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Wolfssünde

Robert Hartmanns zweiter Fall

von Moritz Hirche (Autor:in)
413 Seiten

Zusammenfassung

Ein schrecklicher Fund, eine tödliche Botschaft, ein gefährliches Geheimnis... BKA-Zielfahnder Robert Hartmann auf der Jagd nach der Wahrheit: Südlich von Berlin, in Brandenburg… Im Nebel einer Herbstnacht versucht eine junge Försterin, ein neu angesiedeltes Wolfsrudel zu beobachten. Dabei trifft sie tief im Wald auf eine verwirrte Frau, die sie zu einem grausigen Fund führt: Die schrecklich zugerichteten Leichen dreier Menschen, die offenbar von den Raubtieren getötet wurden. Die Forstbeamtin steht vor einem Rätsel. Die örtliche Polizei scheint ratlos. Das Bundeskriminalamt wird gebeten, Licht ins Dunkel der Ereignisse zu bringen. Denn die Toten hinterließen eine seltsame Botschaft, die niemand zu deuten vermag… Robert Hartmann, der als Zielfahnder mit einer heiklen internationalen Ermittlung befasst ist, wird nach Deutschland zurückbeordert, um die mysteriösen Todesfälle zu untersuchen. Schnell entwickelt sich der Fall zu einer gefährlichen Jagd, die Hartmanns eigene Sünden ebenso an die Oberfläche bringt wie die finstere Vergangenheit des Waldes. Die Bedrohung kommt näher und sie ist persönlicher, als Hartmann ahnt. Doch niemand außer den Wölfen scheint ihm dabei helfen zu wollen, das tödliche Geheimnis zu lüften…

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis




Wolfssünde


Hartmanns zweiter Fall










Schlicht und einfach die Wahrheit?


Die Wahrheit ist selten schlicht und niemals einfach


(Oscar Wilde)









Hinweis:

Es existieren keine Parallelen zu lebenden oder verstorbenen Personen. Etwa auftretende Ähnlichkeiten sind Zufall und nicht beabsichtigt. Die baulichen und landschaftlichen Hintergründe der Handlungsorte des Romans entsprechen überwiegend den realen Gegebenheiten, erheben jedoch keinen Anspruch auf Abbildung der tatsächlichen Verhältnisse.    

I



Im finsteren Wald



morituri non cognant 

(lat.: die Todgeweihten sind ahnungslos)




Landstraße 74, zwischen Wünsdorf und Töpchin


Das knurrige Motorengeräusch verebbte. Wie immer ließ sie den betagten, grünen Mercedes-Geländewagen vor der alten Schranke stehen. Vor Jahrzehnten musste sie einmal rot-weiß gestreift gewesen sein. Jetzt bedeckte Grünspan die Reste der Farbe, die noch nicht abgeblättert war. Der Schlagbaum versperrte den Zugang zu einem der verwilderten Forstwege, die das riesige Areal durchzogen wie blutleere Adern einen toten Körper. 

Das Blechschild, das sich an den rostigen Schlagbaum klammerte, wirkte hingegen noch recht neu: 

Naturschutzgebiet 

 (ehemaliges militärisches Übungsgelände)

Von dieser Fläche gehen erhebliche Gefahren für Leben und Gesundheit aus.   


Darunter stand noch irgendetwas Unheilvolles von alter Munition, Explosionsstoffen, Chemikalien, einsturzgefährdeten Bauwerken und unterirdischen Anlagen.  


Hinter der Schranke begann hügeliger, lichter Kiefernwald, gelegentlich durchsetzt von Eichen, Birken und Erlen. Letzte Sonnenstrahlen fielen durch die Stämme auf den bemoosten Boden. 

Julia Singer öffnete die Heckklappe, hinter der Cheetah geduldig wartete. Die große Hündin sprang heraus, schnupperte halbherzig, entfernte sich aber nicht vom Auto. Singer schulterte den kleinen Rucksack, der außer einer digitalen Nikon-Kamera eine Wasserflasche und einige nützliche Utensilien enthielt. Dann band sie in einer uneitlen Bewegung die brünetten Haare zum Pferdeschwanz. Zuletzt steckte sie den Revolver in das Holster am Gürtel. Nur für alle Fälle. Ein gut gepflegter 38er von Smith & Wesson. Beileibe kein High-Tech, aber zuverlässig. Für eine Försterin erfüllte er seinen Zweck. Ein Gewehr nahm sie, wie meistens, nicht mit. Ohnehin war das einzige, das sie zu schießen gedachte, Fotos. 

Der Weg, der sie tiefer in den Wald führte, war bald kaum noch als solcher zu erkennen. Eine Wildnis, mitten in Brandenburg. Über dreihundert Hektar Sumpf, Sand, Wiese und Wald. Nein, es war mehr als eine Wildnis. Ein vergessener, ein verbotener Ort. Seit 1994 die letzten sowjetischen Streitkräfte abgezogen waren, hatte man das riesige Areal sich selbst überlassen. Gebäude verfielen, Bunker wurden allmählich überwuchert. Erst ein paar Jahre später war halbherzig damit begonnen worden, zumindest die gefährlichsten Altlasten zu beseitigen. Offen herumliegende Granaten oder Ähnliches waren seitdem nicht mehr zu befürchten. Anschließend wurde das Sperrgebiet offiziell zum Naturschutzgebiet erklärt.  

Doch alle Dinge, vor denen das Schild warnte, waren noch da. 

Dort, wo niemand hinsah. 


Als zuständige Forstbeamtin war Julia Singer für den erfreulichen Teil dieser Entwicklung zuständig. Die Natur hatte das Terrain zurückerobert, soweit es ihr nicht schon vorher gehörte. Eine reichhaltige Flora und Fauna gedieh allerorten. Seltene Arten hatten hier ein ungestörtes Refugium gefunden. Darunter auch eine große, räuberische Spezies, deren Auftauchen nicht bei allen Begeisterung hervorrief. 

Cheetah trottete ohne Leine neben Singer her, ließ sich auch von einer Eidechse nicht ablenken, die neben ihr durch trockenes Laub raschelte. Nach etwa drei Kilometern verjüngte sich der Weg zu einem schmalen Pfad. Er führte einen Hügel hinauf. Ein Schutthaufen zwischen den Kiefern war von Gras und Flechten überwuchert. Unweit davon wuchsen wilde Heidelbeeren. 

Wenige Minuten später passierte die Försterin ein kleines Gebäude. Auf dem Dach fehlten die meisten Ziegel. Es war verlassen. Wie alles andere hier. Warum hatte man es einst  gebaut? An einer Mauer waren die Reste einer kyrillischen Aufschrift zu erahnen.  

Von hier aus war ihr Ziel nicht mehr weit. In einer Senke lichtete sich der Wald. Sie nahm Cheetah an die Leine. Ab jetzt durften sie keine Geräusche mehr verursachen und keine Spuren hinterlassen. Allmählich begann die Dämmerung.  Jagdzeit. Der kleine Hochstand am Waldrand, den sie kürzlich mit zwei Forstarbeitern errichtet hatte, bot gerade soviel Platz, dass sie es mit dem Hund ein paar Stunden darauf aushalten konnte. Singer legte Fernglas und Fotoapparat neben sich. Sie schraubte das Objektiv für Nachtaufnahmen auf und machte einige Probeaufnahmen von der Stelle auf dem Hügel, an der sie die Köder ausgelegt hatte. Cheetah saß neben ihr auf einer kleinen Decke. Wieder einmal hatte Singer festgestellt, dass es kein einfaches Unterfangen war, einen ausgewachsenen Rhodesian-Ridgeback auf einen Hochstand zu hieven. Es musste lächerlich ausgesehen haben. Aber wen interessierte das schon? In einem Umkreis von mindestens fünfzehn Kilometern um sie war kein Mensch. Davon war zumindest auszugehen. Verzichten wollte sie weder auf Cheetahs scharfe Sinne noch auf ihre Gesellschaft. Unten bleiben konnte sie auch nicht. Es war zu gefährlich. Denn die, auf die Singer wartete, würden die Hündin töten, falls sie sie witterten. Man hätte es ihnen nicht vorwerfen können. Sie waren es gewohnt, um das Überleben ihres Rudels zu kämpfen. In ihrer Welt gab es keinen Napf mit frischem Fleisch am Morgen und keine warme Decke am Abend. 

Canis Lupus war zurück. Ja, es gab wieder Wölfe in Brandenburg.  

Hundertzweiundfünfzig Jahre, nachdem ein Gutsherr stolz verkündet hatte, das letzte Exemplar in dieser Gegend erschossen zu haben. Die Menschen registrierten es mit einer Mischung aus Entsetzen und Faszination. Von Begeisterung bis Abscheu war alles darunter. Wie so oft lagen Liebe und Hass dicht beieinander. Die Aussicht, dass es in den Wäldern wieder ein großes Raubtier gab, polarisierte besonders die Bevölkerung in den angrenzenden Dörfern. 

Als Försterin sah Julia Singer es als ihre Aufgabe an, für den Wolf zu werben. Zur friedlichen Koexistenz zwischen Mensch und Tier beizutragen. Es handelte sich aus ihrer Sicht dabei eher um ein emotionales Problem. Der Wolf wollte im Normalfall mit Menschen nichts zu tun haben und nahm rechtzeitig Reißaus. Zumindest, solange man ihn nicht in die Enge trieb. Es würde alles kein Problem sein, wenn man dem Ärger aus dem Weg ging. 

Dass sie an diesem Abend bewusst die Nähe der Raubtiere suchte, war Teil dieser Mission. Ziel war es, möglichst viele Fotos des Rudels aufzunehmen. Wer war der Leitwolf, wie viele weibliche Tiere gab es? Waren womöglich schon Welpen geboren worden? Abgesehen vom wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn konnten gelungene Aufnahmen eine  Menge zum positiven Image des Wolfs beitragen. Vielleicht gelang es ihr sogar, ein Muttertier mit ihren Welpen zu fotografieren. Ein Anblick, der kaum weniger anrührte, als ein tapsiger  Wurf junger Hunde. 

Soviel zur Theorie, dachte Singer. Sie mochte Tiere. Eigentlich sogar lieber als Menschen. Dennoch beschlich sie ein mulmiges Gefühl, während sie zusah, wie die Dämmerung in Dunkelheit überging. Wer sich im Wald nicht auskannte, wurde regelrecht von der Nacht  überrascht. Cheetahs dunkle Augen starrten wachsam umher, die Ohren waren aufgerichtet. 

Singer trank einen Schluck Wasser, hielt dann jedoch inne. Der Drang, zur Toilette zu müssen, wäre jetzt denkbar unpassend. Sie hob das schwere Fernglas an. Es war kein Nachtsichtgerät, doch die Linsen waren für schlechtes Licht optimiert. Schemenhaft erkannte sie die Fleischköder im Moos. Dort, wo sie die Abdrücke der Tatzen gefunden und Cheetah die Losung der Wolfsrüden gewittert hatte. Die Fleischbrocken wirkten allesamt noch unberührt. Sie wartete. Und wartete. Eine Ewigkeit, so kam es ihr vor. Es wurde kühl. Singer fröstelte und zog den Reißverschluss ihres Parkas höher. Cheetahs Wachsamkeit hatte merklich abgenommen. Die Hündin schien stattdessen mit dem Gedanken zu spielen, sich trotz des beengten Raumes auf der Decke zusammenzurollen.  

Das Rudel würde an diesen Platz zurückkehren, das lag in der Natur der Tiere, versicherte sich Singer fast trotzig. Gleichzeitig war sie sich bewusst, dass es mit jeder Minute  unwahrscheinlicher wurde, dass sie in dieser Nacht einen Wolf zu Gesicht bekam. Der Biorhythmus der Tiere sprach ganz einfach dagegen. Die Armbanduhr war der Meinung, dass es bereits auf dreiundzwanzig Uhr dreißig zuging. Sie seufzte enttäuscht. Warum ignorierte das Rudel die Köder? Warum mieden die Wölfe ihren alten Lagerplatz, obwohl dort eine mühelose Mahlzeit wartete? 

War sie zu nah? Oder hatten die Tiere sie doch gewittert? 

Es gab viele mögliche Gründe. Erstmals gönnte sie sich ein langgestrecktes Gähnen. Die Anspannung ließ merklich nach. Während sie ihre Augen zusammenpresste, drang ein Geräusch an ihre Ohren. Ein Knacken. Wie ein Zweig unter einem Schuh. Die Tiere des Waldes erlaubten sich solche Unachtsamkeit nicht. Auch Cheetah war aufgeschreckt. Ihr kräftiger Körper straffte sich. 

Offenbar keine Täuschung. 

Singer kramte im Rucksack nach der Taschenlampe. Ob sie damit Tiere verscheuchte, spielte jetzt keine Rolle mehr. Es waren keine in der Nähe. Zumindest nicht die, wegen denen sie sich hier die Nacht um die Ohren schlug. Sie ließ den Lichtstrahl ziellos durch die Stämme wandern, die in der Dunkelheit wie ein unfreundliches Labyrinth wirkten. 

Nichts. Vielleicht doch nur ein Wildschwein.  

Das Geräusch wiederholte sich nicht. Sie wartete noch, wusste aber selbst nicht mehr, worauf. Ein zweiter Blick zur Uhr. Irgendetwas deutlich nach Eins. Die Geisterstunde war lange vorüber. Zeit zu gehen. Sie trank etwas Wasser, verstaute ihre Sachen und bereitete Cheetah darauf vor, dass der Rückweg keineswegs angenehmer sein würde. Die Holzsprossen ächzten, während sie mit dem Hund in die Dunkelheit hinabstieg. Eine Dauerlösung war das nicht. Unten angekommen, schaltete sie die Stablampe ein und entschied, Cheetah vorsichtshalber anzuleinen. Doch die Hündin wirkte mit einem Mal unruhig. Als habe sie etwas gesehen, gerochen oder gehört, was den untauglichen Sinnesorganen eines Menschen zwangsläufig entgehen musste. 

Im spärlichen Licht lenkte Singer ihre Schritte über den Hügel, hinter dem der Pfad begann, der sie zurück zur Landstraße führte. Der dicke Moosteppich verschluckte die Schritte ihrer Stiefel. 

Singer kannte sich hier aus, soweit das überhaupt möglich war. Dennoch war sie erleichtert, als sie endlich den Forstweg erreichte. Noch drei oder vier Kilometer bis zum Wagen. Sie kam schnell voran. Der Lichtkegel wanderte über das hohe Gras, das auf der einstigen Fahrspur von Panzerketten wuchs. Sie fühlte Müdigkeit in sich aufsteigen. Ein erneutes tiefes Gähnen lenkte ihren Blick für Sekunden vom Weg ab. 

Plötzlich zog der Hund so ruckartig an der Leine, dass ihr das Ende mit der Schlaufe aus der Hand rutschte. „Hierher, Cheetah“, rief sie ärgerlich. Der Lichtstrahl folgte dem Hund. Sie setzte an, das Kommando in gesteigerter Lautstärke zu wiederholen. Doch der Ton blieb ihr im Hals stecken. 

Eine Frau stand vor ihr. Mitten auf dem Weg.

Die schlanke, ja dünne Gestalt erstarrte in der Bewegung. Als sei sie bei etwas ertappt worden. Das Gesicht unbewegt, die ausdruckslosen Augen ängstlich aufgerissen. Wie ein Reh im lähmenden Scheinwerferlicht eines heran rasenden Autos. Ein Schauer jagte über Singers Nacken. Das Licht tanzte im erschrockenen Rhythmus ihrer Hand über die Fremde. Singer  räusperte sich heiser. 

„Hallo?“

Keine Reaktion.

„Warten Sie.“ 

Doch die Frau machte überhaupt keine Anstalten fortzulaufen. Die dunklen Pupillen  inmitten des schmutzigen Gesichts starrten sie unverwandt an. Auch wenn es nicht verboten  war, nachts im ehemaligen Sperrgebiet herumzulaufen, war es doch mehr als ungewöhnlich. Singer ging mit festen Schritten auf sie zu. Verwundert stellte sie fest, dass Cheetah sich auf halber Strecke sträubte, weiterzugehen. Als habe sie der Mut verlassen. Eine bemerkenswerte Reaktion für einen Hund, dessen Vorfahren für die Löwenjagd gezüchtet worden waren.  

Je näher Singer kam, desto mehr Details brachte ihre Taschenlampe zum Vorschein. Das blasse Gesicht und die Hände der Unbekannten waren voller bräunlich-roter Flecken, als habe sie in der Erde gewühlt. Die Kleidung war dunkel und unauffällig. Jeans und Pullover unter einem halblangen Mantel. Je näher sie ihr kam, desto mehr glaubte sie die Verwirrung zu spüren, die die Frau umgab.  Oder war es ihre eigene? 

Die Fremde umgab eine Aura, an der nichts zueinander zu passen schien. Cheetah hob nervös witternd den Kopf. Etwas gefiel ihr ganz und gar nicht. 

Singer hielt ein paar Schritte Abstand, der Hund blieb dicht neben ihr. 

„Was tun Sie denn hier?“ Sie zögerte. „Ich meine, um diese Zeit?“ 

Die Frau schwieg, blickte mit leeren Augen umher, als habe sie Singer nicht bemerkt. Sie schien damit beschäftigt, aus einer tiefen Höhle zurückzukehren. Singer wagte einen neuen Anlauf. Nebenbei tätschelte sie Cheetah, die ihren Mut wiedergefunden hatte und ein leises, misstrauisches Knurren absonderte.

„Ich bin die… die zuständige Beamtin des Landkreises. Forstoberinspektorin Singer. Wie heißen Sie?“ 

Es klang dämlich, nach Wichtigtuerei. Singer ärgerte sich über ihre eigenen Worte. Seit wann stellte sie sich als Forstoberinspektorin vor? Es war, als rechtfertige sie sich vor der Unbekannten für ihre Anwesenheit, obwohl es umgekehrt sein sollte. 

Ihre Blicke trafen sich. Das Schweigen wurde Singer unerträglich. Zeit, die Fronten zu klären, die Reste ihrer Autorität zusammenzuklauben.  

„Sofern Sie Angaben zu ihrer Person verweigern, müssen Sie mich zum Wagen begleiten. Dort klären wir alles Weitere.“  

Es klang sehr amtlich. Dennoch gab es wieder keine Reaktion. Singer wünschte sich, die Person niemals getroffen zu haben. Doch ein Zurück gab es jetzt nicht mehr. Mit einem Mal fiel der Blick der Fremden auf den großen Hund. Ihre Gesichtszüge veränderten sich in der Art einer Explosion in Zeitlupe. Wie die Sprengung eines Abrisshauses. Ein spitzer, hysterischer Schrei schallte durch die Nacht. Irgendwo im Wald brach er sich an einem Hindernis. Dann rannte die Fremde in einer Schnelligkeit los, die Singer ihr nicht zugetraut hätte. Zunächst blieb sie auf dem Weg, änderte dann plötzlich die Richtung und verschwand zwischen den Kiefern. Wie ein Hase, der Haken schlägt. Singer gab Cheetah das Kommando, die Verfolgung aufzunehmen. Die Beute zu stellen, ohne sie anzugreifen. Die Hündin schoss los. Ihre Besitzerin folgte, so schnell es ihr möglich war. Trotz der Lampe stolperte sie fluchend über Äste und Gestrüpp. Wie konnte sich die Frau in der Dunkelheit zurechtfinden, ohne zu stürzen? In einiger Entfernung hörte sie ein Bellen und hielt darauf zu. Die Fremde stand mit dem Rücken an einen Stamm gepresst und blickte panisch auf den Hund vor ihr. Sie hyperventilierte vor Anstrengung. 

„Sie brauchen keine Angst zu haben. Sie tut Ihnen nichts“, keuchte Singer. „Warum laufen Sie vor mir weg? Ich will Ihnen doch nichts Böses.“    

Singer bemerkte, dass ihr Parka über das Pistolenhalfter gerutscht war. Im spärlichen Licht traten die Konturen der 38er hervor. Die Fremde hatte die Waffe gesehen. Singer beschloss, keine weiteren Nerven in das Spiel des Schweigens investieren zu wollen. Dieses Spiel hatte die Unbekannte ohnehin bereits gewonnen.  

„Na schön. Kommen Sie.“ 

Die Frau bewegte sich kein Stück. 

„Hören Sie, ich habe jetzt genug davon. Sie begleiten mich zur Polizeiwache nach Zossen. Zur Überprüfung ihrer Personalien. Wenn alles in Ordnung ist, können Sie anschließend nach Hause gehen.“ 

Wo immer das auch sein mag, setzte Singer in Gedanken hinzu.  

Sie untermalte es mit einer auffordernden Handbewegung in Richtung des Weges, der sich irgendwo hinter einer schwarzen Wand aus Bäumen verbarg. Ihr fiel auf, dass sich etwas  an der Frau verändert hatte. Die ängstliche Seite schien die Oberhand zu gewinnen. Die fast schwarzen Haare umrahmten ein Gemälde der Furcht. Singer wurde nicht schlau daraus. 

„Ich hab das nicht gemacht“ stieß die Fremde plötzlich hervor. Singer hatte nicht mehr damit gerechnet, irgendetwas von ihr zu erfahren. Sie erschrak über den Klang. Die Stimme schien aus der gleichen Höhle gekrochen zu kommen wie der Rest der Frau. Ängstlich, erdig, kalt. 

„Glauben Sie mir“, beteuerte sie. 

„Wovon sprechen Sie? Was haben Sie nicht getan?“

Singer begann sich allmählich ernsthaft zu fragen, ob es sich bei dem Ganzen um einen Scherz handelte. Erschien gleich irgendjemand, um sich herzhaft über sie zu amüsieren?  Versteckte Kamera oder etwas in dieser Art? Schadenfreude genossen die Menschen immerhin fast wie Vorfreude. 

Sie sah die verwirrte Frau unverwandt an und hoffte dabei inständig, nicht einmal genauso zu enden. Mit einem Mal sah sie, dass sie zitterte. Singer fühlte etwas, das einem schlechten Gewissen sehr nahe kam. Womöglich war die Unbekannte gar nicht verwirrt, sondern stand unter Schock. Vielleicht hatte sie einen Unfall gehabt. Oder war Opfer eines Verbrechens geworden. Und sie hatte die Anzeichen nicht bemerkt. 

„Ist Ihnen kalt? Möchten Sie eine Decke?“ 

Ihr Gegenüber ignorierte das Angebot. Dafür stand für eine Sekunde etwas in ihrem blassen Gesicht, das einem irren Grinsen ähnelte, bevor es wieder verschwand. 

„Warten Sie auf die Wölfe?“ Die Unbekannte ließ eine bedeutungsschwere Pause. Ihr entrückter Blick schwenkte Richtung Wald. Die Stimme wurde versonnen. 

„Sie werden nicht kommen.“

Das alles ergab für Singer keinen Sinn. Doch es reichte, um eine Gänsehaut zu erzeugen, die sich ein durchziehender Schneesturm über ihren Rücken bewegte. Sie rang sich eine weitere Frage ab.    

 Warum werden die Wölfe nicht kommen?“ Sie entließ die Fremde nicht aus ihrem Blick. 

„Die Wölfe“, erwiderte sie nur. „Ich hab es gesehen.“ 

Singer seufzte. Sie war todmüde und wollte nach Hause. Doch was sollte sie mit der Frau anfangen? Was konnte sie tun, wenn die Fremde nicht mit ihr sprach? Therapeuten, die mit ihren Fragen an eine Mauer gerieten, ließen ihre Patienten die Antwort oft zeichnen. Zumindest war es bei ihr selbst so gewesen. Das würde hier nicht funktionieren. Doch ihr kam eine ähnliche Idee.

„Können Sie mir zeigen, was Sie gesehen haben? Ist es weit weg?“    

Die Antwort bestand aus einem skeptischen Blick auf den Hund. Dann bewegte sich die Frau so behände durch den Wald, dass Singer sich erneut anstrengen musste, nicht zurückzufallen. Ungern wollte sie wieder Cheetah hinter ihr herschicken. Schnell erreichten sie den Pfad. Im Licht von Singers Taschenlampe eilte die Frau weiter. Sie schlug die Richtung ein, aus der sie gekommen waren: tiefer in den Wald. Sie entfernten sich weiter vom Auto und der L74 nach Wünsdorf, der einzigen Landstraße weit und breit. 

„Scheiße“, fluchte Singer leise, als ihr Fuß unter einer Wurzel hängenblieb, die sich quer über den Weg spannte. In der Dunkelheit sah alles anders aus und andererseits alles gleich. Offenbar ließ die Kondition der Fremden allmählich nach. Die Schritte wurden langsamer. Singer hörte ihren Atem. Schnell und von einem leichten Pfeifen begleitet. Cheetah war die einzige, die der nächtliche Marsch nicht nennenswert anstrengte. 

Mit einem Mal spürte Singer harten Grund unter den Stiefeln. Sie erreichten eine alte  Militärstraße. In diesem Bereich war Sie bisher kaum gewesen. Die verlassene Piste bestand aus zusammengefügten Betonplatten, die hie und da aus dem Sand ragten. Tannennadeln und Kienäpfel bedeckten den Rest. An vielen Stellen war der Beton während strenger Winter aufgebrochen. Kiefernsprösslinge nutzen die Löcher. Sobald ihr Stamm stark genug war, sprengten sie den Beton weiter auseinander und schafften Platz für neue Sprösslinge, die es ihnen wiederum gleich täten. Währenddessen nagten Zeit und Wetter weiter am Beton. In drei oder vier Dekaden würde von der alten Militärstraße nichts übrig sein, als einige Betonklumpen, die als letzte Zeugen einer unheimlichen Vergangenheit allmählich im märkischen Boden versanken. Jene Vergangenheit war hier spürbar konserviert. Mit etwas Phantasie waren Befehle zu hören, die in einer fremden Sprache durch den Wald schallten. Überlagert von Schüssen und dem mahlenden Geräusch der Panzerketten. Die Übung für eine große Kraftprobe zwischen Ost und West, die es nie gegeben hatte. 

Nach etwa einhundert Metern passierten sie ein gemauertes Wachhäuschen mit eingeschlagenen Scheiben. Nach weiteren zweihundert Metern erhoben sich geduckte Hallen mit schweren, rostigen Rolltoren neben der Straße. 

Die Fremde verringerte ihr Tempo weiter. Sie blickte nervös umher, als müsse sie sich  orientieren. Durch die Bäume war der abnehmende Mond zu erkennen. Fahles, weißliches Licht, das weder Wärme noch Trost spendete. Hier war Singer noch niemals zuvor gewesen. Dort, wo die Straße endete, fiel der Lichtkegel auf ein Backsteingebäude, das zunächst klein aussah. In ihr keimte die Frage auf, ob es wirklich ein durchdachter Einfall war, der Unbekannten zu folgen. 

Hohe Bäume umgaben das Gebäude, was dafür sprach, dass es schon sehr lange hier stand. Die Russen hatten es nur übernommen. Wahrscheinlich auch erweitert. 

Je näher sie kamen, desto mehr schälten sich die alten Mauern aus der Nacht. Was Singer zunächst für ein kleines Gebäude gehalten hatte, war in Wahrheit nur der Eingang zu einem Komplex, der eher die Größe einer Fabrik besaß. Ein Teil der dreistöckigen Anlage verbarg sich hinter Bäumen und Büschen. Aus einigen Mauern waren Stücke herausgebrochen, an anderen führten verrostete Rohre entlang. Auch neben der Straße lagen Rohre im Gras, die   ins Nirgendwo führten. Singer erinnerte sich dunkel, dass ihr Vorgänger, der alte Radditz, ihr von einem Ort wie diesem erzählt hatte. Er musste es wissen. Oder tat zumindest so. Während der DDR-Zeit war er als Förster der einzige gewesen, der das Sperrgebiet außer den Sowjets betreten durfte. Doch einige Bereiche waren auch für ihn streng tabu gewesen. Was ihn jedoch nicht davon abhielt, Unheimliches darüber zu berichten. Dinge, die er mehr ahnte als wusste. Schon vor den Russen seien hier chemische oder biologische Waffen erforscht worden. Nachdem der Komplex den Sowjets in die Hände gefallen war, hätten sie die Arbeit daran angeblich wieder aufgenommen. Zumindest bis in die sechziger Jahre. Vielleicht auch länger. So genau könne er das nicht sagen. 

Sie hatte ihm kein Wort geglaubt. Geschichten wurden immer besser, je häufiger sie erzählt wurden und je mehr Zeit verstrich. Jetzt war sie sich damit nicht mehr so sicher. Aber wahrscheinlich lag es nur an ihren Nerven.     

Singer hielt inne. Ein Kienapfel knackte unter ihrer Sohle. 

„Bleiben Sie stehen“, sagte sie scharf. Die Unbekannte gehorchte. 

Egal, was diese merkwürdige Person vorhatte. Sie würde dieses Gemäuer nicht betreten. Schon jetzt fühlte es sich an, als hätte sie sich etwas aufzwängen lassen, was keine gute Entscheidung war. 

„Wie weit ist es noch?“ 

„Wir sind da“, sagte die Fremde mit erstaunlicher Klarheit. Singer leuchtete direkt in ihr Gesicht. Die Augen inmitten der schmutzigen Haut wirkten jetzt weniger verwirrt. Sie ließ das Licht im Halbkreis wandern. 

„Haben Sie hier die Wölfe gesehen?“

Auf einmal ein Stammeln: „Ich bin weggelaufen. Hab nichts damit zu tun. Schrecklich.“

„Zeigen Sie mir endlich, wovon Sie sprechen“, entgegnete Singer gereizt. „Sofort“

Die Frau hob eine Hand in Richtung des alten Fabrikgebäudes. Ihr Arm ähnelte einem verwitterten Wegweiser. Singer nickte frustriert. 

„Das habe ich mir gedacht. Was haben Sie da drinnen gesehen, einen Geist?“

Ihr Gegenüber überhörte den Sarkasmus. Singer überlegte. Sicher, sie konnte einfach wieder gehen. Doch dann war sie sinnlos mitten in der Nacht durch den Wald gestolpert. Wahrscheinlich hatte die Frau gar nichts gesehen, weder drinnen noch draußen. Ihr Geisteszustand war, gelinde gesagt, unklar. Kurz entschlossen traf Singer eine Entscheidung. Sie würde nachsehen und dann wieder gehen. Mehr nicht. 

Sie hatte keine Angst. Nein, Angst würde sie sich nie wieder erlauben. 

Der abgenutzte Holzgriff des Revolvers drückte mitsamt dem Holster auf ihre Hüfte. Doch in diesem Augenblick verströmte diese Druckstelle ein beruhigendes Gefühl. Ebenso wie das kleine, scharfe Messer, das sie an der linken Wade trug. Sie legte es nur selten ab. Eigentlich nie. Seit damals. 

„Sie warten hier“, sagte sie. Es klang wie ein Befehl, nicht wie eine Bitte und war auch so gemeint.  

„Hinter der Tür“ antwortete die Frau. „Sie werden schon sehen.“ 

Singer überlegte, Cheetah zurückzulassen, entschied sich aber dagegen. Vielleicht würde sie ihre Nase oder ihr Gehör brauchen. Sie hielt die Hündin kurz an der Leine und strebte dem tunnelartigen Eingang zu. Die rostige Tür stand weit offen.

Lange nicht bewegt worden, stellte sie mit einem Blick auf die Zargen fest. Dahinter  baumelten verwitterte Streifen aus Gummi von der Decke. Fetzen eines Vorhangs, wie er in Krankenhäusern und Labors verwendet wurde. Dichtungsstreifen an Boden und Decke. Die Überreste einer Luftschleuse. Die Wände mussten einmal weiß gewesen sein. Jetzt zog sich grünlicher Belag darüber. Moos und Algen, die in Feuchtigkeit und Finsternis gediehen. 

Der kurze Gang endete in einer geräumigen Halle, die oben mit großen Fenstern und unten mit Stützpfeilern versehen war. Auch hier ragten rostige Rohrleitungen aus den  Wänden. Sie leuchtete die Ecken aus und kämpfte gegen das mulmige Gefühl an. Eine hartnäckige Warnung ihrer Magengrube, die sie ignorierte. Vorsichtig setzte sie Schritt vor Schritt. Ein gute Entscheidung, wie sich herausstellte. In der Mitte der Halle tat sich ein rechteckiges Becken im Boden auf, das entfernt an ein kleines Schwimmbad erinnerte. Am Rand waren die Reste irgendeiner Vorrichtung zu erkennen. Trübe Flüssigkeit stand darin. Ein morsches Brett schwamm an der Oberfläche. Daneben etwas, das wie eine alte Schüssel aussah. Singer machte einen gehörigen Bogen darum. Sie konnte nicht abschätzen, wie tief es war. Doch allein der Gedanke hineinzufallen, ließ ihren Puls in die Höhe schnellen. Es interessierte sie auch nicht, wozu das alles einmal gedient hatte. Zumindest nicht in dieser Nacht. Alles an diesem Ort war beunruhigend. Doch was hatte der Frau dort draußen einen solchen Schock versetzt, dass sie außerstande war, davon zu erzählen? Singer näherte sich dem hinteren Teil der Halle. Dort schloss sich ein breiter Gang mit niedriger Decke an. Wieder Rohre. Weiter hinten lag Gerümpel im Weg und begrenzte den Blick. Mehrere Türen gingen an beiden Seiten ab. Sie schüttelte den Kopf. Es war unmöglich, all das zu durchsuchen. Zumal nachts. Genau genommen war es auch nicht ihre Aufgabe, den Aussagen einer Verwirrten nachzugehen. Sollten sich die Kollegen der Polizei darum kümmern. Was die davon hielten und ob sie sich damit lächerlich machte, war ihr mittlerweile gleichgültig. 

„Komm Cheetah“, sagte sie verdrossen, „Wir haben uns genug an der Nase herumführen lassen.“

Wider Erwarten folgte ihr das Tier nicht. Die Hündin sträubte sich, die Augen in den  leeren Gang gerichtet. Anspannung ging von ihr aus. Aus dem Maul drang ein leises, aber unheilvolles Knurren, dann ein deutliches Grollen, schließlich ein lautes Bellen, dass sich an den Wänden brach. Singer zuckte zusammen.

„Was ist los? Was hast du?“

Eine Frage, die Cheetah nur mit weiterem Zerren an der Leine beantwortete. Singer hielt dagegen. Nein, sie würde sie nicht in die Finsternis laufen lassen. Wenn überhaupt, gingen sie zusammen. Sie kniff die Augenlider zusammen und leuchtete in den Tunnel, der sich wie ein schwarzer Schlund vor ihr auftat. Sie tat einige Schritte. Ein alter Stuhl säumte den Weg. Weiter hinten moderte ein Haufen Lumpen vor sich hin. Alte Kleidung oder Ähnliches. Einzelheiten waren im spärlichen Licht auf diese Entfernung nicht auszumachen. Julia Singer wollte nur noch eines. Raus hier und schnellstens zurück zur Straße, an der das Auto stand. Cheetah zog weiter in die entgegengesetzte Richtung. Doch hatte sie die Hündin nicht mitgenommen, um sich auf ihren Spürsinn zu verlassen? Irgendetwas war dort hinten. Eine flüchtige Warnung zuckte durch ihr Gehirn wie eine rote Leuchtrakete: Die Lage gerät außer Kontrolle. Sie ging weiter, als sie gehen sollte. Im wahrsten Sinne. Sie passierte schimmlige  Tapetenreste, von denen ammoniakartiger Geruch aufstieg. Cheetah schnüffelte an einigen Holzbrettern. Singer folgte ihr. Alarmiert, aber ratlos. Aus einem der Rohre tropfte Brackwasser auf ihre Schulter. Das hoffte sie zumindest. Im Rhythmus ihrer Schritte sprang der Lichtkegel umher. Neben ihr fehlte ein zwei Meter breites Stück der Außenmauer. Weißliches Mondlicht fiel in den Gang. Aus dem Wald wehte der Duft von Erde und feuchten Tannennadeln herein. Brusthohe Büsche wucherten vor der geborstenen Mauer. Mit der Dunkelheit kehrte der muffige Gestank zurück, der dem ganzen Gebäude innewohnte wie ein Pilz. Singer verharrte. Irgendwo plätscherte Wasser. In weiter Entfernung schrie ein Vogel, am ehesten ein Waldkauz, wie die Försterin in ihr feststellte. Im gleichen Augenblick stieg ihr jene metallische Würze in die Nase, die Cheetah schon lange witterte. Süßlich, aber stumpf wie abgestandener Lambrusco. 

Der Geruch, der das Ende einer Jagd begleitet: Blut. 


Bevor sie einen klaren Gedanken zu fassen vermochte, fiel ihr Blick auf das, was sie für einen Haufen alter Kleidung gehalten hatte. Ein Anblick, der sie traf wie ein Schuss in den Rücken. Für den es keine Vorbereitung gab. Ein entsetzter Schrei löste sich aus ihrer Kehle. Es fühlte sich an, als habe ein anderer geschrien. Die unheimliche Frau dort draußen hatte die Wahrheit gesagt. 

Das Rudel war hier gewesen. 

Singer wandte den Blick ab, als sie glaubte, sich übergeben zu müssen. Mit der Säure stieg ein ungläubiges Gefühl ihren Hals empor. Die unentrinnbare, beißende Wahrheit, mit der ein Priester vom Glauben abfällt.     

Die Wölfe…Unmöglich. Das darf nicht sein! 

Sie musste erneut hinsehen. 

Fleisch. Blut. Knochen. Mehr Blut. Zerfetzte Haut, die im Licht glänzte wie Alabaster. Alles was sie sah, war Weiß oder Rot. Überreste von mehreren Menschen, die sie nur als zerfetzt bezeichnen konnte. Drei, wenn sie nicht irrte. 

Raubtiere fressen zuerst die Innereien, erst danach das Fleisch.

Ausgeweidete Körper. Beute. Nicht mehr, nicht weniger. Sie hatte schon tote Menschen gesehen. In ihrem früheren Leben. Doch es gab nichts, was diesem Anblick auch nur entfernt nahekam. All das war zu viel für ihren Körper. Ihre Knie wurden weich, knickten ein. Schwindel erfasste sie. Sie erbrach sich gegen die abblätternde Gipsfarbe der Tunnelwand. Cheetah registrierte es mit einem Blick, der Unverständnis ausdrückte. Mitleid und Ekel waren zutiefst menschliche Regungen. 

Singer erhob sich mühsam. Ihre Schläfen pochten. 

Noch einmal schwenkte sie die Lampe auf das Unfassbare, zwang sich zu einem letzten Blick. 

Nein, sie irrte sich nicht. Der Arm einer der Leichen schien auf etwas zu zeigen. Die  blutverkrustete Hand eines Mannes lag ausgestreckt auf dem Beton. Davor Konturen im Staub. Vielleicht Buchstaben. Oder nur eine Täuschung. 

Vorsichtig tat sie einige Schritte darauf zu. Sie versuchte, das schreckliche Geschehen  auszublenden, ihre Sinne nur auf die Spuren am Boden zu konzentrieren. Wie sie es früher getan hatte. Es waren Zeichen, die sehr wahrscheinlich ein Mensch hinterlassen hatte. Die Hinterlassenschaft eines Toten.

Buchstaben, zweifellos. In den Boden gekratzt. Vielleicht mit einem spitzen Stein. Zum  Ende waren sie nur noch in den Staub gewischt. Als hätte bereits die Kraft gefehlt.  

Es begann mit einem W. Dann I, D, E, R.

Die Ziffern wurden undeutlicher. Ein O. Nein, eher ein G. Wieder ein E. Ein B, oder eine 8. Dann ein gut lesbares U. Ein halb verwischtes R und ein zu erahnendes T. Dahinter verlief die Schrift im Sand. Als habe er weiterschreiben wollen, sei aber nicht mehr dazu gekommen.

W-I-D-E-R-G-E-B-U-R-T las sie langsam. 

 Falls es stimmte, fehlte ein E. Aber wer achtete in seinen letzten Sekunden schon auf  Rechtschreibung? Vielleicht hatte er es auch nicht besser gewusst. Während sie stumm vor den Buchstaben verharrte, nahm sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Cheetah drehte ruckartig den Kopf. In die Richtung, aus der sie gekommen waren. Ehe der Lichtstrahl den  Augen des Hundes folgte, war Singer klar, dass dort jemand stand. Bewegungslos und abwartend. Eine Hand fuhr leicht zitternd zum Revolver, die andere zur Taschenlampe. Der Lichtstrahl erfasste die Silhouette. Sie ahnte bereits, wer sich dahinter verbarg.  

„Wiedergeburt“, wiederholte sie abwesend das Vermächtnis des Toten. 

Ihre Augen richteten sich auf die Gestalt, die sie geduldig beobachtete. 

    



     


 

        

         

  

    


                                                                      



II



Die Kreuzigung




Grafschaft Fermanagh, Nordirland


Der Nieselregen gönnte sich eine kurze Unterbrechung. Als müsse der graue Himmel Luft holen. Es war nicht abzusehen, wann er damit fertig war, doch die Regenpause konnte jederzeit enden. Genau wie der Frieden in dem Land, auf das er hinabfiel. Der nordirische Frühherbst wirkte so einladend wie die Mienen der beiden Beamten, hinter denen Robert Hartmann im Wagen saß. Der urige Polizei-Landrover rumpelte hart über die Piste. 

Police Service of Northern Ireland stand gut sichtbar auf den Türen. Bis vor einiger Zeit hatte dort RUC gestanden, Royal Ulster Constabulary. Nicht nur die alten Buchstaben schimmerten noch durch. Neuer Name, alte Truppe. Seit gut einer halben Stunde hatte der Fahrer, ein Detective Inspector aus Belfast, keinen Ton von sich gegeben. Der Beifahrer, ein junger Constable, schwieg ebenfalls. Auf der Rückbank begann Robert Hartmann, sich zu fragen, ob er der Grund dafür war. Möglicherweise waren es die ersten Auswirkungen des bevorstehenden Brexit. Einem Kollegen vom Kontinent war einfach nicht zu trauen. Vielleicht lag es aber auch nur an ihrer Nervosität. Der Land Rover durchquerte eine dünn besiedelte Gegend ohne Industrie oder größere Ortschaften. Wer hier lebte, war mit hoher Wahrscheinlichkeit Katholik und brachte Polizeibeamten weder Respekt noch Freundlichkeit entgegen, unerheblich davon, was auf der Autotür stand. Auf vertrauensbildende Maßnahmen irgendwelcher Politiker und Bürokraten aus Belfast oder gar London gab man hier das, was die Kühe und Schafe in rauen Mengen ausschieden.  

Über dem platten Wasser des Lower Lough Erne dräuten die nächsten dunklen Wolken. Da niemand Interesse an einer Unterhaltung zeigte, blieb Hartmann genug Zeit, die Landschaft in sich aufzunehmen. Zumindest das, was die Dämmerung davon übrig ließ. Eigentlich ein recht idyllisches Fleckchen Erde. Grüne Hügel wie aus der Butterwerbung und freundlicher Galeriewald an den Ufern des riesigen Sees. In einiger Entfernung schnatterten ein paar Enten. Auf dem Lough zog ein unförmiges Hausboot mit einer Laterne am Bug vorbei. 


Er blickte zum Handgelenk. 19.46 Uhr. Zwei Stunden, seit sie Belfast verlassen hatten. Die Fahrt war an ihm vorübergeschlichen wie ein streunender Hund. Aber eilig schien man es hier ohnehin selten zu haben. Die sympathische Eigenschaft eines Landes, in dem sich ansonsten viel Misstrauen und Bitterkeit angesammelt hatte. Der Hass schwelte weiterhin unter der Oberfläche. Als habe man in bester Absicht etwas Sand und Wasser in ein Erdloch voller Glut gegossen und gehofft, der Rest möge sich von selbst erledigen. Doch das Loch war tief. Man hatte es vor langer Zeit eigenhändig ausgehoben. Das Ergebnis waren dreißig Jahre Bürgerkrieg. Und auch wenn diese Zeit vorerst vorbei war, verband die Einwohner des nördlichen Zipfels der Grünen Insel doch kaum mehr, als eine notorische Todfeindschaft. Einwohner, das waren Katholiken und Protestanten. Irische Nationalisten und pro-britische Unionisten. Anders gesagt: Nichts, was einen Beamten des deutschen Bundeskriminalamtes auch nur entfernt etwas anging. Denn etwas Verbindendes gab es doch: Egal welcher Gruppe man angehörte. Einmischung von Außen war allen ein Gräuel. Hier regelte man seine Angelegenheiten selbst. Das war immer so gewesen. 


Hartmann gähnte. Das monotone Gerumpel ließ ihn träge werden, aller Aufregung zum Trotz. DI McCulloch überprüfte mit geübten Bewegungen seine Glock 17-Pistole. Hartmann sah ihm über den Innenspiegel in die taubengrauen Augen. Der Beamte verstand den Wink.  Er öffnete das Handschuhfach und zauberte einen zierlichen Taschenrevolver daraus hervor.  

„Was ist denn das?“, fragte Hartmann auf Englisch. „Zirpende Grille?“

„So in etwa. Macht mehr Lärm, als man glaubt.“

Entgeistert blickte der Ermittler auf die kleine Waffe, die in der riesigen Pranke des Iren wie ein Spielzeug wirkte.

„Richten Sie Ihrer Frau meinen Dank aus.“

„Aha, unser deutscher Freund ist ein Komiker. Ist ne 38er. Hat nur fünf Schuss. Aber benutzen sollen sie ihn ja ohnehin nicht.“

Der Inspector fuchtelte damit vor Hartmann herum. Gleichzeitig begann er sehr unerwartet, Deutsch zu sprechen. 

„Nun nehmen Sie das Ding schon. Etwas anderes kriegen Sie nicht. Nur, damit ich mich nicht schuldig fühle, wenn etwas schiefgeht. Sie schießen auf niemanden, ist das klar? Sie sind überhaupt nur dabei, weil dieser verdammte Terrorist O’Ferghail ausgerechnet mit Ihnen sprechen will. Warum auch immer.“

McCulloch sprach tatsächlich ein gutes, weiches Deutsch und genoss Hartmanns Überraschung.

„Paderborn, 1978-84. Ich hatte eine gute Zeit da.“ Er verdrehte grübelnd die Augen. „Eigentlich sogar die beste in meinem Leben.“

„Britische Armee?“, forschte Hartmann.

Er erhielt ein stilles, professionelles Lächeln als Antwort. Es schien Netter Versuch, Kleiner zu sagen. Dem deutschen Gast war längst klargeworden, dass es sich bei McCulloch nicht um einen einfachen Kriminalpolizisten der CID, der Criminal Investigation Division handelte. Wahrscheinlich gehörte er eher zu Special Branch, der Geheimdienst-Abteilung der Polizei, wenn nicht gar zum MI-5, dem britischen Inlandsgeheimdienst. 

Angesichts des Einsatzes, der sie erwartete, wäre es keine Überraschung gewesen. Der geheimnisumwitterte Anführer der Real-IRA, einer der letzten wirklich gefährlichen Splittergruppen der alten IRA, gab sich die Ehre. Dieser Mann, dessen Identität bisher ein streng gehütetes Geheimnis war, hatte sich überraschend aus der Deckung gewagt. Seine  Einladung richtete sich ausgerechnet an Robert Hartmann, Zielfahnder des Bundeskriminalamtes und seit drei Tagen ungeliebter Gast der Nordirischen Polizei. 

Patrick O’Ferghail, der mit seiner Truppe aus alten und neuen Fanatikern alle Friedensverträge boykottierte, bat ausgerechnet den deutschen Ermittler um ein Treffen. Allein. Keine Nordirische Polizei, keine Briten. Abschließend hatte er durchblicken lassen, was geschah, wenn Hartmann sich nicht an diese Bedingungen hielt: 

Alle sterben und Sie erfahren gar nichts. 

Nun gut, es konnte sich um alles Mögliche handeln. Eine Falle war dabei nicht die unwahrscheinlichste Möglichkeit. Hartmann hatte der merkwürdigen Einladung überhaupt nur aus einem einzigen Grund zugestimmt: Es war die vielversprechendste Chance, seine eigenen Ermittlungen voranzutreiben. Die Hintergründe eines Uran-Schmuggels aufzuklären, den er eigenhändig in der Nähe von Koblenz vereitelt hatte. Gewisse Indizien legten dabei eine mögliche Verbindung nach Nordirland nahe. Das sah zumindest Hartmanns Vorgesetzter in Wiesbaden, der Leitende Kriminaldirektor Arthur Quenting, so. Deswegen hatte er Hartmann ermuntert, dem Treffen zuzustimmen. Kein Wunder, er riskierte ja nicht seine eigene Haut. Wenn es einen Uran-Deal gab, wusste O’Ferghail davon. Der sogenannte Stabschef der Real-IRA war ein Fanatiker der alten Schule. Für Polizei und MI-5 einer der größten Fische im Teich. 

Hartmann hatte sich entschlossen, das Risiko einzugehen. Die Möglichkeit war einfach zu verlockend. Und wenn er ehrlich war, hatte er ansonsten bisher nicht viel herausgefunden. 

„Anhalten!“ befahl McCulloch dem Constable. „Wir müssen den Deutschen noch verkabeln.“

Hartmann glaubte, sich verhört zu haben.

„Auf keinen Fall!“, protestierte er. „Keine Wanzen. Wenn O’Ferghail davon Wind bekommt, ist er weg und ich bin tot.“ 

„Wir haben unsere Befehle direkt aus Belfast“, mischte der Constable sich ein. „Was dieser Vogel singt, möchten alle hören.“

Sein Versuch, dabei sardonisch zu grinsen, wirkte komisch. Dazu war er noch zu grün hinter den Ohren. Sein Aussehen entsprach dem eines Sonntagsschülers. Zumindest die wichtigste Lektion hatte er aber offenbar schon gelernt: Bei Problemen oder Widerspruch immer auf irgendeine höhere Dienststelle zu verweisen. Doch Hartmann hatte sich vorgenommen, in diesem Punkt nicht zu verhandeln. Er wechselte ins Englische. 

„Ist mir egal, Constable. Es geht ja nicht um ihren A…“

„Also gut“, unterbrach der DI. „Aber seien Sie sich bewusst, was Alleinsein heißt. Keine Unterstützung, keine Rückendeckung. Mit uns können Sie nicht rechnen. Wir kommen erst, wenn alles vorbei ist, um die Reste einzusammeln.“

„Das ist doch Ihr Job“, ätzte Hartmann. 

Der Constable ließ den Defender am Rand eines kleinen Wäldchens ausrollen. Dahinter schlossen sich jene sumpfigen Weiden an, in deren Mitte sich laut Karte der Treffpunkt befand. Ein verlassener Bauernhof. Keine schlechte Wahl, dachte Hartmann. O’Ferghail wusste, was er tat. 

Allmählich ging die Dämmerung in Dunkelheit über. Erneut setzte leichter Nieselregen ein. Violette Wolken zogen vom Lough über die Grafschaft Fermanagh. Vielleicht würde es später ein kurzes Gewitter geben. Vielleicht auch nicht.  

Hartmann spürte, dass er schwitzte. Er zog das Jacket aus und krempelte die Hemdsärmel hoch. Da McCulloch darauf bestand, zwängte er sich außerdem in eine Kevlar-Weste. So nah, wie er O’Ferghail kommen würde, bot sie allerdings kaum Schutz. Und sollten die Terroristen ihn bereits aus großer Entfernung ausschalten wollen, verfügten sie sicher über Munition, denen eine schusssichere Weste nicht standhielt. Schlechte Bewaffnung war nie das Problem der IRA gewesen. Ihre Kaliber .50 Vollmantel-Projektile, liebevoll Copkiller genannt, gingen durch die Kevlarschichten wie ein Küchenmesser durch warmen Obstkuchen. Hartmann war nicht lebensmüde, jedenfalls nicht grundsätzlich. Doch so lange er auch darüber nachdachte, fiel ihm einfach kein plausibler Grund ein, warum sein Tod für O’Ferghail erstrebenswert sein sollte. Hier war er ein Niemand. Nur irgendein Kraut, der morgen wieder abreiste. Er stellte keine Gefahr dar. Jedenfalls würde die Real-IRA das annehmen. Hartmann spürte, wie seine Aufregung anwuchs wie die eines Jagdhundes auf einer frischen Fährte.  

Was wollte dieser Mann ihm mitteilen?   

Ein Blick zur Armbanduhr. Der gefühlt hundertste in der letzten Viertelstunde.

20.10 Uhr Ortszeit.        

 „Ich gehe jetzt los.“

„Braver kleiner Deutscher“, sagte der Detective Inspector und hielt ihm ein kompaktes Funkgerät hin. 

„Nur für den Notfall.“

Hartmann schüttelte entschieden den Kopf. Er hätte die Fürsorglichkeit des Kollegen zu schätzen gewusst, doch es war keine. Was McCulloch interessierte, war lediglich, was der   IRA-Stabschef von sich gab. Hartmann konnte es ihm nicht verübeln, zumal seine Vorgesetzten an ihren polierten Schreibtischen in Belfast oder London-Whitehall sicher ordentlich Druck machten. 

Außer dem Revolver, den er hinten im Hosenbund trug, nahm er nur eine starke Taschenlampe mit sich. Er ließ den Land Rover hinter sich, folgte ein kurzes Stück dem Feldweg und schlug sich dann in die Büsche. Zweige von Heideginster und Tannen schlugen ihm ins Gesicht. Zwischen den Bäumen herrschte bereits jene Finsternis, die sich sehr bald auch auf die Felder und Wiesen legen würde. Er überlegte kurz und schaltete die Lampe ein. Sofern O’Ferghails Leute die Gegend beobachteten, sollten sie ihn ruhig beizeiten sehen. Keine Überraschung, keine Bedrohung. 

Hinter einem schmalen Gürtel aus Laubbäumen begann das Weideland. Mehr Morast als Wiese. Hin und wieder begrenzten hüfthohe Wälle aus aufgeschichteten Feldsteinen die Äcker. Seit dem Frühmittelalter hatte sich diese Art, seinen Besitz zu umfrieden, hier nicht geändert. Tagsüber musste all das einen leidlich idyllischen Anblick bieten. Falls sich gelegentlich Touristen hierher verirrten, fühlten sie sich vielleicht an Stonehenge erinnert. Für Hartmann waren es nicht mehr als unfreundliche Steinhaufen, die ihm den Weg versperrten. Er kam langsam voran, versank bei jedem Schritt im aufgeweichten Boden. Der kleine Lichtkegel der Taschenlampe glitt über die tiefen Abdrücke schwerer Pferde. Daneben gab es  Spuren von Kühen und Schafen - und gelegentlich solche vom Profil grober Stiefel. Es stand kein Wasser darin, was nahelegte, dass sie relativ frisch waren. Nach einhundert Metern spürte Hartmann, wie die Feuchtigkeit allmählich durch seine Lederschuhe drang. Nach dreihundert Metern waren seine Füße nass und kalt. Selbst schuld, dachte er ergeben und erblickte in der Ferne eine Erhebung. Das Gehöft. Er beschleunigte die Schritte. Sein Herzschlag tat es ihm gleich. Was erwartete ihn dort? Nach und nach verdichteten sich die Umrisse zu Gebäuden. Das große, alte Cottage aus Feldsteinen wurde von zwei Stallungen umrahmt, deren Wände lustlos mit grauem Mörtel verputzt waren. Die Mitte bildete ein  gepflasterter Hof. Was ihn beunruhigte, war die Dunkelheit im Inneren der Kate. Warum war keines der Fenster erleuchtet? Eine Sicherheitsvorkehrung? 

Ganz schön paranoid, dieser O’Ferghail, dachte Hartmann. Doch wahrscheinlich war der Terrorchef genau aus diesem Grund noch am Leben. Es hatte Zeiten gegeben, in denen der britische Special Air Service unter IRA-Mitgliedern eher selten Gefangene gemacht hatte. Und wenn doch, waren die anschließenden Verhöre meist sehr unschön verlaufen. Lieber also etwas vorsichtig, als etwas tot.

Der Ermittler blieb stehen, hielt den Atem an und sah sich um. Einsamer konnte ein Ort  kaum sein. Selbst in Irland. Wurde er bereits beobachtet? Wenn ja, machten die ihre Sache nicht schlecht. Was erwartete ihn in diesem Haus? Einer der Instinkte, die er nicht hinter einem Schreibtisch erworben hatte, warnte ihn, wusste aber noch nicht wovor.  

Er ging weiter darauf zu. Auch aus der Nähe wirkte alles verlassen. Hartmann umkreiste das heruntergekommene Cottage vorsichtig in einiger Entfernung. Nichts. Niemand. Nur Finsternis und neuer Nieselregen. Natürlich konnte er jederzeit unverrichteter Dinge wieder abziehen. Ebenso sicher machte er sich damit zum Gespött der ganzen nordirischen Polizei. Nun gut, damit konnte er leben. Viel wichtiger war es, zu erfahren, warum der Typ ausgerechnet nach ihm verlangte. Im besten Fall bot er ihm Informationen über die Hintermänner des Uranschmuggels. Schon diese Aussicht genügte, um zu bleiben.  


Der lehmige Boden, der seine Schuhe inzwischen wie eine frische Brotkruste umschloss, reichte bis an den gepflasterten Hof. Zwischen den Steinen wuchs Gras, hie und da bis auf Kniehöhe. Er leuchtete in die schwarzen, fensterlosen Öffnungen der Ställe, in denen vermutlich einmal Kühe oder Schweine gehalten worden waren. Vor der Eingangstür zum Wohnhaus blieb er stehen. Er bemerkte Schuhabdrücke, die genau dorthin führten. Im Lichtkegel erkannte er zwei unterschiedliche Sohlen. Neben dem groben Profil von den Feldern hatte hier eine weitere Person ihre Spuren hinterlassen. Natürlich konnten sie auch älter sein. Der Regen verwischte sie im Lehm nur langsam. Dafür brauchte es schon einen veritablen Wolkenbruch, der hier momentan jedoch selten vorkam. Wichtig war nur eines. Irgendwer hatte irgendwann ein Haus betreten, das ansonsten unbewohnt war, und war dabei nicht allein gewesen. Hartmann entschloss sich, höflich zu klopfen. Bloß nicht in den Verdacht geraten, sich anzuschleichen wie der Späher einer Spezialeinheit. 

„Mister O’Ferghail? It’s me, Robert Hartmann.“ Er sprach es halblaut gegen die Holztür und kam sich dämlich dabei vor. Es fühlte sich ein wenig an, als stehe er in der Wüste und erzähle einem Kaktus seine Lebensgeschichte: Es war nutzlos und sich weiter zu nähern, war nicht ratsam. 

Zum ersten Mal zog er in Erwägung, dass in diesem Haus überhaupt niemand auf ihn wartete. Zumindest nicht mit ehrlichen Absichten. Er drückte zögerlich die Klinke, fast sicher, die Tür verschlossen vorzufinden. Doch sie schwang auf. Wie die schmutzig grinsende Einladung eines Fremden, von der man sich später wünschte, sie ausgeschlagen zu haben. Hinter dem Eingang lag ein kratziger Teppich aus Hanffasern, dessen einzige Daseinsberechtigung darin bestand, pflegeleicht zu sein. Daneben fiel der Lichtstrahl auf eine dunkle Kommode, der ihr Alter weder zu Wert noch antiken Reizen verhalf. Darüber waren Garderobenhaken angebracht. An einem hing eine graue Jacke, ein nichtssagender, billiger Blouson. Hartmann befühlte ihn. Der Stoff war trocken. Doch diese Art von Gewebe trocknete sehr schnell. Das Ding konnte dort seit einer Stunde oder einem Monat hängen. Kaum Rückschlüsse möglich.

Er fand einen Lichtschalter, den er betätigte. Nichts geschah. Er ging weiter bis in einen großen Raum, den Mittelpunkt des Hauses. Eine Art Wohnzimmer. Abgewetzte Sofas, Tisch und Stühle. An der Wand eine Vitrine mit Flaschen und Gläsern. Von der Decke hing etwas, das verzweifelt versuchte, einen Kronleuchter zu imitieren. Wie eine Hure, die gerne eine Prinzessin wäre. Er fand einen zweiten Lichtschalter. Doch auch der Lüster blieb dunkel. Es gab eine ganze Anzahl von Erklärungen dafür. Eine einzige davon ließ ihn nervös werden:  Jemand hatte die Stromleitungen gekappt.

Er begutachtete oberflächlich die übrigen Räume. Überall der gleiche schäbige Chic. Möbel aus den Sechzigern, hässliche Teppiche und Leere. Ein kitschiges Wandbild mit röhrenden Hirschen auf einer Wiese. Mehr Klischee als Kunst. Hartmann öffnete die Tür zum letzten Zimmer. Regale mit zerfledderten Büchern. Immerhin. Zwei Sessel, dazwischen ein niedriger Beistelltisch. Darauf ein Flasche mit bernsteinfarbenem Inhalt. Ein knappes Drittel des Inhalts fehlte. Zwei Gläser standen daneben. Das eine gut gefüllt, als habe sich soeben jemand nachgeschenkt. Das zweite war leer. Er roch daran, ohne es zu berühren. Unbenutzt. Geruch von irischem Whiskey hing in der Luft. Daneben etwas Unbestimmtes. Mehr eine beklemmende Ahnung als ein Indiz. Möglicherweise Schweiß. Doch es war eine Ausdünstung, die nicht auf körperliche Anstrengung zurückzuführen war. Hartmann wusste, wie Angst roch. Er war damit vertraut. Eine zarte Note von kaltem Rauch gesellte sich hinzu. Nicht, als sei in diesem Raum geraucht worden. Eher, als sei mit einem Raucher unbeabsichtigt ein Hauch seines Lasters hereingeweht. Starker, dunkler Tabak. Er roch am gefüllten Glas, genau dort, wo kräftige, ja wulstige Lippen einen leichten Abdruck hinterlassen hatten. Keine Spur von Rauch. Nur die milde Würze des Whiskeys. Ein weiterer Blick durch den Raum. Der Läufer war verrutscht. In der Mitte schlug der Teppich eine Falte. Etwa so, als sei jemand mit dem Fuß daran hängengeblieben. Jemand, der es sehr eilig hatte oder den Blick grundsätzlich lieber in die Luft als auf den Boden richtete. 

Hartmann erinnerte sich daran, nicht als Forensiker hier zu sein, sondern um eine Verbindungsperson zu treffen. Für Schlussfolgerungen war es ohnehin zu früh. Ein Ermittler lief stets Gefahr, sich eine Theorie zusammenzuzimmern, nur um die Indizien unterzubringen. Das alte Gemäuer posaunte seine Geheimnisse, wenn es sie gab, nicht gerade hinaus. Vielmehr raunte es ihm auf zarte Weise den Beginn einer Geschichte zu, die ihn in Versuchung führte, sich auszumalen, was in diesem Raum geschehen war:  


Ein Mann hatte an dem kleinen Tisch gesessen, wahrscheinlich der Stabschef selbst. Er erwartete einen Gast, vielleicht Hartmann. Deswegen ein zweites Glas. Er wollte nicht warten und hatte sich bereits ein oder zwei Whiskey eingeschenkt. Entweder weil er ihn mochte, oder um seine Nerven zu beruhigen. Da es sich offenbar um keinen feierlichen Tropfen handelte, war letzteres nicht unwahrscheinlich, selbst bei einem abgebrühten Terroristen. Das alles sprach dafür, dass die Nachricht, die er Hartmann mitzuteilen gedachte, es in sich hatte. 

Jetzt gehe ich zu weit, bremste sich Hartmann. Nichts als Spekulationen. 

Sicher war nur eines: Etwas Unerwartetes war geschehen. Oder etwas, dass O’Ferghail schon vorher befürchtet hatte, ohne es letztendlich verhindern zu können. 

Blieb die Frage: Wo war er geblieben? 

Wäre ein Auto oder Motorrad gestartet worden, hätte man es gehört. Nicht auszuschließen war natürlich, dass O’Ferghail den Hof zu Fuß verlassen und über die dunklen Felder gelaufen war. Obwohl Hartmann den Hof mehrfach umrundet hatte, war es fraglos möglich. 

Wiederum erwog Hartmann, zum Land Rover zurückzukehren, um McCulloch und seinem hungrigen jungen Kollegen die Angelegenheit zu übergeben. Der Detektive Inspector würde ohne Zweifel einen amtlichen Blick aufsetzen, anschließend irgendeinen entbehrlichen Spruch von sich geben und dann einen kurzen, unergiebigen Einsatzbericht zu den Akten legen. Schon als Beleg für die Überstunden. Viel mehr konnte er auch nicht tun, denn der IRA-Mann würde nicht mit ihm sprechen. 

Gleichzeitig wurde Hartmann immer mehr bewusst, dass er in Gefahr schwebte. Worum  es hier auch ging. Er selbst hatte dafür gesorgt, dass seine Anwesenheit nicht unbemerkt geblieben sein konnte, sofern jemand in der Nähe war. Wiederum spürte er den warnenden Impuls, das alte Haus sofort zu verlassen. Diesmal entschloss er sich, ihm zu folgen. Die nassen Bindfäden, die der Himmel auf die Grafschaft herabhängen ließ, waren noch dünner und mutloser geworden. Winzige Tropfen schienen in Zeitlupe zu fallen. Sie durchnässten alles sehr langsam, dafür aber gründlich. Im Licht der Taschenlampe widmete sich Hartmann noch einmal den Fußabdrücken. Nur ein Paar der Sohlen setzte sich im Haus fort. Die Stiefel, falls sie das Haus je betreten hatten, waren dagegen zuvor gesäubert worden. Dafür sprachen auch die Reste von Morast auf dem Abtreter. Das Licht der Taschenlampe wurde schwächer. Die Batterien mussten schon älter oder halb leer gewesen sein. Hartmann stieß einen Fluch aus, der auf McCulloch gemünzt war. Wie lange würden sie noch halten? Konzentration, mahnte er sich. Er musste die verbleibende Zeit nutzen. 

Die Spuren führten nicht nur ins Haus, wie ihm auffiel, sondern auch wieder hinaus. In unregelmäßiger Schrittfolge. Jedoch nicht in Richtung der Weiden. Stattdessen verloren sie sich in der Nähe der Stallungen. Genau genommen vor dem Eingang. 


Was sollte er tun? Unschlüssig stand er in der Dunkelheit. Nicht einmal der Mond durchbrach die Nacht, unter der die Grafschaft Fermanagh verschwand. Ohne Licht würde er über die Felder stolpern wie ein Blinder. Wenn er jetzt aufbrach, hielt die Lampe vielleicht durch, bis er den Land Rover erreichte. Doch er hatte nichts erfahren. Im Gegenteil. Er kehrte mit neuen Fragen zurück.

Die Alternative war es, alle vernünftige Vorsicht über Bord zu werfen.  

Kurz entschlossen lenkte er seine Schritte zu den Ställen. Das große Doppeltor, durch das man das Vieh hinein- und hinaustreiben konnte, hing in rostigen Scharnieren, die aussahen, als würden sie kaum benutzt. Er zog daran. Verschlossen. Einige Meter entfernt gab es eine weitere Tür, die wahrscheinlich für das morgendliche Melken und Füttern gedacht war. Auch an ihr nagte der Rost. An den Scharnieren gab es jedoch blanke Stellen. Dieser Eingang wurde zumindest sporadisch geöffnet. Sie war unverschlossen und quietschte. Die schwarze Öffnung gähnte Hartmann an. Alte Gerüche von Heu, Urin und dem Kot der Pflanzenfresser hatten sich in den Mauern eingenistet. Und etwas anderes, das er schon zuvor wahrgenommen  hatte: Die schwache Note von kaltem Rauch. So zart, dass es auch eine Täuschung sein konnte. Ein letzter Blick in den Regen, bevor Hartmann eintrat. Er ließ das unbestimmte Gefühl zurück, dort draußen nicht alleine zu sein. Nach wenigen Metern befand er sich im Mittelgang zwischen zwei Futterrinnen. Der Lichtkegel tanzte über die Wände, an denen schwere Eisenringe befestigt waren. An einigen hingen noch rostige Kettenglieder. 

Man könnte es glatt für einen Folterkeller halten, versuchte sich Hartmann mit einem Anflug von Ironie zu beruhigen. Die Umgebung erinnerte ihn an seinen letzten Fall, der ihn erst an diesen Ort geführt hatte. Damals wäre sein Leben beinahe in einem Erdloch geendet.  

Unter seinen Schuhen knisterten trockene Halme. Reste von Stroh. Darauf nach Abdrücken zu suchen, war sinnlos, zumal im Licht der schwachen Taschenlampe. Nach etwa zehn Metern lösten Verschläge für Pferde die offenen Stehplätze ab. Zehn auf jeder Seite.  Seufzend öffnete er die Tür zur ersten Box. Das Heu und ältere Pferdeäpfel wiesen darauf hin, dass dieser Teil des Stalls gelegentlich noch genutzt wurde. Der Harngeruch war hier stechender. Er öffnete die zweite Box. Das gleiche Bild, der gleiche Geruch. Nur deutlich mehr Pferdeäpfel. Unvermittelt erklang ein leises Rascheln aus dem gegenüberliegenden Verschlag. In der Stille schreckte Hartmann auf. Noch einmal das gleiche Geräusch. Das war keine Ratte. Der Ermittler verharrte in der Bewegung. Sein Herz pochte schneller und stärker. Er zog den kleinen Revolver aus dem Hosenbund und spannte ihn. Er näherte sich der Box seitlich, hielt den Atem an. Ruckartig leuchtete er in die Öffnung. Das Licht fiel auf dunkle  Augen. Ein Gesicht wie eine schwarze Maske. Es erstarrte - und wirkte ebenso überrascht wie Hartmann. 

Ein Waschbär. Verflucht. Oder Gott sei Dank. 

Hartmann stieß Luft aus. Zufällig erhob der kleine Bär seine Pfoten ein wenig. Es sah aus, als wolle er sich ergeben, was aber eher unwahrscheinlich war. Hartmann grinste, vollführte  eine halbherzige Husch-husch-Geste und steckte die 38er weg.    

„Los, raus hier, du Vagabund.“ 

Widerwillig trollte sich der Waschbär. Sehr kurz fiel Hartmanns Blick auf die rechte Pfote. Die spitzen Krallen hielten etwas fest, an dem das Tier genagt hatte. Bis es gestört worden war. Etwas, das es in dieser Box gefunden hatte. Nur kurz streifte das Licht darüber. Zu kurz, um ganz sicher sein zu können. Dennoch traf es Hartmann wie ein Schock. Sein Wissen über Waschbären war spärlich: Allesfresser. Kräftiges Gebiss. Nahrung hauptsächlich Pflanzen, Nüsse, frisches Fleisch, altes Fleisch, Knochen… 

Er schauderte. Knochen

Was er gesehen hatte, war allem Anschein nach ein menschlicher Finger gewesen. Sein Herz sprang in schnelles Stakkato. Sinnloserweise zog er erneut die Waffe hervor und leuchtete durch das Heu. Nichts. 

Ich muss weg von hier. 

Nein, halt, da ist noch etwas. Mit dem Fuß schob er trockene Halme zu Seite. Auf  Kniehöhe war etwas in die Bretterwand geritzt. Er kniete sich davor. Es waren Buchstaben, keine Frage. Vermutlich mit einem Kugelschreiber mehr eingeritzt als geschrieben. Die Schrift war eckig und fahrig. Hektik und Angst sprachen aus jedem Strich. 

Nur Großbuchstaben.  

WIEDERGEBURT, las er langsam ab.  

Dahinter folgte ein Strich, möglicherweise ein Bindestrich. 

In welchen Irrsinn war er hineingeraten? Warum stand dieses Wort in deutscher Sprache  in einem verlassenen Stall in der nordirischen Provinz? 

Es dauerte einige Sekunden, bis er sich besonnen hatte. Er traf eine Entscheidung. Und er traf sie schnell. Was immer hier geschehen war. Ein Verbrechen, ein Unfall oder sonst etwas. Es war Sache des CID aus Belfast, nicht seine. Er würde McCulloch haarklein berichten, was er gesehen hatte. Der konnte dann bei Tag mit seinen Forensikern anrücken und untersuchen, ob es etwas zu untersuchen gab. Auch wenn sich der Waschbär kaum als Zeuge zur Verfügung stellen würde. 

Ja, genau das würde er tun. Hoffentlich hielt die verdammte Lampe noch bis zum Wagen durch. Er wandte sich zum Gehen. Es war feucht im Stall. Tropfen fielen auf seinen Kopf. War die Decke etwa undicht? Egal, nur weg hier. Es war von Anfang an eine sehr dumme, sehr unnötige Idee gewesen, der Nachricht eines IRA-Chefs, eines notorischen Terroristen, in einen verlassenen Bauernhof zu folgen. 

Wieder fielen Tropfen auf seine Haare. Beiläufig wischte er mit der Hand darüber. Etwas zu klebrig für Regenwasser, fand er und hielt seine Hand vor die Lampe. Das Licht war beunruhigend schwach geworden.  

Mein Gott. War das etwa… Blut?

Sofort richtete er die Lampe über sich, in Richtung Dach. Der dürftige Schein kroch über alte Holzbalken. Dort, wo er innehielt, begann er zu springen wie ein Dämon. Hartmanns Hand zitterte. Es war beileibe nicht der erste Tote, den er zu Gesicht bekam. Dennoch hätte er um ein Haar aufgeschrien. 

Er hatte O’Ferghail gefunden. 

Gekreuzigt! Sie haben ihn gekreuzigt. 

Der Kopf des stämmigen Mannes hing mitsamt der grauen Haare kraftlos zwischen den ausgestreckten Armen herab. Blut tropfte von seinen Lippen. Sofort war Hartmann klar, um wen es sich handelte. Es musste der IRA-Chef sein. Alter und Statur passten. 

Dicke Zimmermannsnägel waren durch Hände, Arme und Füße in die Balken des Dachstuhls getrieben worden. Sie hielten die Leiche in einer Position, die unweigerlich an ein Kruzifix erinnerte. 

Während Hartmanns Blick die Nägel streifte, fiel ihm ein weiteres schreckliches Detail auf. Die Daumen fehlten. Sauber abgetrennt, soweit er erkennen konnte. Es gab nur wenige Formen von Gewalt, die Hartmann bisher noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Eine Kreuzigung  gehörte dazu.  

Ein Mord, so skurril, grausam und frevelhaft, dass die Botschaft darin fast die Tat überlagerte. Aus den Wunden, in denen die Nägel steckten, lösten sich zähe Blutstropfen. Die Tötung, oder zumindest die Kreuzigung, konnte noch nicht allzu lange her sein. War die Leiche post mortem an diesen Ort gebracht worden, oder war der Ire dort oben langsam gestorben? Hartmann stoppte seine Gedanken, mit denen er instinktiv bereits eine Ermittlung eröffnete. Doch dies hier war noch immer nicht seine Aufgabe, war es nie gewesen. Er hatte es nur zu spät bemerkt.

Jetzt gab es nur noch eines: Raus hier! Nichts wie weg.    


Von irgendwoher näherte sich das leise schmatzende Geräusch von Schritten auf nassem Grund. Nicht im Stall, aber in der Nähe. 

Wenn ich schnell laufe, kann ich in gut zehn Minuten am Wagen sein. Oder ist es das, worauf die da draußen warten? Renne ich in mein Verderben? 

Wieder Schritte. Leiser, tastender. Jetzt noch näher. Wer konnte das sein?

Nur einer schied aus. Der Waschbär. Robert Hartmann saß in der Falle. Sein Blick wanderte noch einmal hinauf zum Giebel. Zur gekreuzigten Leiche. Unter anderen Umständen hätte er sich vielleicht die Frage gestellt, wer zu so etwas fähig war. Doch der Überlebensinstinkt war ein eifersüchtiger Begleiter. Jetzt ging es nur darum, lebendig hier herauszukommen. Denn eines war sicher. Wer auch immer O’Ferghail das angetan hatte, würde ihn nicht verschonen, weil er mit alledem eigentlich nichts zu tun hatte. 

Es hatte Situationen in Hartmanns Leben gegeben, in denen er dem Tod sehr nahe gewesen war. Ein paar Mal hatte er sich in ruhigen Minuten die Frage gestellt, unter welchen Umständen sein Leben wohl enden würde. In diesem Augenblick lautete seine Antwort: 

Nicht hier. Nicht in einer verregneten Nacht in der nordirischen Grafschaft Fermanagh. Über alles andere konnte man reden, wenn es soweit war.


Er schaltete die schwächelnde Lampe aus und schlüpfte in den Mantel der Dunkelheit. Falls es jemand auf ihn abgesehen hatte, musste er es ihm nicht leichter machen, als nötig. Die kleine 38er im Anschlag, tastete er sich aus der Pferdebox. Sicherung nach allen Seiten. Er nutzte jede Deckung, während er sich lautlos zum Ausgang vorarbeitete. Die Seitentür war nicht unbedingt ein raffinierter Schachzug, doch einen anderen Ausgang schien es nicht zu geben. Er blieb daneben stehen und legte das Ohr an die Mauer. Sie war kalt und feucht. Entferntes Pfeifen von Wind, angereichert mit Sprühregen. Was hatte er erwartet? 

Er konnte noch stundenlang so ausharren. Oder es riskieren. 

Vorsichtig drückte er die Klinke und schob die Tür einen Spalt breit auf. Dann immer weiter. Frische, irische Luft und feine Tropfen schlugen ihm entgegen. Die Dunkelheit wirkte nicht so undurchdringlich, wie er erwartet hatte. Der Vollmond nutzte jeden Spalt zwischen den Wolken. Der Ermittler spähte über die Felder. Nichts. Er wartete. Zweieinhalb Minuten später schob sich eine der Regenwolken vor den weißlichen Himmelskörper. Eine bessere Gelegenheit würde sich kaum bieten. Hartmann trat ins Freie. Er roch den Nebel, der aus den Feldern aufstieg. Eine angenehme Mixtur aus Wasser, Lehm und Stein, die an eine Töpferwerkstatt erinnerte. 

Unweit vom Stall begann der Pfad über das Weideland, der ihn zum Land Rover führte. Eine verlockende Aussicht. Unter den Schuhen gab der aufgeweichte Boden nach. Als liefe er über den weichen Unterleib eines riesigen Ungeheuers, das man besser nicht weckte. Er passierte das Cottage, in dem vor Kurzem vermutlich ein Mann seinen letzten Whisky getrunken hatte. Inzwischen hing er in einem Nebengebäude an sechs stabilen Nägeln. Die Erinnerung ließ ihn erneut schaudern. Hartmann erreichte den Pfad. Er bestand aus dem gleichen Morast, wie die Umgebung, war aber im Laufe der Zeit festgestampft worden. 

Sein Puls begann sich zu normalisieren. Er warf einen letzten Blick auf die verfluchte Farm, die bei Tagesanbruch zu einem abgesperrten Tatort werden würde. In diesem Moment schob sich eine der Wolken am Mond vorbei. Das plötzliche Licht wurde von etwas reflektiert. Direkt neben dem Haus. Metall, das sich bewegte. Weniger als fünfundzwanzig Meter von ihm entfernt. In derselben Sekunde begriff Hartmann, dass er sich zu früh gefreut hatte. Schlimmer noch. Er stand ungeschützt auf freiem Feld. Was er sah, war die Mündung einer Waffe. Höchstwahrscheinlich ein Gewehr, schlimmstenfalls mit nachttauglichem Zielfernrohr. 

Der Revolver lag in seiner Hand. Hartmann war sicher ein passabler Schütze, aber kein Zauberer. Damit auf diese Entfernung in der Dunkelheit mit dem ersten Schuss einen Gegner auszuschalten, war nicht schwierig. Es war unmöglich. Als räume man auf dem Volksfest mit dem ersten Schuss drei Hauptgewinne ab. Der Unterschied war nur, dass es hier nicht um ein Plüschtier ging, sondern um sein Leben. Sobald er den lächerlichen Revolver erhob, würde der Typ neben dem Haus abdrücken. Sobald er versuchte zu fliehen, ebenfalls. Ein ungleiches Duell. Schweißtropfen bildeten sich auf seinem Rücken. Das Schicksal gestand ihm lediglich die Zeit für einen einzigen Gedanken zu.  

Lieber bei dem Versuch, entschied er. Wenn es schiefgehen sollte, dann wenigstens auf meine Weise. 

Er riss die Waffe hoch, duckte sich gleichzeitig und schoss. Im gleichen Moment erklangen auf der anderen Seite bereits zwei Schüsse. Scheiße. Er rechnete schon damit, die wahnsinnige ballistische Energie zu spüren, die ein Projektil mit sich führte, wenn es einschlug. Er rechnete mit Schmerzen und Tod. Doch es blieb bei der Erwartung. Keine Kugel traf ihn. Die Schüsse schlugen nicht einmal in der Nähe ein. War er etwa an den schlechtesten Schützen der ganzen verdammten IRA geraten? Er spähte angestrengt dorthin, wo er die Reflexion wahrgenommen hatte. Doch dort war nichts als Stille und Regen. Eine weitere Falle? Noch einmal fiel er nicht darauf herein. 

Oder war es tatsächlich möglich, dass er…? Er blickte ungläubig auf den Revolver. Hatte er wirklich mit einem einzigen Versuch aus dem kleinen Ding einen IRA-Scharfschützen erledigt? Etwas unschlüssig blieb er stehen. Der erste Impuls war, einfach weiterzulaufen, bis er endlich den Land Rover erreichte. Es schien das Vernünftigste zu sein. Der Ermittler in ihm forderte jedoch nachzusehen. Zumal es möglich war, dass der Pfad ihn zur nächsten unliebsamen Überraschung führte, bevor er den Wagen erreichte. 

Er schlug einen ausgedehnten Bogen, näherte sich dann der Rückseite des Cottages. Bis er die Position des Schützens im Blick hatte. An der Hausecke blieb er stehen. Weniger als zehn Meter entfernt lag ein Mann ausgestreckt am Boden. Er hatte ihn also tatsächlich erwischt. Noch mehr überraschte ihn, dass jemand mit einer Taschenlampe daneben kniete. Mehr war nicht zu erkennen. Die Gestalt wandte ihm den Rücken zu. Vielleicht ein weiterer IRA-Typ? Hartmann schlich sich an. Lautlos. Jederzeit fähig zu reagieren, falls sich der andere umdrehte. Doch der wirkte viel zu beschäftigt. Er schien den Toten zu durchsuchen. Als sich die Entfernung auf drei Meter verringert hatte, erhob Hartmann die Waffe. Er richtete sie auf den Rücken, der in einem beigefarbenen Mantel steckte.  

„Polizei! Zeigen Sie mir ihre Hände. Umdrehen. Ganz langsam.“ 

Er rief es auf Englisch. Eine Mischung aus Oxford und US-Westküste. Ganz sicher aber nicht irisch. Jeder Dorftrottel würde heraushören, dass er nicht von hier kam. Doch die Hauptsache war, dass er ernstgenommen wurde. Falls das nicht funktionierte, hatte er noch genau vier Argumente im Kaliber 38, um die Anweisung zu untermauern. 

Der Mann drehte sich um, machte aber keine Anstalten, die Hände zu heben. 

„Polizei, hm? Dann zeigen Sie doch mal Ihren Dienstausweis.“

McCulloch grinste nur beinahe, während er sich mitsamt seiner Lampe erhob. Hartmann staunte noch gut eine Sekunde, bevor er die Waffe wegsteckte. 

„Konnten Sie sich nicht wenigstens erschießen lassen?“, fragte der Inspector.

„Tut mir leid, sie zu enttäuschen.“ 

„Wusste ich’s doch, dass ich Sie nicht alleine lassen kann“, legte der Ire nach. „Die IRA hat ungebetene Gäste von außerhalb noch nie geschätzt.“ 

„Ich war kein ungebetener Gast. Dass Sie mir folgen, war nicht abgesprochen. Es hätte für uns alle tödlich enden können.“

McCulloch schnaubte und wies auf die Leiche.

„Tödlich? Was glauben Sie, was der Kerl hier mit Ihnen vorhatte? Eine freundliche Unterhaltung?“   

Hartmanns Stimme blieb neutral.

„Nein, deswegen ist er ja tot.“

Der Detective Inspector schüttelte nachsichtig den Kopf. 

„Er ist tot, weil ich ihn erschossen habe.“

„Sie?“ 

„Dachten Sie etwa, Sie hätten dieses Kunststück vollbracht? Aus der Entfernung mit dieser Waffe? Zum Totlachen. Für wen halten Sie sich, für so einen Zirkuskünstler? Für Houdini?“ 

„Der war Entfesselungskünstler, kein Meisterschütze, Sie Wunderkind“, stellte Hartmann ärgerlich klar.

„Ist mir doch egal. Jedenfalls hab ich diese Taube vom Baum geholt. Nicht Sie.“   

„Nun ja“, begann Hartmann. Ihm wurde bewusst, dass McCulloch ihm das Leben gerettet hatte. Wenn er richtig lag. Dennoch hieß er es nicht gut, dass er ihn verfolgt hatte. 

„Danke, Detective.“ 

Der Ire mochte grobschlächtig wirken, war jedoch in der Lage, den Missklang in Hartmanns Stimme herauszuhören. 

„Aber was?“ 

„Irgendetwas ergibt hier keinen Sinn. Warum bitten die mich hierher, um mich dann zu  erschießen? Ich bin Ausländer. Das bringt der IRA-Sache doch nichts. Außer schlechter Publicity.“ 

Der Ire grunzte verächtlich. Wie ein Vater, der sich die Zeit nimmt, dem Sohn zu erklären, wie die Welt funktioniert. 

„Man merkt, dass Sie unseren kleinen Krieg, die Troubles, nicht erlebt haben. Das ist die IRA. Verhandlungen oder guter Wille haben da noch nie sehr viel gebracht.“  

Hartmann blickte nachdenklich in die Nacht, was sein Gegenüber offenbar als Ermunterung verstand fortzufahren.  

„So klingt die nordirische Ballade. Eine freundliche Einladung zum Sterben. Ganz im Stil der Provos, der alten Kämpfer der IRA. Es klang ein wenig, als singe er ein Loblied auf die Zeit, in der Gut und Böse leichter zu unterscheiden gewesen waren. Zumindest hatte jeder gewusst, wo er stand.

Hartmann betrachtete den Mann am Boden. Ausgeblichene Jeans, Hemd, Parka. Auffällig unauffällig. Zwei mäßig blutende Einschüsse in der Brust, einer davon in der Herzregion. Er kniete sich neben ihn und betrachtete das Gesicht. Dunkelblond. Helle Haut. Hohe Wangenknochen. Neben ihm lag ein Sturmgewehr mit Zielfernrohr und ein Magazin, was nicht überraschte. Hartmann blickte zu McCulloch auf. 

„Kennen Sie den?“ 

„Nie gesehen. Sieht auch nicht aus wie ein Ire, wenn Sie mich fragen.“ 

„Wie sieht denn ein Ire aus?“ 

„Na, so jedenfalls nicht.“ 

„Weil er keine roten Haare und Sommersprossen hat?“, bohrte Hartmann weiter.

„Der ist nicht von hier, verdammt nochmal. Darauf verwette ich meine Schwiegermutter“, beharrte der Detective Inspector. 

„Verstehe.“ 

Etwas sagte Hartmann, dass der Polizist recht haben könnte. Er hob das Gewehr an. 

Armalite, Kaliber 5,56 mm. Ist das nicht eine der Lieblingswaffen der IRA? Das würde doch passen.“  

„Ja, das würde gut passen“, erwiderte McCulloch mürrisch. Vielleicht war er nicht darauf aus, seine Mutmaßungen mit einem Ermittler vom Kontinent zu teilen. 

„Sie meinen zu gut?“ 

„Wir werden sehen.“

„Wo haben Sie eigentlich den Constable gelassen?“, erkundigte sich Hartmann und blickte suchend umher. 

„Ich hab ihm befohlen, Verstärkung zu holen. Wahrscheinlich taucht in dreißig Minuten das ganze SAS-Regiment mit Hubschraubern auf. Wie in der guten alten Zeit.“ 

„Das würde nichts bringen. Der Schütze war allein.“ 

„Woher sollte ich das wissen, als ich den Constable losschickte?“ 

Nach einer kurzen, gereizten Gesprächspause fragte der Ire: „Was wollten Sie mir nun zeigen?“     

„Hoffe, Sie haben einen starken Magen, Detective.“ 

„Nein, in letzter Zeit hab ich da so meine Probleme“, antwortete McCulloch und zog wie auf Kommando eine Tablettenschachtel aus dem Mantel. Anschließend würgte er irgendeine  Kapsel trocken hinunter. Falls Leichen ihm Sodbrennen verursachten, ahnte er wohl  Schlimmes. 

 Kurze Zeit später standen die Ermittler schweigend unter O’Ferghail, der weiterhin rote Tropfen absonderte, die in kleinen Lachen auf dem Beton antrockneten. 

McCulloch warf zunächst seinem Gast einen bedeutungsschweren Blick zu und Sekunden später eine weitere Magentablette in seinen Mund.  

„Sie haben nicht zu viel versprochen, Hartmann.“ 

„Tja, dieses Vögelchen wird nicht mehr singen.“ 

„Soviel steht fest. Was sagen Sie dazu?“, erkundigte sich der Ire. Offenbar verfolgte er weiterhin die Strategie, Hartmanns Wissen abzuschöpfen, ohne selbst allzu viel preiszugeben. Hartmann entschloss sich dennoch, mitzuspielen. Vorläufig. Bis es Zeit wurde, den Kollegen daran zu erinnern, dass diese Tür nach beiden Seiten schwang.

„Eine Botschaft. Eine Bestrafung. Oder beides.“ 

„Nicht schlecht, Hartmann, gar nicht schlecht. Es ist eine Bestrafung. Ich gehe jede Wette ein, dass auch die Zunge fehlt.“ 

„Geht es wieder um ihre Schwiegermutter?“ 

„Wenn Sie sie haben wollen, gehört sie Ihnen.“ 

Beide grinsten.  

„Die Zunge also.“

Daran hatte Hartmann noch nicht gedacht. Er selbst hatte diese Form der Verstümmelung bei Mordopfern bisher zweimal gesehen. Das erste Mal bei einem gemeinsamen Einsatz mit der italienischen Anti-Mafia-Polizei DIA (Direzione Investigativa Antimafia) gegen die `Ndrangheta in Kalabrien. 

Ein weiteres Mal in einem Keller in der Grenzstadt Ciudad Juárez, als er die Federales der mexikanischen Bundespolizei und die Beamten der US-amerikanischen DEA (Drug Enforcement Administration) während ihres zermürbenden Krieges gegen das Sinaloa-Kartell begleitete. Im Gegensatz zur Mafia verzichteten die Kartelle üblicherweise darauf, das Opfer vorher zu töten. Doch der Grund für diese Art der Behandlung war stets ein und derselbe: Geschwätzigkeit. 

„Eine Kreuzigung. Außerdem Daumen und Zunge abgeschnitten. O’Ferghail war also ein Verräter. Oder jemand hielt ihn dafür oder wollte, dass es danach aussieht“, sinnierte Hartmann.   

„Woher zum Teufel soll ich das wissen?“, erwiderte McCulloch, „Es sieht aber ganz so aus.“ 

„Und wer könnte das getan haben?“

Der Inspector legte die Stirn in Falten.

„Die Innenrevision. Ja, vielleicht die. Zumindest haben die das früher so gemacht, wenn einer die Treue brach.“ 

„Wer?“ 

„Der Geheimdienst der IRA, sie nennen ihn Innenrevision. So eine Bestrafung ist bei einem Stabschef allerdings noch nicht vorgekommen, soweit ich mich erinnere. Mann, der muss wirklich Scheiße gebaut haben.“ 

Hartmann grübelte. Er rief sich das Innere des Cottages in Erinnerung. Es war vermutlich der letzte Ort, den O’Ferghail vor seinem Tod aufgesucht hatte. Das gefüllte Glas, der verrutschte Teppich, der Rauch ohne Raucher. Eile, Hektik, Angst. Wovor hatte sich der skrupellose und eiskalte Fanatiker in diesem Raum derart gefürchtet? Hartmann behielt die Frage für sich. Es war nicht seine Aufgabe, für die nordirische CID das Denken zu übernehmen. Unterschlagen würde er jedoch nichts.  

„Es gibt noch etwas, das Sie sehen sollten.“ 

McCulloch verdrehte die Augen. „Brauche ich dafür noch eine Tablette?“ 

„Nein, nur Ihre Augen. Und dann Ihr Gehirn.“ 

 Hartmann leuchtete den unteren Teil der Box aus. Er musste eine Weile suchen. Er schob das Heu zur Seite und zeigte auf das mit blauer Tinte eingekratzte Wort.

„Ihnen entgeht aber wirklich nichts“, stellte der Ire mit einem Hauch kollegialer Anerkennung fest. Vielleicht war es auch gut getarnte Ironie.

„Ich hatte ein wenig Hilfe“, erwiderte der Deutsche, wobei er auf den Waschbären anspielte. 

„Wiedergeburt“, las McCulloch nachdenklich ab, „Sagt mir gar nichts.“ 

„Könnte es mit der Real-IRA zu tun haben? Eine Parole, ein Code oder etwas in der Art?“ 

Der DI schüttelte bedächtig den Kopf.

„Nicht, dass ich wüsste. Wer nie tot war, muss auch nicht wiedergeboren werden. Außerdem würden die uns das wohl kaum auf Deutsch mitteilen, oder?“    

Hartmann brummte zustimmend. Der Blick des Iren wanderte mit dem Licht seiner Lampe vom Boden über die Wände.

„Was immer es auch bedeutet.“ Das Licht kehrte zu den eingekratzten Lettern zurück. „Ich habe das Gefühl, es wird Sie noch begleiten.“

III



Das Haar in der Suppe




Hartmann war in einem kleinen Hotel namens Crowns Inn abgestiegen. Hinter dem selbstbewussten Namen verbarg sich ein abgewohntes, zweistöckiges Backsteinhaus in der Shankill Road, dessen beste Zeiten lange zurücklagen. Vielleicht hatte es sie auch nie gegeben. Er blickte aus seinem Fenster auf Girlanden britischer Wimpel. Jedes Haus schmückte außerdem ein gewaltiger Union Jack. Von irgendwoher dröhnten Trommeln. Entweder ein Fußballspiel oder, was wahrscheinlicher war, ein  Umzug des Oranier-Ordens. Am Himmel ballten sich Wolken wie Fäuste, als hätten sie etwas dagegen einzuwenden. Kein schlechter Tag für Belfast, da es erst zweimal geregnet hatte und nennenswerte Proteste auf der anderen Seite bisher ausblieben. Die andere Seite war das katholische Wohnviertel, das hinter einem riesigen Zaun lag, den man hier Friedenslinie nannte. Auf der Straße schwenkte ein Kind eine britische Flagge. Der Pub auf der anderen Straßenseite füllte sich allmählich, obwohl es erst kurz nach fünf war. Ein süffiger Blend aus Feierlaune und kriegerischer Begeisterung. Hartmann ließ das Treiben seltsam kalt. Nicht seine Geschichte. 


Er hatte ein wenig geschlafen, war jedoch durch einen Alptraum erwacht. Eine unselige Gewohnheit. Anschließend hatte er geduscht und etwas gegessen. Das Beste, was man nach dem Einsatz der vergangenen Nacht tun konnte. Anschließend war er von zwei MI-5-Agenten abgeholt worden, die sich rührenderweise als Zivilpolizisten ausgaben und sich brennend für seine Erlebnisse interessierten. Anschließend hatte er einen vorläufigen Bericht geschrieben und an die BKA-Zentrale in Wiesbaden geschickt. Eine unliebsame, aber notwendige Pflicht. 

Er blickte nach unten. Auf ein Geschehen irgendwo zwischen Kindergeburtstag, Grillfest und Aufstand. Doch seine Gedanken verweilten nicht auf dieser Straße, sondern in einem kleinen Ort namens Lahnstein, nicht allzu weit von Koblenz. 

Melanie. Die Beziehung war eine Farce, wenn man es objektiv betrachtete. Doch wer konnte das schon. Das alte Leid. Ein stürmischer Beginn und dann… Der Alltag. Nicht wie bei anderen Menschen, die spürten, dass ihnen der andere schneller als erhofft auf den Geist ging. In ihrem Fall bedeutete Alltag eher das Gegenteil, sich gar nicht zu sehen. Sie hatten Pläne gehabt, sicher. Mehr war daraus nie geworden. Das Schlimmste daran war, dass Robert Hartmann wusste, wohin das alles sie beide führte. Dennoch hatte er lange nichts dagegen unternommen. Es war Zeit, etwas zu ändern. 

Oder mit dem Ergebnis zu leben, wenn er es nicht tat.


Er warf einen letzten Blick auf die feiernden Protestanten in der Shankill Road. Ein bereits Betrunkener torkelte aus dem Pub, wobei er fast das Kind mit der Fahne umrannte.  

Hartmann nahm das private Handy vom Nachttisch und trug es eine Weile zwischen dem  plüschigen, altbackenen Mobiliar umher. Dann nahm er die Flasche irischen Whiskeys von der Anrichte, goss sich einen Schwenk ein und ließ einen großen Schluck über die Zunge rollen. Nicht schlecht, aber nicht so gut wie die schottischen Nachbarn. 

 Endlich fasste er sich ein Herz und rief sie an.

Der Einstieg war holprig, die Verbindung hingegen erschreckend gut. Melanie fragte, wie es ihm ginge. Das tat sie immer und jedes Mal suchte er nach einer unverfänglichen Antwort. Er sagte, dass er sie vermisse und fragte seinerseits. Das übliche, etwas abgenutzte Ritual. 

„Wie ist es in Belfast?“ 

„Seltsam“, sagte er und dachte daran, wie O’Ferghail zu Tode gekommen war. Hartmann  schloss das Fenster, da die Trommelschläge näher kamen wie der Donner einer Schlacht. 

„Was ist denn das für ein Lärm?“ 

„Ach, es gab da 1690 eine Schlacht, in der ein protestantischer König ein katholisches Heer besiegt hat. An einem kleinen Fluss, ganz in der Nähe.“

„Lange her“, gab sie zu bedenken.

„Naja, das sehen die hier nicht so.“ 

„Was hast du heute gemacht?“, erkundigte sie sich.

„Noch nicht viel. Einen Bericht geschrieben.“ 

„Und gestern?“

„Ich bin zu einem Gespräch mit einer Kontaktperson aufs Land gefahren.“ 

„Wie ist es gelaufen?“

„Es läuft noch“, entgegnete er abwesend, während er daran dachte, wie das Blut auf den Betonboden tropfte.

„Was?“

„Äh, ich meine, es kam nicht wirklich zustande. Der Kerl war verhindert.“ 

„Verstehe“, sagte sie und meinte wohl das Gegenteil. 

„Wie läuft es im Ritterhof?“ versuchte er, abzulenken. Nicht sehr einfallsreich. Melanie hatte ein kleines Hotel im Zentrum des Ortes Lahnstein geerbt, das sie nun leitete.   

„Besser. Naja, es ist noch Luft nach oben, ehrlich gesagt. Seit mir alles überschrieben wurde, weiß ich nicht recht, wo ich anfangen soll.“ 

„Und Lahnstein?“ 

Sie seufzte gelangweilt. Das Gespräch drohte, sich totzulaufen. 

„Der ganze Ort ist in Aufruhr. Man munkelt, der Bürgermeister hatte etwas mit der Bäckerin und der Frau aus der Apotheke.“ Es triefte vor Ironie.

 „Gleichzeitig?“, erkundigte sich Hartmann, verstand aber sehr wohl die Warnung. 

Denk dir gefälligst etwas originellere Themen aus. Doch er hatte den Punkt absichtlich abgepasst, bevor er die Katze aus dem Sack ließ. Verbunden war das Ganze mit der Hoffnung, sie freue sich. 

„Ich möchte dir einen Vorschlag unterbreiten“, hob er mit soviel Pathos an, als kündige er die Gründung einer menschlichen Siedlung auf dem Mars an. 

„Statt zurück nach Berlin fliege ich nach Köln-Bonn, nehme einen Mietwagen und bin morgen Abend bei dir in Lahnstein. Die ganze Woche. Ich kann dir im Hotel helfen, wenn du willst. Danach gehen wir an der Mosel spazieren. Gibt es noch dieses kleine Restaurant? Das mit dem Blick auf den Fluss?“  

Immerhin war sie kurz sprachlos. 

„Das wäre schön, Robert.“ 

Es klang eher abwartend als begeistert. Etwas zu verhalten für seinen Geschmack.  Wahrscheinlich traute sie der Sache noch nicht. 

„Mit soviel Euphorie hatte ich gar nicht gerechnet.“ Schlecht kaschierte Enttäuschung schwang mit.

„Ich freue mich, wirklich.“ Es klang etwas gelöster. 

„Ist es dir zu spontan?“

„Nein, ist echt eine superschöne Idee.“ Noch etwas gelöster.

Wir nähern uns, dachte er. Dennoch war er sicher, irgendetwas dräute im Hintergrund wie ein aufziehendes Gewitter. 

„Was ist los?“ 

Stille. Dann ein tiefes Luftholen. Als müsse sie Kraft schöpfen, eine gefährliche Brücke zu überqueren. 

„So hatte ich mir das damals nicht vorgestellt.“ 

Damals war vor einem Jahr gewesen, als sie den Ermittler aus Berlin, der zu diesem Zeitpunkt noch Staatsanwalt gewesen war, kennengelernt hatte. 

„Mein Gott, ich klinge schon wie eine Seifenoper. So abgedroschen“, ruderte sie zurück.   

„Nein, tust du nicht. Ich will es hören“, sprang er bei. 

Wieder ein Seufzer auf der anderen Seite. 

„Ich will nicht die sein, die zuhause sitzt und sich brav um ihren Mann sorgt, der grad wieder irgendwo an den spannenden Enden dieser Welt geheime Missionen zu erledigen hat. Nur noch kurz die Welt retten und so. Das bin ich einfach nicht. Ich habe hier ein Unternehmen zu führen und keine Zeit, mir ständig Gedanken zu machen. Meine Gefühle für dich sind noch da, aber ich kann so nicht mehr lange weitermachen.“   

Robert Hartmann ließ ihre Worte sacken, bevor er antwortete.

„Es ist kein Geheimnis, dass ich in Belfast bin. Also gut, Nordirland ist ja nicht der Irak oder so. Inzwischen machen hier Leute Urlaub. Es ist kein Kriegsgebiet. Ich bin nur Polizist.“ 

„Nur Polizist? Rede das doch nicht klein. Du bist Zielfahnder beim BKA. Du jagst doch nicht irgendwelche Eierdiebe. Ich will das auch nicht kritisieren. Du tust etwas sehr Wichtiges.  Es ist das, was du kannst und willst. Ich weiß nur nicht, ob ich dafür gemacht bin, da mitzuziehen. Ich will nicht, dass wir uns enttäuschen. Es gab Zeiten, da haben wir Pläne gemacht, weißt du noch? Vielleicht ein spießiges Häuschen auf dem Land. Ein gemeinsames Leben. Etwas, das man vielleicht irgendwann einmal Familie nennen kann.“

Er spürte, dass sie noch nicht fertig war. Obwohl er nicht sicher war, noch mehr hören zu wollen.     

„Es ist alles ein einziges Rätsel. Du, unsere Beziehung, einfach alles. Und ich habe das Gefühl, wir entfernen uns immer weiter von der Lösung. Von uns.“  

Jetzt klingst du wie eine dieser Seifenopern, dachte er.   

„Bitte, sieh das nicht als mangelndes Vertrauen. Du weißt, dass ich dir nicht alles erzählen kann.“ Ein bitteres, desillusioniertes Schnaufen ging von ihm aus. „Dieser ganze Dreck, durch den ich wate. Dieser ganze Abschaum, mit dem ich mich ständig herumschlage…“  

Ein Klopfen an der Hoteltür. Geschäftsmäßiger Klang. Sie schwang auf, ohne dass er dazu aufgefordert hätte. Ein Mann schlüpfte in sein Zimmer wie ein Frettchen in den Kaninchenbau. 

Er zum Beispiel“, sagte Hartmann mehr zu sich selbst als zu Melanie. 

Sie schien das Klopfen gehört zu haben. Oder es lag an der weiblichen Intuition. 

„Bekommst du Besuch?“ 

„Besuch würde ich das nicht grade nennen.“ 

Der unscheinbare Mann schloss die Tür hinter sich, blieb davor stehen und musterte Hartmann. Sein dunkelblauer Anzug war nicht sonderlich geschmackvoll, saß aber wie angepasst. In seinem Blick lag die Erwartung, das Telefonat sei mit seiner Ankunft an ein  Ende gelangt. 

„Wer kommt denn um diese Zeit?“, erkundigte sich Melanie mit hintergründigem Misstrauen.

„Das Haar in der Suppe“, gab Hartmann in leiser Giftigkeit zurück.  

„Ach so.“ Es klang ungläubig. Als rechne sie eher mit der Kollegin aus dem Nebenzimmer, die mit dem spontanen Einfall erschien, dass sie jetzt gerne Sex hätte. 

„Kann ich dich morgen früh anrufen? Dann weiß ich, wann ich bei dir bin. Wir sprechen  in Ruhe, okay?“ 

Sie seufzte hingebungsvoll. Es klang anziehend, fast erotisch, und schien dafür gemacht, ihm das Auflegen zu erschweren. Es funktionierte. Wäre er allein im Raum gewesen, hätte er sich mit einem Ich liebe dich verabschiedet. Er hätte ihr gesagt, dass er ihre Träume teilte. Doch tat er das wirklich?

Er legte auf und blickte in die weichen, unscharfen Augen von Kriminaloberrat Müllerthur. Die dunkelbraunen, fast schwarzen Haare saßen derart akkurat, als widme er sich jedem einzelnen. Der Scheitel teilte das Ganze so scharf wie eine Feuerschneise den Wald.  Das süffisante Lächeln des Neuankömmlings nahm seine Stimme vorweg. 

Affektiert. Von oben herab. Unaufrichtig.  

Doch vielleicht lag dieser Eindruck auch an Hartmanns Befangenheit. Seine Abneigung gegen Herwig Müllerthur war uralt und sie hatte ihre Gründe. Umgekehrt war es nicht besser. Allein Hartmanns Rückkehr von der Staatsanwaltschaft zum BKA begriff Müllerthur als persönliche Niederlage. Ein Ereignis, dass er so gut verdaut hatte wie ein Schakal eine  vegane Mahlzeit. Beide Beamte bekleideten den gleichen Dienstgrad, Kriminaloberrat, wobei sich Hartmann für derlei nicht sonderlich interessierte, Müllerthur hingegen sehr.      

„N’Abend, ich störe doch nicht? Sie hatten eine äußerst erfolgreiche Nacht, nicht wahr?“

Hartmann war nicht zum Spielen aufgelegt, was bei Müllerthur ein Problem darstellte. Denn jede Besprechung mit ihm war ein Spiel. Ein Ränkespiel. Möglicherweise war heute etwas anders. Immerhin wusste er bereits, wie Hartmanns Einsatz mit der nordirischen Polizei in Fermanagh verlaufen war. Mit dem Kollegen wehte ein Schwall seines Parfüms in den Raum. Hartmann fühlte sich an den süßlich-verlogenen Gestank einer Orchidee erinnert. Doch vielleicht war er auch dabei ungerecht. 

„Kommt darauf an, wie Sie Erfolg definieren“, wich er aus.   

„Nach dem Gewinn von Erkenntnissen, die unsere Ermittlungen voranbringen.“ 

„Nun, dann eher nicht. Aber ich habe von Anfang an gesagt, dass wir hier eine tote Spur verfolgen. Diese ganze Koblenz-Sache mit einer IRA-Gruppe in Verbindung zu bringen, war  doch ein schlechter Witz.“ 

„In Wiesbaden hat jedenfalls niemand gelacht“, bemerkte Müllerthur, „Wie heißt es so schön? Wir gehen jedem Hinweis nach.“

Ich gehe jedem verfluchten Hinweis nach, berichtigte Hartmann in Gedanken. Was du tust, weiß niemand so genau. 

Müllerthur war der Beamte im Hintergrund, der bei Ermittlungseinsätzen im Ausland obligatorisch war. Er kümmerte sich um den Kontakt mit den Behörden und Netzwerken vor Ort, unternahm Good-Will-Besuche, berichtete nach Wiesbaden, ging mit irgendwelchen Leuten essen und tat allerlei anderes. Bilaterale administrative Angelegenheiten, wie es hieß. Vielleicht war er auch da, um sicherzugehen, dass Hartmann, der nicht unbedingt als Diplomat galt, kein Porzellan zerschlug. Das Bundeskriminalamt verstand sich recht gut mit Scotland Yard und der nordirischen Polizei. In gewissen Grenzen sogar mit dem MI-5. Dabei sollte es nach Möglichkeit bleiben, selbst nach dem bevorstehenden Brexit. Man war auf die Zusammenarbeit angewiesen, denn in der Welt der Sicherheitsbehörden spielten die Deutschen nicht unbedingt in der ersten Liga.

„Waren Sie heute tagsüber noch einmal in Fermanagh? Auf dieser… dieser Farm?“

Hartmann schüttelte leicht den Kopf und trank einen Schluck Whisky, der deutlich besser schmeckte als der erste. Aber so war es bei Whisky immer. Er dachte kurz darüber nach, ob er Müllerthur ein Glas anbieten sollte, vielleicht ließ ihn das verträglicher werden. Doch für irische Verhältnisse war es ein relativ seltener und deswegen teurer Single Malt. Verdammt gutes Zeug eigentlich. Jedenfalls zu gut für Müllerthur. In der Zentrale in Wiesbaden hatte irgendjemand ihm einmal den naheliegenden Spitznamen Müller-Thurgau gegeben, nachdem er sich auf einer amtlichen Weihnachtsfeier mit lieblichem Weißwein betrunken und später auf dem Klo gekotzt hatte. Der kreative Kollege hatte danach einen unerwarteten Karriereknick erlebt. Nach unten. Was immer man auch tat, war es ratsam, den Biss dieses Frettchens nicht zu unterschätzen.    

„Langweile ich Sie?“, fragte Müllerthur jetzt gereizt. „Was ist nun mit der Farm?“ 

„Ich war nicht noch einmal in diesem Cottage, nein. Wie sollte ich das auch machen? Ich bin erst vor zwei Stunden aus der Kaserne in Holywood zurückgekommen, nachdem mich die Geheimdienstleute, die sich als Polizisten ausgaben, den ganzen Tag befragt haben. Man könnte es auch verhört nennen.“  

„Die britischen Kollegen trauen der neuen Zeit wohl noch nicht recht“, mutmaßte sein Kollege. 

„Ja, das Friedensabkommen ist ja auch erst achtzehn Jahre her.“

„Aber brüchig“, bemerkte Müllerthur. „Außerdem sind sie nervös, weil es Anzeichen für eine Vereinigung der noch aktiven Teile der IRA gibt.“ 

„Haben das etwa ihre Nachforschungen ergeben?“, erkundigte sich Hartmann mit gedämpftem Spott, der jedoch an Müllerthur abprallte wie ein Fausthieb an einer Gummimauer. Eines musste er diesem Typ lassen. Obwohl er ein miserabler Ermittler war, verfügte er überall auf der Welt über die nötigen Verbindungen in die Bürokratie, um sich ein paar Informationen zu verschaffen. Wie ein Seemann, der in jedem Hafen sogleich den Weg zum Bordell findet. Erfolgreiches Networking nannte man das wohl.  

„Was glauben Sie, was ich hier mache, Hartmann? Ich bin nicht Dr. Watson. Und auch nicht ihre Nanny. Ist das klar?“

Kurze Stille.

„Nein nein, Dr. Watson sind Sie bestimmt nicht.“ 

 Müllerthur wollte die Augen verdrehen, besann sich aber rechtzeitig und blieb professionell. 

Ein weiterer Schluck. Erstaunlich kräftig für einen Iren. Wie schwelender Torf, in den man ein paar Rosinen wirft. Entfernte Flammen spiegelten sich im Fenster. Große Feuer aus Holzpaletten. Zu späterer Stunde kamen womöglich noch Molotowcocktails hinzu. Doch bisher blieb alles friedlich. Hartmann stand auf und schaltete das Deckenlicht ein. Draußen ließ sich die Dämmerung damit Zeit, einen unruhigen Abend einzuleiten. Irgendwo in der Ferne war ein Tumult zu hören. Feier oder Krawall, vielleicht beides. Auch dem Bürokraten war der Lärm nicht entgangen. 

„Die Oranier können es wieder nicht lassen, die Katholiken daran zu erinnern, dass sie ihnen vor ein paar Hundert Jahren in den Hintern getreten haben. Die Provokation funktioniert jedes Jahr. Aber was soll's, das geht uns nichts an.“ 

Da hatte das Frettchen ausnahmsweise recht. 

„Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, dass wir natürlich jede Möglichkeit in Betracht ziehen.“

„Auch die, uns geirrt zu haben?“

„Ich habe Ihren Bericht überflogen, bevor ich ihn nach Wiesbaden weitergeleitet habe. Eine Frage bleibt doch: Warum verlangte O’Ferghail ausgerechnet nach Ihnen?“

Es klang, als sei es ihm vollkommen unverständlich, wie sich jemand freiwillig bereit erklären konnte, mit Robert Hartmann zu sprechen. „Warum ein deutscher Ermittler, wenn es keine Verbindung nach Koblenz gibt?“ 

Hartmann musste zugeben, dass dies der treffende Punkt war. 

„O’Ferghail wird sie uns nicht mehr beantworten.“ 

„Gut gemacht. Bei Ihnen läuft es ja wirklich mordsmäßig. Wieder einmal hinterlassen Sie nur Leichen.“ Selbst für Müllerthurs Verhältnisse klang es gehässig und war wohl auch so gemeint. Beide sahen sich boshaft-versonnen an. Als stellten sie sich vor, das Gesicht des Gegenübers in einer Fritteuse bei mäßiger Temperatur köcheln zu sehen.   

„Wenigstens hinterlasse ich etwas.“ 

Außer Aktenvermerken und Intrigen, fügte er innerlich hinzu. 

„Die Polizei hat mich gebeten, bis morgen früh zur Verfügung zu stehen, falls sie noch Fragen haben. Danach fliege ich zurück. Und Sie?“   

Das Frettchen schüttelte den Kopf.

„Nein, ich bleibe noch. Einer muss ja die Scheiße hinter Ihnen wegräumen. Vielleicht sind wir wieder einmal auf die Gastfreundschaft im Königreich angewiesen. Es wird in Zukunft nicht einfacher werden mit den Briten. Da sollte man rechtzeitig noch ein bisschen Honig verteilen.“

„Genau Ihr Job“, dachte Hartmann und stellte fest, dass er es auch sagte.

„Was, die Scheiße oder der Honig?“

„Die Mischung daraus.“ 



Nach einem großartigen, herzinfarktfördernden nordirischen Frühstück aus kräftigem  Kaffee, Rührei, Speck, kleinen, fettigen Würstchen und labberigem Toast checkte Hartmann aus und verließ das Crowns Inn. Während er der Shankill Road Richtung Northumberland Street folgte, hielt er Ausschau nach einem Taxi, fand aber zunächst nur die Spuren der vorherigen Nacht. Hauptsächlich Scherben und Müll. Früher wären es vielleicht Blut und Patronenhülsen gewesen. Für Belfast also sicher ein Fortschritt. 

Tatsächlich erbarmte sich ein Taxi, kurz bevor er das historische Büchereigebäude an der Ecke Shankill und Carlow Street erreichte. Der Fahrer war ein Sikh mit prächtigem, senffarbenen Turban. Von der schweigsamen Sorte, was Hartmann keineswegs störte. 

Er lenkte den Wagen westlich aus der Innenstadt. Sie passierten abblätternde Wandmalereien der ehemaligen Kriegsparteien. No Surrender. We will never forget. In dieser Art.  

Fünfunddreißig Minuten später stieg der Ermittler im Nieselregen am Haupteingang des Aldergrove International Airport aus. Ein Bau, der in den frühen sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts wahrscheinlich einmal modern, aber nicht schön gewesen war. 

9.25 Uhr. Früher als geplant. Daher flanierte Hartmann an den Geschäften der üblichen  Luxusmarken vorbei und kaufte, zur Hälfte, um Melanie eine Freude zu machen, zur anderen Hälfte aus Langeweile, eine Handtasche von Gucci für sie. Das Aussehen war Geschmacksache. Der Preis nicht. Als er sie vor dem Laden noch einmal aus der Tüte hervorholte, fiel ihm ein, Melanie bisher noch nie mit etwas Ähnlichem gesehen zu haben. Vielleicht war es nicht ihr Stil. Grübelnd checkte er ein. Höchstwahrscheinlich würde sie das Ding nur als weiteren Beweis dafür ansehen, wie wenig sie sich eigentlich kannten. Die Gewissheit stieg, eine Fehlinvestition getätigt zu haben.  

Auf diesen Schreck kaufte er im Duty-Free-Shop im Wartebereich einen 18jährigen Glenmorangie Single Malt in einer praktischen Literflasche, wie man sie stets im zollfreien Bereich findet. Er überlegte, den möglichen Taschen-Fauxpas mit einem Parfüm wieder auszugleichen. Doch sollte er jetzt noch den falschen Duft wählen, machte das die Sache nicht unbedingt besser. Also kein Parfüm. An der Kasse wurde die Flasche aus Schottland  luftdicht in eine Plastiktüte eingeschweißt, als enthalte sie nicht Whisky, sondern Sarin-Gas, das währende des Fluges zu entweichen drohe. Eine jener hemdsärmeiligen Sicherheitsvorkehrungen, mit denen man den Fluggästen eine Illusion von Sicherheit vorzugaukeln suchte. 

Er ließ sich in einer bescheidenen Lounge im Sicherheitsbereich nieder und bestellte Cappuccino. Missmutig hatte er beim Blick auf den Flugschein registriert, dass die Zeiten der Business-Class für Mitarbeiter seiner Besoldungsstufe offenbar der Vergangenheit angehörten.  Vielleicht lag es auch nur an einem geizigen Sachbearbeiter in der Buchhaltung. Oder das Frettchen hatte interveniert. 

Bis zum Boarding des Fluges LH 312 nach Köln-Bonn war ausreichend Zeit, in Lahnstein anzurufen. Immerhin hatte er sich beim letzten Gespräch nicht einmal richtig von Melanie verabschieden können. Doch das Wichtigste war, dass er in wenigen Stunden bei ihr sein würde. Vielleicht kein Ersatz für die letzten Monate, aber ein Anfang. Er zog das private Handy aus der Seitentasche seines grauen Jackets, als aus der Innentasche ein dezentes Signal ertönte. Das Diensthandy. Besonders codiert und weitgehend abhörsicher. Zumindest, wenn es nicht grad die NSA oder der britische GCHQ versuchte. 

Wiesbaden. Das Amt. Leitender Kriminaldirektor Quenting. 

Chef der Abteilung SO, die für schwere und organisierte Kriminalität zuständig war.   

Er hatte sich den Fall des Uranschmuggels an Land gezogen, da er wegen internationaler  Verwicklungen prestigeträchtig wirkte. Ein Erfolg konnte seinen Ambitionen auf einen Vizepräsidentenposten im BKA durchaus dienlich sein. Jedoch nur, wenn niemand Mist baute. Arthur Quenting war Hartmanns aktueller Vorgesetzter. Sie kannten sich von früher. Bevor Hartmann zur Berliner Staatsanwaltschaft gewechselt war. Ein neutrales Arbeitsverhältnis ohne besondere Höhen und Tiefen. Sie waren bisher nie in die Verlegenheit gekommen, Freunde oder Feinde zu werden. Quenting war ganz verträglich, sofern seine Autorität nicht in Frage gestellt wurde und man auf seine Eitelkeiten Rücksicht nahm.  

Hartmann meldete sich.     

„Danke für den Bericht. Ich habe ihn gelesen. Die IRA, ist das Ihr Ernst? Ich dachte, die hätten sich aufgelöst wie diese Band.“

Hartmann verbarg sein Erstaunen darüber, dass sich sein Chef mit Musik auskannte. 

„Die Cranberries?“ 

„Hm“

Quenting schien eine vorauseilende Rechtfertigung für das Geschriebene zu erwarten. Doch der Ermittler schwieg.

„Der Stabschef der IRA ist also tot. Kein Kontaktmann, keine Informationen.“

Es klang dumpf und vorwurfsvoll. Als habe Hartmann ihn persönlich hingerichtet. 

„O’Ferghail gehörte zur Real-IRA. Eine kleine, aber sehr aktive Splittergruppe“, präzisierte Hartmann. 

„Sehr bedauerlich, dass wir diese Gelegenheit verpasst haben. Ich frage mich nur, was er von Ihnen wollte. Merkwürdige Sache, das Ganze. Ist ihm wohl nicht gut bekommen, mit Ihnen sprechen zu wollen.“

„Nein, ist es nicht. Ich habe das im Bericht nicht im Einzelnen ausgeführt. Aber  irgendwer hat ihn gefoltert, seine Daumen abgetrennt, ihn anschließend gekreuzigt und…“

„Schon gut, schon gut, das reicht mir“, unterbrach Quenting.

„Ich war noch gar nicht fertig.“ 

„Man könnte also sagen, außer Spesen nichts gewesen in Belfast.“ 

Wahrscheinlich hatte Müllerthur ihn schon angerufen, den gesamten Einsatz in denkbar schlechtem Licht dastehen lassen und Hartmann geschickt die Schuld zugeschoben. 

„Das könnte man sagen, aber es war auch nicht meine Idee. Nur weil dieser Informant im Kraftwerk damals die IRA erwähnte…“  

Quenting ignorierte ihn. Er verfolgte offenbar einen ganz anderen Gedanken. 

„Wenn da nicht ein Detail wäre, das mich neugierig macht. Seite sechs Ihres Berichts, ganz unten. Deswegen rufe ich an.“

Hartmann hatte das Dokument vor Augen. In wichtigen Dingen glich sein Gehirn nach wie vor einem Prozessor, sein Gedächtnis dem Arbeitsspeicher. Unwichtiges vergaß er dagegen schneller als noch vor ein paar Jahren. Als bündele sein Inneres vorsichtshalber schon einmal die langsam knapper werdenden Ressourcen eines 45jährigen. 

„Dieses eingeritzte Wort. Wiedergeburt“, las er bedeutungsschwer vor. „Können wir damit etwas anfangen?“ 

Quenting sagte zwar wir, meinte jedoch, ob Hartmann etwas wüsste, was er später als sein eigenes Ergebnis ausgeben konnte. 

„Ich zumindest nicht.“ 

Der Leitende Kriminaldirektor gab ein enttäuschtes „Hm“ von sich. Doch darin lag noch etwas anderes. Er ging nicht ohne triftigen Grund darauf ein.  

„Ich weiß, dass es sich eigentlich nicht um eine Angelegenheit für einen unserer  Zielfahnder handelt, aber hören Sie mir erst einmal zu.“ Er holte Luft. „Es hat ein gutes Stück außerhalb Berlins, einen… einen Vorfall gegeben. Dabei ist dieser Begriff ebenfalls aufgetaucht. 

„Außerhalb?“ 

„Bei Wünsdorf, wenn Ihnen das etwas sagt. Südlich von Berlin. Brandenburg eben.“ 

Die Betonung ließ deutlich werden, dass er diese Frage als nebensächlich erachtete. 

„Ein Vorfall? Meinen Sie ein Verbrechen?“ 

„Das wissen wir nicht. Aber es gibt zwei oder drei Leichen.“ 

„Zwei oder drei?“ 

„Das wissen wir noch nicht.“ 

Hartmann stellte sich die Frage, wie es möglich war, das nicht zu wissen. Quenting schien es zu ahnen.

„So genau hat sich die Brandenburger Landespolizei dazu bisher nicht geäußert. Allerdings habe ich auch darum gebeten, den Tatort nicht zu kontaminieren und nichts zu verändern. Außerdem wurde das ganze Gebiet für die Öffentlichkeit gesperrt.“ 

„Wegen welchem Delikt ermitteln wir?“ 

„Nun… Das wissen wir nicht“, wiederholte sich der hohe Beamte in Wiesbaden geduldig  wie eine tibetanische Gebetsmühle. Hartmann verstand nichts. Oder noch weniger. Zudem war er sich unsicher, ob es in seinem Interesse lag, diesen Zustand zu ändern. 

„Und die Zuständigkeit?“, fragte er daher, um überhaupt etwas zu sagen.  

„Wir. Das BKA.“

„Warum?“

Eine weitere Tasse Cappuccino wurde vor Hartmann abgestellt. Er nickte der Kellnerin freundlich zu, die so keltisch aussah, als habe das Tourismusministerium sie platziert. 

Schlank, Rothaarig, heller Teint, Sommersprossen. Typisch irisch, wie es Detective Inspector McCulloch ausdrückte.  

In Wiesbaden schnaufte Quenting. Vielleicht stellte Hartmann die falschen Fragen.  

„Ganz einfach“, antwortete er gereizt. „Wir sind als Bundesbehörde zuständig, weil das Gelände, auf dem der mögliche Tatort liegt, dem Bund gehört. Ehemaliges Militärgelände der Sowjetischen Streitkräfte. Dem Land Brandenburg war die Beseitigung der Altlasten zu teuer, also blieb es beim Bund.“  

„Aha“, entgegnete Hartmann in einer Tonlage, die keine Zweifel mehr daran ließ, dass er nicht mehr wissen wollte. Zumindest nicht jetzt. Seine Gedanken waren schon in Lahnstein,  bei Melanie. Eine prickelnde Mischung aus Vorfreude, Aufregung und Befürchtungen. 

Doch Quenting war keineswegs fertig mit ihm. Wirklich schlechte Nachrichten hob er sich zumeist bis zum Schluss auf. So auch heute. 

„Alles andere besprechen wir persönlich. Kurzes Meeting morgen um 13 Uhr in Berlin. Ich komme persönlich. Bin sowieso in der Stadt, wegen dieser Antiterror-Tagung. Anschließend werden Sie da rausfahren. Es gibt nämlich Probleme.“

Es klang so beiläufig, dass Hartmann hoffte, sich verhört zu haben. 

„Sie meinen hoffentlich in einer Woche. Ich habe Ausgleichstage und Urlaub. Sie haben schon unterschrieben.“ 

Sein Vorgesetzter versuchte es erst gar nicht mit einer Beschönigung.

„Verschieben Sie das. Geht nicht anders.“ 

„Wie soll ich mein Privatleben verschieben?“ protestierte er und fügte etwas selbstmitleidig an: „Oder das, was davon übrig ist.“ 

Es war sonnenklar, dass er damit bei Quenting auf Granit biss. In solchen Belangen zeigte sein Vorgesetzter das Mitgefühl einer Würgeschlange, der nach einer Woche Fasten eine Maus vorgesetzt wird. 

„Kommen Sie mir jetzt nicht so. Sie haben ja wohl keinen Flug auf die Bahamas gebucht, oder?“ 

„Neuseeland. Es gibt keine Rückerstattung.“ 

In Wiesbaden wurde nicht geschmunzelt. Noch nicht einmal aus Höflichkeit. 

„Also, bis morgen, dreizehnhundert.“

„Verdammt nochmal, ich sitze hier im Boardingbereich. Mein Flug nach Köln-Bonn wird in ein paar Minuten aufgerufen.“

„Sehr gut, dann war ich ja noch rechtzeitig. Buchen Sie um.“ 

Abgeprallt, dachte Hartmann. Wie ein Ball von einer Mauer. 

„Ich habe Termine.“ Irgendwie hörte sich sein Protest immer halbherziger an. So erbärmlich, dass selbst Quenting glaubte, sich den Anflug einer Freundlichkeit leisten zu können.

„Ich mache es wieder gut. Irgendwann. Nehmen Sie Business oder First Class, von mir aus. Sie müssen es ja nicht bezahlen.“

„Vielen Dank. Ich hatte auch nicht vor, meine Bonusmeilen für Sie zu opfern.“ 

Der Ermittler rührte ziellos in der Tasse herum. Es hatte keinen Sinn, sich Illusionen hinzugeben. Die Beziehung mit Melanie würde diesen erneuten Schlag nicht verkraften. Der Milchschaum fiel in sich zusammen. Wie sein Privatleben. Darin lag keine große Dramatik, denn es war kein theatralischer Einsturz. Es löste sich einfach sang- und klanglos auf. Als sei es nie da gewesen. Der Schmerz, das Bedauern und die Einsamkeit würden dieser Erkenntnis erst später folgen. Wie eine Viper, die sich in der Fährte einer Blindschleiche nähert. All das würde ihn einholen. Wenn es zu spät war. Wenn er in irgendeinem Land, das die meisten nicht einmal auf der Landkarte fanden, in einem anonymen Hotelzimmer saß.  

Natürlich, er könnte sich weigern. Sich eine Ausrede einfallen lassen. Doch wie glaubwürdig war das jetzt noch? Stattdessen sagte er etwas anderes. Es fühlte sich an, als spreche ein Medium für ihn. Irgendein Teil seines Selbst, den er dafür hasste, hatte sich tatsächlich bereits des neuen Falls angenommen. 

„Ich weiß zwar nicht, um was es eigentlich geht, aber gibt es Verdächtige? Festnahmen? Jemanden, den wir vernehmen können?“ 

„Die Antwort in der Reihenfolge ihrer Fragen lautet ja, nein und vielleicht.“ 

„Äh, was?“ 

„Wölfe, Hartmann. Wölfe. Alles weitere dann morgen. Guten Flug.“  


Mechanisch rief er bei Melanie an. Freizeichen. Beschleunigter Herzschlag. Mehr Freizeichen und schließlich die Mailbox. In holzigen Worten schilderte er, warum er nicht wie geplant am Abend bei ihr sein würde und dass er keine Wahl gehabt hatte. Dass es ihm sehr leid täte und er sich schnellstmöglich aus Berlin melden würde. 

Keine Wahl. Hatte er wirklich keine Wahl gehabt?  Er fühlte sich schlecht. Schlecht und schuldig. Doch so sehr er es auch ignorierte, war da noch etwas anderes. Etwas, dass man  Jagdfieber nennen konnte.

Wölfe, Hartmann. Wölfe. 

Quentings Worte wälzten sich durch sein Gehirn wie giftiger Brei.

Seite Sechs ihres Berichts. Wiedergeburt. 

Ein Zufall? 

Nur in Einem war er sich vollkommen sicher: Da war noch mehr. Etwas, das Quenting ihm verschwieg. 

Das Spiel hatte begonnen. 

  


  

IV



Die Falle




Landstraße 74, nahe Wünsdorf 


Goldene Strahlen fielen durch die Baumstämme wie Tropfen warmen Honigs. Über den blauen Brandenburger Himmel zogen vereinzelte Stratuswolken. Harmlose, versprengte Schafe ohne böse Absichten. Das Sonnenlicht harmonierte mit den gelb und rot verfärbten Blättern. Ein Licht, das es zu keiner anderen Jahreszeit gab. Wer den goldenen Herbst für eine Illusion hielt, wurde an diesem Tag eines Besseren belehrt. 


Julia Singer hielt vor der behelfsmäßigen Straßensperre, ließ den Hund hinausspringen  und stapfte auf die Polizisten zu. Zwei Beamte, die sich vor einem quergestellten, weiß-blauen Polizei-Transporter unterhielten. Sie trugen Schutzwesten und Maschinenpistolen, was ein wenig übertrieben wirkte. Trockene Blätter wehten über den Asphalt, es hatte seit Tagen nicht geregnet. Die beiden schauten pflichtgemäß skeptisch. Sie erhob eine Hand zum lockeren Gruß. 

„Tut mir leid“, sagte einer der beiden, ein sportlicher Kerl um die dreißig, „Vorerst ist diese Straße für den öffentlichen Verkehr gesperrt.“ 

„Ich weiß, ich kenne den Grund. Ich habe die Leichen gefunden. Aber ich bin nicht der öffentliche Verkehr. Mein Name ist Julia Singer.“

Die Polizisten schauten sich kurz an. Offenbar hatte man sie nicht über Einzelheiten unterrichtet. 

„Singer?“, fragte der zweite. Er war ungefähr fünfzehn Jahre älter und sicher bei einigen Beförderungsrunden übergangen worden. Sie zog die Augenbrauen in die Höhe, ohne dabei genervt auszusehen. 

„Ja, Singer. Die zuständige Forstbeamtin.“ 

„Soweit ich weiß, geht es um die Wölfe“, warf der Jüngere ein. Er hatte eindeutig den wacheren Blick von beiden.  

„Es sieht so aus, aber genau wissen wir das noch nicht.“ 

„Okay, sie können durch, aber halten sie sich vom Fundort der Leichen fern. Ist alles markiert. Ein Kollege ist da und passt auf. Sie könnten sonst Spuren zerstören. Und das fänden die Leute vom BKA sicher nicht lustig. Den Ärger bekommen dann wir.“

„Das Bundeskriminalamt ist hier?“

Er zuckte die Achseln.

„Noch nicht, aber angeblich sind die schon auf dem Weg. Wollen wohl Spezialisten schicken.“ 

„Spezialisten für was?“

Seine Mundwinkel zogen sich abwärts, um zu verdeutlichen, dass er nicht mehr wusste und ihm das wenige schon fast zu viel war. 

„Keine Ahnung.“ Er zeigte auf den Wald. „Eben für die kranke Scheiße, die hier passiert ist.“ 

„Keine Sorge. Ich halte mich vom Fundort fern. Nochmal muss ich das nicht sehen.“ 

Der junge Polizeihauptmeister besann sich auf seine Pflicht und tippte auf die MP 5. Die Geste wirkte nicht, als sei er sonderlich vertraut mit der Waffe und vermittelte deswegen keine große Sicherheit. 

„Soll einer von uns mitkommen? Nur zu Ihrem Schutz, meine ich. Wegen dieser Viecher.“ 

 Sie schüttelte den Kopf und lächelte so warm wie die Herbstsonne.

„Vielen Dank, das weiß ich zu schätzen. Aber ich kenne mich hier aus.“ Sie tätschelte Cheetah mit der einen Hand den Kopf und legte die zweite dorthin, wo unter dem grünen Parka die Smith & Wesson saß. 

„Wir können ganz gut auf uns aufpassen.“ 

Der jüngere Beamte erwiderte ihr Lächeln.  

„Da bin ich mir sicher. Wenn es Probleme gibt, rufen Sie an. Sie haben doch ein Handy dabei, für den Notfall?“ 

Er reichte ihr eine Visitenkarte. Sie fragte sich, ob es sich um eine gut kaschierte Anmache handelte. Doch seine Sorge wirkte echt. Ohne hinzusehen, steckte sie die Karte ein. 

„Danke. Also dann.“

Singer wandte sich ab, grad noch rechtzeitig um den Anflug von Grinsen auf dem Gesicht des Älteren wahrzunehmen, der dem Gespräch schweigend gefolgt war. Ein Grinsen, das etwas heraufbeschwor. Nachdem sie einige Schritte gegangen war, trug der Wind die Worte „kleine Wildkatze“ zu ihr. Es ließ sie fast taumeln. Worte, die eine Vergangenheit erweckten, die besser begraben blieb. Die jetzt in ihrem Kopf dröhnte wie eine höhnische Abrissbirne. 

Kleine Wildkatze… Komm, spiel mit uns… 

Jeder Muskel in ihrem Körper spannte sich an. Sie spürte das kleine Kampfmesser, das an ihrer Wade darauf wartete, dass sie es brauchte. Dass zwölf Zentimeter rasiermesserscharfer Stahl den Nachteil ausglichen, den eine Frau gegen einen Mann üblicherweise besaß. Sie widerstand der Versuchung, sich umzudrehen, kämpfte den Reflex nieder, dem Mann die Klinge an den Hals zu halten, bis der Wellenschliff ein winziges Stück in die Haut eindrang. Nur soweit, dass es ein wenig blutete. Weit genug, damit eine kleine Narbe zurückblieb, die ihn fortan davon abhielt, sie jemals wieder so zu nennen. 

Sie tat nichts davon. Stattdessen atmete sie tief durch. Es war nur einer dieser Typen, die es nicht besser wussten. Er wollte nichts Böses. 


Sie liebte den Wald. Ein Ort der ihr Schutz bot, an dem sie frei war. Eins mit der Natur. Die liebliche Einsamkeit, die anderen beängstigend erschien, fühlte sich für Julia Singer an, wie ein wärmender Mantel. Doch jetzt war es, als hätte sich etwas verändert. Licht und Wärme konnten nicht verhindern, dass es ein anderer Wald geworden war. Ein Ort, der etwas verbarg. Der sein dunkles Geheimnis nicht teilte. Nicht mit ihr. Mit niemandem. Noch nicht. Die Bilder aus der alten Fabrik stiegen vor ihr empor. Tote Körper. Furchtbar zugerichtet. Zurückgelassen, wie es Raubtiere mit den Resten ihrer Beute taten. Bevor die Aasfresser ihren Teil einforderten. Ein Gedanke trieb sie um, der sich so deplatziert anfühlte, dass sie sich augenblicklich dafür schämte. 

Die Wölfe. 

Was immer hier geschehen war, leitete Wasser auf die Mühlen aller Gegner dieser Tiere. Leute die darauf beharrten, dass ein solches Raubtier nicht mehr ins Land passe. Falls sich bestätigte, wonach es aussah, konnte sie diesem Argument kaum etwas entgegensetzen. 

Ein Wolfsrudel, das Spaziergänger zerfleischte… Ein Alptraum. 


Genauso sah es auch das Brandenburger Innenministerium. Ein Beamter hatte sich telefonisch bei ihr gemeldet. Den Namen hatte sie vergessen. Seine Stimme war ihr nicht sonderlich sympathisch gewesen. Doch was er sagte, war zweifellos die Wahrheit. Sofern diese Menschen Opfer eines Wolfsangriffs waren, und dies an die Öffentlichkeit gelangte, waren die Tage dieser Spezies in Deutschland gezählt. Vielleicht für immer. 

Sicher, die Polizei würde ermitteln. Doch deren Priorität waren tote Menschen. Nicht lebende Tiere. Das war ihr Job. Aus diesem Grund war sie ins Naturschutzgebiet zurückgekehrt, das jetzt wieder ein Sperrgebiet war. Sie war keine Polizistin, doch niemand kannte die Gegend und die Wölfe besser. Vielleicht war es vertane Zeit. Doch sie konnte nicht so tun, als sei nichts geschehen. Aus ihrer Sicht gab es nur zwei mögliche Ansätze. Entweder die Wölfe waren es nicht gewesen oder es musste einen Grund für ihr Verhalten geben. Außer den Polizisten war sie die Einzige, die sich hier frei bewegen konnte. Diese Chance würde sie nutzen. Auch wenn sie noch nicht einmal wusste, wonach sie suchte.

Anfangs hoffte sie noch, die verwirrte Frau, die sie zu den menschlichen Überresten geführt hatte, könne etwas Nützliches beitragen. Doch letztendlich hatte auch die Polizei in Zossen nicht viel mehr tun können, als sie in die Einrichtung zurückzubringen, in der sie betreut wurde. Von dem merkwürdigen Spaziergang abgesehen, lag nichts gegen sie vor. Es war keine Straftat nachts durch den Wald zu laufen. 


Singer lenkte ihre Schritte von der gesperrten Landstraße in einen Forstweg. Zum Fundort waren es etwa drei bis vier Kilometer. Doch dorthin wollte sie gar nicht. Ihr Ziel waren die Wanderrouten und Lagerplätze des Wolfsrudels. Ein Specht schlug unablässig seinen Schnabel in den Stamm einer Kiefer. Das Weibchen begutachtete die Arbeiten ungeduldig von einem Ast. Die Zeit drängte. Es war Herbst und das neue Heim musste vor dem Winter bezugsfertig sein. 

Singer ließ die Hündin von der Leine, gab ihr jedoch den Befehl, sich nicht zu entfernen. Ein Tag wie eine melancholische Erinnerung an den Sommer. Ein Pärchen von Zitronenfaltern vermittelte die Illusion, es sei noch Zeit für Unbeschwertheit. Es war einer jener Herbsttage, denen schon deshalb eine süße Tragik innewohnte, da sie einem die Bedeutung des Wortes Vergänglichkeit nahebrachten. 

Letzte Tautropfen hingen an den Grashalmen. Vom Waldboden stieg würziger Geruch von Tannennadeln und feuchtem Laub auf, das in der Sonne trocknete. Ohne die Absperrung wäre Singer wahrscheinlich Spaziergängern begegnet, die ihren Hund ausführten oder einfach die Natur genossen. 

Da sich Wildtiere selten für Forstwege interessierten, verließ Singer nach einigen Minuten  den Pfad und trat neben einer skurril gewachsenen Eiche ins Unterholz. In Kopfhöhe teilte sich der Stamm, als sei er von einer gigantischen Axt gespalten worden. Wahrscheinlich hatte vor langer Zeit ein Blitz dieses markante Gebilde geschaffen. Für Singer erfüllte er die Funktion eines Wegweisers. Etwa fünfzig Meter dahinter begann ein Weg, der keiner war. Für Außenstehende unsichtbar. Nur Singer kannte die Route, die die Wölfe immer wieder nutzten. Vor einiger Zeit hatte sie vorgehabt, Wildkameras in der Umgebung anzubringen, um die Bewegungen des Rudels besser dokumentieren zu können. Doch im Ministerium lag das Projekt auf Eis. Aus finanziellen Gründen.

Deswegen war sie immer wieder selbst hierher gekommen, meist in der Dämmerung. Wölfe waren scheu, sie legten es keineswegs auf Begegnungen mit Menschen an. Alles andere war eine lang gepflegte Legende und die übliche Angst der Menschen vor Allem, was sich ihrer Kontrolle entzog. 

Während der Beobachtungen waren ihr einzigartige Eindrücke zuteil geworden. Zu dieser Tageszeit würde sie hingegen keines der Tiere zu Gesicht bekommen. Doch nach allem, was sie in der letzten Nacht gesehen hatte, gab es dagegen auch nichts einzuwenden. Die Bilder der schrecklich zugerichteten Leichen tauchten vor ihr auf. Trotz der Sonnenstrahlen fühlte sie eine Gänsehaut auf ihren Armen.

Cheetah zeigte an, dass sie eine Fährte entdeckt hatte. Nervös schnupperte sie am Boden.

Singer folgte ihr, bis sie eine Lichtung erreichten. Am Rand lag ein Schutthaufen. Was immer hier einmal gewesen war. Viel war davon nicht übrig geblieben. 

An diesem Ort versammelte sich das Rudel oftmals nach der Jagd. Manchmal blieben Überreste der Beute zurück, über die sich dann Aasfresser hermachten. An diesem Morgen deutete nichts darauf hin, dass die Raubtiere hier gewesen waren. Doch das täuschte offenbar. Cheetah musste sich beherrschen, um in der Nähe zu bleiben. Sie witterte frische Spuren, die in den Wald führten. Es blieb Singer nichts übrig, als sich auf die Vierbeinerin zu verlassen. Dort, wo zwischen den Kiefern das Gras endete, erkannte sie die Abdrücke großer Pfoten im Sand. Ungeübte Augen hätten sie großen Hunden zuordnen können. Doch als Försterin wusste sie es besser. Keine Frage, das Rudel war hier gewesen. Cheetah schnupperte an den Markierungen der Rüden. Doch auch hier schienen sich die Tiere nur kurz aufgehalten zu haben, bevor sie irgendetwas tiefer in den Wald getrieben hatte. 

Cheetah hatte eine gute Erziehung genossen. Singer selbst trainierte die Hündin, seit sie ein Welpe gewesen war. Sie hatte die Arbeitsprüfung für Jagdhunde mit Auszeichnung bestanden und gehorchte ihr aufs Wort - zumindest bis zu diesem Tag. Etwas überforderte ihre Sinne. In dem Moment, in dem Singer es bemerkte, war es zu spät. Die Hündin rannte los in einer Geschwindigkeit, die es sinnlos machte, ihr hinterherzulaufen. Singer schrie ein paar Kommandos hinterher, wusste aber, dass es nichts brachte. Alte Instinkte hatten die Kontrolle übernommen. Zwischen Ärger, Erstaunen und Sorge schwankend, lief Singer hinterher. Anfangs glaubte sie noch, hin und wieder ein entferntes Bellen zu hören. Vielleicht Einbildung. Der Wald wurde dichter. Gelegentlich rief sie nach Cheetah, ohne eine Reaktion zu erhalten. Sie wusste, dass es normalerweise besser war, dort zu warten, wo der Hund losgelaufen war. Doch wäre die Welt noch normal gewesen, hätte sich der Hund  überhaupt nicht über ihren Befehl hinweggesetzt. 

Das Gelände wurde unwegsamer. Sie blieb an dornigen Zweigen hängen und fluchte. Wütend auf seinen Hund zu sein, war etwa so nützlich, als sei man wütend auf den Regen. Tiere verfolgten keine bösen Absichten und was sie taten, hatte einen Grund. Auch wenn sie ihn noch nicht verstand. Andererseits gab es auch ohne Cheetahs plötzlichen Freiheitsdrang schon genug Probleme. 

Immer dichtere Sträucher stellten sich ihr in den Weg. Weiter würde sie der Ausreißerin nicht folgen können. Zumindest nicht, ohne sich zuerst die Kleidung und anschließend die Haut zu zerreißen. Sie blieb stehen und rief erneut: „Cheetah, hierher!“ Inzwischen heiser, schallte ihre Stimme durch den Wald. Kein entferntes Bellen mehr. Nichts. Das sah ihrer Hündin nicht ähnlich. Sie spürte, wie die Angst durch ihren Körper kroch. 

Singer stand inmitten von Gestrüpp. Stachelige Gewächse, die sich durch ihre Jeans bohrten. Manche reichten ihr bis an die Oberschenkel, andere über die Hüfte. Heimtückische Lianen, die sich wie dünne grüne Finger um sie schlangen, sie festhielten. Komm schon, kleine Wildkatze. Beklemmung erfasste sie, ließ sie zittern. Sie musste raus hier, nur weg. Ruhig bleiben. Panik macht alles nur schlimmer. Verdammt, Cheetah. Wo bist du? 

Vor ihr dehnte sich ein Dschungel aus Zweigen und Blättern. Sie ging in die Knie. Aus dieser Perspektive bildeten die Sträucher ein regelrechtes Labyrinth. Doch es gab einen Weg hindurch. Sie stützte sich mit Händen und Knien in den sandigen Boden und kroch vorwärts. 

Und dann sah sie, wohin Cheetah gelaufen war. 

Die wuchernden Büsche verdeckten eine schmale Treppe, die etwa zwei Meter vor ihr begann. Sie führte unter die Erde. Singer kroch weiter vorwärts, um besser sehen zu können. Das Blätterdach über ihr schloss sich. Sie schob Zweige zur Seite. Ihre Hand rutschte über matschigen Grund. Verwesung stieg ihr in die Nase. Fäulnisgestank, den die Beeren eines Kreuzdornbuschs absonderten. Sie wischte den übelriechenden Nektar an der Hose ab. Das Grün war hier nicht mehr so dicht wie zuvor. Sie erhob sich und erreichte die Stufen. Der Hinweis auf den Warnschildern kam ihr in den Sinn:  

Unterirdische Anlagen und verlassene Gebäude, von denen erhebliche Gefahren für Leib und Leben ausgehen… 

Nichts zog sie dorthin. Doch es war sehr wahrscheinlich, dass Cheetah dort unten war. Ansonsten wäre sie längst zurückgekehrt. Glitschige Stufen, überzogen von Schimmel und Moosflechten. An ihrem Ende eine Öffnung, die für Zwerge gebaut worden sein musste. Eine  Tür gab es nicht und womöglich hatte es die auch nie gegeben. Es fühlte sich an, als krabbele ein Käfer in den aufgerissenen Mund einer Leiche. Sie ärgerte sich, keine Taschenlampe mitgenommen zu haben Doch wer rechnete am helllichten Tag schon damit, die zu brauchen? Der Gedanke drängte sich ihr auf, fortan mit Allem rechnen zu müssen. Sie fummelte an ihrem Handy herum, um wenigstens etwas Licht zu haben.  

„Cheetah! Cheetah, hierher!“   

 Modriger Geruch wie in einer Gruft. Pilzflechten an den Wänden. Feuchtigkeit. 

Wozu hatte dieser Stollen gedient und wie lang war er? 

„Cheetah!“ Es hallte. 

Dann ein forsches Bellen, nicht allzu weit entfernt. Aufregung und Erleichterung durchfluteten sie. Gebückt tastete sie sich weiter vorwärts. 

Ein unerwarteter Geruch mischte sich in die Mischung aus Erde und feuchtem Stein. Eine Note, die Singer erst jetzt, Cheetah aber schon aus weiter Entfernung wahrnahm. Sie konnte es nicht einordnen. Es war weder der Geruch eines Tieres oder einer Pflanze noch - Gott sei Dank - der einer Leiche. Dennoch stieg ihr Fleischgeruch in die Nase. Egal, erst den Hund finden. Weiter vorwärts. Die winzige Lampe am Handy erhellte einen engen Schacht, der Singer an das Innere einer ägyptischen Pyramide erinnerte. Gänge, die Forscher zur Sicherheit mit Robotern erkundeten, um nicht in uralte Fallen zu geraten. 

Dann, ganz plötzlich, stand Cheetah vor ihr. Sie wedelte mit der Rute und sah sie mit unschuldiger Freude an. Ein Bestrafung war nicht angebracht. Der Hund ordnete sie sonst nicht dem Weglaufen, sondern der Begegnung zu und verlor das Vertrauen. Stattdessen tätschelte sie Cheetahs Kopf. 

„Komm mit, du Ausreißerin.“

Das Licht des Handys fiel auf den Boden. Singer erkannte graue Krümel und kleine  Brocken. Fleischreste. Cheetah hatte sie nicht angerührt. Wenigstens dieser Aspekt ihrer Erziehung funktionierte. Im gleichen Augenblick verstand Julia Singer, warum das Wolfsrudel am letzten Abend ihre Köder verschmäht hatte. Sie sah sich um. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie und Cheetah in tödlicher Gefahr schwebten.  

Sie mussten heraus aus diesem Schacht. Sofort. 

V 



Flashback




Robert Hartmanns Wohnung, Berlin-Zehlendorf


Er schob gähnend die Gardinen zur Seite. Ein zweites Paar davon schien jedoch hartnäckig vor seinen Augen zu verharren. Sonnenstrahlen durchfluteten von der Terrasse her das Wohnzimmer. Das beste Wetter, das ein Tag im Oktober bieten konnte. Schon wieder. Hartmann trat nach draußen in den kleinen Garten, der zu seiner Wohnung gehörte. Er pflegte ihn genau so viel, dass er nicht verwilderte. Nicht mehr, nicht weniger. Dies war eine Wohnung, kein Zuhause. Auf der Anrichte im Flur klingelte das Telefon. Er kehrte nach drinnen zurück. Auf dem Display wurde die Nummer des Rechtsanwalts angezeigt, den er wegen der Scheidung von seiner Ex-Frau Silvana konsultiert hatte. Die Sache zog sich unangenehm in die Länge. Dabei ging es längst nicht mehr um Gefühle oder irgendwelche großen Dinge, sondern nur noch um Materielles. Sein Anwalt hieß Rump und war eine Null. Das war Hartmann bereits klar gewesen, als er ihm das Mandat erteilte. Paradoxerweise hatte er ihn vielleicht gerade deswegen ausgewählt. Da sich Silvana, wie erwartet, eine geradezu blutrünstige Kapazität unter den Familienrechtsanwälten leistete, war der Ausgang eigentlich von vornherein eine ausgemachte Sache. Es war, als lasse man ein Meerschweinchen gegen eine Königskobra kämpfen. Hartmanns Kalkül lag darin, dass es dabei keine langen Querelen gab. Die Kobra fraß das Meerschweinchen. Nicht schön, aber wenigstens kurz und schmerzlos. Anschließend war mit einem Verdauungsschlaf des Reptils zu rechnen. Das hoffte er zumindest. 

Er nahm das Gespräch entgegen und fragte sich, worum es diesmal ging. Der letzte Anruf war etwa zwei Wochen her. Sein Anwalt hatte ihm ängstlich verkündet: „Sie will das Haus.“ Hartmann hatte zugestimmt. Es war keine Überraschung. Von Außen machte es vielleicht noch etwas her und die Lage war nicht übel. Gründerzeit, Zehlendorf, Nähe Mexikoplatz. Andererseits war das Dach marode und die Heizungsanlage überstand kaum den nächsten Winter.

„Guten Morgen. Was ist nun wieder?“  

„Es geht um das Haus“, begann der Anwalt verzagt, „genauer gesagt um die Sanierung.“ 

Hartmann verstand. Er musste gar nicht weiterreden. Silvana war offenbar klar geworden, dass ihr für die Instandhaltung des Hauses die Mittel fehlten. Daher hatte sie die Kobra geschickt, um das tote Meerschweinchen darauf hinzuweisen, dass sie die bisherige Regelung der gegenseitigen Ansprüche für unzureichend halte. 

Vielleicht hatte sie auch von Melanie erfahren. Es war der Zeitpunkt, an dem sich Hartmann erstmals fragte, ob seine Meerschweinchenstrategie tatsächlich ein Geniestreich gewesen war.     

„Nein“, sagte Hartmann nur und wimmelte den Anrufer mit dem geschwindelten  Versprechen ab, sich später noch einmal zu melden.   

In der Küche gurgelte und pfiff die Kaffeemaschine. Als sie endlich damit aufhörte, holte er sich eine Tasse, ließ einen Zuckerwürfel hinein plumpsen und roch an der Milch, die im Kühlschrank stand. Sauer. Man konnte es ihr nicht verübeln. Also schwarz. Er kehrte damit in den winzigen Garten zurück. Die Sonne wärmte sein Gesicht. Er hatte den Morgen vertrödelt, etwas aufgeräumt und dabei festgestellt, dass er sich auch nach über einem Jahr nicht eingelebt hatte. Vielleicht deswegen, weil er es gar nicht zuließ. Er hatte einen Traum. Ein Haus am See, notfalls auch ohne See, zumindest außerhalb der Stadt. Nicht in einer der engen, trostlosen Neubausiedlungen, die sich überall wie frische Geschwüre an die Stadtgrenzen klammerten. Sondern dort, wo der Blick in die Ferne schweifte, über Felder bis an den Waldrand. Dort, wo die Welt auch nicht mehr in Ordnung war, es aber leichter fiel, sich dieser Illusion hinzugeben. Melanie kam in diesem Traum auch vor. Vielleicht kauften sie sich noch einen Hund, wer konnte das schon sagen? Wenn das funktionierte, konnte man ja sogar über Kinder nachdenken. Oder war er dafür schon zu alt?

Zum geschätzt hundertdreizehnten Mal holte er das Handy aus der Tasche des albernen blauen Bademantels, in dem er den ganzen Morgen umherschlurfte. Kein Anruf, keine Nachricht, zumindest nicht von Melanie. Es sah ganz danach aus, als würde es bei ihm und dem Hund bleiben, sofern sich das mit dem Haus am Wald noch zu seinen Lebzeiten konkretisierte.  


Stattdessen eine Mitteilung von Quenting. Er bat Hartmann, besser gesagt wies er ihn an, doch nicht in die Berliner BKA-Niederlassung am Treptower Park zu kommen, sondern gleich nach Zossen zu fahren, das in der Nähe von Wünsdorf lag. Treffen in der dortigen Polizeiwache. Anschrift: An der Wache 2. Leicht zu merken.      

Hartmann seufzte. Eigentlich war es mehr ein unwilliges Grunzen. 

Da er es bis zum Termin um dreizehn Uhr noch nicht eilig hatte und weil es ihn quälte, versuchte er es ein letztes Mal bei Melanie. Die Freizeichen hatten inzwischen die Wirkung  eiskalter Tropfen, die immer auf die gleiche Hautstelle fielen: Dem Opfer kamen sie nach einer Weile wie siedendes Wasser vor und noch etwas später wie Säure. 

Sie wollte offensichtlich nicht mit ihm sprechen. Verständlich. Es gab keinen Grund, darüber wütend zu sein. Mutlos schlich er unter die Dusche. Minutenlang ließ er den heißen Strahl auf sein Gesicht, dann auf den Körper prasseln. In der Hoffnung, das Wasser könne etwas von seiner Enttäuschung und dem schlechten Gewissen mit sich fortspülen. Tatsächlich half es ein wenig. 

Vor dem Schrank stellte er sich die Frage nach der passenden Kleidung, entschied sich aber schnell für einen Anzug, da es sich um eine Besprechung mit einer anderen Behörde handelte. Quenting, der sich meist bourgeois-locker gab, aber eigentlich ein Spießer war, sah es sicher so, dass sie in der Provinz die höchste Ermittlungsbehörde der Republik repräsentierten. 

Sein erster Versuch war ein dunkler, fast schwarzer Zweiteiler. Der Verkäufer hatte es Anthrazit genannt. Er zog ihn aus. Seriös ist kein Problem, aber ich muss nicht aussehen wie ein Bestattungsunternehmer. 

Zweiter Versuch: Ehrliches Grau, ohne Nadelstreifen oder ähnlichen optischen Zierrat. Krawatte Grau mit etwas Schwarz. Tolle Kombination. 

Vor dem Spiegel warf er einen Blick auf die ersten grauen Strähnen, die sich in das sehr dunkle Blond mischten und daher zum Anzug passten. Nichts war unerbittlicher als die Zeit.  Es folgte eine weitere naheliegende Frage. Waffe oder keine Waffe? In eine Besprechung gingen nur Wichtigtuer und Paranoide mit einer Pistole. Andererseits war der Tag noch jung.  Wenn er schon gezwungen wurde, auf den wohlverdienten Urlaub und ein Privatleben zu verzichten, wollte er zumindest schnellstmöglich mit den Ermittlungen beginnen. Wenn er die Sache schnell erledigte, konnte er womöglich sogar noch etwas bei Melanie wieder gutmachen. 

Er nahm die Sig-Sauer 226, bewährte Standardwaffe des BKA, aus dem kleinen Tresor im Arbeitszimmer, dachte kurz nach und legte sie zurück. Die Wahl fiel stattdessen auf seine Zweitwaffe. Eine kleinere, leichtere Walther PPS. Die Nachfolgerin der überaus bekannten, ebenso legendären wie berüchtigten Walther PPK. Sie eignete sich zum verdeckten Tragen deutlich besser. 


Der alte Porsche meinte es gut mit ihm und sprang wie üblich sofort an. Am späten Vormittag legte das Berliner Verkehrschaos eine Pause ein. An der Potsdamer Chaussee nahm Hartmann den Abzweig auf die Stadtautobahn A115. Nach einer Viertelstunde erreichte er den ehemaligen Grenzübergang Dreilinden und bald darauf die A10. Er verließ den Berliner Ring an der Abfahrt Rangsdorf. Jetzt lag nur noch ein Stück der Bundesstraße 96 vor ihm. Sein Zeitplan passte. Nach zweiundvierzig Minuten hielt er vor der angegebenen Adresse im alten Ortskern von Zossen. Dass er richtig war, erkannte er schon an dem schwarzen Audi A8 mit Behördenkennzeichen. Quenting stand in der Nähe. Am Ende seines langen, dürren Arms baumelte eine Zigarette. Ein Laster, dem er sich so verstohlen widmete, als drohe ihm die Kündigung, wenn er damit aufflog. Fehlte nur noch, dass er es mit einer E-Zigarette versuchte. Aus der Ferne ähnelte der hohe Kriminalbeamte einer Gottesanbeterin, wozu sein länglicher Kopf mit den weit auseinander stehenden Augen beitrug.

Als er Hartmann sah, stieß er hektisch Rauch aus und warf die Kippe in einen Gulli. 

„Immer noch das gute, alte 356er Cabrio“, lenkte er ab. „Schönes Ding, braucht sicher viel Pflege?“  

Er widmete dem Oldie einen liebevollen Blick. 

Hartmann stieg aus dem Wagen, der neben dem Audi so filigran wirkte, als fände er bei Bedarf im Kofferraum Platz. 

„Der Motor meint es gut mit mir und sonst ist nicht viel Technik drin, die kaputt gehen könnte.“ 

„Das waren noch Zeiten, was?“ 

Der Leitende Kriminaldirektor starrte den schwarzen Sportwagen so versonnen an, als habe er auf den Ledersitzen sein erstes Mal erlebt. 

„Äh, ja. Das waren sie“, entgegnete Hartmann und fragte sich, um welche Zeiten es ging. Immerhin war Quenting etwa fünfzehn Jahre älter als er. Sein Vorgesetzter trug einen dunklen Anzug mit edlem, aber dezenten Fischgrät-Muster. Maßgeschneidert, keine Frage. Ein unauffälliger, aber ehrgeiziger Mann, der seine Besoldungsstufe gerne in Kleidung ausdrückte. Dagegen war nichts einzuwenden. Hartmann störte sich an zwei anderen Dingen. Das erste war die Nonchalance, mit der sein Chef lächelnd über die Belange seiner Untergebenen hinwegging, wenn sie ihm im Wege standen. Das zweite war etwas diffuser. Ein Gefühl, dass ihn seit dem Telefonat in Belfast warnte: Das Schlimmste weißt du noch gar  nicht. 

Er folgte Quenting in eine sehr typische, gemütliche Landpolizeiwache. Hinter einem Tresen arbeitete der wachhabende Beamte gewissenhaft daran, beschäftigt zu wirken. Ein gutmütiger Kerl, Typ vitaler Großvater. An diesem Morgen hatten es die Sorgen und Nöte der Bürger offenbar noch nicht auf seinen Schreibtisch geschafft. Gegen die meisten konnte die Polizei ohnehin nichts ausrichten. Die Statistiken der Einbrüche in Häuser und Wohnungen hatten ein neues Allzeithoch erreicht und die Welle der Autodiebstähle war aus Berlin in den Speckgürtel geschwappt. Professionell organisierte Banden, die nach Katalog und auf Bestellung stahlen und dabei kaum behelligt wurden. Ein eigener Wirtschaftszweig, vor dem man im Grunde kapituliert hatte. Die Aufklärungsquote, für die das Wort mickrig noch ein Euphemismus darstellte, konnte man ihm nicht vorwerfen. Das machte auch niemand. Er erledigte seinen Job und tat, was ihm gesagt wurde. Nebenbei hatte seine Enkelin in zwei Tagen Geburtstag und das schöne Wetter lud doch tatsächlich noch einmal zu einer Feier im Garten ein. Dafür brauchte er einen neuen Grill.  


„Guten Morgen“ 

Quentings Fingerspitzen trommelten dezent auf dem Tresen herum, als hätte er eigentlich wichtigere Termine. 

„Wir sind mit Herrn Hauptkommissar Wülknitz verabredet. BKA.“ 

Es klang, als wolle er ihn verhaften. Der Hauptmeister ließ sich jedoch keineswegs aus der Ruhe bringen, was Quentings Auftreten, wie Hartmann fand, irgendwie peinlich werden ließ. Wichtigtuerei hatte hier noch nie irgendetwas beschleunigt. Es dauerte ein paar Momente, bis der Wachhabende hinter seinem Computermonitor hervorkam. Zuvor bewegte seine kräftige Hand den Cursor auf die Schaltfläche In den Einkaufswagen, was ihn zum Eigentümer eines stattlichen Barbecue-Grills werden ließ. Ein echtes Schnäppchen, da die Saison eigentlich schon vorbei war. 

„Morgen, Wülknitz kommt gleich. Musste nochmal weg. Können im Besprechungsraum warten, wenn Sie wollen.“ 

„Äh, ja…das tun wir“, begann Quenting. Es wirkte unschlüssig, sollte sich aber wohl pikiert anhören. Er vermisste den roten Teppich. 

„Einfach feste gegen drücken“, rief der PHM und zeigte auf die kleine Pforte, mit der man hinter den Tresen gelangte. Hartmann schob sich vor Quenting. Das Türchen sprang auf und quietschte dabei ein wenig. Neben dem Schreibtisch hing ein kleines Schild mit einem Foto des BER-Airports: Niemand hat die Absicht, einen Flughafen zu errichten 

Hartmann grinste das erste Mal an diesem Tag.

„Wäre es möglich, einen Kaffee mit Milch und etwas Zucker zu bekommen?“, versuchte Quenting, die Hierarchie wieder geradezurücken.

Der Hauptmeister wies auf ein zerbrechliches Tischchen, auf dem eine Kaffeemaschine stand. Auf einem Tablett gruppierten sich einige Tassen, hauptsächlich mit Aufdrucken von Fußballvereinen. 

„Ist von vorhin, nehmen Sie sich ne Tasse. Stehen daneben. Zucker auch. Ich guck mal wegen Milch, ist aber glaube ich, keine mehr da.“ 

Hartmann grinste zum zweiten Mal an diesem Tag, jetzt herzhafter. Beherrscht baute sich Quenting vor dem Tischchen auf und fingerte nach einem Kaffeepott, auf dem ein abgenutztes Bayern München-Emblem prangte. Kurz danach saßen die beiden Bundesbeamten in einem schmucklosen Raum an einem ausladenden Konferenztisch. Die Tischplatte zeigte den Farbton alter Eierschalen. Bevor sie in die Verlegenheit kamen, die Wartezeit mit einem Gespräch überbrücken zu müssen, öffnete sich die Tür mit kräftiger Bewegung. 

Alle stellten sich vor. Wülknitz war ungefähr im gleichen Alter wie der Hauptmeister am Tresen. Seine Züge waren unmerklich feiner geschnitten und statt vier blauen zeigten die  Schulterklappen seiner Uniform vier silberne Sterne. 

Man begrüßte sich. 

Wülknitz stand die Eröffnung zu, er war der Hausherr. Hartmann setzte sich nicht direkt  neben Quenting, um keineswegs das Bild eines Lakaien abzugeben. 

Der Leiter der Bereitschaftspolizei des Landkreises Teltow-Fläming schlug eine Kladde auf. Er begann mit einer Zusammenfassung der Ereignisse. Quenting schlürfte an seinem Kaffee und Hartmann hörte aufmerksam zu. Der Bericht klang etwas holzig. Als sei Wülknitz darum bemüht, besonders förmlich zu wirken.  

„Am 05.Oktober um etwa 2.30 Uhr, also in der vorletzten Nacht, erschien die Forstbeamtin Julia Singer auf der Wache. In ihrer Begleitung befand sich eine Dame, die bei dem diensthabenden Kollegen einen, nun ja, verwirrten Eindruck hinterließ. Im weiteren Verlauf erklärte Frau Singer, in einem alten Fabrikgebäude im Naturschutzgebiet bei Wünsdorf mehrere, wahrscheinlich aber drei Leichen aufgefunden zu haben.“ 

Er sah Hartmann mit offenem Blick an.

„Wenn Sie Fragen haben, unterbrechen Sie ruhig.“ 

„Danke. Es handelt sich doch um ein ehemaliges Militärgelände, oder?“

Hauptsächlich wollte Hartmann sehen, wie Wülknitz reagierte.

„Das ist lange her. Aber Sie haben recht. Die sogenannte Verbotene Stadt, wie es früher genannt wurde.“ 

Wülknitz fuhr fort.

„Also, zu den Leichen. Frau Singer gab zu Protokoll, dass sie erhebliche Spuren von Tierfraß aufwiesen.“ 

Quenting erhob seinen Blick aus der Kaffeetasse. „Bisswunden?“ 

Der Brandenburger Beamte schürzte die Lippen und nickte. 

„Genau genommen seien Sie völlig zerfleischt gewesen. Sie war sich noch nicht einmal hundertprozentig sicher, wieviele Opfer es waren.“ 

Hartmann machte sich hin und wieder eine Notiz. 

„Es muss stockdunkel dort gewesen sein, mitten in der Nacht. Sie hat vielleicht auch nicht lange hingesehen“, warf er ein.

 Quenting drehte seine Tasse vor sich. Der Henkel wanderte im Kreis wie der Zeiger einer ablaufenden Uhr. Er machte eine auffordernde Geste in Richtung des Hauptkommissars, weiterzusprechen. 

„Ein Kollege nahm den Ort des Geschehens, den Frau Singer beschrieb, gleich früh am nächsten Morgen in Augenschein.“ 

Hartmann zog ungläubig die Augenbrauen in die Höhe. 

„Ein einziger Kollege? Am nächsten Morgen? Nach einer Anzeige mehrerer Todesfälle?“ 

Wülknitz schien sich keineswegs angegriffen zu fühlen. Er patschte mit seinen  Handflächen flach auf den Tisch. 

„Polizeireform. Kaum Personal. Aber wir haben die Kripo in Potsdam verständigt.“ 

„Und?“, forschte Hartmann.

„Hielten sich für nicht zuständig. Bundeseigentum. Also Bundeskriminalamt. Deswegen  sind Sie hier. Ich werde Ihnen nicht sagen, wie sie ihre Arbeit machen sollen.“ Den Rest fügte er schweigend an, doch jeder verstand ihn.

…also sagen Sie mir auch nicht, wie ich meine machen soll.   

„Im Übrigen konnte von einem Tötungsdelikt zu diesem Zeitpunkt nicht ausgegangen werden. Auch jetzt ist alles nur Spekulation.“

„Entschuldigen Sie“, sprang Quenting ausgleichend ein, „Herr Hartmann wollte nichts unterstellen. Wir sind für ihre Unterstützung dankbar. Ihr Vorgehen war vollkommen korrekt.“ 

Er garnierte es mit einem kurzen, tadelnden Blick in Richtung seines Untergebenen. Fehlte nur noch, dass er ihn anwies, sich doch bitte zu entschuldigen. Doch diesmal war er es, der an Hartmanns Miene abprallte. Zumindest äußerlich.   

„Also“, begann Wülknitz erneut, „der Kollege traf morgens um etwa 8.30 Uhr vor Ort ein, um die Angaben der Zeugin Singer zu überprüfen.“

Für die BKA-Beamten waren obskure Todesfälle nichts vollkommen Ungewohntes. Hartmann hatte Aufträge als Zielfahnder in Ländern ausgeführt, die manche Menschen nicht  einmal dem passenden Kontinent zuordnen konnten. Anschließend war er als Staatsanwalt für schwere Gewaltverbrechen und Serientäter zuständig gewesen, bis er schließlich zum BKA zurückkehrte. Kurz, es gab nicht viel, was er noch nicht gesehen hatte. Für Quenting traf das mit einigen Abstrichen ebenfalls zu. Dennoch lag jetzt eine ungeheure Spannung über dem Besprechungsraum. Als nähere man sich einem lang erwarteten Finale. 

„Nicht, dass wir der Forstbeamtin nicht geglaubt hätten. Sie hinterließ durchaus einen authentischen Eindruck.“ 

Quenting nickte aufmunternd und untermalte es mit einer Handbewegung. Ohnehin waren seine langen, dünnen Finger immer in Bewegung. Wie die Fühler eines Insekts.  

„Um es kurz zu machen: Alles stimmte. Mein Beamter hat einige Fotos aufgenommen, allerdings nur mit seinem Handy. Fiel ihm wohl schwer, die Hände ruhig zu halten. Es sind demnach keine Tatortbilder für die Spurensicherung. Ich denke, darum werden sich Ihre Leute ja ohnehin selber kümmern wollen. Aber einen ersten Eindruck ermöglichen sie schon.“ 

Hartmann drehte den Stift zwischen den Fingern. 

„Dieser Kollege…“

„Polizeiobermeister Plessa“, sprang der Gastgeber ein.

„Polizeiobermeister Plessa. Er war demnach bisher der einzige Beamte vor Ort?“ 

„Ja, wenn man von Frau Singer absieht, schon.“ 

„Ich würde gerne möglichst schnell mit ihm sprechen, solange die Eindrücke noch frisch sind. Konnte er heute nicht dabei sein?“

„Er ist für die nächsten zwei Tage krankgeschrieben. Und auch sonst hätte ich ihn erstmal  nach Hause geschickt.“ 

„Warum denn das?“, fragte Hartmann unschuldig.

Wülknitz’ Blick drückte Unverständnis aus. Er entließ ein Schnaufen in den Raum, bevor es aus ihm herausbrach:

„Herr Hartmann, für Sie mag das ja vielleicht Alltag sein. Wenn ein Opfer nur erschossen wurde, kommt wahrscheinlich schon Langeweile auf. Aber der junge Kollege Plessa hat während seines Dienstes bisher nichts dergleichen gesehen. Herrgott, ansonsten macht er Verkehrskontrollen, verdammt nochmal. Er ist ziemlich mitgenommen.“ 

„Das ist natürlich verständlich“, kam der Leitende Kriminaldirektor Hartmann zuvor, „Falls er zeitnah den Dienst wieder antreten sollte, würden wir gerne mit ihm sprechen.“

„Selbstverständlich“, versicherte Wülknitz. 

„Und die Zeugin Singer, die Forstbeamtin, warum ist sie nicht hier?“, erkundigte sich Hartmann mit unaufgeregter Stimme. 

Ruckartig sah Wülknitz auf die Uhr, als sei ihm plötzlich etwas eingefallen.

„Gute Frage. Ich dachte mir, Sie wollen sicher mit ihr sprechen und bat sie, zu kommen. Sie hatte zugesagt.“ 

„Ist es möglich, dass sie auch etwas mitgenommen ist?“, forschte Hartmann. „Immerhin hat sie das Gleiche gesehen wie Obermeister Plessa, und das mitten in der Nacht.“

Es klang ironischer, als es gemeint war. Dennoch trug ihm die Frage erneut einen bösen Blick seines Chefs ein. Hören Sie auf, Porzellan zu zerschlagen und halten Sie die Klappe.  

Doch es war nicht der Moment, in dem sich Hartmann für Quentings Gesicht interessierte. 

„Das gefällt mir nicht“, sagte er. 

„Mir auch nicht“, stimmte Wülknitz ihm zu.  

„Aber die Fotos sind hier?“, erkundigte sich Quenting.

„Wir haben sie ausgedruckt. Sind deswegen nur in schwarz-weiß, tut mir leid.“ 

Er schob einen DIN A5-Umschlag über den Tisch und überließ es Hartmann, ihn zu öffnen. Drei körnige Fotos in schlechter Auflösung. Wie aus einer Zeitkapsel, die man in den sechziger Jahren vergraben hatte. Alle aus der gleichen Perspektive aufgenommen. Verwackelt noch dazu. Genau genommen die schlechtesten Tatortfotos, die Hartmann je untergekommen waren. Wenn es sich überhaupt um einen Tatort handelte. Hartmann sah hin, weil es seine Aufgabe war. Die schlechte Qualität der Fotos minderte zwar kaum ihre schockierende Wirkung, doch Details waren nur zu erahnen.  

Zerfetzte Körper, verrenkte Gliedmaßen, Wunden, Kleidung, Blut, Knochen.

Als hätten sie eine Kiste Handgranaten gefunden und versehentlich die Zünder ausgelöst. Selbst Hartmann musste genau hinsehen, um die Anzahl der Leichen zu bestimmen. Er räusperte sich und reichte sie an Quenting weiter. 

„Was ist mit dieser verwirrten Dame, die Sie erwähnten? Wer ist sie? Was hat sie ausgesagt?“ 

Der Hauptkommissar winkte ab. 

„Natürlich haben wir sie vernommen. Ich selbst wurde dafür aus dem Bett geholt. Es war jedoch kaum etwas aus ihr herauszubekommen. Sie sagte immer wieder wörtlich, dass sie es nicht getan habe. Natürlich erhalten Sie eine Kopie des Protokolls der Befragung, aber viel mehr werden Sie darin nicht finden. Darüber hinaus haben wir nur herausgefunden, dass sie in einer Betreuungseinrichtung am Mellensee lebt. Kaum sechs Kilometer von hier.“ 

„Ein psychiatrisches Krankenhaus?“ 

„Kein Irrenhaus, falls Sie das meinen, nein. Auch keine geschlossene Einrichtung. Die Patienten können sich frei bewegen, kehren aber über Nacht zurück. Ich gebe Ihnen die Anschrift. Auch wenn ich nicht glaube, dass sie Ihnen irgendwie helfen kann.“ 

„Danke. Haben Sie mit einem Verantwortlichen der Einrichtung gesprochen, vielleicht einem Arzt? Wissen Sie, weshalb sie dort ist?“  

„Nein, weder noch. Die waren natürlich froh, dass sie zurück ist. Wie gesagt, die Zeugin war in einem desolaten Zustand. Verwirrt, aber harmlos, wenn Sie mich fragen. Keine Ahnung, was sie nachts dort tat.“ 

„Wie heißt diese Zeugin?“, fragte Hartmann beiläufig. 

 Wülknitz blickte kurz auf seine Notizen. 

„Gillenthal.“ 

Um ein Haar hätte Hartmann einen großen Schluck Kaffee auf den Konferenztisch gespuckt. Stattdessen verschluckte er sich und würgte hustend an der bitteren Flüssigkeit. 

„Wie sagten Sie war der Name?“, vergewisserte er sich, nachdem er wieder zu Atem gekommen war. 

„Gillenthal.“ Der Hauptkommissar wühlte in seinen Unterlagen. Wo hab ich nur den Vornamen. Irgendwas mit M, soweit ich mich erinnere.“ 

„Etwa Miriam Gillenthal?“ 

„Ja, das kommt hin. Wieso, macht es einen Unterschied?“ 

„Nein“, knurrte Hartmann. „Überhaupt keinen.“ 

Er sah Quenting an, als werde er gleich ein Messer auf ihn werfen. Seine Ahnung hatte ihn nicht getäuscht, das tat sie selten. Man hatte ihm nicht die ganze Wahrheit gesagt. Sein Chef wich dem Blick aus, was dafür sprach, dass er diesen Konflikt auf später zu verschieben gedachte. 

Wülknitz hatte inzwischen nachgedacht.

„Heh, woher kennen Sie den Vornamen der Frau? Sind Sie ein Fahnder mit siebentem Sinn, oder was?“  

„Nur geraten“, erwiderte Hartmann beherrscht. Seine Stimme glich einer Zündschnur, an deren Ende ein Fass mit Dynamit stand. Auf dem Fass saß Quenting.

Der Leitende Kriminaldirektor nutzte die unangenehme Stille, um aufzustehen. Kraftvoll stieß er sich von seinem Stuhl ab und streckte Wülknitz seine Chirurgenhand hin. Ein wenig sah es aus, als erwarte er einen Handkuss. 

„Vielen Dank, wir wollen Sie nicht länger als nötig aufhalten. Herr Hartmann meldet sich bei weiteren Fragen. Er leitet ab sofort sämtliche Ermittlungen der Bundesbehörden vor Ort.“ 

„Tja, viel Erfolg. Sie wissen ja, wo sie mich finden“, gab der Dienststellenleiter skeptisch zurück. Offenbar hatte er mit einer längeren Besprechung gerechnet. Oder er fragte sich, wie groß die Wahrscheinlichkeit war, dass diese Typen aus Wiesbaden Ärger brachten. Hartmann nickte ihm verbindlich zu. Er würde die Unterstützung der Landespolizei brauchen. Bisher wusste er nicht einmal, wieviel Leute ihm aus Berlin und Wiesbaden zugeteilt wurden. Noch etwas, das Quenting ihm zu erklären hatte. Ihr Gastgeber verließ unterdessen den Besprechungsraum und verschwand in einem der Dienstzimmer, da ihn eine Polizistin ans Telefon bat. 

Beim Überqueren des Bürgersteigs vor der Wache stolperte Quenting gegen eine sehr junge, hellblonde Frau, die einen Kinderwagen schob. Ihre leeren Augen waren auf ein Smartphone gerichtet. Als der Blick des leitenden Beamten auf ihren traf, kollidierten zwei Welten, die wenig Verständnis für die Existenz der jeweils anderen aufbrachten. Im Kinderwagen hob augenblicklich ein Plärren an, das binnen Sekunden an die Trompeten von Jericho erinnerte. Quenting nutzte die Chance, bevor irgendwo eine Mauer einstürzte, zur Flucht in Richtung Audi. Hartmann folgte, vollauf damit beschäftigt seine Wut zu unterdrücken. Sein Chef wies auf den Fond.

„Steigen Sie ein.“

„Danke, ich stehe lieber.“ 

„Na schön, dann gehen wir ein Stück.“ 

Er setzte sich in Bewegung, ohne Hartmanns Zustimmung abzuwarten. Die kleine Gasse mündete auf einen gepflasterten Marktplatz, der recht attraktiv saniert worden war. Kleine Läden und sogar zwei Lokale trugen zum gemütlichen Kleinstadtflair bei. Sie passierten schweigend einen kleinen Brunnen. Einige Spatzen badeten fröhlich darin.

„Hören Sie, Hartmann. Ich weiß ja, es war nicht in Ordnung von mir, die Gillenthal zu verschweigen.“  Eine schwerfällige Eröffnung.   

„Aber ich wusste, Sie wären sonst nicht gekommen.“  

 Die kaltschnäuzige, aber entwaffnende Ehrlichkeit machte Hartmann kurzzeitig sprachlos. 

„Die Kalte Göttin“, stieß er schließlich hervor.   

Quenting winkte ab.

„Das ist lange her. Ich weiß nicht, warum diese Gillenthal ausgerechnet jetzt hier auftaucht. Aber ich will, dass Sie sich nur auf den aktuellen Fall konzentrieren. Sie ist eine Zeugin, nicht mehr. Miriam Gillenthal wurde damals, vor fünf Jahren, freigesprochen. Lassen Sie die Vergangenheit endlich ruhen.“

Er warf seinem Untergebenen einen fast anzüglichen Blick zu. 

„Wissen Sie, jeder hat irgendeine Leiche im Keller. Das ist kein Problem. Nur sollte man sie auch dort unten lassen.“ 

Hartmann hörte die Worte wie von Ferne. Als halte er das Ohr an eine Muschel, aus der Quenting sprach. Sicher, in Einem hatte sein Chef recht. Miriam Gillenthal war wegen erwiesener Unschuld freigesprochen und für fünf Monate Untersuchungshaft in der Berliner JVA für Frauen entschädigt worden. Als zuständiger Staatsanwalt hatte Robert Hartmann die Ermittlungen geleitet, sie schließlich wegen Mordes vor dem Schwurgericht angeklagt und die Feststellung der Besonderen Schwere der Schuld beantragt. Alles, was StPO und StGB hergaben, hatte er aufgefahren - und war krachend gescheitert. Der Grund war einfach. Sie war es nicht gewesen. Konnte es gar nicht gewesen sein. Er konnte sich auch nicht darauf berufen, dass die Kripo Fehler gemacht hatte. Als Staatsanwalt stand er über der Polizei und konnte sich seiner Verantwortung nicht entziehen. Vielleicht war er deshalb froh, keiner mehr zu sein. Ein Ermittler durfte spekulieren, in alle Richtungen gehen und, wenn er fertig zu sein glaubte, den Rest an die Justiz abgeben. 

Doch das änderte nichts daran, was geschehen war. Zwei Patienten der Berliner Charité waren in kurzer Zeit durch eine Überdosis Adrenalin zu Tode gekommen. In genau der Abteilung, in der Miriam Gillenthal zu dieser Zeit als Assistenzärztin arbeitete. Hartmanns Antwort darauf war es, eine Unschuldige vor Gericht zu zerren. Selten hatte er sich so getäuscht wie im Fall der Kalten Göttin, wie die Boulevardpresse sie vor dem Freispruch sensationsheischend genannt hatte. 

„Hören Sie mir zu?“, erkundigte sich Quenting. 

„Ja“, erwiderte Hartmann, aber sein Gesicht sagte „Nein“. 

Ein kurzer, kindischer Impuls riet ihm, einfach fortzulaufen. Vor der Vergangenheit und vor Quentings Gegenwart, die sich anfühlte wie eine unheilvolle Präsenz. Er musste daran denken, dass sein Vorgesetzter im BKA-Hauptquartier in Wiesbaden den Spitznamen Q trug. Doch mit Ian Flemings genialem Quartiermeister hatte er so viel gemein wie ein Geier mit einer Eule. 

„Ich weiß, Sie sind über die Sache nicht so richtig hinweg. Aber so schlimm es ist. Gerechtigkeit ist mehr eine dringende Vermutung als eine exakte Wissenschaft. Genau wie die Kriminalistik.“ 

Hartmann grinste säuerlich wie Wein, der zu wenig Sonne abbekommen hatte. Etwas Besseres fiel ihm zu soviel Weisheit nicht ein. Nein, er war nicht darüber hinweg und er hatte es auch nicht eilig damit. 

„Es war nicht einmal ein verfluchter DNA-Vergleich nötig. Wir haben Fingerabdrücke übersehen oder vertauscht. Können Sie sich das vorstellen? Profane Fingerabdrücke…“ 

„Nicht Sie haben die übersehen, sondern die Kripo. Hören Sie endlich damit auf, sich selbst zu bemitleiden. Sie haben die Lektion doch gelernt.“ 

Soviel zu Quentings Philosophie. Du kannst nichts dafür, die anderen sind schuld. Ist es ein Erfolg, beanspruche ihn für dich und teile nicht. Ist es ein Fehlschlag, schiebe ihn ab. Am besten nach unten. Was immer man über Hartmann sagen konnte. Das war nie sein Stil gewesen. 

„Ich war der Ankläger. Ich trug die Verantwortung.“ 

„Dann suhlen Sie sich doch weiter darin, wenn es hilft. Tatsache ist: Der Mörder wurde verurteilt, die Wahrheit hat obsiegt.“

Wieder hatte sein Chef nicht ganz unrecht. Überhaupt war er verdammt gut darin, die Tatsachen so zu drehen, bis sie passten. Aufgrund einiger Fingerabdrücke, die offenbar im Labor verschludert worden waren, konnte schließlich ein Oberpfleger als wahrer Todesengel ausfindig gemacht werden. Ein Mann mit Schulden, persönlichem Frust und einem gefährlichen Helferkomplex. Der Sachverständige, ein klinischer Psychologe, den das Gericht geladen hatte, mutmaßte damals, dass er seine Opfer nur hatte retten wollen. Ihnen die ersehnte Erlösung verschaffen wollte. Auch wenn nur einer der beiden überhaupt unter einer  lebensbedrohlichen Erkrankung gelitten hatte. Doch derartige Spekulationen waren höchstens noch für die Forschung interessant. Das Ende des Prozesses war absehbar.

Große Kammer des Schwurgerichts. Mord in zwei Fällen aus niederen Motiven. Zwingende Beweise. Lebenslange Haft. Die zusätzliche Feststellung der Besonderen Schwere der Schuld würde eine vorzeitige Entlassung zumindest sehr erschweren. Für die Justiz war die Sache damit erledigt. Für Hartmann nicht. 


Er rang sich eine Antwort auf Quentings Aufmunterung ab, während sie den Marktplatz verließen und in eine Gasse einbogen. 

„Man kann die Sache auch anders sehen. Die Gillenthal hat immerhin ihren Job verloren. Ich habe das Leben einer Unschuldigen ruiniert.“ 

Quenting verdrehte die Augen und sorgte dafür, dass Hartmann es sah. 

„Was stimmt nur mit Ihnen nicht? Ein Wunder, dass Sie mit dieser Einstellung überhaupt noch am Leben sind. Betteln Sie auch um eine Kugel, wenn irgendwo geschossen wird? Wie immer sehen Sie nur die halbe Wahrheit. Die Gillenthal mag damals ihre Anstellung als Assistenzärztin verloren haben. Sie war vielleicht unschuldig. Dennoch war der Sachverständige der Meinung, sie leide unter einer schwerwiegenden Persönlichkeitsstörung. Haben Sie das vergessen? Es ist besser so, dass diese Frau keine Patienten mehr behandelt.“ 

„Stimmt. Aber ihre Qualifikation stand außer Zweifel, sie galt als engagiert, intelligent.“ 

Quenting reichte es allmählich. An seinem Hals trat seitlich eine Ader hervor. Er musste sich zusammenreißen, um nicht laut zu werden. 

„Sie ist nicht ganz dicht, Hartmann. So einfach ist das manchmal. Alles andere ist nur Kaffeehausgeschwätz. Sie war es damals nicht und heute scheint sie es noch viel weniger zu sein. Sie mag ja keine Mörderin sein, da hat Ihr Instinkt sie vielleicht getrogen. Aber auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Es ist gut, dass sie keine Patienten mehr behandelt. Also bleiben Sie gefälligst professionell.“ 

Die beiden Männer erreichten einen stillgelegten Bahnübergang. Der Bürgersteig war schmal geworden. Dahinter zweigte die Landstraße 246 in eine immer noch spätsommerlich grüne Landschaft ab. Sie drehten um und liefen in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren.  

„Sehen Sie den Tatsachen ins Auge. Miriam Gillenthal war der Tiefpunkt ihrer Karriere, das mag schmerzen. Inzwischen ist sie nichts anderes als eine verwirrte, kranke Frau. Großer Gott, sie sitzt in einer Einrichtung für psychisch Kranke und läuft nachts allein durch den Wald. Natürlich müssen Sie sie vernehmen. Sie war immerhin rein zufällig die erste Person am Tatort. Versuchen Sie es zumindest. Vielleicht haben Sie mehr Glück als unser  Hauptkommissar Wülknitz. Und dann lassen Sie sie in Ruhe und konzentrieren sich auf den Fall. Wenn es überhaupt einen gibt und es sich nicht um einen Unfall oder ähnliches handelt.“ 

Hartmann war noch immer in Gedanken versunken. Er hörte aber soweit zu, wie es nötig war. Seine Stimme klang, als sei sie in einer anderen Dimension gefangen. In Wahrheit dachte er nach.

  „Rein zufällig die erste Person am Tatort. Wenn es sich nicht gar um einen Unfall handelt“, wiederholte er. „Wenn das so ist, warum bin ich dann hier?“

Wieder bewies Quenting, nie um eine Erklärung verlegen zu sein. 

„Sollte es so sein, freuen Sie sich doch. Dann wird es ja möglicherweise doch noch etwas mit ihrem Urlaub.“ 

Der Ermittler spürte, wie das Gespräch begann, sich im Kreis zu drehen. Von dem Mann aus Wiesbaden würde er nicht mehr erfahren. Entweder, weil Quenting wirklich nicht mehr wusste, oder weil er es so wollte. Vor Hartmanns innerem Auge erschien Miriam Gillenthal. So, wie er sie in Erinnerung behalten hatte. Während der Vernehmungen. Vor Gericht. Schlank, fast dünn. Resolut. Dunkle, leicht gelockte Haare, nicht unattraktiv. Ein tiefer, intelligenter Blick, der nie richtig zu deuten war. Sie hatte den Freispruch ohne erkennbare Gemütsregung aufgenommen. Weder war sie ihrem Anwalt in die Arme gefallen noch hatte sie Hartmann beschimpft. Sie hatte ihn angesehen, wie sie es während des ganzen Prozesses getan hatte: Als unergründliche Mona Lisa. Zumindest was ihre Augen anging, war der Name Kalte Göttin nicht ganz unzutreffend gewählt.

Wie sah sie jetzt aus? Mitleiderregend? Verhärmt? Verrückt? Wollte und konnte sie überhaupt mit ihm sprechen? Er würde es herausfinden. Denn ob verwirrt oder nicht: Sie war der Anfang des Fadens, dem er zu folgen hatte. 

„Vielleicht war es doch nicht so klug, mich hierher zu schicken. Ich weiß zwar nicht, in welcher Verfassung sie ist, aber würden Sie sich gerne von jemandem Fragen stellen lassen, der ihr Leben versaut hat?“ 

Der Einwand brachte seinen Chef nicht aus der Ruhe.

„Lassen Sie eben das spielen, was von Ihrem Charme noch übrig ist. Soweit ich weiß, hegte sie doch gar keinen Groll gegen Sie. Jeder kann sich mal irren. Wahrscheinlich erkennt sie Sie gar nicht mehr.“ 

Es war Unsinn, den Quenting aber ganz gut verkaufte. 

„Wenn Sie meinen.“ 

Der Leitende Kriminaldirektor presste seine flache Hand gegen das dunkle Jackett. Es sah aus, als habe er einen Bauchschuss erlitten. 

„Haben Sie auch so einen Hunger?“ 

Hartmann fragte sich, ob er noch ein paar sinnvolle Informationen aus seinem Chef  herausquetschen konnte, wenn er ihm Gelegenheit gab, etwas zu essen. Die Möglichkeit war nicht von der Hand zu weisen, da Quenting gerne aß, was man ihm aber nicht ansah. Wahrscheinlich hatte er einen guten Stoffwechsel. 

„Eine Kleinigkeit würde schon gehen.“ 

„Na bestens“, freute er sich.

Etwa zehn Minuten später saßen sie in einem etwas altbackenen, aber gemütlichen Lokal. 

 Quenting wartete, was Hartmann bestellte. Zander. 

Er schien zu überlegen, ob er sich anschließen sollte, gab aber nach fünf Sekunden den Rinderrouladen den Vorzug. Er sah sich um und wirkte in seinem Maßanzug schon wieder deplatziert. 

„Regionale Küche soll ja stark im Kommen sein.“ 

Für Ironie war Q nicht bekannt, er meinte es demnach vermutlich ernst. Er nippte an einem Rotwein, der, wie sein Gesicht andeutete, eindeutig unter seinem Niveau war. 

„Warum haben wir Sie zurückgenommen? Ich meine, beim BKA. Weil wir Sie so mögen? Sie sind einer der besten Ermittler, die wir haben.“ Er überlegte. „Nein, eigentlich der Beste. Und wissen Sie was? Sie sehen das genauso, auch wenn diese Bescheidenheitsmasche Ihnen ganz gut steht. Wir brauchen Sie. Also, wenn wir hier fertig sind, machen Sie sich an die Arbeit. Für die einfachen Fälle haben wir andere. Möchten Sie künftig zu denen gehören?“ 

Eine Drohung, nur dünn bemäntelt. 

„Nein“ erwiderte Hartmann teilnahmslos. „Nur eine Frage: Wülknitz hat nichts von den  eingekratzten Buchstaben gesagt, die Sie am Telefon erwähnten. Was ist damit?“ 

Quenting registrierte, dass sein Gegenüber nicht auf seine vorherigen Aussagen einstieg. Stattdessen schien Hartmann schon bei der Arbeit zu sein. Was wollte er mehr? Er nickte.

„Wiedergeburt“ 

Mit einem Mal klang die Stimme des Abteilungsleiters ernst und alt. Er dachte nach.

„Wahrscheinlich hat er es vergessen. Oder wir haben ihm keine Gelegenheit gegeben. Tatsache ist, die Försterin hat diesen Schriftzug neben den Leichen gefunden. Mehr wissen wir nicht.“ 

„Und ich habe das Wort in Nordirland gesehen. Ebenfalls neben einer Leiche.“

„So ist es“, triumphierte er. „Also hören Sie auf, nach Gründen zu suchen, warum sie hier sind. Wie Sie sehen, gibt es einen ganzen Strauß davon.“ 

Das Essen kam schnell. Quenting drückte mit dem stumpfen Messer auf seiner Roulade herum. Letztendlich zerquetschte er sie mehr, als sie zu schneiden. Der Geschmack zauberte jedoch einen Ansatz von Wonne in das graue Gesicht. 

„Gar nicht schlecht“, mümmelte er und entdeckte offenbar seine bodenständige Seite.  

Der Zander erwies sich ebenfalls als schmackhaft, wie Hartmann feststellte. Frisch war er auch. Er drückte eine halbe Zitrone darauf aus und trank einen Schluck Wasser.  

„Was sagen denn ihre Leute in Wiesbaden?“ 

Ein Stück Rindfleisch wanderte sichtbar durch Quentings dünnen Hals. Es ließ an einen Storch denken, der einen Frosch hinunterwürgt.  

„Ich habe bei allen relevanten Abteilungen angefragt, ob sie mit dem Begriff etwas anfangen können. Die haben mich noch nie so dämlich angeschaut. Fehlanzeige. Deswegen habe ich Sie geholt.“ 

„Ja. Was anderes. Wieviel Leute habe ich? Wer ist im Team?“ 

Quenting lachte ein spöttisches, überlegenes Altmännerlachen. 

„Im Team? Für wen halten Sie uns, für das FBI? Wir hatten fünf Terrordrohungen in Frankfurt, Hamburg und Berlin. Dazu kommt ein vereitelter Anschlag in Düsseldorf. Das Ganze in nur zwei Monaten. Sie wissen genau, dass wir jetzt schon viel zu wenig Ressourcen haben.“

Er lehnte sich desillusioniert zurück. „Im Grunde geht es uns nicht anders als diesem Kommissar Wülknitz auf seiner Wache.“ 

„Immerhin haben Sie ja einen Anschlag vereitelt, soweit ich der Zeitung entnahm“, gönnte sich Hartmann eine kleine, ätzende Provokation. Quenting reagierte nicht beleidigt, tat er ohnehin selten. Eine seiner guten Seiten.  

  „Ja, aber auch nur wegen eines Tipps der Amerikaner. Unsere lieben Freunde spionieren uns zwar gleichzeitig mit aus, aber ohne die wäre unser ganzer Sicherheitsapparat ein schlechter Witz.“ 

Er überlegte und kaute dann weiter. 

„Eigentlich sind wir auch so ein Witz. Aber was erzähle ich Ihnen das, Sie wissen wie es  läuft. Ein Team wird es nicht geben. Wenn Sie jemanden spezielles hier brauchen, melden Sie sich und ich tue, was ich kann. Sie haben natürlich die volle logistische Unterstützung aus Wiesbaden bei den Ermittlungen.“

Hartmann war erstaunt, wieviel Frust sich hinter der glatten Fassade des Karrierebeamten angestaut hatte. 

„Ich brauche fürs Erste einen Gerichtsmediziner. Einen, der sein Handwerk versteht. Es muss schnell gehen. Ich würde lieber jemanden von außen nehmen, als von hier.“ 

„Da haben Sie wahrscheinlich recht“, überlegte Quenting. „Ich kümmere mich darum. Es gibt da jemanden, der mir noch einen Gefallen schuldet. Eine echte Kapazität.“ 

„Na schön. Falls das nicht klappt, hätte ich gerne Frau Dr. Yilmaz aus Koblenz. Sie hat mir beim letzten Mal sehr geholfen.“ 

„Von mir aus. Ich will Ihnen nicht verschweigen, dass es noch einen weiteren Grund gibt, weshalb wir hier nicht mit großer Mannschaft operieren. Die Brandenburger Landesregierung hat uns gebeten, erst einmal größeres Aufsehen zu vermeiden, so gut das eben geht. Sollte sich herausstellen, dass die Wölfe ihren Speiseplan von Wild auf Mensch umstellen, muss ich Ihnen sicher nicht erklären, was das bedeutet. Also kein Aufruhr, wo es nicht sein muss. Immer schön leise.“ 

Sein Vorgesetzter grinste schief wie ein Hai im Nichtschwimmerbecken. Nicht besonders glücklich. 

Keinen Aufruhr also. Eine Ermittlung auf Samtpfoten. Hartmann dachte an Quentings große schwarze Karosse mit getönten Scheiben und BKA-Behördenkennzeichen, die etwa so unauffällig in der Zossener Altstadt herumstand wie ein Leopard 2-Kampfpanzer. Der Abteilungsleiter blickte indessen auf sein Smartphone, tippte irgendetwas ein. 

„Ich gehe jetzt“, sagte Hartmann und legte einen Geldschein auf den Tisch. „Das kommt auf die Spesenrechnung.“ 

Bevor er sich abwandte, hielt er noch einmal inne.

„Es ist kein gutes Zeichen, dass diese Försterin nicht aufgetaucht ist.“ 

Dem desinteressierten Nicken seines Vorgesetzten war anzumerken, dass dessen Gedanken sich schon einer anderer Angelegenheit widmeten. Den Niederungen der Ermittlungsarbeit war er entwachsen. Aber Hartmann entließ ihn noch nicht aus seinem Blick.

„Glauben Sie wirklich, es waren die Wölfe?“  

Q zuckte fast beschwingt mit den Achseln, als ginge ihn das alles schon nichts mehr an. Als sei es ihm soeben gelungen, etwas Unangenehmes, ja Gefährliches auf Hartmann abzuwälzen. 

„Bisher sieht doch alles danach aus. Aber das ist jetzt ihre Show, finden Sie’s auch raus. Ich lassen Sie von der Leine, also folgen Sie ihrer Nase. Manche sagen, die sei gut. Die Jagd hat…, nun Sie wissen schon. Also Halali.“ 

Der Ermittler nickte knapp. Er schickte sich endgültig an, das Lokal zu verlassen, als er hinter sich erneut Quentings Stimme wahrnahm. 

„Sie sind doch nicht etwa wütend auf mich, oder Hartmann? Ich meine wegen dieser Sache mit der Gillenthal.“ 

Der Ermittler drehte sich ein letztes Mal zu dem Mann aus Wiesbaden um und ließ die Ironie wie frischen Honig von seiner Stimme tropfen.

„Ich werde nie wütend.“ Er blickte süffisant an ihm vorbei.

„Ich bin doch ein Profi.“   

  










VI



Verbotene Stadt




Beim Porsche angekommen, blätterte er in seinen Notizen. Alles, was er für wichtig erachtete, schrieb oder skizzierte er in eine große Kladde. Bei Kollegen löste das Ding gelegentlich Erstaunen oder Schmunzeln aus. Doch mit diesen kleinen Notizblöcken konnte er einfach nichts anfangen. Schnell fand er die Anschrift der Forstbeamtin Julia Singer. Wülknitz hatte sie ihm gegeben, ohne zu zögern. Was wäre das für eine Welt, in der man dem Bundeskriminalamt nicht mehr trauen konnte? 

Hartmann drehte den Schlüssel im Zündschloss. Der alte, luftgekühlte Boxermotor erwachte keuchend zum Leben, bevor er in den entspannten Klang einer Kettensäge verfiel, der durch keine Euro-Norm geschmälert wurde. 

Unschlüssig lenkte der Ermittler den Wagen aus der Parkbucht. War es sinnvoll, der Forstbeamtin einen Besuch abzustatten? Nach den Strapazen war es immerhin möglich, dass sie die Besprechung einfach vergessen hatte. Nach knapp vier Sekunden entschied er sich dagegen. Er würde sich später um sie kümmern. Zunächst war es wichtiger, den Ort zu besichtigen, an dem alles begonnen hatte: 

Die Fundstelle der drei Leichen im Sperrgebiet. 


Der Porsche rumpelte über den gepflasterten Marktplatz. Quentings riesiger Dienstwagen  war bereits verschwunden. Der Routenplaner auf seinem Smartphone lotste ihn südlich von  Zossen auf die Bundesstraße 96. Ein Gewerbegebiet und zwei Autohändler flogen vorbei. Dann Mais- und Getreidefelder, größtenteils abgeerntet. Nach nur zwölf Minuten erreichte er Wünsdorf. Ein seltsamer Flecken, der sich alle Mühe gab, die Mysterien seiner Vergangenheit unter der Decke einer profanen Gegenwart zu verbergen. Doch die langsam verfallenden Zeugnisse der Geschichte waren zu allgegenwärtig, um sie zu ignorieren. Nur ein kleiner Teil der Militärgebäude war für die Nachnutzung saniert worden. Keiner hatte darüber nachgedacht, welche das sein sollte. Anschließend war hektisch versucht worden, allerlei Verwaltungsbehörden, vielleicht sogar ein paar mittelständische Wirtschaftsbetriebe anzusiedeln. Der Versuch war so krachend gescheitert, dass es fast schon rührend anmutete. Ein paar der ehemaligen Kasernen, in denen man einst achtzigtausend junge Männer  zusammengepfercht hatte, waren in preiswerten Wohnraum verwandelt worden. Man hatte das Viertel Waldstadt genannt. Klang irgendwie anheimelnd und war nicht einmal gelogen. Wald gab es hier tatsächlich überall. An der Zehrensdorfer Straße verrottete in aller Ruhe das kaiserliche Offizierskasino, das die Sowjets Haus der Offiziere genannt hatten. In wenigen Jahren konnte man es guten Gewissens abreißen. An einer Bushaltestelle, an der vielleicht wirklich hin und wieder ein Bus hielt, stand eine Frau, die etwa zwischen dreißig und sechzig sein musste. Sie war vollschlank, kurzhaarig und trug ein T-Shirt auf dem Warum immer ich? stand. Hartmann stellte sich diese Frage auch zuweilen und nickte ihr zu. Doch sie ignorierte ihn oder sah zufällig woanders hin. Ein Hinweisschild wies auf das günstige Mittagsbuffet eines griechischen Restaurants hin. Ein weiteres Schild, etwas offizieller, pries Bunkerführungen in der Verbotenen Stadt an. Die würden jetzt erst einmal ausfallen. An der nächsten Ecke gab es ein Lidl. Mehr brauchte nun wirklich niemand. Eine letzte Querstraße, bevor die Landstraße 74 schnurgerade die Kleinstadt verließ, hieß Koschewoi-Ring. Irgend jemand anders mochte zwar den Kalten Krieg gewonnen haben, aber der Marschall der Sowjetunion durfte zumindest  seine Straße behalten. Dann endete der Ort abrupt wie ein merkwürdiger Traum. Ein Traum, dessen Sinn man schon kurz nach dem Aufstehen nicht mehr verstand, weil wichtige Fragmente fehlten und niemand einem erklärte, was das alles bedeuten sollte. 

Der Wagen rollte am Ortsausgangsschild vorbei. Es begann ein Abschnitt von gut vierzehn Kilometern Niemandsland. Er endete dort, wo die Landstraße das Dorf Töpchin erreichte. Vierzehn Kilometer Wildnis. Auch das war nur ein kleiner Teil des Naturschutzgebiets, das mehr als dreihundert Hektar umfasste. Die L 74 war die einzige  Straße, die durch das ehemalige Militärgelände führte. Zumindest die einzige offizielle. Wer tiefer in die Natur vordringen wollte, musste laufen. 

Kurz nachdem Hartmann Wünsdorf verlassen hatte, wurde er durch ein Schild gestoppt, wie es bei Wanderbaustellen verwendet wird. 

Straße gesperrt 

Davor standen zwei weiß-orangefarbene Hütchen. Keine sehr beeindruckende Straßensperre. Er stieg aus, schob eines der Hütchen zur Seite, dirigierte den Porsche daran vorbei und schob es zurück auf seinen Platz. Nach wenigen hundert Metern traf er hinter einer Kurve auf einen quergestellten Mannschaftswagen. Zwei Polizisten langweilten sich darin. Als sie das näher kommende Fahrzeug bemerkten, stiegen sie eilig aus. Einer schwenkte tatsächlich eine Kelle, als regele er den Verkehr auf einer überfüllten Kreuzung. Neben der Straße parkte ein betagter, dunkelgrüner Mercedes Geländewagen im Gras. Er stellte den Porsche dahinter und stieg ohne Hast aus. Einer der Beamten näherte sich, wobei er mit der Kelle gestikulierte und etwas rief, was Hartmann nicht verstand. Der Mann schwitzte, was sicher auch der Schutzweste geschuldet war, die sich wie der Panzer eines Käfers um seinen Oberkörper spannte. Davor baumelte eine MP 5. Der zweite, jüngere Polizist drückte sich in der Nähe des Wagens herum, als sei ihm das Verhalten des Kollegen unangenehm. Oder er wollte einfach seine Ruhe. Bei dem, der sich Hartmann näherte, war das nicht sicher. Unter den Haaren, die ohne Würde ergraut waren, rannen ein paar Schweißtropfen hervor. Der frühe Oktober zeigte sich weiterhin von seiner reizvollsten Seite und jetzt, am frühen Nachmittag, erreichten die Temperaturen spätsommerliche 24 Grad Celsius. Hartmann nahm einen kleinen Rucksack mit ein paar Nützlichkeiten und seinem Schreibblock aus dem winzigen Kofferraum. Der Polizist fingerte an seiner Schirmmütze herum. 

„Schöner Tag zum Spazierengehen, oder?“ 

Ein unangenehmer, distanzloser Klang. 

„Deshalb bin ich nicht hier“, antwortete Hartmann und setzte dazu an, sich vorzustellen. „Ich bin…“ 

„…soeben durch eine Straßensperre gefahren“, schnitt ihm der Mann das Wort ab, „Denken Sie, das Schild steht da ohne Grund?“ 

Hartmann überlegte kurz, mitzuspielen, bevor er die Karten auf den Tisch legte. Doch er hatte bereits genug Zeit verloren. 

„Keine Ahnung, warum steht es denn da?“ 

Sein Gegenüber glaubte, sich verhört zu haben. Seine Augen traten hervor. 

Er nuschelte etwas zu sich selbst. Es klang nicht gut. Dann besann er sich auf eine  amtliche Stimme:

„Sie haben eine polizeiliche Absperrung überfahren. Ich werde daher Ihre Personalien für das Bußgeldverfahren aufnehmen. Ausweis und Führerschein!“  

„Sie haben das Zauberwort vergessen.“ 

Es fing an, Hartmann Spaß zu machen, auch wenn es umprofessionell und zeitraubend  war. Sein Gegenüber sah ihn ungläubig an. Dahinter loderte immer deutlicher der Zorn. 

„Bitte“, verdeutlichte Hartmann. 

Sein Gegenüber grinste böse und schaute, als werde er Hartmann sogleich auf den Schuh spucken. Es war höchste Zeit, die Szene zu beenden, bevor sie eskalierte und jemand etwas sagte oder tat, was später nur noch schwer zu beheben war. Hartmann kramte in der Tasche seines Jackets nach dem Dienstausweis. Sein Gegenüber wirkte zunehmend nervös. Als suche er nach weiteren Verfehlungen. Dann fiel sein Blick auf die kleine Beule, die die Walther-Pistole unter Hartmanns Jacket hinterließ. Er sprang ruckartig zwei Schritte zurück und fummelte an seiner Maschinenpistole herum, wobei er sich im Schulterriemen zu verheddern drohte. Hartmann wartete geduldig, bis die Mündung endlich auf ihn zeigte.   

„Greifen Sie in meine Tasche. Das wird alles erklären.“ 

Inzwischen war der zweite Polizist hinzugetreten. 

„Sagen Sie mir nicht, was ich zu tun habe“, giftete der Ältere. Hartmann warf einen flehenden Blick zu dem jungen Beamten, der sich schließlich erbarmte. Vorsichtig steckte er  seine Hand in die Jackentasche, während der andere weiter die Waffe auf Hartmann richtete. 

„Halten Sie die Hände oben, oder ich schieße.“ 

Hartmann tat, wie ihm befohlen. Auch wenn die Situation etwas bizarr anmutete. 

„Vorher sollten Sie entsichern, sonst funktioniert das nicht. Es ist der kleine Hebel, den die Herren Heckler und Koch neben dem Abzug eingebaut haben.“ 

Sein Gegenüber sah aus, als drohe er zu explodieren. Der Zweite zog währenddessen die kleine Chipkarte hervor, auf der neben einem rundlichen Adler nüchtern Bundeskriminalamt stand. Daneben ein Foto des Inhabers. Kein Meisterwerk, aber der ernste Blick passte. Darunter Name, Dienstnummer, krakelige Unterschrift. Der Beamte wendete und drehte den Ausweis, als müsse er von einer Fälschung ausgehen. Hinten stand in kleiner Schrift: 

Die Behörden des Bundes und der Länder werden gebeten, den Inhaber bei sämtlichen Dienstausübungen zu unterstützen. Der Inhaber ist berechtigt, eine Waffe in der Öffentlichkeit zu führen. Bei Verlust ist dieses Dokument zu senden an: Bundeskriminalamt Wiesbaden. Unleserliche Unterschrift des BKA-Vizepräsidenten. 

„Nimm die Waffe runter“, wies er seinen Kollegen an. Die Hände hatte Hartmann bereits gesenkt, was aber niemand auffiel. 

„Was?“ 

„Mach schon. Das ist der Ermittler vom BKA, auf den Wülknitz wartet.“  

Zum Beweis hielt er die kleine Karte in die Höhe. Sein Kollege starrte sie an wie ein totes Gürteltier. Etwas, das auf einer Brandenburger Landstraße selten zu finden ist. Endlich senkte er seine Waffe, zog sich ein paar Schritte zurück und überließ dem Jüngeren das Sprechen. Hartmann erklärte, dass er hier sei, um den Fundort der Leichen im Sperrgebiet zu besichtigen. 

„Soll einer von uns Sie hinführen?“  

„Nicht nötig, vielen Dank. Zeigen Sie mir nur die Richtung. Notfalls hab ich ja noch die Karte.“ 

Er tippte auf den Plan. Wülknitz hatte den Fundort der Leichen mit einem roten Kreuz markiert. Er würde es schon finden.  

„Sagen Sie“, Hartmann wies auf den Mercedes G, „Ist das Ihrer?“ 

Der junge Polizeiobermeister schüttelte lächelnd den Kopf. 

„Nee, aber würde mir gefallen. Gehört der Försterin. Die hat ihn heute morgen da abgestellt und ist mit ihrem Hund losgezogen.“   

Hartmann spürte ein kurzes Ziehen in der Magengrube. Verhalten, aber unangenehm. 

„Ins Sperrgebiet?“ 

„Klar, die kennt sich hier besser aus, als wir alle zusammen.“ 

Es war keine Antwort, die den Ermittler beruhigte. Höchstens ein leichtes Aufatmen.  

Er bedankte sich und brach auf. Der Waldweg begann direkt an der Landstraße hinter einer alten, verrosteten Schranke. Daran war ein Warnschild befestigt, das klang, als solle es Spaziergänger verängstigen. 

Hartmann betrat eine Landschaft, die seit vielen Jahren unberührt schien. Die Natur arbeitete beständig daran, die letzten Narben zu tilgen. Das Ergebnis war ein Wald, wie er nur noch selten zu finden ist. Eine Kulisse für Fantasyfilme. Er folgte dem Weg vorbei an knorrigen Kiefern, Eichen, über Hügel und durch Wildwiesen. Er ließ die Ausstrahlung des ehemaligen Sperrgebiets auf sich wirken. Dies war kein freundlicher Ort. Etwas Beklemmendes, vielleicht sogar Schockierendes lastete auf diesem Wald, auf diesen Hügeln.  Das alles hatte seine Unschuld schon vor langer Zeit unwiederbringlich verloren. Hartmann spürte einen schlechten Geschmack am Gaumen, der an Aluminiumstaub erinnerte. Es war, als sei der Krieg und etwas unfassbar Böses in der Landschaft, zwischen den Bäumen gefangen. Wie ein Teufel, der jedem Exorzismus widerstand. Es war ein Ort, an dem die Zeit stehengeblieben war. 

Schon bald drohte der Pfad gänzlich im Dickicht zu verschwinden. Hartmann, mit Lederschuhen und Anzug nicht unbedingt ideal gekleidet, blieb an Zweigen hängen. Selbst schuld, nichts aus Nordirland gelernt. Also beschwer dich nicht. Die Krawatte hatte er bereits in den Rucksack gestopft. Als er schon glaubte, sich verlaufen zu haben, trat er auf brüchigen Beton. Reste einer alten Straße. Halb von Nadeln und Erde verdeckt und schon lange auf keiner Karte mehr eingezeichnet. Hier lief es sich leichter. Auf einer der warmen Betonplatten sonnte sich eine Kreuzotter. Als sie die Erschütterungen spürte, nahm sie Reißaus, kehrte aber bald zurück, um die letzten Sonnenstrahlen des Jahres in sich aufzunehmen. 

Nach kurzer Zeit stieß er neben der Straße auf ein altes, von Birken überwuchertes Wachhäuschen. Wenige hundert Meter danach passierte er einige Hallen. Die angerosteten  Tore waren halb geöffnet, andere geschlossen. Er sah flüchtig in eine hinein. Sie war leer. 

Aus der aufgebrochenen Straße wuchsen junge Bäume. 

In einiger Entfernung erhoben sich dunkelrote Backsteinmauern wie eine Drohung. Er sah leckende Rohre und Schornsteine. Etwas abseits standen leere, geborstene Tanks. Die alte Fabrik, von der Wülknitz gesprochen hatte, kein Zweifel. Er hatte sie gefunden. Das Gebäude versteckte sich zwischen hohen Büschen und verfilztem Gestrüpp. Erst auf den zweiten Blick erfasste man die Größe des Komplexes. Es gab mehrere Nebengebäude, die durch Gänge verbunden waren. In den Mauern fehlten Fragmente.  

Die Försterin muss eine mutige Frau sein, schoss es Hartmann durch den Kopf. Schon bei Tageslicht ging eine abweisende, unheilvolle Wirkung von den dunklen Backsteinen aus. Wie mochte es sich da erst bei Nacht anfühlen?  

 

Plötzlich nahm Hartmann eine Bewegung an der Mauer wahr. Inmitten der Sträucher. Zweige bogen sich. Schnell, aber lautlos bewegte er sich darauf zu und verharrte an der Ecke. Dort, wo er nicht gesehen werden konnte. Auf unangenehme Weise erinnerte ihn all das an Nordirland. Es raschelte. Das Geräusch kam näher. Ein Tier, womöglich  ein Wolf? Unter dem Jacket wanderte seine Hand zur Pistole. Er kniff die Augen zusammen und spähte vorsichtig um die Mauer. 


Was er sah, war ein uniformierter Polizist, der sich durch ein Dickicht aus Stechginster quälte, wobei er sich heillos in den Dornen verfing. Hartmann atmete auf und trat vor. Der Beamte erschrak. Die hektischen Bewegungen ließen seine Lage nicht besser werden. Wie eine Fliege im Spinnennetz. 

„Wer sind Sie?“, keuchte er. Die Anstrengung tauchte sein weiches Gesicht in einen rosigen Schimmer. Unter der blauen Jacke zeichnete sich ein behaglicher Bauch ab.  

Hartmann hob beruhigend die Hände. 

„Robert Hartmann, Bundeskriminalamt. Alles in Ordnung bei Ihnen?“  

Er konnte sich die Antwort selbst geben und versuchte zu helfen, indem er die stacheligen Zweige zur Seite bog. Mühsam gelang es, den Mann Stück für Stück aus seiner misslichen Lage zu befreien. Offenbar hatte er den falschen Platz zum Austreten gewählt. 

Er bedankte sich angestrengt und begutachtete die Risse in seiner Uniform. „Hier ist sogar das Pinkeln gefährlich.“  

Es handelte sich um jenen Kollegen, den Wülknitz abgestellt hatte, um den Fundort der Leichen zu sichern. Kein beneidenswerter Auftrag. Doch zumindest bewahrte er die Landespolizei vor dem Vorwurf, nicht alles getan zu haben, um mögliche Spuren zu schützen. 

Bis man jemand fand, der für dieses Schlamassel zuständig war oder dem keine Ausrede einfiel. Die Kripo in Potsdam hatte den Kelch weitergeschoben, da es sich um eine Liegenschaft in Bundesbesitz handelte. Zumindest hatte ihm Quenting das gesagt. Deswegen war es höchstwahrscheinlich nicht die ganze Wahrheit. 

„Wie lange sind Sie schon hier?“, fragte er den Polizisten. 

„Seit gestern Abend“, brummte sein Gegenüber. Er hatte ein offenes, freundliches Gesicht und kurze Haare. Hartmann schätzte ihn auf Ende Vierzig, vielleicht älter. Er sah nicht unbedingt wie ein Favorit im Eintausendmeterlauf aus. Dafür umso mehr wie einer, mit dem man danach gerne ein Bier trinken ging. 

„Wann kommt ihre Ablösung?“ 

Er sah missmutig auf die Uhr. 

„In knapp zwei Stunden.“

„Wenn Sie wollen, machen Sie sich auf den Weg. Sie hatten bestimmt keine angenehme  Nacht. Ich kläre das mit Herrn Wülknitz, kein Problem. In den nächsten Stunden kommen meine Kollegen und wir haben hier sicher eine Weile zu tun.“

Einige Stirnfalten und ein pflichtschuldiges Überlegen.

„Na gut, da sage ich nicht nein. Aber reden Sie mit dem Chef, sonst krieg ich Ärger.“ 

„Versprochen“ 

Hartmann blickte zur Fabrik. 

„Ist ja ein Riesending. Können Sie mir beschreiben, wie ich am schnellsten zu den Leichen komme?“ 

„Nicht weit hinter dem Eingang ist eine große Halle, da müssen Sie durch. Am Ende beginnt ein Gang. Wenn Sie da reingehen, sehen Sie es schon. Da steht ein Baustrahler.“    

Seine Stimme schauderte. Dann fasste er sich ein Herz.

„Soll ich es Ihnen zeigen?“ 

„Nein nein, schon gut. Sie müssen sich das wirklich nicht noch einmal antun. Machen Sie Feierabend.“ 

Hartmann spürte die Erleichterung seines Gegenübers. 

„Sagen Sie, war heute schon jemand hier, außer Ihnen und mir?“

Zwei Sekunden Nachdenken.

„Nein, das hätte ich wohl bemerkt.“

„Auch nicht die Försterin? Frau Singer?“

„Nein, die auch nicht, wieso?“

Hartmann blickte an ihm vorbei auf die Backsteinmauern. 

„Weil niemand weiß, wo sie geblieben ist.“ 

Der gemütliche Körper bebte erleichtert.

„Um die Singer machen Sie sich mal keine Sorgen.“

„Warum nicht?“ 

„Haben Sie die Försterin schon kennengelernt?“, antwortete er mit einer Gegenfrage.

„Nein“, gestand Hartmann, „Warum?“

„Auf die brauchen Sie nicht aufzupassen.“ 

Hartmann verzichtete auf eine weitere Nachfrage.  

Der Blick des Polizisten wanderte zum Eingang der Fabrik. In seinen Augen stand der Ausdruck, den man dem Unbekannten und Bösen entgegenbringt. Vielleicht trieb ihn auch nur die Sorge vor einer weiteren Nachtschicht um. 

„Werden die Leichen jetzt endlich abgeholt?“

„Sehr bald“, beruhigte ihn Hartmann und verabschiedete sich.


Er betrat den Eingang der alten Fabrik. Eine Schleuse, dachte Hartmann, als er die Gummifetzen an der Decke sah. Eine Sicherheitsvorkehrung für hochreine Produktionsanlagen. Man wollte verhindern, dass Keime und Bakterien ins Gebäude gelangten. Oder hinaus.

 Er erreichte eine hohe Halle mit Betonsäulen und einem Becken in der Mitte. Dunkles Brackwasser glänzte darin. Seitlich davon waren irgendwelche Vorrichtungen aus Metall in den Boden eingelassen. Sie sahen aus  wie Überbleibsel von Greifarmen. Reichlich Tageslicht fiel durch die Fenster im oberen Teil, der als offene Galerie angeordnet war. Ein Rundgang führte um die gesamte Halle. Vielleicht war von dort etwas überwacht worden. Was auch immer hier früher einmal produziert worden war, Fischkonserven waren es sicher nicht gewesen.

All das nahm er soweit wahr, wie es ihm während der Ausbildung als Zielfahnder beigebracht worden war. Man scannt seine Umwelt instinktiv nach Hinweisen, Gefahren und allerlei Informationen, die anderen Menschen zwangsläufig entgingen.   

Hartmann hielt nach dem Gang Ausschau, den der Polizist beschrieben hatte. Er war nicht schwer zu finden. Zumindest tagsüber. Lang, dunkel und schmutzig. Hartmann knipste die Taschenlampe an, passierte Schutthaufen und etwas, das wie abgerissene Tapeten aussah. An einer Stelle fehlte ein Stück der Mauer. Sonnenlicht fiel in den Gang. Er ging weiter. 

Hätte die Polizei den Fundort nicht mit Flatterband abgesperrt, hätte er das, was dort lag, vermutlich für Haufen alter Kleidung gehalten. So musste es auch dieser Försterin ergangen sein. Er zwängte sich unter dem Plastikband hindurch. Ein Doppelhalogenstrahler auf einem gelben Stativ wartete darauf, die Umgebung in grelles Licht zu tauchen. Ein großer Akkublock stand daneben. Die Polizei aus Zossen hatte gute Vorarbeit geleistet. Hartmann zog Plastiküberzieher über die Schuhe und Latexhandschuhe über seine Hände. Dann schaltete er den Strahler ein. 

Seine Karriere hatte ihn an Opfern so ziemlich jeder Tötungsart entlanggeführt. Sie waren erschossen, erstochen, erschlagen, erwürgt, erdrosselt, ertränkt, vergiftet und verbrannt worden - und das war nur ein kleiner Teil dessen, was er gesehen hatte. Seit Belfast konnte er noch gekreuzigt hinzufügen. Doch nichts davon war hier geschehen. Hier war nicht getötet worden, jedenfalls nicht im engeren Sinne oder als Selbstzweck. 

Hier war gefressen worden.  

Zumindest sah es für Hartmann danach aus. Viele der Knochen schienen regelrecht abgenagt worden zu sein. Noch weniger als vom Fleisch war von den inneren Organen übrig. Die verbliebene Haut der Opfer war von Rissen durchzogen. Wie zu erwarten war, glänzte die Oberfläche inzwischen in wächsernem Totenweiß. Fette Fliegen kreisten darüber, andere krabbelten emsig über die Leichen, manche hinein. 

Er war nicht hier, um das Urteil des Gerichtsmediziners vorwegzunehmen. Doch wenn man ihn fragte, waren das Bissspuren. Nicht vom schwächlich-stumpfen Gebiss eines Menschen, sondern von spitzen und scharfen Reißzähnen. Doch es war viel zu früh, sich auf irgendetwas festzulegen. Es gab dutzende Szenarien, die sich hier zugetragen haben konnten und er maßte sich nicht an, sie alle zu kennen.     

Hartmann achtete darauf, wo er hintrat, was nicht einfach war. Zwischen dem, was von den drei Menschen übriggelassen worden war, sah er große, angetrocknete Blutlachen. Daneben Reste von Eingeweiden, Knochensplitter und Haare. Er war kein Forensiker und es war auch nicht seine Aufgabe, einen möglichen Tatort wissenschaftlich zu analysieren. Ihm ging es zunächst darum, sich einen Überblick zu verschaffen und das Geschehen auf sich wirken zu lassen. Wenn erst einmal Leute mit weißen Anzügen dazwischen umherliefen, die  Leichenteile und Spuren sortierten, ging die Botschaft unwiederbringlich verloren, die dieser schreckliche Ort ihm zuflüsterte. Er begutachtete auch den Schriftzug inmitten der Leichen.  Alles war, wie die Försterin der Polizei zu Protokoll gegeben hatte. Wiedergeburt. Halb eingekratzt, halb in den Staub gewischt. Die Schrift mutete hektisch, schwach und ängstlich an. Die letzte Handlung eines Menschen, dem sein Ende vor Augen stand. Oder war das genau der Schluss, den die Polizei daraus ziehen sollte?    

Alles musste sehr schnell gegangen sein. Es gab keine Anzeichen für einen klassischen  Abwehrkampf. Dazu waren sie vermutlich gar nicht mehr gekommen. Noch etwas las er aus der Szene. Es klang paradox. Doch trotz all dem Blut und Tod sprach kein Hass aus dem, was er sah. Zumindest nicht im menschlichen Sinne. Doch das war nur ein Gefühl und es konnte täuschen. Er zog das Smartphone aus der Tasche. Verbindung zu Quenting.

„Ja?“, meldete sein Chef sich unwirsch. 

„Ich brauche mindestens zwei Kollegen der Tatortgruppe und den Rechtsmediziner. So schnell wie möglich.“ 

„Sind Sie vor Ort?“ Quenting klang, als sitze er im Auto und benutze die  Freisprecheinrichtung. 

„Ja“

„Was sehen Sie?“ 

Hartmann blickte sich auf dem Boden um. Dort, wo der Doppelstrahler nichts im Dunklen ließ. 

„Es sieht aus wie…“

„…wie was?“, drängelte Quenting.

„Stellen Sie sich eine Familie mit schlechten Manieren und gewaltigem Hunger vor. Alle  sitzen ungeduldig am Tisch und warten auf die Weihnachtsgans. Der Vogel wird auf den Tisch gestellt und alle fallen darüber her. Dann stehen sie auf und gehen. Das, was ich hier sehe, sind die bedauernswerten Reste.“ 

Quenting rang nach einer sinnvollen Entgegnung. Ihm fiel nichts ein, daher fragte er: 

„Weihnachtsgans? Haben Sie getrunken, Hartmann?“

„Wenn Sie hier wären, würden Sie feststellen, dass es genau so aussieht.“ 

„Im Ernst, was ist dort passiert?“ 

„Das soll mir ihre pathologische Kapazität beantworten, aber bis dahin sage ich, das war ein Tierangriff. Nicht unwahrscheinlich, dass es Wölfe waren.“  

„Warum ausgerechnet Wölfe?“ 

„Weil Tiger oder Löwen hier nicht vorkommen.“ 

„Könnte es nicht sein, dass es genau so aussehen soll? 

„Ja, diese Möglichkeit ziehe ich natürlich ihn Betracht.“ Hartmann erinnerte sich an die Phrase, die Müllerthur benutzt hatte. „Ich werde in alle Richtungen ermitteln.“ 

„Kommen Sie mir jetzt nicht so. Was halten Sie von einem rituellen Hintergrund?“, legte Quenting nach. „Jemand könnte die Zähne der Raubtiere verwendet haben.“ 

„Sie meinen, wie diese Leopardenmenschen, damals in Afrika? Das ist nicht vergleichbar. Hier wurde Niemandem die Kehle mit einer Kralle durchtrennt, sondern hier wurde gefressen. Wenn es sich um irgendeinen Ritus handeln sollte, sprechen wir wahrscheinlich auch von Kannibalismus. Aber wenn Sie mich fragen, bleibe ich vorerst auf der Wolfsfährte.“  

Sein Vorgesetzter schnaufte. Das gefiel ihm nicht. Ganz und gar nicht. Jetzt war Schadensbegrenzung gefragt. 

„Behalten Sie diese Meinung erst einmal für sich, bis wir Gewissheit haben. Ist das klar?  Das wird sicher nicht allen gefallen. Ich schicke Ihnen die Leute, der Doktor müsste schon auf dem Weg sein. Er meldet sich bei Ihnen. Und Sie sich bei mir, wenn es Neues gibt.“

Hartmann steckte das Handy weg. Er betrachtete die Leichen noch eine Weile stumm, blickte in das, was einmal ihre Gesichter gewesen waren. In dem blutigen Chaos war ihr  Leiden und Sterben authentisch konserviert. Selbst ihre Schreie schienen sich noch immer an den Backsteinen zu brechen. Doch neue Ansätze boten sich dem Ermittler hier vorläufig nicht mehr. Er würde später mit dem Gerichtsmediziner zurückkehren. Nachdenklich durchquerte er das verwahrloste Fabrikgebäude, bis er erleichtert ins Freie trat. Er hatte den Ort eines furchtbaren Ereignisses gesehen, das jedoch nicht zwangsläufig ein Verbrechen gewesen sein musste. 


Sein nächster Schritt bestand darin, zu der Einrichtung zu fahren, in der Miriam Gillenthal betreut wurde. Eine Frau, die er unschuldig des Mordes angeklagt hatte, war seine erste und wichtigste Zeugin. Und ausgerechnet er sollte sie befragen. An einem Tag, den er eigentlich mit Melanie verbracht hätte. All das erschien ihm nicht nur wie ein Alptraum. Es war einer. Nur leider hatte man vergessen, ihn zu wecken. 

Ein fein geschnittenes, fast aristokratisches Gesicht, umrahmt von glatten dunklen Haaren, zog an ihm vorbei. Miriam Gillenthal, wie sie in seiner Erinnerung lebte. Die anstehende Begegnung erzeugte ein Gefühl, als trampele jemand genüsslich auf seiner Magenschleimhaut herum. 

Hartmann lief den Pfad zurück, der zur versandeten Militärstraße führte.  

Jetzt, im warmen Licht der Herbstsonne erzeugte der Wald eine Illusion der Unbeschwertheit. Wie mochte sich diese Umgebung in der vorletzten Nacht angefühlt  haben? Er stellte sich eine dunkelhaarige Frau vor, die ziellos und verwirrt durch den Wald irrte. Die verschwitzten Haare strähnig im Gesicht. Was um alles in der Welt hatte sie hier getan? Woher hatte sie von den Leichen in der Fabrik gewusst?      


Unweit des Weges raschelte es im Gebüsch. Ein Eichhörnchen kam daraus hervor, wobei es eine Eichel umklammerte. Es blickte kurz zu Hartmann auf, bevor es mit  atemberaubender Geschwindigkeit einen Baumstamm erklomm. Das kleine Tier wirkte   zielstrebig wie eine Rakete, die einem einprogrammierten Ziel folgt. Jedes Lebewesen im Wald wusste, was es tat und wann es zu tun war. Jedes, bis auf Robert Hartmann. Der Ermittler schlenderte seltsam unentschlossen über die zerbröselnde Straße, die allmählich von der Natur verdaut wurde. Irgendetwas hielt ihn zurück wie ein unsichtbares Gummiband. Als habe der Wald noch etwas zu sagen, bevor er ihn gehen ließ. Wenige Sekunden später erhielt der Ermittler tatsächlich eine Nachricht. Allerdings auf eine andere Weise. Sein Handy klingelte. Die blecherne Tonfolge brachte die zarte Melodie des Waldes zum Schweigen. Die Vögel verstummten und sogar das Eichhörnchen hielt inne. In ihrer Welt überhörte niemand ein  Geräusch. Wer es tat, für den konnte es das letzte Mal sein. Jeder von ihnen stellte für einen anderen die Beute dar. War es im Fall der Toten auch so gewesen? Was hatten Sie überhaupt hier getan? Hartmann überkam die Gewissheit, am Anfang eines langen Weges zu stehen. Wenn er dort überhaupt schon angelangt war.  

Endlich machte er dem elektronischen Plärren ein Ende. Auf dem Display stand Unbekannter Anrufer, weswegen er sich nicht mit seinem Namen meldete.  

„Ja?“ 

„Sind Sie Hartmann?“ 

Die ungeduldige, möglicherweise sogar gehetzte Stimme einer Frau. 

„Wer möchte das wissen?“ 

„Singer. Mein Name ist Singer. Die Polizei in Zossen hat mir Ihre Nummer gegeben.“ 

Er holte tief Luft. „Sie sind die Försterin?“ 

„Ja“ 

„Warum sind Sie nicht zur Besprechung gekommen? Wir haben uns schon Sorgen gemacht.“ 

„Sie sind besorgt um mich, wie rührend. Dabei kennen wir uns doch noch gar nicht.“ 

Ein milder Anflug von Spott lag in ihrer Stimme. Doch da war noch etwas anderes. Als sei  es die Frau dahinter nicht gewohnt, dass sich jemand um sie sorgte. Oder als legte sie keinen Wert darauf. 

„Lassen wir die Spielchen, ja? Ich muss mit Ihnen über die Nacht sprechen, in der sie die Leichen gef…“ Ein Knarzen unterbrach die Verbindung. Zumindest auf seiner Seite. Falls sie noch etwas gesagt hatte, war es in den Weiten des Äthers verschwunden. Das Display zeigte lediglich einen Empfangsbalken an und auch der verschwand hin und wieder. Er rannte ein Stück die alte Straße entlang, bis er eine Stelle erreichte, die nicht vollständig von Bäumen umgeben war. 

„Hören Sie mich jetzt? Was sagten Sie zuletzt?“ 

„Ja, es geht wieder“, gab sie zurück, „Ich sagte, dass ich glaube, ich habe diese schreckliche Sache bereits aufgeklärt. Zumindest das mit den Wölfen. Kann es Ihnen zeigen. Sie werden ihren Augen nicht trauen.“   

Um ein Haar wäre ihm das Smartphone entglitten und auf den brüchigen Betonplatten   gelandet. 

„Sie haben was? Nun mal ganz langsam. Wo sind Sie?“ 

„Im Sperrgebiet.“ 

„Ich auch, in der Nähe des Tatortes. Wie ist ihre Position? Ich komme hin.“  

„Kennen Sie sich hier aus?“, erkundigte sie sich und es klang, als kenne sie die Antwort. 

„Nein, aber ich habe eine Karte.“ 

„Können Sie die auch lesen?“ 

„Verdammt, nun sagen Sie scho…“ 

Wieder kündigte ein hässliches Knarzen eine Empfangsunterbrechung ein. Hartmann lief  ein paar Meter weiter, wobei er das Handy vor sich hielt, als folge er einer Wünschelrute zur Wasserader. Doch der fragile Empfangsbalken kehrte nicht zurück.

Ich hätte sie sofort nach ihrem Standort fragen müssen, bevor ich mich in ein Gespräch verwickeln ließ, dachte Hartmann und trottete missmutig die verlassene Straße entlang. Zumindest war die Zeugin Singer unversehrt. Er konnte sich später mit ihr beschäftigen. Andererseits interessierte ihn die Frage brennend, wie sie es gemeint hatte: 

Ich glaube, ich habe diese schreckliche Sache bereits aufgeklärt. Zumindest das mit den Wölfen. Sie werden ihren Augen nicht trauen…

Sollte das ein schlechter Witz sein? Momentan konnte er nur darauf warten, dass sie wieder anrief. Er würde die Zeit bis zum Eintreffen der Tatortgruppe und des Gerichtsmediziners wie geplant dazu nutzen, die Zeugin Miriam Gillenthal aufzusuchen. 

Er brauchte über eine Dreiviertelstunde, bis er die gesperrte Landstraße 74 erreichte, an der er den Wagen geparkt hatte. Die beiden Polizisten saßen in ihrem Mannschaftswagen, der weiterhin die Straße blockierte. Hartmann grüßte den jüngeren beiläufig. Anschließend bemühte er sich halbherzig, seine Schuhe zu reinigen und fuhr los. 

 

    

 




        

 





VII



Kiefernruh




Die L74 durchquerte Felder, auf denen halbvertrocknete Maispflanzen vor sich hingammelten. Sie hatten im Sommer zu wenig, im Herbst zu viel Wasser bekommen. Es folgten abgeerntete Rapsfelder, die sich als ockerfarbene Flächen bis an den Rand des Kiefernwaldes dehnten. Nach knapp fünfzehn Minuten erreichte der Wagen den Mellensee, der zunächst zwischen den Bäumen nur zu erahnen war. Einige der Wassergrundstücke waren mit kleinen Lauben besetzt, Datschen genannt. Auf anderen war neu gebaut worden. Seelenlose, hektisch hochgezogene Schachteln zumeist, die zwischen den Kiefern künstlich und trist wirkten. Manche verfügten über eigene Anleger, an denen Boote dümpelten.

Die Straße entfernte sich vom Ufer, führte durch eine Neubausiedlung. Die geschrumpfte Karikatur einer Vorstadtidylle. Der verzweifelte Rückzug ins Nichts. Die Einfamilienhäuser standen so eng, dass gute Nachbarschaft überlebensnotwendig wurde. Die Gärten waren fast so winzig wie jener vor Hartmanns Wohnung, nur noch spärlicher bepflanzt. Überall kurzer, grüner Rasen. Aber vielleicht waren die Menschen erst kürzlich eingezogen und noch nicht dazu gekommen. Den fröhlichen Kontrast bildete ein kleines Mädchen, dass mit seinem rosafarbenen Bobby-Car über den Bürgersteig rumpelte. Eine blonde Frau um die dreißig lud Lebensmitteltüten aus einer Mercedes A-Klasse. Das Mädchen trug zu den geflochtenen Zöpfen ein Lächeln, ihre Mutter zu den offenen Haaren ein verschlossenes Gesicht. Sie strahlte unfrohe Routine und ein stummes Lass mich in Ruhe aus. Hartmann hielt trotzdem neben ihr. Er kurbelte die Scheibe hinunter, um nach dem Weg zu fragen. Weitere Passanten waren nicht zugegen und die Wegbeschreibung, die Wülknitz ihm gegeben hatte, war an ihre Grenze geraten.  

„Guten Tag. Entschuldigen Sie…“ 

Ein misstrauischer Blick traf erst das Auto, dann ihn. 

„…Ich bin auf der Suche nach Haus Kiefernruh , einer psychiatrischen  Betruungseinrichtung…“  

Sie sah ihn an, als habe er ihr gestanden, ihre Tochter entführen zu wollen. 

„Hier bei uns ist das nicht.“ 

„Und wo ist es dann?“ 

Sie schien zu überlegen. 

„Auf der anderen See des Sees. Keiner wollte die hier bei uns haben. Einfach der Straße folgen.“

Ihr Blick wanderte hektisch über die Häuserreihe, als erwarte sie von dort Unterstützung.   

„Verstehe, danke.“ 

Sie schien die Nähe der psychiatrischen Einrichtung als Zumutung zu empfinden. Wer freiwillig danach suchte, konnte nichts Gutes im Schilde führen. Aber sie behielt recht. Die Straße umrundete den See, entfernte sich nie weit vom Ufer.

Nach einer weiteren Viertelstunde hatte er Haus Kiefernruh gefunden.

Das große Seegrundstück war das genaue Gegenteil der Neubausiedlung auf der anderen Seite. Hinter einer gediegenen, aber etwas heruntergekommenen Villa folgte das verwilderte Ufer einer geschwungenen Linie. Die ockerfarbene Fassade hätte einen neuen Anstrich vertragen, doch mit der Umgebung ergab der abgenutzte Charme einen stimmigen Gesamteindruck. Die Gestaltung des Gartens schien einem eigenen, für Fremde unergründlichen Konzept zu folgen. Wahrscheinlicher war jedoch, dass es keines gab. Offenbar sparte man sich den Gärtner und beschäftigte die Patienten mit der Pflege. Möglicherweise ließ sich diese Tätigkeit sogar mit der Therapie verbinden, was zwei Fliegen mit einer Klappe schlug. Das Ergebnis war naturgemäß nicht einheitlich. An manchen Stellen waren die Beete gepflegt, die Pflanzen akkurat beschnitten. Woanders herrschte Wildwuchs, wucherten Büsche wie verfilzte Haarschöpfe. Den Mittelpunkt bildete ein Weidenbaum, dessen lange Äste sich bis auf den ungemähten Rasen bogen. Ein Arrangement, das vor Melancholie triefte. Als sei darin unauslöschliches Leid und Verzweiflung konserviert. 

Ein Mann mit ausgezehrtem Gesicht verharrte scheinbar reglos am Rand des Gartens vor  einem Hochbeet, das aus alten Mauersteinen aufgeschichtet war. An seinem olivfarbenen Arbeitsoverall und den Händen klebte Erde. Sein Alter konnte Hartmann schwer  einschätzen, er konnte fünfzig oder sechzig sein. Daneben stand ein alter Schrank oder großer Kasten. Haut und Haare des Patienten unterschieden sich lediglich im Grauton. Unregelmäßige Bartstoppeln bedeckten das knochige Kinn. Hartmann ging ohne Hast auf ihn zu. Als er näher kam, stellte er fest, dass der Schrank zu einer Voliere umfunktioniert worden war. Hinter einem Gitter saß ein Rotkehlchen auf einer Stange. Darunter standen zwei Schalen mit Wasser und Körnern im Vogelsand.

Der Mann hatte Hartmanns Ankunft registriert, ohne den Blick abzuwenden.

„Bald braucht es mich nicht mehr“ , sagte er versonnen, halb zu Hartmann, halb zu sich selbst. 

„Lassen Sie es frei?“, fragte der Ermittler sanft. Von der Seite sah er, wie der Mann erstaunt die Brauen in die Höhe zog. Seine Augen schienen sich noch tiefer in die Höhlen zurückzuziehen. Alles an ihm wirkte grau und eingefallen. 

„Es ist nicht gefangen. Es erholt sich.“ 

„Wovon erholt es sich?“ 

In der Stimme lag mit einem Mal eine erstaunliche Festigkeit und Überzeugungskraft.

„Es hat sich den Flügel gebrochen, als es gegen mein Fenster flog. Ich helfe ihm. Jetzt ist es fast soweit.“ 

Aus dem letzten Satz sprach die Schwermut, der den Abschied von einem Freund begleitet. 

„Sie sind ein guter Mensch.“ 

Zum ersten Mal wandte sich der Mann zu Hartmann.

„Sie kennen mich nicht. Sie wissen nicht, was hier…“ 

Er unterbrach sich, griff nach einer kleinen Hacke und begann, die Erde des Hochbeets  zu lockern. Allerlei Kräuter gediehen darauf und verströmten einen Duft, der Hartmann an eine Reise in die französische Provence erinnerte. Konzentriert zog der Mann kleine Furchen zwischen den Stauden. Mit einem Mal hielt er inne, blickte auf und musterte Hartmann mit erschreckender Intensität.

„Der Boden ist verdorben.“ 

„Aber… Sie bauen doch Kräuter darauf an“, entgegnete Hartmann irritiert. Er erntete einen Blick, der sich anfühlte, als zweifele der Mann an seinem Verstand. Der Patient stocherte mit seinem dünnen, schmutzigen Zeigefinger in Richtung der Kräuter. 

„Nicht dieser Boden.“ 

„Wovon sprechen Sie?“ 

Er erhob die Hand und wies grob in die Richtung, aus der Hartmann gekommen war. 

„Dort!“ 

Genau in diesem Moment registrierte der Ermittler aus dem Augenwinkel eine Frau, die ungefähr Mitte Vierzig war. Sie stand neben dem Hauseingang, hatte die Arme verschränkt und nahm hin und wieder einen tiefen Zug aus einer Zigarette. Ihre Haltung wirkte gewohnheitsmäßig. Trotzdem beschlich Hartmann das Gefühl, sie verfolge die Konversation aufmerksam. Sofern sie aus einer Entfernung von fünfzehn Metern überhaupt etwas verstand. Wahrscheinlich hielt sie bisher nur die Zigarette davon ab, sich in Bewegung zu setzen. Nach zwei weiteren hektischen Zügen drückte sie die Kippe in einem kleinen Aschenbecher aus, der auf dem Fensterbrett stand und ging auf die Männer zu. Sie trug eine etwas zu eng geschnittene, dunkelblaue Jeans und ausgetretene Lederschuhe mit wenig Absatz. Ihr weites Oberteil mit Wasserfall-Ausschnitt musste einmal schwarz gewesen sein, war durch unzählige Wäschen jedoch in ein fusseliges Anthrazitgrau übergegangen. Die stumpfblonden Haare zeigten die Spuren häufigen Färbens und reichten bis knapp unter die Ohrläppchen. 

Sie blieb vor Hartmann stehen und gab sich Mühe, Souveränität auszustrahlen. Ein bisschen fühlte er sich wie ein Schädling, den sie möglichst schnell aus dem Garten zu vertreiben trachtete. Sie warf dem Patienten einen milden und Hartmann einen gestrengen Blick zu.  

„Tag, kann ich Ihnen helfen?“ 

Bevor Hartmann antwortete, wandte sie sich an den Mann im Overall. 

„Ich glaube, du kannst für heute Schluss machen. Es ist bald Zeit zum Essen.“

Hartmann kam es unpassend vor, einen erwachsenen Mann zu duzen. Aber möglicherweise gehörte die Vertraulichkeit zum Konzept. Er musterte die Frau unauffällig. Sie wirkte weder wie eine Ärztin, noch wie eine Pflegerin. Eher, als arbeite sie in einem Büro. 

Der Patient ließ das Werkzeug fallen. Seine Bewegungen wurden fahrig. Dann trottete er auf das Haus zu, wobei er nicht den Vordereingang, sondern die Seitentür an der Terrasse ansteuerte.   

„Sind Sie hier, um jemanden zu besuchen?“, erkundigte sie sich. 

„Das könnte man so sagen“, erwiderte der Ermittler und sah sich um, „Leiten Sie diese Einrichtung?“ 

Sie zuckte mit den Achseln. 

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739441764
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Januar)
Schlagworte
Sünde Thriller Brandenburg Sperrgebiet Wünsdorf Krimi Zielfahnder Wolf Wald Bundeskriminalamt Ermittler Psychothriller

Autor

  • Moritz Hirche (Autor:in)

Moritz Hirche, geboren 1980, veröffentlicht mit „Wolfssünde“ seinen dritten Roman. „Todesfährte“, der erste Thriller um den BKA-Zielfahnder und ehemaligen Staatsanwalt Robert Hartmann, belegte mehrfach vorderste Plätze in den ebook-Charts. Sein zuletzt erschienener History-Thriller „Die Physikerin“ wurde als ebook-Bestseller ausgezeichnet und fand auch in anderen europäischen Ländern Beachtung. Der Autor lebt wieder in seiner Geburtsstadt Berlin und schreibt an seinem nächsten Roman.
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Titel: Wolfssünde