auf. Schließlich besitzen viele Betroffene während guter Phasen, die Fähigkeit überdurchschnittliche Leistungen zu vollbringen. Wofür andere Tage benötigen, brauchen sie nur Stunden. Darüber, wo sich ihre Mitmenschen stundenlang den Kopf zerbrechen, ist für sie die Lösung offensichtlich. Und wenn genau dieser Mensch, von dem man Höchstleistungen kennt, behauptet, er hätte Depressionen, sein Leben ist ein Kampf, dann bleiben den Kollegen erst einmal die Münder offenstehen und es wird spekuliert. Dabei ist dieses Extrem zwischen „Ich erreiche Höchstleistungen“ und „Ich schaffe es nicht einmal aus meinem Bett heraus“ vollkommen normal und logisch. Es sichert das eigene Überleben und ist eine Gabe, die man sich als Betroffener über Jahre hinweg angeeignet hat. Man versteht irgendwann, dass das Leben mit einer psychischen Erkrankung ein Gebirge in EKG-Form ist. Ständig geht es rauf und runter, man schwebt auf Wolke sieben und kaum eine Stunde später liegt man im Tal der Tränen. Also was tut man? Resignieren? Sich im Tal der Tränen im See ertränken? Nein, das wäre alles tödlich. Wenn man überleben möchte, braucht man einen anderen Plan. Es nützt nichts, gegen sich selbst zu kämpfen, man muss gewisse Dinge akzeptieren. Es ist zwar möglich, Techniken zu erlernen, damit die Höhen und Tiefen nicht mehr allzu stark ausgeprägt ausfallen, sondern sich etwas mehr in der Mitte einpendeln, aber man wird es nie völlig unterbinden können. Deshalb muss man einen Weg finden, wie man damit leben kann. Um mit etwas zu leben, ist es in erster Linie wichtig, sich damit anzufreunden. Also den Krieg einzustellen. Probiert man seine negativen Gedanken und Gefühle zu bekämpfen, schadet man nur sich selbst. Man führt einen Krieg gegen das eigene Ich. Das kostet unnötige Kraft. Stattdessen ist es effektiver, die Ist-Situation zu akzeptieren. Des Weiteren ist es super wichtig, seinen Blickwinkel zu ändern. Ja, wenn man unter einer psychischen Erkrankung leidet, ist es nicht einfach, das Positive zu sehen. Alles wirkt trist, grau und hoffnungslos, aber das ist nur eine Momentaufnahme. Nach jedem Tal folgt auch wieder ein Berg. Und wenn man sich auf dem Berg befindet, sollte man die Aussicht genießen und nicht direkt an den kommenden Abstieg denken. Denn dieser Talmarsch kommt garantiert. Man kann ihn nicht umgehen.

Um jetzt wieder auf den Ausgangspunkt zurückzukommen: Während man sich auf einem Berg befindet, fühlt man sich gut. Alles wird leichter, man verspürt das Glück, schöpft neue Hoffnung, man besitzt Kraft zum Leben und kämpft nicht ausschließlich um sein Überleben. Diese Phase kann man ausnutzen bzw. lernen auszunutzen, um alles zu erledigen, was in der schlechten Zeit liegen geblieben ist. Man gleicht sozusagen während der guten die schlechten Tage aus. Im Endeffekt ist es dadurch möglich, genau dieselbe Leistung zu bringen wie ein „normaler“ Mensch, der täglich dasselbe Arbeitspensum beibehält. So zu leben ist definitiv eine andere Art Dinge zu meistern, aber schlussendlich ist es doch gleichgültig, wie man an sein Ziel kommt. Jeder muss seinen eigenen Weg, seine eigene Arbeitsweise und sein eigenes Tempo finden. Für mich ist dieses einerseits Durcharbeiten, wenn es mir gut geht, und andererseits bestimmte Tage, an denen es mir schlecht geht zu pausieren, die einzige Möglichkeit einen „normalen“ Alltag zu meistern. Zwingt mich jemand, mich anzupassen, bremst mich an guten Tagen aus und treibt mich an schlechten Tagen zu höheren Leistungen an, ist das schädlich für mich. Ich kann das nicht. Selbst wenn ich es möchte, zerbreche ich auf Dauer daran. Womit wir zurück bei dem Thema Ausbildung und dem Gespräch mit meiner Kollegin wären. Sie meinte, dass jeder ab und zu an dem Punkt stände, wo er alles anzweifelt, keine Energie mehr besitzt, mit Elan aus dem Bett zu springen und mit einem breiten Lächeln am Arbeitsplatz zu erscheinen. Das ist völlig normal. Allerdings gelingt es einem gesunden Menschen, sich zu zwingen und den Tag durchzustehen. Es wird zwar gemeckert und gemurrt, aber er schafft es. Kritisch ist es jedoch, wenn man all seine Energie, die man eigentlich für den gesamten Tag braucht, bereits am Morgen fürs Aufstehen opfern muss. Sprich, wenn man schon, nachdem man sich aus dem Bett gequält hat, so erschöpft und ausgepowert ist, dass man es kaum noch in den Job schafft. Wenn alles, was man in seinem Alltag erledigt, zum Kampf wird, wenn man nach der Arbeit todmüde ins Bett fällt und bis zum kommenden Morgen schläft und im Grunde ausschließlich zum Geldverdienen aufsteht und das über einen längeren Zeitraum hinweg, wird das zu einem Problem. Schließlich besteht das Leben aus noch mehr als dem Beruf. Stellt man fest, dass man in solch einer Situation steckt, in der jede Bewegung und jedes Wort mehr Kraft kostet als die eigenen Energiereserven bereitstellen, dann sollte man etwas ändern. Und an diesem Punkt stand ich mal wieder. Meine Ausbildung kostete mich mehr Energie, als mein Körper zur Verfügung stellte.

Vergleichbar ist dieser Sachverhalt mit einer Wanderung ohne Kompass und ohne Proviant. Man ist von zu Hause aufgebrochen. Wohin man möchte, weiß man nicht. Einfach weg. Als man die Haustüre hinter sich schloss, glaubte man noch, ein festes Ziel vor Augen zu haben, man ist motiviert, doch nach und nach wird einem klar, dass man keine Ahnung hat, wohin die Reise führen soll. Man ist unvorbereitet, verläuft sich irgendwo im Nirgendwo, rennt wild in die eine Richtung, danach in die andere und am Schluss dreht man sich nur im Kreis. Die Füße schmerzen vom vielen Laufen, der Magen knurrt vor Hunger, man weiß nicht, wo man ist, wer man ist, woher man kommt, wohin man gehen soll. Man fühlt sich verloren und einsam, dabei befindet sich hinter der kommenden Ecke, keine einhundert Meter weiter die nächste Stadt. Doch zwischen all den Problemen sieht man die Lösungen nicht mehr. Alles, was in dem einen Moment Sinn macht, wirft man im nächsten Augenblick über Bord. Entscheidungen zu treffen wird zu einer Herausforderung, und diese Entscheidung bis zum Ende durchzuziehen, wird zu einem Ding der Unmöglichkeit ...

Für mich stand damals fest, dass es so – unter diesen Umständen – nicht weitergehen konnte. Ich raste auf eine Wand zu. Eventuell konnte ich noch ein paar Wochen oder Monate meine Depressionen ignorieren und durchhalten. Eine Woche würde ich das sicherlich noch schaffen und nach dieser Woche, und anschließend noch eine weitere. Ich würde so lange durchhalten, bis ... ja, bis was eigentlich? Bis ich das Ausbildungsjahr geschafft oder bis ich meine Abschlussprüfung gemeistert hätte? Bis ich genügend Geld verdiente, dass ich mir ein Jahr Auszeit nehmen könnte? Ich wusste es nicht ... Ich hatte jetzt keine Kraft mehr. Mein Antriebsmotor lief auf Reserve. Ich konnte nicht mehr so lange durchhalten. Täglich verschwand mehr Farbe aus meinem Leben. Dinge, die mir früher Freude bereitet hatten, stellten für mich eine Qual dar. Ich konnte nicht mehr! Ich sah mir selbst dabei zu, wie ich bei lebendigem Leib starb. Gefühlsmäßig absolvierte ich jeden Tag einen Ultramarathon, dabei tat ich gar nichts. Ich lag bloß im Bett.

Wenn man das erste Mal solch eine Phase erlebt, dann weiß man vermutlich noch nicht damit umzugehen. Man möchte nicht aufgeben, aber wenn man schon mehrfach gegen die Wand gefahren ist, lernt man daraus. Aus der Vergangenheit wusste ich, dass ich auf meine Psyche hören muss. Ignoriere ich ihr Verlangen nach Ruhe, dann rächt sie sich, indem sie mich mit einem Zusammenbruch zur absoluten Ruhe zwingt. Sie findet Mittel und Wege, ihren Wunsch durchzusetzen. Notfalls verbündet sie sich mit dem Körper und lässt meinen Kreislauf zusammenbrechen. Ich stand damals drei Monate vor der Abschlussprüfung. Krankschreiben wäre keine Option für mich gewesen, da ich mir nicht mehr Fehltage erlauben durfte. Also was unternimmt man? Das Jahr zu wiederholen, stellte für mich ebenfalls keine Wahlmöglichkeit dar.

Ich wusste nicht, was ich wollte, aber ich konnte genau benennen, was ich nicht wollte. Und das war, das Leben so weiterzuleben! Deshalb traf ich nach einigen Überlegungen einen Entschluss. Ich brach die Ausbildung ab. Für mich war das damals der richtige Weg, aber das ist es garantiert nicht für jeden Betroffenen. Ich möchte niemanden dazu überreden oder anleiten, seine Ausbildung oder seinen Beruf an den Nagel zu hängen, zu kündigen und in eine ungewisse Zukunft zu starten, sondern mir geht es um die Aussage: „Wenn du merkst, dass du gegen eine Wand fährst, dann wechsle die Richtung oder steige aus“. Bei den Lehrern in der Schule und auch bei meinen Mitschülern traf ich mit dem vorzeitigen Ausbildungsabbruch auf Unverständnis. Jeder meinte zu wissen, was gut für mich wäre, und was ich alles machen sollte, um durchzuhalten, aber kaum jemand hörte sich meine Sicht der Dinge an. Kaum jemand verstand, dass ich schon wochenlang nur am Kämpfen war und keine Kraft mehr besaß. Mir fiel dieser Schritt nicht leicht und ja, ich hatte auch ein wenig Angst, wie es nun weitergehen sollte. Aber das Leben ist keine Sackgasse, es geht immer weiter. Darauf musste ich vertrauen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739441252
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Januar)
Schlagworte
mobbing esstörung psychiatrie Bulimie Krankheiten Ratgeber

Autor

  • Laura Adrian (Autor:in)

Laura Adrian wurde am 19.4.1992 in Südhessen, wo sie auch heute wieder lebt, geboren. Ihre Bücher handeln größtenteils von eher "schwierigen" Themen. Bisher hat sie sieben Werke veröffentlicht. Weitere befinden sich in Planung. In ihrer Freizeit ist sie ehrenamtlich beim THW (Technisches Hilfswerk) aktiv.
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Titel: Endstation gesund!?