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Die Kunst, ein Stachelschwein zu umarmen

von Laura Adrian (Autor:in)
203 Seiten

Zusammenfassung

Einen Borderlinebetroffenen zu verstehen ist ein Ding der Unmöglichkeit?! Ja, das kann sein. Das komplizierte, häufig ambivalente und fast sekündlich wechselnde Gefühls- und Gedankenleben eines Borderlinebetroffenen komplett lückenlos zu verstehen, ist für Nicht-Betroffene vermutlich wirklich unmöglich. Doch das heißt nicht, dass man deshalb gleich aufgeben sollte und stattdessen lieber weiterhin auf seine Vorurteile gegenüber der Diagnose beharren darf. Denn auch wenn etwas unverständlich erscheint, so kann man dennoch versuchen, es wenigstens ansatzweise nachzuvollziehen. In diesem Buch wird anhand verschiedener bildlicher Vergleiche, Metaphern und anschaulicher Beschreibungen das Gedanken- und Gefühlsleben eines Borderlinebetroffenen auch für Borderline-unerfahrene-Personen verständlich gemacht. Auf einer „Traumreise“ lernt der eigentlich gefühlskalte und sehr vorurteilsbehaftete Steffan den kleinen Bordi kennen, der ihn mit auf eine Reise durch seine chaotische, kunterbunte, schwarz-weiße Welt nimmt. Denn hinter dem paradox wirkenden Verhalten des Bordis verstecken sich meistens ganz logische Denkansätze und einfache Erklärungen. Was im ersten Moment wie ein Kinderbuch klingt, ist in Wirklichkeit ein tiefgründiges Buch, das versucht, Vorurteile abzubauen, Berührungsängste zu lindern und für mehr Akzeptanz sorgen will. Das einzige, was an diesem Buch „kinderleicht“ ist, sind die Erklärungen. Fachwörter oder komplizierte Vergleiche werden Sie in diesem Buch nicht finden. Denn mein Ziel ist es, keine wissenschaftliche Arbeit zu schreiben, sondern einen Einblick in meine Welt zu geben. In die schwarz-weiße, kunterbunte Welt eines Borderlinebetroffenen. Sind Sie dazu bereit mitzukommen? Haben Sie Lust auf ein Abenteuer, das zum Nachdenken anregt, eventuell Ihre Sichtweise auf die Welt verändert? Besitzen Sie den Mut, hinter Fassaden zu schauen? Vielleicht auch hinter ihre eigene? Dann sind Sie auf dieser Traumreise genau richtig!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Die Kunst, ein Stachelschwein zu umarmen

 

 

 

 

 

Aus der schwarz-weiß-bunten Welt einer Borderlinebetroffenen

 

 

 

 

Manchmal träumt man, manchmal wird aus Träumen Realität, manchmal kann man sich an seine Träume erinnern, manchmal vergisst man sie direkt wieder nach dem Aufwachen, manchmal beeinflussen uns unsere Träume, manchmal machen sie uns Angst, manchmal schenken sie uns Hoffnung …

Was wird wohl dieses Buch aus dir machen?

1. Einleitung

 

Hallo, mein Name ist Stefan und ich bin der Ich-Erzähler dieser Geschichte.

 

Eigentlich würde ich mich persönlich als ganz normal – eben durchschnittlich – bezeichnen. Mir ist noch nie etwas großartig Besonderes passiert. Ich wurde in einem kleinen Kaff als Einzelkind geboren, bin dort zur Schule gegangen, habe mit achtzehn mein Abitur gemacht und arbeite jetzt als Informatiker in einem der zahlreichen Großraumbüros in unserem Land. Ich bin weder in der Schule sitzen geblieben, noch habe ich irgendwelche Vorstrafen oder mir sonst etwas zuschulden kommen lassen. Selbst meine Eltern leben noch zusammen. Also kurz gesagt: Mein Leben ist stinklangweilig und das „Aufregendste“, was ich bis gestern erlebt habe, war nach meinem Schulabschluss der Auszug von zu Hause in eine mir unbekannte Großstadt, um zu studieren. Allerdings ist das ja auch nichts wirklich Besonderes…

Doch der Grund, weshalb ich das Buch schreibe, ist ein ganz anderer. Meine Geschichte handelt nämlich nicht von der Zeit von meiner Geburt bis jetzt, sondern lediglich von einem einzigen Erlebnis, das ich hatte. Dieses Erlebnis war gestern. Um genau zu sein: gestern Nacht.

Dieses Ereignis hat mein ansonsten so langweiliges und stinknormales Leben vollkommen verändert. Seit dieser „Begegnung“ ist nichts mehr so wie vorher. Mir scheint es fast so, als wäre ich seitdem ein anderer Mensch und mit „anderen“ Augen durchs Leben gehen würde. Aber jetzt erst einmal der Reihe nach von Anfang an, damit ihr versteht, was ich meine.

2. Alles fängt mit einem Traum an

 

Gestern Abend konnte ich nicht einschlafen. Über eine Stunde wälzte ich mich ununterbrochen von der einen auf die andere Seite. Doch egal, was ich machte, meine Augen wollten einfach nicht zufallen. Körperlich war ich zwar nach dem anstrengenden Büroalltag total erschöpft, doch die Gedanken in meinem Kopf waren noch so fit, dass sie selbst nach 23 Uhr noch Party feierten …

Gegen 23.30 Uhr überkam mich aber dann schließlich doch die Müdigkeit und ich fiel in einen unruhigen Schlaf. In diesem unruhigen Schlaf hatte ich dann irgendwann in der Nacht einen äußerst seltsamen Traum:

 

In meinem Traum schlenderte ich eine holprige Straße entlang. Es dämmerte bereits und die Straßenlaternen warfen ein zaghaftes Licht auf den Gehweg. Ich kannte die Umgebung nicht, in der ich mich befand, aber dennoch schien ich genau zu wissen, wohin ich gehen musste. Ich wurde wie von einer unsichtbaren Kraft gelenkt.

 

Nachdem ich eine Weile die Straße entlangspaziert war, sah ich in der Ferne eine merkwürdige, zwergenhafte Gestalt zusammengekauert am Boden sitzen. Ihre Kleidung war stark zerrissen und schmutzig, sodass sie eher an Lumpen als an Kleidung erinnerte und ihr Gesicht hatte sie tief in ihren Händen vergraben. Sie schien zu weinen. Selbst aus der Entfernung konnte ich sehen, dass ihr gesamter Körper vor Traurigkeit bebte.

 

Langsam und mit einem leicht unbehaglichen Gefühl in der Magengegend ging ich auf die Person zu. Als ich näherkam, konnte ich erkennen, dass ihre Arme von tiefen Narben übersät waren. Manche Verletzungen schienen bereits etwas älter zu sein, andere hingegen wirkten noch ziemlich frisch, so als ob sie erst wenige Tage oder Stunden alt wären.

Zögerlich ging ich noch weiter auf die merkwürdige Gestalt zu, bis ich direkt neben ihr stand. Vorsichtig beugte ich mich zu ihr hinunter und sprach sie an: „Was hast du? Warum sitzt du hier im Dunkeln auf der kalten Straße und weinst?“

 

In meinem Kopf herrschte höchste Alarmbereitschaft. Mein Verstand schrie mich an, dass ich schnellstmöglich meine Beine in die Hand nehmen und fliehen sollte, denn irgendwas an dieser Situation war mir ganz und gar nicht geheuer, doch mein Gefühl, sagte mir, dass die Person am Boden Hilfe benötigte. Ich konnte nicht einfach so an ihr vorbei gehen und sie unbeachtet am Boden liegen lassen. Das konnte ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren! So ein Unmensch war ich dann doch nicht.

 

Langsam und fast schon verängstigt hob die Gestalt am Boden ihren Kopf und blickte mich aus ihren großen, verweinten Augen an. Sie schluchzte und an ihrer Körperhaltung konnte ich erkennen, dass sie mir nicht traute. Sie wirkte völlig verängstigt. Trotzdem brachte sie nach einigen hektischen Atemzügen ein paar Sätze heraus. „Ich bin so traurig“, sagte sie, „ständig verletzen mich irgendwelche Menschen und fügen mir tiefe Wunden zu. Die meisten dieser Verletzungen heilen nur sehr langsam und es bleiben jedes Mal hässliche Narben zurück.“

 

Traurig zeigte sie mir ihre verwundeten Arme. Teilweise sahen die Verletzungen echt heftig aus. Die Person musste höllische Schmerzen ausgehalten haben. Verständnisvoll blickte ich sie an: „Das tut mir leid. Warum machen die Menschen so etwas mit dir?“

„Weil sie mich nicht verstehen“, schluchzte die Gestalt. Immer mehr und mehr Tränen rollten über ihre Wangen. „Sie verstehen nicht, wie ich denke, wie ich fühle und dadurch auch nicht, dass ich mich manchmal anders verhalte als sie. Sie können mit dem Begriff „Borderline“ nichts anfangen oder haben falsche Vorstellungen davon. Doch, anstatt nachzufragen, was mit mir los ist, werde ich als verrückt oder geisteskrank hingestellt, bekomme Vorurteile zu hören und werde in eine Schublade gesteckt oder ausgegrenzt! Das macht mich traurig, tut weh und verletzt mich jedes Mal aufs Neue. Ich mag vielleicht anders sein als „normale Menschen“, aber trotzdem bin ich doch in erster Linie immer noch Mensch! Auch ich bestehe aus Fleisch und Blut und habe ein Herz und Gefühle.“

 

Die Stimme der Person klang sehr traurig und verzweifelt und ihre Worte machten auch mich traurig. Denn ich musste mir eingestehen, dass ich ebenfalls zu den Menschen gehörte, die mit dem Wort „Borderline“ nicht allzu viel anfangen konnten und andere Menschen gerne mal als verrückt abstempelte, weil sie anders waren, als meine Vorstellung es zuließ. Trotzdem – oder vielleicht auch gerade deswegen – wollte ich der traurigen Person helfen. Meine anfängliche Angst und mein Misstrauen ihr gegenüber waren inzwischen komplett verschwunden. Sie tat mir nur noch leid und ich wollte ihr das geben, wonach sie sich offensichtlich gerade sehnte: Verständnis und Aufmerksamkeit. Doch dafür musste ich erst einmal herausfinden, wer oder was dieses Borderline war.

Ohne großartig nachzudenken, kniete ich mich neben sie auf den Boden, gab ihr ein Taschentuch in die Hand, mit dem sie ihre Tränen wegwischen konnte, und fragte sie: „Kannst du mir erklären, was Borderline ist, wie du dich fühlst und wie du denkst? Dann kann ich vielleicht versuchen, dich zu verstehen, und dir damit helfen.“

 

Diese paar Worte zauberten sofort ein Lächeln in das ansonsten so traurige Gesicht der Person, die wie ich jetzt wusste, ein „Bordi“ war.

 

Schnell wischte sich die Bordi die Tränen aus dem Gesicht und begann wie ein Wasserfall zu reden.

 

 

3. Achterbahn der Gefühle

 

Allein durch meine Ansage, dass ich ihr zusicherte, dass ich ihr zuhören wollte, schien es der Bordi um ein Vielfaches besser zu gehen und sie blühte innerhalb von Sekunden auf.

 

„O. k. Du willst wissen, wie ich mich fühle? Ich beschreibe es mal so: Ich kann lachen, weinen, vor Wut toben, glücklich sein und kurz danach verzweifeln, und dass innerhalb von nicht einmal einer Stunde!“, begann sie zu erzählen. „Es ist für mich nur sehr schwer, oft sogar unmöglich, meine Gefühle zu kontrollieren. Mein Gefühlsleben ist wie eine außer Kontrolle geratene Achterbahnfahrt. Ständig geht es hoch und genauso schnell wieder runter, zwischendurch gibt es scharfe Kurven, und ab und zu ist noch ein Looping dazwischen. Jedoch weiß ich nie, wohin mich die Gleise als Nächstes führen und was hinter der nächsten Kurve auf mich wartet. Die Route der Achterbahn ändert sich nämlich ununterbrochen. So etwas wie einen routinierten Rhythmus gibt es bei meinen Gefühlen nicht. Jeder Tag ist ein neues Überraschungspaket. Hinzu kommt, dass ich die Achterbahn sozusagen zusätzlich noch blind, mit verbundenen Augen, fahre. Es ist für mich unmöglich, vorherzusehen, in welche Richtung es geht oder wann die Gleise bergauf und wann bergab führen. Ich kann lediglich versuchen zu erahnen, was als Nächstes passieren könnte und anschließend probieren, die Geschwindigkeit der Achterbahn positiv zu beeinflussen.“

 

In Gedanken versuchte ich mir vorzustellen, wie es wäre, wenn ich mit verbundenen Augen eine Achterbahnfahrt über mich ergehen lassen müsste. Ohne Frage war bereits das eine schwierige Vorstellung für mich. Denn – ganz ehrlich – wer fährt schon gerne Achterbahn mit verbundenen Augen, wenn man keine Ahnung hat, wohin es als Nächstes geht?

Allein die gedankliche Vorstellung löste schon ein unbehagliches Gefühl in mir aus. Keine Kontrolle darüber zu haben, was passiert und somit auf gewisse Weise machtlos ausgeliefert zu sein, war nie ein schönes Gefühl. Und wenn ich mir jetzt noch vorstellen müsste, diese „blinde Achterbahnfahrt“ täglich, 24 Stunden am Tag aushalten zu müssen, überstieg das eindeutig meine Vorstellungskraft! Ich glaube, da würde ich persönlich durchdrehen! Ich hatte schließlich schon das Gefühl, verrückt zu werden, wenn meine Stimmung einen Tag lang zwei- oder dreimal grundlos umschwenkte, doch im Vergleich zu dem, was die Bordi von ihren Gefühlen erzählte, schienen meine eher seltenen Gefühlsschwankungen noch harmlos zu sein, deshalb antwortete ich ihr: „Das klingt ziemlich kompliziert und extrem anstrengend!“

Sie seufzte: „Ja, das ist es, aber jeder Borderline-Betroffene kann – beziehungsweise muss – lernen, damit umzugehen. Etwas anderes bleibt einem nicht übrig. Schließlich wird man diese Gefühlsschwankungen als Borderliner so schnell nicht mehr los ...“

Sie schaute kurz betrübt auf den Boden, bevor sie mich wieder ansah, und weitererzählte: „Mit der Zeit habe ich aber gelernt, diese chaotische Achterbahnfahrt etwas abzuschwächen. Also so, dass die Höhen nicht mehr ganz so hoch und die Abstürze nicht mehr ganz so tief sind. Das macht es etwas erträglicher für mich. Des Weiteren habe ich es durch lange, harte Arbeit und viel Mühe geschafft, eine Art Bremse in meine Waggons einzubauen, die die schnelle Geschwindigkeit der Achterbahn drosselt. Diese Bremse gibt mir unter Umständen die Gelegenheit, bei einem möglichen Absturz eventuell noch rechtzeitig entgegenzuwirken und einen Frontal-Crash zu verhindern. Mir persönlich gelingt das nach einigen Jahren harter Arbeit an mir und meiner Gefühlswelt zum Beispiel inzwischen relativ zuverlässig.“

Ein stolzes Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Doch leider gibt es auch immer noch Tage in meinem Leben, an denen meine (Not-)Bremse defekt ist und die Wagen der Achterbahn wieder ungebremst die Strecke entlang brettern und ich keine Chance habe, darauf einzuwirken. Allgemein ist bei mir kein Tag wie der andere. Was ich in diesem Moment denke und fühle, kann im nächsten Moment schon ganz anders sein. Mal komme ich mit meinen Gefühlen gut klar und mal ist es die reinste Katastrophe. Diese Stimmungswechsel sind an manchen Tagen echt die Hölle und nur sehr schwer auszuhalten. Und damit meine ich nicht nur für die Leute in meiner Umgebung, sondern auch für mich. Häufig bekomme ich nämlich nur zu hören, dass ich anstrengend bin oder dass ich mich mal auf eine Stimmung festlegen soll, aber wie ich mich selbst in solchen Situationen fühle, daran denkt niemand. Alle bekommen lediglich mit, wie ich mich nach außen gebe, doch was alles in meinem Innern passiert, bleibt unerkannt. Dabei herrscht in meinem Kopf meist noch ein größeres Durcheinander, als ich nach außen hin widerspiegele.“

4. Ein Meer von Emotionen

 

„Da hast du recht“, bestätigte ich sie. „Das ist ein großes Problem in unserer heutigen Gesellschaft. Jeder denkt an sich, seine Gefühle und seine Empfindungen. Aber was das Gegenüber verspürt, ist vielen Menschen inzwischen leider egal.“

 

Noch während ich den letzten Satz aussprach, merkte ich, dass ich in meinem wahren Leben kein Stückchen besser war. Auch ich gehörte (leider) zu den Menschen, die erst einmal ihr Gegenüber zur Sau machten, bevor sie überhaupt einmal daran dachten, dass derjenige vielleicht einen Grund haben könnte, wieso er oder sie heute so schlecht gelaunt war, keine ausreichenden Leistungen erbrachte oder etwas Sonstiges verzapfte, was mir gerade nicht in den Kram passte. Doch bevor ich mir noch weitere Gedanken über mögliche Fehlhandlungen von mir machen konnte, sprang die Bordi hoch motiviert auf, nahm mich bei der Hand und sagte: „Komm, ich zeige dir etwas!“

 

Puh, das schien gerade noch mal gut gegangen zu sein. Sie hatte offensichtlich nicht gemerkt, dass sie mich mit ihrer Aussage zum Nachdenken gebracht hatte. Das war gut, denn ich hasste es, mir selbst Fehler einzugestehen! Bereits in der Schule und Ausbildung und später auch im Berufsleben hatte ich nämlich gelernt, dass, wenn man im Leben erfolgreich sein will – also so wie ich – man nie die Schuld bei sich suchen oder ein schlechtes Gewissen wegen irgendetwas haben darf. Aus diesem Grund waren es meiner Meinung nach immer die anderen Menschen, die Fehler machten und nie ich selbst.

Allgemein konnte man sagen, dass Gefühle, Empathie und Erfolg im Berufsleben so gut wie nie zusammenpassten. Wenn man wirklich erfolgreich sein wollte, musste man sich für eine Sache entscheiden. Und ich persönlich hatte mich von Anfang an für den Erfolg entschieden und Gefühle und Empathie für die Weicheier im Betrieb übrig gelassen. Wie zum Beispiel für die verheulte Sekretärin im Büro. Diese hohle Nuss fing wegen jeder Kleinigkeit an zu weinen und brachte nichts zustande. Weiter kam ich in meinen Gedanken jedoch nicht.

 

Kaum hatte sich ihre Hand um die meine geschlossen, färbte sich vor meinen Augen alles schwarz und ich hatte das Gefühl, in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen. Alles um mich herum begann sich zu drehen und ich schien von einer magischen Kraft immer tiefer und tiefer in ein endloses, schwarzes Nichts gezogen zu werden. Keine Ahnung, was da gerade um mich herum passierte, aber es war auf jeden Fall äußerst unheimlich und leicht angsteinflößend! Ich verlor jegliche Orientierung und durch die zunehmend schnelleren Drehungen wurde mir schnell übel.

 

Das Nächste, an das ich mich erinnern konnte, war der salzige Geruch von Meeresluft. Langsam und vorsichtig öffnete ich meine Augen und versuchte mich zu orientieren.

Leicht verwirrt musste ich feststellen, dass ich mich nicht mehr auf der Straße befand, auf der ich soeben noch mit der Bordi gemeinsam stand, sondern mitten in einem riesigen Watt!

 

Außer ihr und mir war weit und breit kein anderer Mensch zu sehen. Nicht einmal eine einzige Möwe kreiste am Horizont. Um uns herum herrschten nur endlose Leere und eine bedrückende Stille. Verdutzt über diesen merkwürdigen Ort schaute ich mir die trostlose Umgebung an. Soweit ich blicken konnte (und das war fast schon unendlich weit), konnte ich außer dem matschigen Boden des Watts und ein paar kleineren und größeren Pfützen hier und da nichts erkennen.

Ratlos fragte ich die Bordi: „Ich verstehe nicht ganz. Was willst du mir an diesem Ort zeigen? Außer uns zweien ist niemand hier, und auch ansonsten gibt es nichts Aufregendes zu sehen. Davon abgesehen: Wie sind wir überhaupt hierhergekommen?! Kurz nachdem du meine Hand berührt hast, ist mir schwindelig und schwarz vor Augen geworden und alles um mich herum hat sich gedreht.“

„Das ist meine Art, mit dir von einem Ort zum anderen zu reisen“, antwortete sie mir mit recht nüchterner Stimme. „Da das hier ein Traum ist, ist vieles möglich. Und ich mag diese Art zu reisen. Es geht schnell, ist unkompliziert und man kommt so gut wie immer dort an, wo man hinwill. Die Trefferquote liegt so gut wie bei 90 Prozent. Doch das ist gerade nebensächlich. Der eigentliche Grund, weshalb ich dich hierhergebracht habe, ist, dass ich dir diese endlose Weite zeigen möchte.“

Sie machte eine kurze Pause beim Sprechen und drehte sich einmal um die eigene Achse, so als ob sie nochmals verdeutlichen wollte, dass weit und breit tatsächlich nichts anderes als nasses Watt zu sehen war.

Nachdem sie ihre Drehung vollendet hatte und wieder mit Blickrichtung zu mir stand, fuhr sie fort: „An manchen Tagen sieht es in mir drinnen genauso aus wie gerade unsere Umgebung. Alles ist genauso leer, trostlos und ohne Leben. Es gibt nichts, woran ich mich erfreuen könnte oder was mir Halt verspricht – sondern nur unendliche Leere und erstickende Einsamkeit. Meine Gefühle sind dann wie tot. Alles Leben in mir ist verschwunden und ich fühle mich verloren in mir selbst.“

 

Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend begutachtete ich die Leere um mich herum. Dieses weite Nichts und die dazugehörige Stille machten mich bereits nach diesen wenigen Minuten schon wahnsinnig! Wie ein Strick legte sich die Trostlosigkeit der Umgebung um meinen Brustkorb und zog sich zunehmend enger zu. Obwohl hier mehr als genug Luft zum Atmen war, hatte ich trotzdem das Gefühl zu ersticken. Es war verrückt, wie sich so ein leeres Umfeld so schnell auf mich, meine Psyche und meinen Körper auswirkte. Nie hätte ich gedacht, dass wortwörtlich Nichts meine Empfindungen und Gefühle so negativ beeinflussen konnte.

 

„Und plötzlich, wie aus dem Nichts, kommt die Flut zurück“, unterbrach die Bordi die unangenehmen Sekunden der völligen Stille, die mir wie Minuten vorkamen. „Ohne Vorwarnung scheinen dann hunderttausend Gefühle auf einmal auf mich einzustürzen und ich habe das Gefühl, dass ich in dieser gigantischen Flutwelle ertrinke. Innerhalb von Sekunden bin ich in einem tobenden Meer aus allen erdenklichen Gefühlen gefangen und muss um mein Überleben kämpfen.“

 

Panisch blickte ich mich in alle Richtungen um, um eine mögliche Flutwelle zu entdecken. Ich traute ihr nicht. Obwohl wir uns erst kennengelernt hatten, wusste ich bereits, dass ich in ihrer Gegenwart mit allem rechnen musste. Das Mädel war immer für eine Überraschung gut. Egal, ob positiv oder negativ.

Doch – glücklicherweise! – konnte ich keine Anzeichen einer Flutwelle erkennen, und auch meine neue Bekannte redete unbeirrt weiter, sodass ich davon ausgehen konnte, dass ich nicht innerhalb der nächsten zwei Minuten von einer Flut überrascht werden würde.

 

„Dank der Diagnose Borderline ist mein Gefühlsleben wie eine Wattwanderung ohne Kompass, Karte und Uhr. Regelmäßig verirre ich mich in den unendlichen Weiten des Watts und verliere die Orientierung. Dadurch, dass ich keine Orientierungshilfen habe und alles gleich aussieht, finde ich nicht mehr den Weg an das sichere, belebte Festland zurück. So irre ich also Stunden, Tage oder manchmal auch Wochen in der leblosen Einsamkeit des verlorenen Meeres umher und versuche vergeblich, irgendwelches Leben und sicheren Boden zu finden. Dadurch, dass ich keine Uhr bei mir trage, verliere ich bei dieser Suche leider auch recht schnell mein Zeitgefühl. Schon bald habe ich keine Ahnung mehr, wie spät es ist und wann die gefährliche Flut kommt. Das heißt, im Klartext, dass ich neben der Leere und der Einsamkeit, die ich im Watt sowieso schon ertragen muss, zusätzlich noch immer die Angst, dass ich jederzeit von einer Gefühlsflut überrannt werden könnte, im Hinterkopf habe.“

 

Ursprünglich fand ich bereits die Vorstellung, tagelang nichts als Leere und Einsamkeit zu fühlen, ziemlich beklemmend, doch das, was die Bordi gerade über ihre Gefühle erzählte, war vermutlich ebenfalls nicht unbedingt angenehmer. Beide Extreme – sowohl nichts fühlen, als auch in seinen eigenen Gefühlen zu „ertrinken“ –, waren sicherlich nicht schön.

Keine Ahnung wieso, aber kurzzeitig überkam mich eine kleine Welle des Mitleids ihr gegenüber.

„Wie überlebst du diese Flut von Gefühlen, ohne darin zu ertrinken?“, fragte ich sie neugierig. Normalerweise war es nicht meine Art, andere Menschen verstehen zu wollen und dazu gezielt noch etwas über die Gefühle des anderen erfahren zu wollen – aber irgendwie faszinierte mich der Bordi mit seinen Erzählungen und seiner Art.

 

Sie seufzte: „Das frage ich mich auch manchmal. Nicht selten ist es mir selbst ein Rätsel, wieso ich noch nicht in meinen eigenen Gefühlen – vor allem meiner eigenen Traurigkeit – ertrunken bin. Aber irgendwie schaffe ich es jedes Mal zu ‚überleben‘. In erster Linie versuche ich es, mit Schwimmen über Wasser zu halten und mich in ruhigere Gewässer vorzukämpfen, in denen weniger Wellengang herrscht und ich vielleicht sogar stehen kann. Manchmal hilft mir dabei eine Rettungsweste. Diese Rettungsweste sind Techniken und Taktiken, mit denen ich meine Gefühle einigermaßen regulieren und die Flut besänftigen kann. Oder ein anderes Mal kommt ein guter Freund mit einem Rettungsboot vorbei und zieht mich aus den Fluten. Doch sehr häufig bin ich auch einfach nur auf mich alleine gestellt und auf meine eigenen Schwimmfähigkeiten angewiesen. In solchen Situationen nicht unterzugehen, kostet eine Menge Kraft und ist unter Umständen – je nachdem wie hoch die Wellen schlagen – ein harter Kampf.“

 

„Das glaube ich dir. Das hört sich, auch ohne, dass ich schon diese Erfahrung am eigenen Körper machen musste, sehr anstrengend an. Umso mehr beeindruckt es mich, dass du immer noch die Kraft hast zu kämpfen und nicht einfach aufgibst!“, versuchte ich ihr Mut zu machen.

 

„Aufgeben?“, fragte sie verwundert, „meinst du das ernst? Wenn ich dich mitten auf einem Meer über Bord ins Wasser schmeiße, was tust du da?“

Bevor ich überhaupt dazu kam, die Frage zu realisieren, beantwortete sie ihre Frage selbst und sprach ohne Punkt und Komma weiter.

„Schwimmen! Du schwimmst! Ob du willst oder nicht – du versuchst dich über Wasser zu halten. Das ist ein Reflex. Ein Reflex, der dir das Leben rettet. Und genau diesen Reflex, oder besser gesagt diesen Überlebenswillen, besitze ich auch. Selbst wenn ich keine Lust mehr habe, wenn ich aufgeben und aufhören will zu schwimmen, schreit mich mein Überlebenswille an und sagt mir „Schwimm weiter“. Ich kann mich nicht gezielt untergehen lassen. Dafür ist mein eigener Überlebenswille zu stark. Gewissermaßen MUSS ich kämpfen.“

 

Wow… Diese Aussage saß. Sprachlos stand ich mit offenem Mund da. Schlagfertige Argumente hatte diese kleine Person eindeutig und dazu war ihre Argumentation noch ziemlich gut. Wäre sie nicht so verrückt und anders, hätte sie in der Politik bestimmt gute Chancen.

 

 

 

5. Drahtseilakt

 

„Leben mit Borderline ist eine ewige Gratwanderung zwischen allen möglichen Extremen der Gefühlswelt. Für Menschen mit dieser Diagnose ist es nicht einfach, die Balance zwischen diesen Extremen zu finden und zu halten, aber es ist möglich. Mit der Zeit kann man lernen, damit umzugehen und zurechtzukommen. Man gewöhnt sich daran, dass man sich auf einem schmalen Grat bewegt und lernt, wo man seine Füße hinsetzen kann und wo nicht. Komm, ich zeig dir etwas dazu, damit du es besser nachvollziehen kannst“, sagte sie und griff erneut voller Eifer nach meiner Hand.

 

Wie beim ersten Mal, begann sich auch dieses Mal, direkt nachdem sich ihre Hand um die meine geschlossen hatte, alles um mich herum zu drehen, und vor meinen Augen wurde es schwarz. Wieder hatte ich das Gefühl, in ein unendlich tiefes Loch zu stürzen und jeglichen Halt und Orientierung zu verlieren.

 

Als ich kurz darauf meine Augen öffnete, befand ich mich gemeinsam mit der Bordi auf der Zuschauertribüne eines Zirkuszeltes. In der Mitte der Manege war ein Hochseil aufgebaut, über das ein leicht bekleideter Seiltänzer balancierte.

„Siehst du den Artisten dort oben auf dem Hochseil?“, fragte sie und deutete dabei auf den Seiltänzer.

„So wie er sich gerade auf dem dünnen Seil über den Abgrund bewegt, bewege ich mich mein gesamtes Leben auf einem schmalen Grat zwischen den Extremen meiner Gefühlswelt. Bei jedem Schritt muss ich aufpassen, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, abzurutschen, in einen der Abgründe zu stürzen und mit voller Wucht auf den Boden aufzuschlagen. Egal, was ich sage, denke, fühle oder tue, alles ist ein Balanceakt auf einem sehr schmalen Grat.

Der Abstand zwischen den Extremen zu viel und gar nichts, zwischen schwarz und weiß, gut und böse ist bei mir kaum breiter als das Seil des Hochseilartisten. Jeder Fehltritt und jeder noch so kleine Windstoß kann mir somit zum Verhängnis werden und mich zum Absturz bringen“, begann sie zu erklären.

„Der Unterschied zwischen dem Seiltänzer im Zirkus und zu mir ist jedoch, dass sich der Artist lediglich für die Zeit der Vorführung auf dem dünnen Drahtseil bewegt, und das freiwillig, und ich muss es den gesamten Tag über mein komplettes Leben lang, ob ich will oder nicht. Mich hat nie jemand gefragt, ob ich Seiltänzer werden möchte. Jeder Tag, jede Stunde und jede Minute sind bei mir ein unfreiwilliger Tanz auf einem Drahtseil. Außerdem hat ein Artist im Zirkus häufig den Vorteil, dass bei solchen Vorführungen meistens ein Fangnetz unter dem Seil gespannt ist, das ihn im Notfall auffängt, falls er doch einmal das Gleichgewicht verliert und in die Tiefe stürzt – das habe ich in den wenigsten Fällen. Wenn ich abrutschte, knalle ich auf den Boden.“

Die Bordi machte eine kurze Pause, in welcher sie sehr nachdenklich wirkte.

„Nichtsdestotrotz haben der Seiltänzer, der seinem Beruf freiwillig nachgeht und ich, der zwangsläufig dazu gezwungen wird, tagtäglich auf einem Hochseil zu balancieren, auch einige Gemeinsamkeiten: Ein Hochseilartist muss – genauso wie ich – jahrelang dafür trainieren, um einigermaßen sicher über ein Drahtseil laufen zu können. Auch er wird besonders in der Anfangszeit beim Trainieren mehr als nur einmal das Gleichgewicht verloren haben und vom Seil abgerutscht sein. Vielleicht hat er in dieser Zeit genauso wie ich das Drahtseil verflucht und gedacht, dass er es nie schaffen wird, mit einer gespielten Leichtigkeit darüber zu laufen. Bestimmt war er das ein oder andere Mal in seiner Ausbildung kurz davor zu verzweifeln, weil er sich bei einem Sturz wehgetan hat oder er bei einer bestimmten Übung immer wieder und wieder abgerutscht ist. Doch offensichtlich hat er dennoch nicht alles hingeschmissen und ist nach jedem Fehlversuch wieder aufgestanden und hat weitergeübt, sonst würden wir ihn sehr wahrscheinlich nicht hier sehen. Und genau das ist die Kunst im Leben. Es ist wahnsinnig anstrengend und kostet eine Menge Geduld, aber es ist wichtig – vielleicht auch das Wichtigste überhaupt – nach jedem Sturz wieder aufzustehen und es erneut zu versuchen! Man darf niemals aufgeben! Irgendwann schafft es jeder, sein Gleichgewicht so gut unter Kontrolle zu haben, dass die Stürze seltener werden und man sich zunehmend sicherer auf dem Seil bewegen kann. Gewiss erfordert das eine Menge Übung – aber wie man sieht, ist es nicht unmöglich.“

 

Eine Weile betrachteten wir beide fasziniert den Artisten, der mit einer spielerischen Leichtigkeit über das Hochseil zu schweben schien. Obwohl es den Anschein hatte, dass es recht einfach war, über das Seil zu balancieren, wusste ich genau, dass ich keinen einzigen Schritt auf diesem Hochseil schaffen würde. Bei dem Seiltänzer sah das alles so mühelos und locker aus, doch in Wirklichkeit steckten hinter dieser Vorführung jahrelange harte Arbeit, Übung und gezielte Konzentration.

 

„Jedoch darf man nie vergessen, dass auch ein erfahrener Seiltänzer mal sein Gleichgewicht verlieren und abstürzen kann. Selbst nach jahrelanger Übung kann es passieren, dass man aus Versehen seinen Fuß falsch aufsetzt, und abrutscht.“

Als ob es die Bordi mit ihren Worten heraufbeschworen hätte, begann der Artist auf dem Drahtseil in diesem Moment zu schwanken und rutschte ab. Laut fluchend fiel er unelegant in das Fangnetz, das unter ihm aufgespannt war. Er war sichtlich verärgert und wütend.

„Genauso wie der Seiltänzer im Zirkus, werde auch ich gute Tage haben, an denen ich sicher über das dünne Drahtseil laufe und kaum nach rechts und links schwanke, aber im Gegensatz dazu wird es auch Tage geben, an denen ich sehr stark schwanke und es mir, so wie dem Artisten gerade, sehr schwerfällt, mein Gleichgewicht zu halten, und ich womöglich abrutsche. Vielleicht kommt mir an diesen Tagen dann eine helfende Hand zur Hilfe und hält mich fest oder ich finde sonst irgendwo Halt, doch vielleicht werde ich an solchen Tagen auch abrutschen und zu Boden stürzen. Wenn ich Pech habe, knalle ich dabei mit voller Wucht auf einem steinernen Boden auf und verletze mich sogar. Trotzdem bin ich mir sicher, dass mich selbst so doofe Tage nicht davon abhalten, es erneut zu versuchen. Je nachdem, wie schmerzhaft der Aufprall war und welche Verletzungen ich davongetragen habe, werde ich entweder unmittelbar danach wieder aufstehen oder ich bleibe kurz liegen, um neue Kraft zu tanken und es nach ein paar Tagen erneut zu versuchen. Nie, niemals werde ich liegen bleiben und aufgeben! Ich habe nur dieses eine Leben und es ist verdammt schwer, mit den Problemen, die ich habe, zu leben, das kann ich nicht verleugnen – doch die Diagnose Borderline zu haben, ist kein Grund, kampflos aufzugeben und sein Leben direkt hinzuschmeißen. Ich werde immer weiterkämpfen und mich nicht wegen so ein paar blöden Gespenstern in meinem Kopf geschlagen geben.“

Bei den letzten Sätzen hatte sie ein kleines Lächeln im Gesicht, und an ihrer Stimme konnte ich hören, dass sie das, was sie sagte, verdammt ernst meinte. Ohne dass ich mich dagegen wehren konnte, wuchs mein Respekt vor diesem kleinen, zerzausten Menschen mit jedem weiteren Satz, den sie sagte. Ich war beeindruckt, mit welchem Lebenswillen und Lebensmut sie trotz ihrer Problematiken durchs Leben ging. Normalerweise lobte ich niemand anderen als mich selbst, doch in diesem Moment konnte ich nicht anders.

 

 

6. Ein Leben voller Berge und Täler

 

„Mich fasziniert dein Überlebenswille. Egal, wie oft du am Boden liegst – du scheinst immer wieder aufzustehen und nie an Kraft zu verlieren. Dein Mut scheint keine Grenzen zu kennen und dein Wille unzerstörbar zu sein“, teilte ich ihr meine Bewunderung mit.

„Auch wenn du es alles andere als einfach im Leben hast, verfällst du nicht in Selbstmitleid oder steckst deinen Kopf in den Sand, sondern kämpfst aktiv gegen deine Probleme an. Das finde ich extrem mutig und stark von dir. Schließlich könntest du auch sagen, dass das alles keinen Sinn mehr hat, ich schmeiß das Handtuch und gebe mich und mein Leben auf, oder ich überlasse es anderen Personen, mein Leben wieder auf die Reihe zu bekommen, doch das tust du nicht. Du kämpfst selbst und nimmst eigenständig dein Leben in die Hand. Damit hast du einigen gesunden Menschen eindeutig etwas voraus.“

Die Bordi lächelte beschämt: „Ich versuche mein Bestes. Es ist nicht leicht und erst recht nicht selbstverständlich für mich, jeden Morgen aufzustehen und zu denken, dass heute ein super Tag wird, oder nach einem Tiefschlag daran zu glauben, dass alles wieder gut wird. Das erfordert strikte Selbstdisziplin. Einerseits muss ich mir selbst sagen, dass es keinen Menschen gibt, bei dem das Leben perfekt und gradlinig verläuft, und andererseits muss ich mir gleichzeitig selbst in den Hintern treten und mich teilweise dazu zwingen, jedes noch so kleine positive Ereignis bewusst wahrzunehmen und daraus Kraft zu ziehen und mich wieder nach oben zu kämpfen. Das heißt, ich muss eine Art Mitte finden zwischen: Ab und zu sind Rückschläge normal und ich muss sie akzeptieren. Und: Stopp, jetzt muss ich das Ruder herumreißen und darf nicht weiter abrutschen. Diesen Übergangspunkt zu finden ist eine Herausforderung. Speziell, wenn man gerade dabei ist abzurutschen. Dann neigt man gerne dazu, sich hinter seinem Selbstmitleid zu verstecken und damit noch weiter in die Tiefe zu ziehen, darin bin ich leider sehr gut. Das andere, gegensätzliche Extrem, in dem ich ebenfalls (leider) ziemlich gut bin, ist, mir bei einem Absturz einzureden, dass ich noch alles unter Kontrolle habe, obwohl bereits so gut wie alles, außer Kontrolle geraten ist. In solchen Situationen verschließe ich die Augen vor der Realität und gehe davon aus, dass alles nicht so schlimm ist und sich noch im Rahmen hält, obwohl ich in Wirklichkeit schon kurz vor einer Kollision mit dem Boden stehe. Aber das ist ein anderes Thema. Komm, ich zeige dir etwas, womit du eher etwas anfangen kann.“

 

Ehe ich mich versehen konnte, griff sie ein weiteres Mal nach meiner Hand und wieder wurde alles schwarz. Als ich jetzt meine Augen öffnete, befand ich mich am Fuße eines steilen Gebirges.

So langsam gewöhnte ich mich an diese durchaus seltsame Art zu reisen, aber woran ich mich noch nicht gewöhnt hatte, waren die sprunghaften Gedanken der Bordi. In einem Moment waren wir hier, im nächsten Moment dort; was sie gerade sagte, war im nächsten Moment schon abgeschlossen. Ein bisschen chaotisch und teilweise verwirrend eben. Aber dennoch mochte ich die Bordi mit ihrer Art. Sie war auf eine positive Weise „verrückt“, und das wiederum machte sie irgendwie sympathisch und liebenswert.

 

„Wenn man sich mein Leben bildlich vorstellt, würde es ungefähr so aussehen“, begann die Bordi, den Sinn seiner Reise an genau diesen Ort zu erläutern.

„So wie dieses Gebirge Berge und Täler hat, hat auch jeder Mensch seine Höhen und Tiefen. Zeiten, in denen alles gelingt, man kaum oder gar keine Sorgen, Probleme oder Schwierigkeiten hat und man glücklich ist, sind die Höhen. Und Phasen, in denen alles schief zu gehen scheint, man nichts zustande bringt, alles, was man anfängt, im Chaos endet, man traurig, frustriert und deprimiert ist, sind die Tiefen oder Täler im Leben. Wie bei diesem Gebirge hier geht es bei jedem Menschen im Leben auf und ab. Mal ist ein Berg ein bisschen höher und mal ist ein Tal ein bisschen breiter, doch im Grunde genommen ist es relativ ausgewogen.

Für jeden Menschen – egal, ob Borderliner oder nicht – ist der Aufstieg zu den Berggipfeln jedes Mal anstrengend und beschwerlich. Bis man den Gipfel erreicht hat, kostet es meist viel Kraft und Energie, und unter Umständen dauert es auch eine Weile, bis man sein Ziel erreicht hat. Je nachdem, wie viel Ausdauer oder Kraft man besitzt oder wie schwer das aktuelle Gepäck ist, das man momentan auf seinem Rücken trägt, kann es sein, dass man hin und wieder Pausen auf dem Weg nach oben einlegen muss, um neue Energie zu tanken. Der anschließende Weg hinab ins nächste Tal hingegen ist einfach und kostet nur wenig Mühe. Ohne Anstrengung scheinen einen die eigenen Füße immer weiter zu tragen und es läuft wie von selbst. Ist man dann unten im Tal angekommen, macht man sich entweder direkt an den nächsten Aufstieg oder man setzt sich erst einmal auf eine Bank oder an einen Tränensee und ruht sich aus. Wie im wahren Leben dauert ein Aufstieg in der Regel mindestens doppelt so lange wie ein Abstieg, und ebenfalls wie in der Realität gleicht kein Berg dem anderen. Jeder Gipfel ist eine Herausforderung für sich, und jeder Berg hat seine speziellen Schwierigkeiten. Bei manchen Bergen ist der Weg glitschig und man rutscht leicht ab, bei anderen scheint sich der Weg nach oben wie Gummi zu ziehen, und wiederum andere Berge sind extrem steil. So weit ist es bei allen Menschen gleich. Jedoch gibt es trotzdem einen entscheidenden Unterschied zwischen den Bergen und Tälern von Borderline-Betroffenen und gesunden Menschen. Der Höhenunterschied zwischen Berg und Tal ist bei Betroffenen nämlich um ein Vielfaches größer als bei Nicht-Betroffenen. Wenn bei einem Nicht-Borderliner der Höhenunterschied zwischen Berg und Tal so groß ist wie bei der Zugspitze und Neuendorf, dann ist er bei Borderlinern so extrem, wie der Höhenunterschied zwischen Mount Everest und Marina Graben. Also um ein unvergleichbar Vielfaches größer.“

 

In Gedanken stellte ich mir den Höhenunterschied der beiden, von der Bordi genannten Beispiele vor: „Wow. Und ich dachte bis jetzt, dass der Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Tag bei mir schon enorm sei. Aber wenn ich mir deinen Vergleich vorstelle, dann wirkt dieser Abstand ziemlich mickrig. Das ist krass!“

 

Die Bordi nickte: „Ja. Wenn ich glücklich bin, dann bin ich nicht einfach nur glücklich, sondern direkt überglücklich, und wenn ich traurig bin, bin ich nicht einfach nur traurig, sondern direkt zu Tode betrübt und am Boden zerstört. Dadurch, dass ich durch Borderline meine Gefühle um ein Vielfaches stärker wahrnehme als zum Beispiel du, und zusätzlich eh zu Extremen neige, ist es eigentlich kaum verwunderlich, dass meine Berge höher und meine Täler tiefer sind als bei anderen Menschen. Daran kann ich nur schwer etwas ändern, ich muss es akzeptieren und das Beste daraus machen. Inzwischen genieße ich es zum Teil sogar, so viel und so extrem zu fühlen.

Vor einigen Jahren habe ich es noch als eine Art Bestrafung angesehen, so sensibel zu sein, doch mittlerweile sehe ich es eher als eine Art Begabung. Ich genieße das Gefühl, wenn ich glücklich und zufrieden bin – und wenn ich am Tal am Boden bin, dann muss ich eben aufstehen und weiterkämpfen. Wie ein Bergsteiger kämpfe ich mich Stunden, Tage, Wochen und manchmal sogar monatelang Meter für Meter den nächsten steilen Berg hinauf, um zu sehen, welche Aussicht ich von diesem Gipfel aus habe. Bei jedem Schritt denke ich mir: Wofür tue ich das eigentlich und so gut wie bei jedem Aufstieg denke ich mindestens einmal daran, wieder umzukehren und den einfachen, leichten Weg zurück ins Tal zu nehmen – aber wenn ich es dann trotz aller Anstrengungen und Schwierigkeiten auf den Gipfel geschafft habe, bin ich unwahrscheinlich stolz auf mich. Die Aussicht von dort oben ist atemberaubend, und jedes Mal aufs Neue wird mein Körper mit Glückshormonen durchflutet. Das Gefühl, das ich dort verspüre, ist nicht in Worte zu fassen.“

Ihre Augen leuchteten.

„Doch leider weiß ich auch, dass meine Zeit auf dem Gipfel begrenzt ist. Ich kann nicht ewig dort oben bleiben und die Aussicht genießen. So kommt es, dass ich meistens schneller, als ich eigentlich möchte, wieder den Abstieg antreten muss. Bevor ich jedoch gehe, visiere ich mir häufig schon mein nächstes Ziel an. Schließlich gibt es im Gebirge noch jede Menge andere Berge, die auch noch bezwungen werden wollen.“

Sie grinste und fügte hinzu: „Ich bin nämlich ein Bergsteiger und fühle mich am wohlsten, wenn ich auf einem Berg stehe oder gerade dabei bin, einen neuen Berg zu bezwingen. Im dunklen Tal fühle ich mich nicht wohl. Zwangsläufig muss ich die Täler bei meiner Durchreise zum nächsten Berg durchqueren, aber das heißt nicht, dass ich nicht auf sie verzichten könnte!“

 

Beeindruckend, wie sie bei ihren Themen meilenweit ausholte, doch zum Schluss immer wieder zuverlässig zum ursprünglichen Ausgangsthema zurückfand! Kurzzeitig hatte ich ja gedacht, dass sie bei einem komplett anderen Thema wäre, als sie plötzlich vom Bergsteigen redete, aber diese Annahme war wohl falsch. Überhaupt konnte dieses kleine, zerlumpt aussehende Mädchen sehr gut erklären. In der wahren Welt hätte ich sie vermutlich links liegen gelassen und vollständig ignoriert, doch gerade war ich wirklich froh, sie auf der Straße angesprochen zu haben. Ich gebe es nur äußerst ungern zu, aber bereits jetzt hatte sie mich schon einiges gelehrt. Teilweise konnte ich mich in einigen ihrer Beschreibungen sogar wiedererkennen.

7. Komplizierte Beziehungen

 

„Auf eine gewisse Weise habe ich so durch die Diagnose Borderline gelernt, jeden Moment in meinem Leben zu genießen. Wenn ich jetzt gerade im Moment glücklich bin, kann das im nächsten Moment schon wieder anders sein. Ich kann heute noch auf einem Gipfel stehen und morgen schon im Tal an einem Tränensee sitzen. Ich weiß nie, was kommt“, erzählte sie weiter.

„Jahrelang habe ich mir deshalb den Kopf darüber zerbrochen, wann der nächste Tiefschlag kommt, wie ich ihn verkrafte und wie lange es wohl dauern wird, bis ich das nächste Mal einen Gipfel erreichen werde und mir damit die schönen Momente in meinem Leben teilweise genommen oder zerstör habe. Denn was bringt es mir, wenn ich gerade eine gute Phase habe und schon wieder an den kommenden Abstieg denke? Wenn ich eine Angst davor entwickle, wie meine Zukunft aussehen wird? Das sind lediglich unnötige Gedanken, die mich daran hindern, mich an den aktuellen, guten Momenten zu erfreuen. Klar weiß ich, dass es lediglich eine Frage der Zeit ist, wann ich ins nächste Tal geschickt werde, doch das versuche ich so lange wie möglich auszublenden. Ich versuche, darüber glücklich zu sein, wo ich aktuell stehe, und mir nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, wo ich nächste Woche liegen könnte.“

 

„Das ist eine gute Einstellung“, lobte ich sie.

„Wie du bereits gesagt hast, man weiß schließlich nie, wann einem das Leben den nächsten Tiefschlag versetzt und aus der Bahn wirft. Jeder schöne Moment kann im nächsten Augenblick vorbei sein. Das Leben und erst recht das Schicksal sind unberechenbar.“

„Genau“, antwortete die Bordi und blickte dabei gedankenverloren in die Ferne.

„Vor allem, wenn man so wie ich sowieso schon zu Extremen und Gegensätzen in seiner Gefühls- und Gedankenwelt neigt. Bei mir dauert es keine fünf Sekunden, bis meine Stimmung von super toll und gut zu total bescheiden und am Boden zerstört abrutscht. Innerhalb von drei Sekunden kann mein ursprünglicher Optimismus restlos in abgrundtiefe Depression und Frustration umschlagen.“

 

„Puh!“, schnaufte ich.

„Ich möchte ganz ehrlich nicht mit dir tauschen. Gefühle, die Achterbahn fahren, entweder gar nichts fühlen oder um ein Vielfaches stärker, als andere Menschen die eigenen Gefühle wahrnehmen, regelmäßig von einer Welle von Gefühlen überrollt werden, ständig aufpassen zu müssen, nicht das Gleichgewicht zu verlieren und in einen Abgrund zu stürzen, höhere Berge und tiefere Täler als normale Menschen im Leben zu haben. Das klingt ziemlich kompliziert und enorm nervenaufreibend!“

 

„Ja, das ist es auch!“, antwortete sie und ergänzte noch im selben Atemzug: „Aber, wie bereits schon bei der Achterbahn gesagt, sind meine Diagnose und die Auswirkungen meiner extremen, wechselhaften Gefühls- und Gedankenwelt nicht nur für mich anstrengend und belastend, sondern auch für die Menschen in meinem Umfeld. Weil ich auch in zwischenmenschlichen Beziehungen leider zu Extremen und Widersprüchen neige. Zusätzlich habe ich noch starke Verlassensängste und fast ununterbrochen Angst davor, dass mich meine Freunde/Familie/Partner plötzlich aus irgendeinem Grund nicht mehr lieben könnten. Allgemein zweifle ich sehr häufig an meinem persönlichen Wert und meiner Daseinsberechtigung. Das sind alles Faktoren, die für eine Beziehung nicht gerade förderlich sind. Hinzu kommen dann noch meine tollen Gefühlsschwankungen, mein Schwarz-weiß-Denken und meine ungeplanten Gefühlsausbrüche. Das sorgt im Gesamtpaket dafür, dass es sowohl für mich als auch für mein Gegenüber so gut wie unmöglich ist, eine anständige, stabile Beziehung aufrechtzuerhalten.

So wie meine Gefühle in Sekundenschnelle von vollkommen glücklich zu total am Boden zerstört abrauschen können, kann ich auch mein Gegenüber in einem Moment noch lieben und im nächsten Moment schon auf den Mond schießen wollen. Eine einzige falsche Reaktion, ein falscher Blick oder eine unpassende Geste kann dazu führen, dass ich die Person, die ich eben noch abgöttisch geliebt und beinah schon vergöttert habe, beleidige und dahin schicke, wo der Pfeffer wächst. Personen, die mir wichtig sind, liebe ich über alles. Sie sind für mich fast so wichtig wie die Luft zum Atmen, doch gleichzeitig sind das meist auch die Menschen, die ich mit meinen Worten und Taten am schwersten bewusst oder unbewusst verletze. Ständig brauche ich in einer Beziehung die Bestätigung von meinem Gegenüber, dass er mich gerne hat und so mag, wie ich bin. Bekomme ich diese Bestätigung nicht, fühle ich mich sofort wertlos und schlecht und beginne mich in Gedanken selbst niederzumachen. Dadurch sinkt mein sowieso kaum vorhandenes Selbstwertgefühl unter den Nullpunkt. Außerdem kann eine klitzekleine Verhaltensveränderung von meinem Gegenüber, die ich falsch auslege, dafür sorgen, dass ich wahnsinnige Verlassensängste bekomme. Zum Beispiel fühlt sich eine Absage von einer geliebten Person, der bei dem geplanten Treffen ein anderer, wichtigerer Termin dazwischengekommen ist, für mich wie ein Weltuntergang an. Ein anderer Mensch würde in solch einer Situation einfach sagen: „Schade, aber ist o. k. Wir sehen uns ja nächste Woche wieder. Aber bei mir beginnt bei solch einer Absage unmittelbar mein Kopfkino damit, sich einen eigenen Film zusammenzuspinnen. Ich bekomme das Gefühl, dass mich die Person hasst, und deshalb den Termin abgesagt hat und rede mir ein, dass ich es nicht wert bin, dass man sich mit mir trifft. Also kurz gesagt: Ich rutsche durch solch eine belanglose ‚Kleinigkeit‘ direkt in eine Abwärtsspirale und rede alles um mich herum und besonders meine eigene Persönlichkeit schlecht.“

 

Sie machte eine Pause beim Reden, um neue Luft für noch weitere Sätze zu holen. Diese kurze Pause nutzte ich aus, um die vielen Informationen, die sie mir gerade mitgeteilt hatte, zu ordnen: „Du brauchst also die ständige Bestätigung, Aufmerksamkeit, Anerkennung und das Lob anderer Personen, um dich gut und wohlzufühlen, da dein eigenes, persönliches Selbstbild sehr schlecht ist. Bekommst du nicht diese positiven Rückmeldungen von außen, fühlst du dich schlecht und denkst, dass du wertlos und nicht liebenswert bist. Verstehe ich das richtig? Du machst also dein eigenes Selbstbild von dem abhängig, was dir andere rückmelden? Außerdem bist du in Beziehungen genauso sprunghaft wie mit deinen Gefühlen. Einmal liebst du dein Gegenüber und möchtest ihn oder sie auf keinen Fall verlieren und im nächsten Moment beleidigst du ihn oder sie und beendest die Freundschaft.“

 

„Ja… Jain… Nicht direkt, aber es stimmt“, antwortete sie mit sehr aussagekräftigen Worten.

„Ja, ich mache mein Selbstbild nicht gerade wenig abhängig von dem Lob und der Anerkennung anderer. Das liegt vermutlich daran, dass ich selbst nicht dazu in der Lage bin, mein eigenes Ich zu lieben. Deshalb brauche ich die Liebe anderer, um mich geliebt zu fühlen. So weit hast du also recht. Und auch in dem zweiten Punkt hast du nicht ganz unrecht, doch so einfach, wie es auf den ersten Blick scheint, ist es nicht.

Manchmal erdrücke ich Menschen, die ich mag und die mir etwas bedeuten, förmlich mit meiner Liebe und enge sie total ein. Am liebsten möchte ich jede Minute mit ihnen zusammen sein. Ich brauche dann ihre Nähe und ihre Liebe – gleichzeitig kann ich diese Nähe jedoch nicht gut aushalten und bekomme Panik. Denn wenn ich Nähe und Vertrauen zulasse oder eine Beziehung zu einer Person aufbaue, dann kann ich von ihr verletzt werden. Davor habe ich Angst. Im Klartext heißt das: Ich möchte umarmt, aber nicht angefasst werden. Da das so allerdings nicht geht, kommt es zu einer Art ‚Fehlermeldung‘ in meinem Gehirn. Eine Stimme in mir sagt, dass ich das Gefühl gemocht zu werden, genießen soll, und die andere Stimme schreit: ‚Oh, oh! Du zeigst gerade eine verletzbare Seite von dir. Pass auf! Gleich bekommst du genau in diesen verwundbaren Teil von dir einen Schlag versetzt. Und wenn ich Pech habe, kommt dazu noch eine dritte Stimme, die mir penetrant ins Ohr flüstert, dass ich es nicht verdient habe, gemocht zu werden. Dass ich wirklich denke, dass ein Versager, wie ich Freundschaft verdient hat. Diese drei Stimmen, die eigentlich keine richtigen Stimmen, sondern nur Gedanken in meinem Kopf sind, reden dann wild durcheinander und sorgen mit ihren Diskussionen für Chaos und im schlimmsten Fall für einen Kurzschluss.

Aus Angst vor zu viel Nähe, Furcht davor, verletzt zu werden, aber teilweise auch aufgrund meines Schwarz-weiß-Denkens und meiner Stimmungsschwankungen, passiert es so leider immer wieder, dass ich bei einem Wutausbruch eine geliebte Person anschreie, verfluche, beschimpfe oder gar nach ihr schlage beziehungsweise trete. Eben war noch alles gut, und im nächsten Augenblick habe ich, meist wegen einer Kleinigkeit einen Wutausbruch und schieße wild um mich. Diese Reaktion wird allerdings nicht bewusst von mir ausgeführt. In solchen Momenten verliere ich meist die Kontrolle über meine Handlungen. Wie in einem Film sehe ich von außen zu und denke mir, was ich, da schon wieder für einen Unsinn mache, kann aber nicht aktiv eingreifen und etwas an meinem Verhalten ändern oder es stoppen. Machtlos muss ich mir mein mehr als unpassendes Verhalten mit ansehen und zuschauen, wie ich alles und jeden, der mir auch nur im Entferntesten im Weg steht, niedermache.

Mein Kopf und mein Verstand sind in solchen Momenten sozusagen out of order. Ich will mich nicht so verhalten, aber bin unfähig, etwas daran zu ändern.“

Sie schniefte.

„Das Paradoxe an der Sache ist, dass ich in solchen Augenblicken die Personen, die ich eigentlich liebe, hasse. Ich tue im Grunde genommen alles dafür, um sie spüren zu lassen, wie sehr ich sie gerade verabscheue, und drücke sie förmlich von mir weg. Gleichzeitig könnte ich es jedoch nie ertragen, wenn sich die Person wirklich umdrehen und gehen würde. Nach außen hin bin ich ein Arschloch, das ausstrahlt: Ich hasse euch alle und verpisst euch aus meinem Leben! Ich will alleine sein und brauche euch nicht mehr. Doch innerlich schreie ich in solchen Augenblicken lediglich nach Liebe. Mein Wutanfall ist sozusagen ein Schrei nach Liebe, einer Umarmung und einem Ich mag dich trotzdem. Bloß versteht das kaum jemand. Die meisten Leute in meinem Umfeld denken, dass ich meine Wutanfälle sehr wohl steuern kann und dass ich willentlich so fies bin. Sie verstehen nicht, dass ich in solchen Momenten die Kontrolle über mich und mein Handeln verliere. Das ist für sie nicht nachvollziehbar. Selbst wenn ich ihnen im Anschluss versuche zu erklären, dass solche Wutanfälle und aggressives Verhalten von mir nicht ernst gemeint sind, sondern eher ein Austesten sind, ob sie mich wirklich lieben, schauen sie mich nur ungläubig an, und an ihrem Blick kann ich genau erkennen, dass sie wahrscheinlich denken, dass ich einen Knall habe. Und wenn ich ehrlich bin, verstehe ich sie zum Teil auch. Wäre ich an ihrer Stelle, würde ich vermutlich ähnlich reagieren. Denn wer lässt sich schon gerne anschreien und zwei Sekunden später von ein und derselben Person umarmen? Und wenn mir dann noch diese Person diesen Wutanfall als eine Art Liebesbeweise verkaufen würde, würde ich sehr wahrscheinlich auch erst einmal denken: Die hat doch einen Sprung in der Schüssel!“

 

„Das ist tatsächlich schwer nachzuvollziehen“, musste ich zugeben.

„Mittlerweile kenne ich dich ja ein kleines Bisschen und du hast mir schon einiges über dich und deine Diagnose erzählt, aber ich wüsste auch nicht, wie ich reagieren würde oder sollte, wenn du mich plötzlich anschreist. Vermutlich wäre ich erst einmal verwundert und würde gar nicht verstehen, was gerade abläuft, aber dann würde ich mich sehr wahrscheinlich ebenfalls umdrehen und gehen. Aber dich in diesen Momenten zu verlassen, ist falsch, hast du gesagt, oder? Wie soll man als ‚normaler‘ Mensch deiner Meinung nach sonst reagieren? Also, ich meine, du kannst nicht verlangen, dass dein Gegenüber sich alles von dir gefallen lässt. Schließlich ist er ebenfalls ein Mensch mit Gefühlen und kein Punchingball. Diagnose Borderline hin oder her, so etwas rechtfertigt es nicht, andere Menschen grundlos niederzumachen.“

Meine letzten Worte mussten die Bordi relativ hart getroffen haben. Eine kleine Träne rollte über ihre Wange und tropfte das Kinn hinunter. Kurzzeitig bekam ich dadurch etwas Mitleid mit ihr. Dennoch wollte ich meine zuvor getroffene Aussage nicht zurückziehen. Ich wollte sie nicht in ihrem „falschen“ Verhalten bestätigen.

 

Nachdem noch eine zweite und eine dritte Träne über ihre Wangen gekullert waren, schluchzte sie:

„Das stimmt. Meine Diagnose rechtfertigt mein fieses Verhalten nicht, aber es ist der Auslöser. Ich denke, als Freund/Verwandter/Partner eines Borderline-Betroffenen sollte man wissen, dass solche grundlosen Wutausbrüche mit anschließender Umarmung leider eine typische Verhaltensweise von Betroffenen sind, die nicht so einfach abzustellen ist. Das ist keinesfalls eine Entschuldigung, aber es macht es vielleicht für Nicht-Betroffene einfacher, es nachzuvollziehen. Außerdem sind klare Ansagen, so wie du sie gerade gemacht hast, sehr wichtig. Das, was du mir gerade gesagt hast, hat mich an einem wunden Punkt getroffen und mir wehgetan – aber ich weiß, dass du recht hast. Solange du deine Kritik konstruktiv äußerst, nicht beleidigend wirst und ehrlich widerspiegelst, was du denkst und fühlst, ist das eine Bereicherung für mich und ich kann daran wachsen.“

Sie wischte sich die restlichen Tränen aus dem Gesicht.

„Allgemein habe ich gelernt, dass in jeder zwischenmenschlichen Beziehung – egal, ob mit einem Borderliner oder nicht – Gespräche ein wahres Wundermittel sind. Wenn es Probleme, Sorgen, Bedenken etc. gibt, sollte man sich in einer ruhigen Minute gemeinsam an einen Tisch setzen und darüber reden. Jeder sollte die Gelegenheit haben, die Dinge, die ihn stören, offen anzusprechen und seine Gefühle zu äußern. Am Anfang mag das etwas schwer sein, und besonders, wenn das Gegenüber ein Borderline-Betroffener ist, kann es vorkommen, dass die Emotionen hochkochen, aber aus Erfahrung kann ich sagen, dass es trotzdem für beide Seiten besser ist, die Dinge anzusprechen, als sie in sich hineinzufressen. Weil Schweigen lässt kleine Problemchen irgendwann zu gigantischen Problemen anwachsen, Reden hingegen hilft oftmals bei der Problemlösung.“

 

8. Die Kunst, ein Stachelschwein zu umarmen

 

„Mit etwas Geduld und ein paar Gesprächen findet man vielleicht dann auch eine Lösung dafür, wie eine zwischenmenschliche Beziehung mit einem kompliziert denkenden und fühlenden Borderlinerin für beide Seiten angenehm gestaltet werden kann“, führte die Bordi seine Aussage zu dem ursprünglichen Ausgangsthema zurück.

„Besonders in der Familie oder einer Partnerschaft ist es eine gute Idee, sich gemeinsam einen Plan zu überlegen, wie man sich verhalten sollte, wenn eine gewisse Situation eintritt. Sozusagen im übertragenen Sinne ein Anwenderhandbuch für die Beziehung und den Umgang miteinander. Dort kann jeder seine Bedürfnisse hineinschreiben, und gemeinsam kann man eine Regel finden, wie diese Bedürfnisse befriedigt werden können und sich gleichzeitig trotzdem jeder wohlfühlt.“

 

„O. k.“, antwortete ich ihm mit einem aufmunternden Lächeln im Gesicht, „einen Tisch sehe ich hier jetzt nicht und leider fehlen uns hier auch die Stühle zum Hinsetzen, aber ich versuche es trotzdem einmal: Wie soll ich mich deiner Meinung nach verhalten, wenn du mich anschreist? Wie soll ich auf deine Wutausbrüche reagieren? Oder gibt es vielleicht sogar eine Möglichkeit, deine Wutausbrüche zu umgehen und zu verhindern?“

 

Einen kurzen Moment wirkte sie nachdenklich. Mit dieser Frage hatte sie offensichtlich nicht gerechnet.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739444833
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (März)
Schlagworte
Autobiografie Borderline Gefühle Depression Angst Mobbing

Autor

  • Laura Adrian (Autor:in)

Laura Adrian wurde am 19.4.1992 in Südhessen, wo sie auch heute wieder lebt, geboren. Ihre Bücher handeln größtenteils von eher "schwierigen" Themen