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Die Seele des Bösen - Vermisst

Sadie Scott 14

von Dania Dicken (Autor:in)
283 Seiten
Reihe: Sadie Scott, Band 14

Zusammenfassung

Gemeinsam mit ihrem Kollegen Nick Dormer aus Quantico und ihrer Familie reist Profilerin Sadie zu einer Fachtagung ins ferne London. Ihre Freundin und Kollegin Andrea Thornton hat die beiden FBI-Experten als prominente Sprecher eingeladen. Sadie genießt den fachlichen Austausch, während ihre Pflegetochter Libby in Andreas gleichaltriger Tochter Julie eine Freundin findet. Doch während Matt mit Julie und Libby auf Sightseeing-Tour in London geht, verschwinden beide Mädchen plötzlich quasi vor seinen Augen. Die einzige Spur, die von ihnen bleibt, sind ihre Taschen in einem Müllcontainer. Jetzt sind Andrea und Sadie gleichermaßen gefordert …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

 

Dania Dicken

 

Die Seele des Bösen

Vermisst

 

Sadie Scott 14

 

 

Psychothriller

 

 

 

 

 

Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren von Liebe,

die wir hinterlassen, wenn wir weggehen.

 

Albert Schweitzer

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Freitag, 17. November

 

„Grüß Nick bitte lieb von mir“, sagte Cassandra, bevor sie nach ihrer Tasse griff und aufstand.

„Ist doch klar“, erwiderte Sadie und lächelte. Sie gab ihrem Computer den Befehl, herunterzufahren und stand dann ebenfalls auf. Nachdem sie ihre Jacke übergezogen hatte, prüfte sie mit einem Blick, ob sie alles eingepackt hatte. Sie hatte einen Laptop dabei und eine Mappe mit allen Unterlagen, die sie in London brauchen würde.

Das würde klasse werden, so viel stand fest. Sie freute sich schon seit Wochen auf ihren Besuch in Europa. Die Profilerin Andrea Thornton hatte sie und BAU-Teamchef Nick Dormer zu einer Profiling-Tagung ans Birkbeck College in London geladen, an dem sie lehrte. Und da der Termin praktischerweise in die Thanksgiving-Woche fiel, hatte Sadie die Chance, für ein paar Tage mit ihrer ganzen Familie nach Europa zu reisen, denn Libby hatte Schulferien.

Als Cassandra aus der Küche zurückkehrte, umarmte Sadie sie zum Abschied und wünschte ihr schon einmal ein frohes Thanksgiving, dann ging sie zum Aufzug und fuhr nach unten in die Eingangshalle. Beim Verlassen des Gebäudes suchte sie in ihrer Schultertasche nach dem Autoschlüssel und ging schnurstracks zum Challenger. Inzwischen hatte sie eine gewisse Routine darin, mit Matts Auto zu fahren. Er hatte es ihr angeboten, da er im Augenblick fast nie ein Auto brauchte und Sadies Wagen schon deutlich bessere Tage gesehen hatte.

Gut gelaunt drehte sie das Radio lauter und fuhr parallel zum Freeway nach Hause. Die Interstate musste sie im Moment nicht versuchen, zum Feierabendverkehr gesellte sich nun auch schon der erste Urlaubsstau.

So sehr sie sich daran gewöhnt hatte, mit dem Challenger zur Arbeit zu fahren, so seltsam war es für sie, es allein zu tun. Seit sie in Los Angeles lebten, hatte sie das nicht allzu oft getan. Sie vermisste Matt, wenn sie allein unterwegs war.

Und nicht nur ihn.

Je näher sie Culver City kam, desto ungeduldiger wurde sie. Als sie die Keystone Avenue erreicht hatte, war sie erleichtert, wenig später vor der Garage parken zu können und beeilte sich, ins Haus zu kommen. Von oben aus Libbys Zimmer hörte sie leise Musik und aus dem Wohnzimmer fröhliche Laute und ein Rasseln. Sadie stellte ihre Tasche ab, zog ihre Schuhe aus und beeilte sich, zu Matt und Hayley zu kommen.

Sie fand die beiden mitten auf dem Wohnzimmerteppich. Matt hatte es sich seitlich neben dem Spielbogen bequem gemacht, unter dem Hayley lag und konzentriert nach einem herunterhängenden Spielzeug tastete. Fröhlich strampelnd streckte sie ihre Beinchen in die Luft und strahlte, als sie das Spielzeug zu fassen bekam. Den niedlichen Strampler mit Disneyfiguren hatte Tessa ihr geschenkt. Sadie mochte ihn sehr.

„Hey“, sagte sie und kniete sich neben die beiden auf den Teppich.

„Hey“, erwiderte Matt und richtete sich auf, um sie zu küssen. Sadie erwiderte seinen Kuss nur zu gern, dann hockte sie sich neben den Spielbogen und streichelte Hayley. Als ihre Tochter sie ansah, strahlte sie übers ganze Gesicht und gluckste.

„Hallo, meine Kleine“, sagte Sadie, während ihr warm ums Herz wurde. „Hattet ihr einen schönen Tag?“

Matt nickte. „Heute ist sie ziemlich gut drauf. Aber sie hat Hunger für zwei.“

„Ein Wachstumsschub?“, mutmaßte Sadie.

„Und wehe, ich habe das Fläschchen nicht fertig, wenn sie Hunger kriegt.“

Sadie grinste. „Da weiß jemand, was er will.“

„Unbedingt“, stimmte Matt zu.

Er war ganz bei sich, wirkte entspannt. In der Vaterrolle ging er voll auf. Von Anfang an hatte er sich eingebracht, Windeln gewechselt und Sadie in jeder nur denkbaren Hinsicht unterstützt. Er hatte sie ermutigt, Hayley zu stillen und gab nun selbst das Fläschchen wie selbstverständlich. Er liebte seine Tochter und es freute Sadie, das zu sehen, denn sie wusste Hayley in den besten Händen. So konnte sie jeden Morgen beruhigt und guten Gewissens zur Arbeit gehen. Doch es wäre gelogen gewesen, hätte sie behauptet, dass Hayley ihr nicht fehlte. Das hatte sie unterschätzt. Sie hatte nicht damit gerechnet, wie sehr sie diesen neuen, kleinen Menschen lieben würde, der ihr gleichzeitig so fremd und doch so vertraut war.

Hayley war nun dreieinhalb Monate alt, Sadie ging seit einigen Wochen wieder arbeiten. Anfangs war ihr das unfassbar schwer gefallen, auch wenn sie Hayley bei Matt sicher wusste. Aber die Liebe zu ihrer Tochter hatte sie nicht nur überrascht, sondern schier überwältigt. Nicht auf Anhieb, tatsächlich hatten sie sich erst aneinander gewöhnen müssen und die Liebe war langsam gewachsen. Nun fiel es Sadie schwerer als erwartet, morgens ihre Tochter zu stillen und dann das Haus zu verlassen.

Aber so hatten sie es abgesprochen und so machten sie es jetzt auch. Es störte Matt überhaupt nicht, den Tag mit der Kleinen zu verbringen und sie liebevoll zu hüten. Sadie glaubte eher, dass das Gegenteil der Fall war. Die Auszeit tat ihm gut.

Ungeachtet der Tatsache, dass sie immer noch ihre Bürokleidung trug, lag Sadie neben ihrer Tochter unter dem Spielbogen auf dem Teppich und machte Faxen. Hayley liebte es, wenn man sanft mit ihr sprach und Grimassen schnitt. Schließlich schnappte Sadie sie sich, setzte sie auf ihren Arm und ging mit ihr nach oben, um sich dort umzuziehen und Libby zu begrüßen. Wie meist um diese Zeit saß das Mädchen über ihren Hausaufgaben und blickte erfreut auf, als sie Sadie und Hayley kommen sah.

„Sadie.“ Lächelnd stand sie auf und grinste Hayley breit an, die gleich zurück grinste.

„Guten Tag gehabt?“, fragte Sadie.

„Klar, jetzt sind ja Ferien. Und du?“

„Mein Tag war auch gut. Ich habe die letzten Vorbereitungen für die Tagung getroffen.“

„Ich muss auch bald packen ... ich bin schon so aufgeregt!“, sagte Libby mit einem Lächeln.

„Das glaube ich dir. Es ist ja auch mein erstes Mal in Europa.“

„Wahnsinn. Und dann nehmt ihr mich einfach mit.“

„Ist doch klar!“, sagte Sadie beinahe empört. „Das könnte ja auch sehr aufschlussreich für dich werden.“

„Ich bin gespannt“, sagte Libby.

Sadie bat sie, ihr kurz Hayley abzunehmen, damit sie sich umziehen konnte. Libby tat ihr zu gern den Gefallen und setzte sich das Baby auf den Schoß. Hayley hatte gerade entdeckt, dass die Welt anders aussah, wenn man sie sitzend betrachtete und wollte nun ganz viel sitzen. Sie war ein aufgewecktes, liebes und fröhliches Baby, wofür Sadie sehr dankbar war.

Als sie fertig war, gingen sie zu dritt nach unten und gesellten sich zu Matt. Er hatte bereits damit begonnen, Vorkehrungen für den abendlichen Besuch zu treffen. Phil und Amelia hatten sich angekündigt, bevor Sadie, Matt, Libby und Hayley am nächsten Abend ihren Flug nach London antraten. Sadie war gespannt, wie die Kleine den langen Flug meistern würde. Als sie die Anfrage aus London bekommen hatte, war sie erst nicht sicher gewesen, ob sie die Einladung annehmen sollte. Sie hatte mit Matt beratschlagt, was zu tun war, und schließlich hatten sie sich darauf geeinigt, dass Sadie nicht allein fliegen, sondern die ganze Familie sie begleiten würde. Bis dahin hatten sie gewusst, dass Hayley ein liebes Kind war, mit dem man eine solche Reise riskieren konnte.

Libby ging Matt in der Küche zur Hand, während Sadie sich ganz auf Hayley konzentrierte. Mit ihrer Tochter auf dem Arm ging sie durchs Wohnzimmer und zeigte der Kleinen alles in ihrem Zuhause. Sie genoss diese Momente immer in vollen Zügen. Matt nahm ihr die lästige Hausarbeit kommentarlos ab und ließ ihr die Zeit mit ihrer Tochter. Sie wusste, dass er es tat, weil er glaubte, es ihr schuldig zu sein. Das sah sie zwar anders, aber weil sie ihn davon sowieso nicht abbringen würde, ließ sie ihn machen.

Matt und Libby kochten gemeinsam mexikanisch für sie alle. Die Enchiladas waren gerade im Ofen, als es klingelte. Mit Hayley an der Schulter ging Sadie zur Tür und hieß Phil und Amelia willkommen.

„Kommt doch rein“, bat Sadie ihre Gäste und umarmte sie nacheinander mit einem Arm. Phil grinste Hayley an, die ihn sprachlos anstaunte, und Amelia geriet beim Anblick der Kleinen sofort in Verzückung.

„Sadie, deine Tochter ist wunderhübsch. Du bist zu beneiden!“

Irritiert blickte Sadie auf Amelias Bauch. „Als ob du nicht selbst auch bald eine Tochter hättest.“

„Wenn es denn wirklich eine wird.“

„Der Arzt war sich doch sicher.“

„Ja ... ach, hoffen wir es einfach.“

Sadie sagte nichts. Sie wusste, dass Amelia sich auch eine Tochter wünschte – eine kleine Prinzessin, das hatte sie gesagt. Phil schien es auch ganz recht zu sein.

Nachdem Phil und Amelia auch die anderen begrüßt hatten, ließ Amelia sich langsam auf das Sofa sinken. Mit einem geradezu strafenden Blick sah sie zu Sadie.

„Hast du es gut, dass du nicht so lang schwanger warst“, sagte sie.

Sadie verstand Amelia nicht gleich. „Hayley war fast noch eine Frühgeburt.“

„Ich hoffe, die Kleine kommt in den nächsten Tagen. Es sind ja auch nur noch neun Tage bis zum Termin!“

„Das wird schon“, sagte Sadie. „Ganz bestimmt. Nett übrigens, dass ihr vor diesem Hintergrund hergekommen seid.“

„Ach was, ich war ja bis vor kurzem auch noch arbeiten. Und wegen Hayley ist das doch mit Sicherheit besser für euch.“

„Es ist unkomplizierter“, sagte Matt aus der Küche.

„Demnächst kommen wir dann einfach zu euch“, sagte Sadie.

„Ihr reist doch ausgerechnet jetzt erst mal ins ferne Europa“, neckte Phil sie augenzwinkernd.

„Ich arbeite da. Die ganze Woche ist Arbeitszeit für mich“, erinnerte Sadie ihn.

„Hast du es gut! Und Matt hütet den Nachwuchs?“

„Wie immer“, rief Matt, der auch das gehört hatte.

„Wir verpassen schon nichts“, sagte Sadie. „Sollte es nächste Woche losgehen, seid ihr doch kaum zu Hause, wenn wir wieder zurück sind.“

„Das wird schon“, sagte Amelia und streichelte ihren großen Bauch. Nur Minuten später stellte Matt das Essen auf den Tisch. Amelia bat sich eine kleinere Portion aus, wofür Sadie vollstes Verständnis hatte. Trotzdem lobte sie die Köche ausdrücklich.

Während des Essens beobachtete Sadie, wie zufrieden Phil und Amelia wirkten. Sie freuten sich auf ihr Baby, was Sadie verstehen konnte. Matt erkundigte sich bei Phil, wie lang er sich frei nehmen würde, und Phil verkündete stolz, dass er sich an Matt ein Vorbild genommen und auch Pflegezeit für die Familie beantragt hatte.

„Das ist es mir wert“, fügte er schließlich noch hinzu.

„Du wirst es nicht bereuen“, versprach Matt.

Als sie mit dem Essen fertig waren, holte Libby noch den Nachtisch. Davon aß Amelia eine beträchtliche Menge, was sie mit überbordenden Schwangerschaftsgelüsten begründete. Sadie konnte sie verstehen.

Schließlich machten sie es sich auf dem Sofa bequem. Libby stahl sich wieder in ihr Zimmer davon und Hayley war auf Matts Arm eingeschlafen. Damit schien er ganz zufrieden zu sein.

„Ich traue mich ja nicht das, was du gemacht hast“, sprach Amelia Sadie an.

„Was meinst du?“

„Das Kind außerhalb eines Krankenhauses zu bekommen. Ganz ohne Schmerzmittel ...“

„Wenn man dich machen lässt, brauchst du keine“, sagte Sadie.

„Ich finde deine Entscheidung mutig.“

„Ich deine auch.“

Amelia überlegte kurz. „Die meisten Frauen gehen doch ins Krankenhaus.“

„Ja, aber nötig ist das nicht. Wirklich nicht. Und du musst keine Angst haben, Amelia.“

„Wenn du das sagst ...“ Sie klang nicht überzeugt. Sadie versuchte, ihr zu erklären, was ihre Hebamme ihr seinerzeit gesagt hatte. Besonders in der westlichen Welt betrachtete man Geburten als riskant, schmerzhaft und etwas, das in die Hände von Medizinern gehörte. Aber Sadie hatte selbst erlebt, dass das nicht stimmte. Unter den Wehen hatte sie bloß ihre Hebamme gebraucht, die sie leitete und ihr sagte, dass sie es richtig machte.

Aber Amelia war unsicher und Sadie versuchte nicht, sie in ihrer Entscheidung zu beeinflussen. Parallel hörte sie, wie Phil hoffnungsvoll versuchte, bei Matt irgendwelche Tipps zu ergattern, was die erste Zeit mit Baby anging. Hayley schlief inzwischen nachts sehr gut, zwischen sechs und acht Stunden hielt sie ohne Nahrung durch. Aber Sadie hätte nicht sagen können, dass sie dafür irgendwelche Tricks bemühten. Sie hörten einfach auf ihren Instinkt und beobachteten Hayley.

Sie bekam später noch ein Fläschchen und Sadie brachte sie schließlich ins Bett. Libby erklärte sich wieder einmal bereit, sich mit ihrem E-Reader neben Hayleys Bettchen zu setzen und auf sie aufzupassen, bis sie eingeschlafen war.

„Das ist lieb von dir“, sagte Sadie.

„Ist doch klar. Ihr habt Besuch von euren Freunden und ich kann mich nützlich machen. Das tue ich gern.“

„Vermutlich wird sie ohnehin schlafen.“ Jedenfalls wirkte es auf Sadie so, denn Hayleys kleine Augen fielen immer wieder zu.

„Ich bin so gespannt auf Katie.“

„Das glaube ich dir“, sagte Sadie. „Andrea hat mir von ihr auch nur erzählt.“

„Man kann eigentlich gar nicht vergleichen, was wir erlebt haben. Nicht direkt jedenfalls.“

„Das stimmt, aber es geht ja darum, dass euch beiden die normale Welt ziemlich fremd war. Sie kann dir bestimmt einiges erzählen.“

Libby nickte nur. Andrea hatte vorgeschlagen, dass Libby Katie Archer kennenlernte, die als Kind mit ihrer Schwester entführt, acht Jahre lang gefangen gehalten und unzählige Male missbraucht worden war. Mit siebzehn war ihr die Flucht gelungen, doch die Rückkehr in die Außenwelt war ein Schock für Katie gewesen. Inzwischen war sie neunundzwanzig und hatte  sogar einen Freund. Sadie begrüßte Andreas Idee, Libby und Katie miteinander bekannt zu machen. Vielleicht konnte so Libby, die vor einem knappen Jahr aus der Sekte geflohen war, in die sie geboren wurde, von Katie etwas lernen.

Nicht zuletzt freute Sadie sich auch darauf, Andreas Familie kennenzulernen. Sie kannte Andreas Mann Gregory und ihre sechzehnjährige Tochter Julie immerhin schon vom Telefon. Vielleicht freundeten Julie und Libby sich auch miteinander an, das hätte ihr gefallen.

Sie war wirklich aufgeregt vor dieser Reise. Bislang hatte sie die USA noch nie verlassen und nun würde sie auf der zweitägigen Konferenz mehrere Vorträge halten, einen zusammen mit Nick Dormer. Sie würde vor Profilern aus ganz Europa sprechen und hoffte, niemanden zu enttäuschen. Auf die Experten aus den USA waren bestimmt alle besonders gespannt. Sie würde dabei auch über ihren Vater sprechen, immerhin hatte sie auch schon ein Essay über ihn verfasst.

In solchen Momenten war sie froh, dass sie weiter als Profilerin arbeitete. Zwar fehlte Hayley ihr schrecklich, wenn sie tagsüber im Büro war, aber sie konnte sich nicht vorstellen, mit Matt zu tauschen. Oft genug war ihr Job hart, aber er war unendlich sinnvoll und sie liebte es, ihn zu machen.

 

 

Sonntag, 19. November

 

Sadie war schon oft innerhalb der USA geflogen, was von Küste zu Küste auch gut fünf Stunden dauern konnte. Doch dieser Flug war etwas anderes. Auf ihrem Schoß und an sie gekuschelt lag Hayley und schlief. Gleiches galt für Libby, die neben ihr am Fenster saß. Matt saß auf der anderen Seite am Gang und war fast damit fertig, sich einen Film anzuschauen. Ihrem eigenen Bildschirm entnahm Sadie, dass sie mitten über dem Atlantik waren. Grönland lag gerade hinter ihnen und draußen war es hell, aber alle Fenster waren verdunkelt und viele Passagiere schliefen.

Für Sadie war kein Denken daran. Sie war zwar einmal kurz eingenickt, aber sie hatten morgens ausgiebig ausgeschlafen, sofern man mit einem Baby davon sprechen konnte. Und jetzt war sie viel zu aufgeregt, um Schlaf auch nur in Erwägung zu ziehen.

Hayley atmete und schlief ganz friedlich. Sie hatte dichten blonden Flaum auf dem Kopf und war angenehm warm auf Sadie. Plötzlich legte Matt seine Hand auf Hayleys Kopf und streichelte ihn. Sadie warf ihm ein Lächeln zu.

„Bin froh, dass sie das mitmacht“, sagte er.

„Und ich bin froh, dass der Flug über Nacht geht. Ich bin gespannt, wie sie den Jetlag verkraftet.“

„Wahrscheinlich besser als wir.“ Matt grinste.

Sie waren um kurz vor zehn abends Richtung London gestartet und gegen die Dämmerung geflogen, so dass es nur kurz dunkel draußen gewesen war. Landen würden sie nachmittags in England, was nicht die schlechteste Lösung war. Bei der Flugbuchung hatte Sadie darauf geachtet, einigermaßen erträgliche Zeiten zu ergattern. Und so war es Hayley tatsächlich egal, dass sie in einem Flugzeug saß, denn für sie war es Nacht und sie schlief einfach. So hatten sie keine Schwierigkeiten damit, sie füttern oder eine Windel wechseln zu müssen.

Das kündigte sich erst an, als sie auf halbem Weg zwischen Island und Irland waren. Hayley bekam Hunger und Matt bat eine Stewardess um Hilfe, um ein Fläschchen für die Kleine zuzubereiten. Schließlich fütterte er sie auch.

Inzwischen war auch Libby aufgewacht und spielte mit ihrem Bildschirm herum. Aus dem Fenster zu schauen, lohnte sich kaum über dem Atlantik. Dennoch entging Sadie nicht, wie faszinierend Libby das alles fand. Gleich ihr allererster Flug war ein Langstreckenflug auf einen anderen Kontinent.

Wenig später bekamen sie noch etwas zu essen – Frühstück. Sadie fand es befremdlich, um vierzehn Uhr Ortszeit ein Croissant mit Marmelade zu bestreichen, aber man richtete sich anscheinend noch nach amerikanischer Zeit.

Als sie einen strengen Geruch bemerkte, war Matt schon fast unterwegs mit Hayley zur Toilette, um sie zu wickeln. Sadie bot ihm an, es zu übernehmen, aber er winkte ab. Dafür erschien er wenig später fluchend wieder bei ihr und regte sich darüber auf, dass er sich in der engen Flugzeugtoilette den Kopf gestoßen hatte.

Hayley verlor allmählich die Geduld mit dem Flug, aber sie landeten auch keine Stunde später auf dem Londoner Flughafen Heathrow. Sadie war unendlich erleichtert, endlich das Flugzeug verlassen zu dürfen. Zuvor hatte sie mit Matts Hilfe die Kleine in ihre Tragehilfe vor dem Bauch gesetzt, so dass sie jetzt frei hantieren konnte. Während sie am Gepäckband auf ihre Koffer warteten, wiegte Sadie Hayley in den Schlaf.

Sie waren angekommen. Sehr anders fühlte es sich noch gar nicht für sie an, in England waren alle Schilder so englisch wie in den USA auch. Erst, als sie den Sicherheitsbereich verließen und sich dem Ausgang des Flughafens näherten, bekam sie ein Gefühl dafür, in Europa zu sein.

Sadie entdeckte Andrea zuerst. Sie wartete am Ausgang auf ihre Gäste und begann übers ganze Gesicht zu strahlen, als Sadie und ihre Familie auf sie zu kamen.

„Willkommen!“, sagte sie und umarmte Sadie, so gut sie konnte. „Willkommen in England. Lass doch mal sehen!“

Damit meinte sie Hayley und betrachtete das schlafende Baby in der Trage entzückt.

„Liebe Güte, ist das lang her bei mir. Du bist zu beneiden!“ Dann wandte sie sich zu Matt. „Schön, dich wiederzusehen.“

„Die Freude ist ganz meinerseits“, sagte er und schüttelte ihre Hand.

„Du musst Libby sein. Ich bin Andrea Thornton“, stellte Andrea sich Libby vor und blickte schließlich in die Runde. „Hattet ihr einen guten Flug?“

„Ja, war in Ordnung“, sagte Sadie.

„Mit einem so kleinen Kind zu fliegen stelle ich mir spannend vor. Die Ehre hatte ich nie.“

„Wickeln auf Flugzeugtoiletten ist kein Spaß“, grummelte Matt.

„Oh, das kann ich mir denken. Kommt mit, wir gehen zum Auto. Greg und Julie wären zu gern mitgekommen, aber so viel Platz ist ja nicht im Auto.“

„Das macht nichts“, sagte Sadie.

„Ist das schön, dass ihr hier seid! Ich habe mich wirklich darauf gefreut.“

„Ich mich auch. Wir alle, glaube ich.“

„War das dein erster Flug?“, erkundigte Andrea sich bei Libby auf dem Weg zum Parkhaus. Sie folgten Andrea zu einem unauffälligen Kombi. Sadie schlug vor, dass Matt vorn sitzen konnte und es brach allgemeines Gelächter aus, als Matt unversehens die Tür zur Fahrerseite öffnete.

„Verdammt“, brummte er und grinste, dann ging er um die Motorhaube herum und stieg auf der linken Seite ein.

Während Andrea ebenfalls noch grinste, sagte sie: „Was meinst du, wie oft mir das am Anfang passiert ist.“

„Wie kann man bloß auf der linken Straßenseite fahren?“, sagte Matt mit einem nicht ganz ernst gemeinten Kopfschütteln.

„Man gewöhnt sich dran“, sagte Andrea trocken und stieg auf der rechten Seite ein.

„Großartig, dass du wirklich einen Babyschale hast“, sagte Sadie, während sie Hayley dort hineinlegte.

„Die habe ich extra von meinem Schwager aus Norwich geholt“, sagte Andrea. „Frag mich jetzt nicht, warum er sie noch hatte, denn eigentlich sind seine Kids da längst rausgewachsen. Aber für diese Gelegenheit habe ich sie gern genommen!“

„Jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen, weil du dir solche Umstände gemacht hast.“

„Musst du nicht, wir sind doch sowieso regelmäßig in Norwich.“ Andrea drehte sich zu ihnen um. „Ich finde es großartig, dass ihr alle hier seid.“

„Wir auch“, sagte Sadie und quetschte sich auf der Rückbank in die Mitte. Hayley gähnte und hielt den Finger ihrer Mutter fest.

„Hatte ich dir eigentlich gesagt, dass Katie Archer auch an der Tagung teilnimmt?“, fragte Andrea.

Sadie stutzte. „Nein, hattest du nicht.“

„Das hatte sie selbst angeboten. Sie sagte, es könnte für Profiler interessant sein, auch die Sichtweise eines traumatisierten Gewaltopfers zu hören.“

„Natürlich. Ich habe mich ja auch traumapsychologisch fortbilden lassen.“

„Stimmt“, sagte Andrea, die sich offensichtlich erinnerte. „Katie kommt morgen. Darauf freue ich mich sehr, ich habe sie lange nicht gesehen.“

„Schön, dass sie sich so engagiert.“

„Ja, da ist sie anders als ihre Schwester. Tracy hat das zwar auch weggesteckt, möchte sich aber nicht mehr damit auseinandersetzen.“

„Was auch verständlich ist“, sagte Sadie. Andrea verließ das Parkhaus und fädelte sich in den Verkehr um Heathrow ein. Der Weg führte sie auf die M4 Richtung London. Selbst von hinten sah Sadie, wie angespannt Matt neben Andrea auf dem Beifahrersitz saß.

„Was ist denn mit dir los?“, fragte sie überrascht.

„Dieser Verkehr ... wir fahren auf der falschen Seite!“, sagte er unerfreut.

Andrea amüsierte sich prächtig. „Das ist genau wie Rechtsverkehr, nur anders herum.“

„Das ist überhaupt nicht genau so! Du liebe Güte, bin ich froh, dass du fährst.“

Darüber lachte Andrea lauthals. „Matt, du bist herrlich. So habe selbst ich mich wegen des Linksverkehrs nicht angestellt.“

„Ganz davon zu schweigen, dass ihr andere Verkehrsregeln habt. Gott, wo bin ich hier gelandet?“

„Ich finde es spannend“, sagte Libby, die geradezu am Fenster klebte.

„Ich auch“, stimmte Sadie zu. In der Tat fand sie es aufregend, sich das Treiben auf dem Motorway anzuschauen. Das kam ihr seltsam vertraut vor, in Los Angeles waren die Autobahnen ja auch nicht kleiner – im Gegenteil.

Je näher sie London kamen, desto besser konnten sie die Skyline der Stadt sehen. Hochhäuser, der Big Ben, das Riesenrad des London Eye. Andrea sprach von einer halben Stunde Fahrt bis zu ihrem Haus in Fulham. Sadie bestaunte durchs Fenster die charakteristischen englischen Häuser mit ihren Kaminen. Sie wusste, dass der Vergleich mit Los Angeles sich hinsichtlich der schieren Größe der Stadt aufdrängte. Es war faszinierend.

Als Andrea schließlich die Autobahn verließ und sich über Stadtstraßen vorarbeitete, machte es allmählich auch Sadie nervös, sich das anzusehen. Europäer fuhren anders als Amerikaner – und die Straßen waren viel schmaler. Nun war auch Sadie froh, dass Andrea fuhr und sie mit dem hektischen Gewusel der Londoner nichts am Hut hatte. Die Straße war gesäumt von dicht stehenden Häusern mit zahllosen kleinen Shops. Es hatte den Charme eines Krämerviertels, was Sadie sehr gefiel.

Schließlich verließ Andrea die Hauptstraße und fuhr an einem Park entlang in ein Wohngebiet mit dichtstehenden Häusern. Die ganze Straße war zugeparkt. Wenig später hielt sie in der Einfahrt eines kleinen Häuschens mit schmuckem Erker und winzigem Vorgarten.

„Da wären wir“, sagte sie und stieg aus. Matt tat es ihr gleich und streckte sich. Sadie kletterte aus dem Wagen, sobald Libby ausgestiegen war, und hatte die Babyschale noch gar nicht herausgeholt, als sie in der Tür des Hauses ein junges Mädchen bemerkte. Sie hatte eine lange braune Lockenmähne, ihr hübsches Gesicht verriet eine gewisse Ähnlichkeit mit Andrea. Für ihr Alter typisch hatte sie einige kleine Pickel, trug Jeans und ein knallbuntes T-Shirt.

„Julie“, sagte Sadie und hob eine Hand zum Gruß.

„Willkommen in London“, sagte Julie freundlich und kam näher. „Jetzt lerne ich Sie auch mal kennen!“

„Nicht so förmlich, bitte. Ich bin Sadie. Die Amerikanerin.“

Julie errötete. Sie erinnerte sich, Sadie einmal am Telefon so bezeichnet zu haben. Dann warf sie einen Blick auf Hayley und grinste. Andrea stellte sie auch Matt und Libby vor.

„Schön, dich kennenzulernen“, sagte Julie zu Libby. „Mum sagte, du bist fünfzehn. Das ist cool, ich bin nur ein Jahr älter.“

„Das hat Sadie mir erzählt“, erwiderte Libby.

Sadie bekam nicht mit, was die beiden weiter besprachen, denn in der Tür erschien ein Mann. Sie erkannte Gregory sofort. Er hatte dieselben dunklen Locken wie seine Tochter, wenn auch deutlich kürzer und bereits von Grau durchsetzt. Er war charismatisch und durchaus gutaussehend. Plötzlich schoss ein weißes kläffendes Etwas an ihm vorbei, das er vergeblich zu bändigen versuchte.

„Lizzie!“, rief er, aber er hatte keine Chance. Der West Highland Terrier raste von einem Paar Beine zum nächsten, beschnupperte alle und sprang an ihnen zur Begrüßung hoch. Schließlich schnappte Julie sich ihren Hund und nahm ihn auf den Arm.

„Du sollst doch nicht immer alle überfallen“, sagte sie.

„Lass sie doch“, sagte Matt lächelnd.

„Willkommen in London“, sagte nun auch Greg und begrüßte die Gäste nacheinander. Bei Sadie angekommen, blieb er ebenfalls kurz stehen und blickte auf die noch schlafende Hayley.

„So ein hübsches Kind. Meinen Glückwunsch!“

„Danke“, sagte Sadie und fühlte sich geschmeichelt.

„Wir haben oben ins Gästezimmer ein Bettchen für sie gestellt. Libby kann sich aussuchen, ob sie ebenfalls im Gästezimmer schlafen will oder lieber bei Julie.“

„Ich beiße auch nicht“, sagte Julie zu Libby, die noch etwas schüchtern dastand und alles auf sich wirken ließ.

Gregory und Andrea halfen Matt dabei, das Gepäck ins Haus zu bringen. Julie und Libby folgten mit dem Hund, zuletzt kam Sadie. Sie betrat ein wunderbar verwinkeltes und gemütliches Haus, das durchaus geschmackvoll und durchdacht eingerichtet war. Das überraschte sie nicht, wusste sie doch, dass Greg als Innenarchitekt arbeitete. Es war ganz anders, als sie es von zu Hause gewöhnt war, aber sie fühlte sich auf Anhieb wohl.

„Danke, dass ihr so gastfreundlich seid“, sagte sie zu Andrea.

„Das ist doch klar. Ich freue mich so, dass ihr hier seid und mit der Kleinen ist es doch hier viel einfacher als im Hotel. Es ist vielleicht etwas eng, aber ich denke, es wird schon gehen.“

„Und selbst dieses Häuschen hat hier ein halbes Vermögen gekostet“, sagte Greg auf halbem Weg nach oben. Er hatte einen Koffer in der Hand und trug ihn die Treppe hinauf. Andrea begann eine kleine Führung für Sadie und Libby und zeigte ihnen alles. Schließlich waren sie oben im Gästezimmer angekommen, das Andrea liebevoll hergerichtet hatte. Am Fußende des Gästebettes stand ein Reisebett für Kinder, auch einen Wickelplatz hatte sie vorbereitet.

„Ich bleibe bei Julie“, verkündete Libby. „Dann habt ihr mehr Platz.“

„Au ja“, freute Julie sich. „Ich hole das Gästebett.“

„Sagt Bescheid, wenn ihr Hunger habt“, wandte Andrea sich wieder an Sadie. „Greg kocht dann etwas für euch.“

„Wir wollen keine Umstände machen“, sagte Matt schnell.

Andrea schüttelte den Kopf. „Greg liebt es, zu kochen. Also, ich lasse euch dann einen Moment allein und ihr gebt Bescheid.“

„Danke“, sagte Sadie ehrlich erfreut und atmete tief durch. Das würde eine tolle Woche werden.

 

„Macht dir der Job deiner Frau etwas aus?“, erkundigte Gregory sich interessiert bei Matt.

Der zuckte nur mit den Schultern. „Das kann ich so überhaupt nicht sagen. Ja, er ist nicht ohne, aber sie ist gut darin. Welches Urteil könnte ich mir da erlauben?“

Der Tisch war inzwischen abgeräumt, nur die Dessertschalen standen noch dort. Libby und Julie hatten sich nach oben in Julies Zimmer verzogen, Hayley schlief gemütlich in den Kissen auf dem Sofa.

„Ich gebe zu, ich habe es manchmal verflucht“, fuhr Greg fort. „Und ich habe mich schon gefragt, ob Profiler von Berufs wegen höheren Risiken ausgesetzt sind. Den Eindruck könnte man manchmal gewinnen.“

„Mag sein, aber da bin ich nicht besser. Ich habe auch schon verdeckt ermittelt und bin angeschossen worden“, sagte Matt.

„Wo hat es dich erwischt?“, fragte Andrea.

„In die Schulter und die Brust. Letzteres war durchaus ernst.“

Sie nickte verstehend. „Schulter tut auch weh, da kann ich mitreden.“

Gregory nahm noch einen Schluck Wasser. „Es ist schon speziell, wenn deine Frau dir blutend in einer kugelsicheren Weste entgegenkommt, nachdem sie mit einem Amokläufer verhandelt hat.“

„Und gescheitert ist“, sagte Andrea. „Das war damals in Glasgow.“

„Ich hasse es, zu verhandeln“, gab Sadie zu.

„Ja, es ist auch nicht gerade meine Lieblingsdisziplin“, erklärte Andrea solidarisch.

„Aber ich muss auch sagen, so schwer ich mich manchmal mit dem Job meiner Frau getan habe, so oft hat er uns auch schon gerettet“, erklärte Greg. „Er hat dafür gesorgt, dass nichts Schlimmeres passiert ist. Manches hat schon seine Spuren hinterlassen … im wahrsten Sinne, Jonathan Harold und Amy Harrow haben mir buchstäblich Narben verpasst. Das war schon nicht einfach. Wobei es mir nie etwas ausgemacht hat, dass ich Jonathan Harold in Notwehr erschossen habe. Amy Harrow hat mich weitaus mehr beschäftigt.“

„Ist doch verständlich“, sagte Sadie.

„Es ist mir immer schwer gefallen, das alles zu begreifen.“

„Du hast auch selbst einen ganz anderen Hintergrund“, gab Sadie zu bedenken.

„Ja, das ist wahr. Ich habe lang gebraucht, um mit Andreas Arbeit ins Reine zu kommen, aber sie macht das gut und es ist auch wichtig, dass das jemand macht. Nichtsdestotrotz bin ich froh, dass es ruhiger geworden ist.“

„Bei uns auch“, sagte Sadie. „Allein im Hinblick auf unsere Tochter ist das wichtig.“

„Ich habe meine Familie immer als Rückzugsort gebraucht. Anders könnte ich den Job gar nicht machen“, sagte Andrea.

„Es ist bestimmt auch angenehm, dass Greg etwas ganz anderes macht“, mutmaßte Sadie.

„Schon“, sagte Andrea.

„Ihr habt euch bei der Polizei kennengelernt, oder?“, erkundigte Greg sich bei Sadie und Matt.

„Ja, damals in Waterford“, sagte sie. „Seitdem ist viel passiert.“

„Wir haben uns ja auch zuletzt vor fast drei Jahren gesehen“, sagte Andrea.

„Ja, leider. Wir hätten schon viel früher herkommen sollen!“, sagte Sadie. Ihre Blicke wanderten über die zahlreichen Fotos, die über dem Kamin hingen. Schließlich stand sie auf, um sie näher zu betrachten. Gregorys Bruder erkannte sie auf Anhieb, die beiden sahen einander durchaus ähnlich. Das Bild zeigte Jack Thornton mit Frau und beiden Kindern. Es gab auch ein Bild von ihrer Schwiegermutter mit Julie als Kind und ein Foto von Andreas Familie aus Deutschland. Viele Bilder von Greg, Andrea und Julie hingen dort. Nur eins konnte sie nicht auf Anhieb zuordnen, es zeigte einen Mann allein, der nirgends sonst auftauchte.

Andrea gesellte sich zu Sadie. „Betreibst du psychologische Studien?“

Sadie schüttelte den Kopf. „Überhaupt nicht. Wer ist das?“ Sie deutete auf das Foto des Mannes.

„Oh, das ist Joshua Carter, mein Vorgänger als Leiter des Profiler-Teams. Er hat als einer der wenigen Auslandsstudenten die FBI Academy in Quantico durchlaufen, weil er dort unbedingt das Profiling erlernen wollte.“

„Tatsächlich?“

Andrea nickte. „Seit seinem Tod hängt hier ein Foto.“

„Er ist tot?“

„Er starb durch einen Anschlag. Das war unser letzter gemeinsamer Fall … die Terroristen hatten eine Bombe unter seinem Wagen platziert. Ich stand gar nicht weit entfernt, als sie hochging.“

Sadie schluckte. „Das tut mir leid.“

„Es war ein einziger Feuerball.“ Andrea schlang die Arme um den Leib und zog die Schultern hoch. „Das war schlimm.“

„Das glaube ich dir.“

„Ich wurde dann die Teamleiterin. Es ist seltsam, dass ich seinen Platz eingenommen habe. Wir waren gute Freunde.“

Sadie erwiderte nichts. Alles, was sie hätte sagen können, wäre unpassend gewesen.

Schließlich deutete sie auf das Foto von Jack und Rachel. „Du hast nicht übertrieben, deine Schwägerin ist wirklich bildhübsch.“

„Ja, das ist sie. Und sie hat Jack gezähmt. Der war mal ein ziemlicher Schürzenjäger.“

Sadie grinste. In diesem Moment erwachte Hayley wieder und begann wenig später zu weinen. Sadie nahm sie hoch und versuchte, dem Grund für das Weinen auf die Spur zu kommen, aber es gelang ihr nicht. Hayley schien ihr weder hungrig zu sein, noch eine frische Windel zu brauchen.

„Du hast bestimmt Jetlag“, murmelte sie, während sie versuchte, ihre Tochter zu beruhigen. Als das nicht gelingen wollte, beschloss sie, mit ihr ins Gästezimmer zu gehen. Andrea bot an, sie zu begleiten und ihr zu helfen, was Sadie gern annahm. Aus Julies Zimmer hörten sie Musik und leise Stimmen.

„Sie scheinen sich zu verstehen“, sagte Andrea.

„Das freut mich. Jede neue Freundschaft tut Libby sehr gut.“ Sadie wiegte Hayley weiter, deren Weinen allmählich leiser wurde.

„Wenn die beiden sich gut verstehen, kann Julie gern mal in den Ferien zu uns kommen“, bot Sadie dann an.

„Das würdet ihr tun?“ Andrea wusste gar nicht, wie sie reagieren sollte.

„Natürlich. Das wäre bestimmt toll für sie.“

„Oh, und wie! Libby ist natürlich auch immer herzlich eingeladen.“

Sadie lächelte. „Ihr seid wirklich sehr gastfreundlich.“

„Hey, das versteht sich doch von selbst. Auf diese Gelegenheit habe ich mich schon seit langem gefreut. Wir haben uns wirklich viel zu lang nicht gesehen.“

Sadie nickte zustimmend. Obwohl sie einander nur zweimal persönlich getroffen und ansonsten nur Kontakt per Telefon oder E-Mail gehalten hatten, verstanden sie einander auch ohne Worte.

„Wenn ich dich so mit deiner Tochter sehe, beneide ich dich ein wenig“, sagte Andrea. „Sie ist wirklich süß.“

„Ich bin auch froh, sie zu haben.“ Sadie lächelte.

„Das ist gut. Wenn ich mich daran erinnere, wie du vor drei Jahren gedacht hast, als ich wieder nach Hause geflogen bin ...“

„Damals war für mich auch kein Denken an Kinder. Sean hat da viel kaputtgemacht.“ Für einen Moment blickte Sadie ins Nichts. „Ich habe lange gebraucht, um das wegzustecken, und Hayley wurde auch in keinem Krankenhaus geboren. Ich habe mich rein auf die Hilfe meiner Hebamme verlassen, die meine Geschichte kannte.“

„Klug“, sagte Andrea und betrachtete Hayley lächelnd. „Rückblickend hätte ich gern ein zweites Kind gehabt. Anfangs war ich zu sehr mit meinem Job beschäftigt und dann gab es eine Zeit, in der hätte ich vor einer Geburt unfassbare Panik gehabt. Damals war ich nicht bereit für ein weiteres Kind. Und als ich es wieder war, erschien Julie uns schon zu alt für ein Geschwisterchen. Die Chance haben wir verpasst.“

„Ich verstehe das.“

Andrea zuckte mit den Schultern. „Nun ist es so. Glücklich sind wir trotzdem und du siehst auch sehr glücklich aus.“

„Das bin ich auch. Tatsächlich kann man aus einer Geburt auch gestärkt hervorgehen“, sagte Sadie.

„Das ist schön. Julies Geburt damals war ganz normal, aber das war auch, bevor es zur Konfrontation mit den Entführern der Archer-Schwestern kam.“

Sadie verstand Andreas vorsichtige Umschreibung ihrer Vergewaltigung. „Es tat gut damals, dass du mich verstanden hast.“

„Fiel mir nicht schwer“, erwiderte Andrea. Inzwischen war Hayley wieder eingeschlafen. Sadie bettete sie vorsichtig auf ein Kissen und setzte sich daneben. Nachdenklich streichelte sie das Köpfchen ihrer Tochter. „Dass ich das mal nicht wollte … und jetzt macht es mich so glücklich.“

„Es hat dich sehr verändert“, sagte Andrea. „Matt aber auch. Toll, dass er sich kümmert.“

„Das tut ihm gut“, sagte Sadie.

Die Blicke der beiden trafen sich. Sadie entging nicht, dass Andrea etwas sagen wollte, doch dann tat sie es nicht.

„Es ist schön, dass ihr hier seid. Ich freue mich auf unsere gemeinsame Woche. Das wird sicher toll für uns alle“, sagte sie dann.

„Ganz bestimmt“, stimmte Sadie zu.

 

„Britische Musik ist echt cool“, sagte Libby und wippte im Takt mit.

„Was hörst du denn so?“, erkundigte Julie sich bei ihr.

„Unterschiedlich … meine Freunde haben mir inzwischen einiges gezeigt und ansonsten höre ich viel von dem, was Matt und Sadie mir gezeigt haben. Matt mag Stoner Rock.“

„Was ist das?“, fragte Julie neugierig. Die beiden Mädchen saßen nebeneinander auf Julies Bett. An ihrem Smartphone ging Julie ihre Lieblingsbands durch und spielte die Musik über ihre Bluetooth-Lautsprecher ab.

„Such mal nach Monster Magnet oder Queens of the Stone Age“, sagte Libby.

„Ah“, machte Julie wissend. „Mein Onkel Jack mag Queens of the Stone Age. Dann weiß ich, welche Musikrichtung das ist. Nicht schlecht.“

„Gefällt mir auch.“

„Muss cool sein mit so jungen Eltern.“

„Sie sind ja nicht meine richtigen Eltern“, wandte Libby ein.

„Ja, schon klar, so meine ich das nicht.“

„Ich weiß. Was hat deine Mum von mir erzählt?“

Julie zuckte mit den Schultern. „Dass du letztes Jahr aus einer Sekte weggelaufen bist und seitdem bei deinen Pflegeeltern lebst.“

„Nicht mehr?“ Libby war überrascht.

„Nicht viel … Sie hat mir erklärt, dass du anfangs nicht viel darüber wusstest, wie es hier draußen so zugeht. Muss seltsam gewesen sein.“

„War es auch“, sagte Libby. „Ich weiß noch, wie ich die Wolkenkratzer in Los Angeles bestaunt habe. Du musst dir vorstellen, dass ich überhaupt nie rausgekommen bin … ich kannte gar nichts. Kein Handy, kein Fernsehen, kein Internet. Ich sollte bloß mit vierzehn meinen Onkel heiraten.“

„Deinen Onkel? Ist das erlaubt?“ Julie war irritiert.

Libby blickte zu Boden. „Da, wo ich herkomme, haben immer Verwandte untereinander geheiratet und die Männer haben mehrere Frauen.“

„Oh“, sagte Julie betroffen und verzog das Gesicht. „Klingt nicht schön.“

„War es auch nicht.“ Libby erzählte ein wenig von ihrem Leben in der Sekte und Julie hörte mit einer Mischung aus Spannung und Schrecken zu, dabei sparte Libby die gruseligsten Details noch aus.

„Puh“, machte Julie schließlich. „Das ist krass.“

„Deshalb musste ich da unbedingt weg.“

„Kann ich verstehen. Falls es dich beruhigt, du bist nicht großartig anders oder so.“

Libby lächelte gelöst. „Schön, dass du das sagst.“

„Nein, im Ernst. Nach dem, was meine Mum sagte, hatte ich mir das anders vorgestellt.“

„Na ja, ich bin ja jetzt auch schon ein ganzes Jahr weg. Fast.“

„Das ist gut. Übrigens finde ich deinen Akzent so cool. Ich mag Amerikanisch.“

„Ich mag deinen Akzent“, erwiderte Libby lachend. „Der klingt so … sauber.“

„Manches hier ist so spießig. Ich will auch mal nach Los Angeles. Ist bestimmt cool“, sagte Julie verträumt.

„Schon. Für mich war das ja auch neu.“

„Klar. Schon nett von den Whitmans, dass sie dich aufgenommen haben. Wo sind deine richtigen Eltern?“

Libby erzählte es ihr und Julie entschuldigte sich, so neugierig gewesen zu sein. Sie hatte nicht damit gerechnet, von Libby zu hören, dass ihr Vater im Gefängnis saß, weil er ihre Mutter umgebracht hatte.

„Konntest du ja nicht wissen“, sagte Libby achselzuckend.

„Tut mir trotzdem leid.“

„Muss es nicht.“

„Wie findest du es denn, dass deine Pflegemutter Profilerin ist?“

„Nur deshalb bin ich bei ihr“, sagte Libby. „Es ist ein krasser Job.“

„Ja, das ist er. Ich meine, ich kenne es gar nicht anders. Meine Mum war das schon, bevor ich geboren wurde. Ich weiß noch, wie sie mir das alles erklärt hat. Dass ein Serienkiller sie entführt hat und so … sie denkt, ich weiß nicht so viel darüber, aber ich habe recherchiert.“

„Echt?“ Libby machte große Augen.

„Ja. Ich weiß, wer der Typ war, der sie entführt hat. Was der so gemacht hat. Das ist ganz schön widerlich. Und auch später … Morgen kommt ja Katie. Ich kann mich noch daran erinnern, wie sie damals bei uns war und an manches, was da passiert ist. Mich hat Mums Job schon ganz schön beeinflusst. Ich glaube, sie weiß nicht, wie sehr. Das fände sie schlimm, deshalb sage ich nichts dazu.“

„Verstehe“, sagte Libby und nickte langsam.

„Da gab es schon mehrere Polizeieinsätze und so. Ich hoffe, das passiert dir nie.“

Libby verzog das Gesicht. „Das ist es längst.“

„Was, echt?“

„Ja … bevor Hayley geboren wurde, war Sadie hinter einem Serienkiller her, der berühmte Killer aus den USA nachgeahmt hat. Sie hat ihn monatelang nicht gefunden. Und weißt du warum?“

Julie schüttelte den Kopf.

„Weil er selber noch ein Junge war. Achtzehn Jahre alt. Irgendwann ist er auf mich gestoßen und hat so getan, als würde er sich mit mir anfreunden wollen. In Wahrheit wollte er natürlich etwas anderes …“

Entsetzt sah Julie sie an und wusste gar nicht, was sie sagen sollte.

„Er ist mit mir rumgefahren und hat sich schließlich mit der Polizei eine Verfolgungsjagd geliefert“, sagte Libby und erzählte dann etwas ausführlicher, was vorgefallen war. Die ganze Zeit über hörte Julie aufmerksam und staunend zu.

„Wow“, sagte sie dann. „Das ist heftig. Kommst du damit klar?“

Libby zuckte mit den Schultern. „Sicher. Bald beginnt der Prozess gegen Brian, da werde ich wieder aussagen.“

„Würde ich auch machen.“

„Hast du eigentlich einen Freund?“, wechselte Libby das Thema.

Julie schüttelte den Kopf. „Nein, ich hatte bis vor kurzem einen, aber … nee.“

„Was ist passiert?“

„Er wollte mich unbedingt ins Bett kriegen und immer fummeln. Das hab ich mir eine Weile angeguckt und dann habe ich ihm gesagt, er soll das woanders probieren“, sagte Julie achselzuckend.

„Oh.“

„Ach, na ja, das ist nicht schlimm. Ich meine … viele Jungs in meinem Alter sind so, glaube ich. Ich habe auch nix gegen Sex, aber muss man mit sechzehn gleich nach zwei Wochen damit anfangen? Nicht wirklich, oder?“

Libby schüttelte den Kopf. „Ich glaub, Brian hätte das auch gewollt.“

„Bestimmt. Ich versuche immer, mir zu sagen, dass nicht alle so sind. Aber wenn man eine Mum hat, die es dauernd mit Vergewaltigern und Frauenmördern zu tun kriegt …“

Julies abgeklärter Tonfall jagte Libby beinahe einen Schauer über den Rücken. „Ich kann ja jetzt nicht mehr sagen, dass ich das nicht hatte.“

„Solange er dir nichts getan hat.“

„Nein, aber er hätte gern.“

„Das ist scheiße“, sagte Julie unverblümt. „Ich weiß noch, wie meine Mum mir das mal erzählt hat.“

„Von diesem Killer?“

„Auch. Vielleicht versteht sie sich auch deshalb so gut mit Sadie.“

„Wahrscheinlich. Sadie hat mir erzählt, dass deine Mum ihr geholfen hat.“

„Ja, das weiß ich noch“, sagte Julie. „Da ist sie rüber geflogen, als Sadie verschwunden ist und hat geholfen, sie zu finden. Und dann hat sie verlängert, um Sadie zu helfen.“

„Sadie hat mir davon erzählt. Wer er war und was er getan hat.“

„Das ist echt schlimm. Aber ich finde, man merkt es ihr nicht an. Bei meiner Mum war das mal ziemlich schlimm.“

„Kann ich verstehen“, sagte Libby, ohne ins Detail zu gehen. Sie hatte einen Moment gebraucht, um sich an Julies offene und lebhafte Art zu gewöhnen. Andreas Tochter witterte da eine besondere Verbundenheit und begegnete ihr ohne Vorbehalte. Dadurch fühlte Libby sich einerseits ein wenig geehrt, andererseits überforderte es sie auch. Julie schien mehr über Sadie zu wissen als sie über Andrea. Sadie hatte ihr nur gesagt, dass Andrea auch eine Profilerin war und es, genau wie Sadie, schon persönlich mit Serienkillern zu tun bekommen hatte. Aber wenn sie Julie da richtig verstanden hatte, hatte es Andrea schon ähnlich böse erwischt wie Sadie.

Und das war etwas, wo sie ansatzweise mitreden konnte, aber das wollte sie nicht weiter erörtern. Sie wollte sich nur unbefangen mit Andreas netter Tochter unterhalten und vielleicht Freundschaft schließen. Sie bereute auch ihre Entscheidung, mit in Julies Zimmer zu schlafen, nicht. Ganz bestimmt würden sie sich wunderbar verstehen und so hatten Sadie und Matt auch ihre Ruhe mit der Kleinen.

„Hattest du schon einen Freund?“, riss Julie sie plötzlich aus ihren Gedanken.

Libby schüttelte den Kopf. „Früher war das verboten, und seitdem … da war ja bloß Brian. Ich dachte, da wäre vielleicht was, aber dann stellte sich ja heraus, dass ich auf einen Serienkiller reingefallen bin.“

„Ach, mach dich nicht verrückt. Es ist ja nichts passiert. Mein Dad sagt immer, wir haben noch Zeit und in unserem Alter sind Jungs sowieso noch zu nichts zu gebrauchen.“

Libby grinste. „Er muss es ja wissen.“

Darüber lachte Julie. „Das habe ich ihm auch gesagt!“

 

 

 

Montag, 20. November

 

Es hatte Julie ziemlich gewurmt, dass sie zur Schule musste, während Libby frei hatte. Lautstark beschwerte Andreas Tochter sich darüber, dass es in England keine Ferien zu Thanksgiving gab, und machte sich nach dem Frühstück auf den Weg zur Schule. Wenig später brach auch Gregory zur Arbeit auf. Sadie saß mit Hayley im Arm auf dem Sofa und fütterte sie mit einem Fläschchen. Libby spielte mit ihrem Handy herum und Matt saß noch mit Andrea am Frühstückstisch und unterhielt sich.

„Ich fand die Frage deines Mannes gestern interessant“, sagte er. „Wie ich es finde, dass Sadie als Profilerin arbeitet.“

„Bei euch liegen die Dinge anders als bei uns, ihr seid beide beim FBI“, erwiderte Andrea. „Es gab Zeiten, da hatte Greg wirklich enorme Probleme mit meinem Job. Ich konnte das auch verstehen, aber es war keine Alternative für mich, aufzuhören. Ich halte diesen Job für enorm sinnvoll und war immer gut darin.“

„Sinnvoll ist er, aber er kann wirklich gefährlich werden. So wie meiner, da besteht kein großer Unterschied.“

„Hat das eine Rolle gespielt bei eurer Entscheidung, wer sich um eure Tochter kümmert?“

Matt schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Das war total pragmatisch.“

Sadie beobachtete, wie die beiden sich unterhielten und konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, dass Andrea Matt irgendwie zu analysieren schien. Sie kommentierte es jedoch nicht, dafür war sie zu sehr mit Hayley beschäftigt. Schließlich setzte sie sich selbst mit Andrea zusammen und besprach einiges zur bevorstehenden Konferenz, während Matt und Libby zusammen mit Hayley vor dem Fernseher saßen und sich britisches Fernsehen anschauten. Andrea hatte gesagt, dass Katie sich für kurz vor elf angekündigt hatte. Als Sadie Libby im Augenwinkel beobachtete, entging ihr nicht, wie aufgeregt Libby war. Das konnte sie verstehen.

Sie waren noch nicht lange mit ihrer Vorbesprechung fertig, als es an der Tür klingelte. Mit einem Lächeln stand Andrea auf und ließ Katie herein. Sadie blieb weiter hinten im Flur stehen und beobachtete, wie die beiden einander fest und lang umarmten.

„Komm rein“, sagte Andrea und gab den Blick frei auf eine schlanke junge Frau mit fast hüftlangem blondem Haar. Sie hatte große grüne Augen, ein hübsches Gesicht und trug einen Trekkingrucksack auf dem Rücken.

„Wie war die Fahrt hierher?“, erkundigte Andrea sich bei Katie.

„Der Weg von Leicester nach London ging ja fast schneller als der von St. Pancras nach Fulham“, erwiderte Katie. Sie hatte eine sanfte, helle Stimme und strahlte eine ruhige Art aus. Wortlos stellte sie ihren Rucksack im Flur ab.

„Katie, ich möchte dir gern Special Agent Sadie Whitman vom FBI vorstellen“, sagte Andrea. Beherzt ging Katie auf Sadie zu und schüttelte ihre Hand.

„Katherine Archer, aber alle nennen mich Katie.“

„Ich bin Sadie“, erwiderte sie und fügte hinzu: „Freut mich sehr. Andrea hat schon viel von dir erzählt.“

„Von dir auch. Schön, dich kennenzulernen.“

Sie gingen ins Wohnzimmer, wo Andrea auch die anderen einander vorstellte. Herzlich schüttelte Katie Libbys Hand und sagte: „Ich habe mich sehr darauf gefreut, deine Bekanntschaft zu machen. Wie gefällt es dir in England?“

Für einen Moment suchte Libby nach Worten und sagte dann: „Es ist toll. Ich mag es.“

„Als ich so alt war wie du, hätte ich auch gern eine solche Reise gemacht. Ich war übrigens schon mal in den USA und fand es toll.“

„Ehrlich?“, fragte Libby erstaunt. „Wo warst du denn?“

„Dort, wo du herkommst. An der Westküste. Ich war schon mal in Los Angeles. Ganz schön große Stadt!“

„Das stimmt“, sagte Libby. „Das ist mir manchmal auch noch unheimlich.“

„Das glaube ich, wobei London ja keinen Deut besser ist.“ Katie setzte sich an den Tisch.

„Möchtest du etwas trinken?“, fragte Andrea.

„Ja, das wäre prima. Wasser reicht.“

Andrea holte ihr etwas, während Katie sich umschaute. „Ich war viel zu lang nicht hier.“

„Du bist auch beschäftigt“, sagte Andrea ungerührt.

„Was machst du denn?“, erkundigte Sadie sich bei Katie.

„Wo soll ich anfangen?“ Katie lachte. Es war ein glockenhelles Lachen und Sadie spürte schon jetzt, dass sie eine sehr selbstbewusste Frau vor sich hatte, die ihr furchtbares Trauma überwunden hatte. Nun, als Katie ihr gegenübersaß, wurde ihr klar, dass sie beide fast gleich alt waren. Katie war nur ein Jahr jünger als sie. Immer, wenn Andrea von ihr gesprochen hatte, hatte Sadie die Siebzehnjährige vor sich gesehen, die aus ihrer Gefangenschaft geflohen war. Nur war das schon zwölf Jahre her. Sadie konnte sich problemlos in Katie hineinversetzen.

„Ich habe ja vor fünf Jahren meinen Schulabschluss nachgemacht und danach erst mal die Zeit genutzt, um zu reisen“, begann Katie zu erzählen.

„Ist ja toll“, sagte Sadie. „Andrea sagte, du bist mit deiner Schwester von einem Privatlehrer unterrichtet worden.“

„Ja, den hat der Auftraggeber unserer Entführer bezahlt. Wir haben auch Geld von ihm bekommen, so eine Art Schadensersatz, wenn man das so nennen will … das hat das Gericht bei seinem Urteil festgesetzt. Er sollte für unseren Lebensunterhalt aufkommen. Damals habe ich aber noch mit meiner Schwester bei meiner Mutter gelebt und so habe ich gespart, um dann auf Reisen gehen zu können.“

„Das ist doch wunderbar“, sagte Sadie.

„Ich bin durch Europa und Amerika gereist“, sagte Katie. „Danach habe ich überlegt, was ich tun soll und mich für ein Studium entschieden. Ich studiere jetzt Psychologie. Nächstes Jahr bin ich fertig.“

„Und jobben gehst du außerdem“, sagte Andrea.

„Das stimmt. An der Uni habe ich auch jemanden kennengelernt, Ryan. Ich dachte erst lange, dass er gar nicht weiß, wer ich bin. Er ist so nett und unbefangen mit mir umgegangen. Als wir dann zusammen ausgegangen sind und ich ihm kompliziert erklären wollte, dass ich acht Jahre in einem Kellerverlies eingesperrt war, sagte er mir, das wüsste er längst und es störe ihn nicht. Das ist jetzt zwei Jahre her. Inzwischen wohnen wir zusammen.“

Sadie lächelte. „Wie schön.“

„Wie geht es Tracy und ihrem Sohn?“, erkundigte Andrea sich.

„Gut! Tracy hätte zwar auch gern wieder einen Freund, aber leider hat sich da in letzter Zeit nichts ergeben. Und Jonah hat ja im Sommer die Schule gewechselt.“

„Wahnsinn, wie groß er schon ist!“

„Ja, allerdings. Zwölf Jahre, seit ich weggelaufen bin. Fast dreizehn …“ Katie schüttelte den Kopf. „Man vergisst so etwas ja nie, aber die Erinnerung ist ganz schön verblasst.“

Für einen Moment sagte niemand etwas, dann blickte Katie zu Libby, die sie die ganze Zeit staunend angesehen hatte.

„Du kannst mich alles fragen. Deshalb bin ich hier.“

Libby schluckte. „Ich … ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“

„Was hat man dir denn über mich erzählt?“

„Was du gerade sagtest. Dass du acht Jahre gefangen warst und dass die Welt hier draußen fremd für dich war.“

„Das stimmt. Nach dem, was ich weiß, kann man unsere Geschichten ja nur bedingt vergleichen. Du kommst aus einer Sekte?“

Libby nickte. „Ich bin dort geboren.“

„Andrea sagte mir, dass in dieser Sekte Inzest und Polygamie herrschen.“

Inzwischen kannte Libby diesen Ausdruck und nickte. „Ich sollte eigentlich dieses Jahr meinen Onkel heiraten und seine fünfte Frau werden.“

„Verstehe“, sagte Katie und nahm einen Schluck Wasser. „Nun, ich bin mit meiner Schwester Tracy entführt worden, als ich neun war. Tracy ist zwei Jahre älter. Man hat uns auf dem Schulweg aufgelauert, uns in ein Auto gezerrt und uns in ein verlassenes Gebäude in einem Industriegebiet in Birmingham gebracht. Dort hat man uns in den Keller gesperrt und wir sind acht Jahre nicht mehr rausgekommen. Da unten war es dunkel und kalt und die drei Männer, die uns entführt haben, haben uns dort missbraucht und Filme davon gemacht, um sie im Internet an Pädophile zu verkaufen.“

Ein eiskalter Schauer lief Sadie den Rücken herunter, als sie Katie das so deutlich sagen hörte. Dazu gehörte einiges.

Betreten sah Libby Katie an. „Das ist schlimm …“

Katie nickte. „Irgendwann wurde meine Schwester schwanger und als Jonah geboren wurde, waren die Männer gestresst und unaufmerksam. Da ist es mir gelungen, abzuhauen. Ich bin in ein Krankenhaus gelaufen und dort zusammengebrochen. Wenig später kam Andrea und hat sich um mich gekümmert.“ Mit diesen Worten blickte Katie zu Andrea und lächelte.

„Und deine Schwester war noch dort?“, fragte Libby staunend.

Katie nickte. „Zusammen mit dem Baby. Als ich in dem Krankenhaus war, stand ich derart unter Schock, dass ich vorübergehend nicht in der Lage war, zu sprechen. Einmal, weil ich Tracy zurücklassen musste … sie war von der Geburt zu geschwächt, um zu laufen. Aber ich fand es auch extrem, draußen zu sein. Es war so hell und so laut und überall waren Menschen und Autos … Ich stand wirklich unter Schock.“

„Kann ich mir vorstellen. Ich meine, als ich aus Yucca Valley weggelaufen bin, war das nur eine Flucht an einen anderen Ort, aber ich habe ja nie in einem Keller gesessen.“

„Nein, aber du bist da geboren. Wenn du vorher nie draußen gewesen bist, muss das auch ein Schock gewesen sein.“

„War es teilweise auch“, sagte Libby. „Als ich dann zum FBI gekommen bin, hatten die da so viele eigenartige technische Geräte. Ich kannte ja überhaupt nichts! Und auch, wenn ich wusste, dass man draußen anders lebt und verurteilt, was in meiner Gemeinde passiert, war das alles fremd.“

Katie lächelte. „So haben wir trotz ganz unterschiedlicher Geschichten doch einige Gemeinsamkeiten. Ich glaube, es war eine gute Idee von Andrea, dass wir uns kennenlernen.“

„Ich fand die Idee auch toll“, klinkte Sadie sich wieder ein.

Katie wandte sich ihr zu. „Andrea hat mir von dir erzählt und ich habe dein Essay über deinen Vater gelesen. Ich habe auch mit meiner Schwester darüber gesprochen, denn natürlich stellt Jonah manchmal Fragen zu seinem Vater. Alles, was er weiß, ist, dass sein Vater tot ist. Das steht fest. Tracy weiß ja nicht einmal sicher, wer Jonah gezeugt hat und es ist ihr auch egal. Aber bislang weiß mein Neffe nicht, wie das passiert ist.“

„Weiß er denn von eurer Geschichte?“, fragte Sadie.

„Er weiß, dass wir jahrelang verschwunden und eingesperrt waren. Für einen Jungen seines Alters ist diese Erklärung noch ausreichend. Tracy fragt sich aber durchaus, wie er reagiert, wenn er irgendwann erfährt, wie er gezeugt wurde und unter welchen Umständen. Ob er sich auch mal fragt, ob er etwas von seinem Vater in sich trägt?“

„Zum Glück ist das Unfug, das weiß ich jetzt“, sagte Sadie.

„Ist es. Ich habe aber sehr bewundert, wie du über deinen Vater schreibst. Wirklich beachtlich.“

„Du sprichst inzwischen mit derselben Distanz über deine Zeit in Gefangenschaft“, stellte Sadie fest.

Katie nickte. „Es ist jetzt länger her, als es gedauert hat. Ich habe diese verlorene Zeit aufgeholt und darf jetzt eine gesunde Beziehung zu einem Mann führen. Was ohne deine Starthilfe so nicht möglich gewesen wäre, Andrea.“

Die Angesprochene lächelte. „Das war es wert.“

Sowohl Katie als auch Sadie wussten, wie Andrea das meinte. Diese Angelegenheit hatte sie extrem in Mitleidenschaft gezogen.

Die ganze Zeit über saß Matt schweigend mit Hayley auf dem Sofa und hörte nur zu. Schließlich beschlossen Katie und Libby, sich in Ruhe in Julies Zimmer zu unterhalten. Im Anschluss wollte Katie mit Andrea und Sadie wegen der Konferenz sprechen.

Als die beiden das Zimmer verlassen hatten und außer Hörweite waren, sagte Sadie: „Was für eine starke Persönlichkeit.“

„Ja, das ist sie. Wie du.“ Andrea sah Sadie nicht gleich an.

„Nein“, erwiderte Sadie kopfschüttelnd. „Ich hatte einen furchtbaren Vater, aber was sie erlebt hat … das ist menschenunwürdig. Man merkt es ihr nicht mehr an.“

„Red dich nicht klein“, mahnte Andrea. „Bei dir ist es ähnlich. Dir merkt man es auch nicht mehr an. Du hast dich sehr verändert, seit ich dich damals kennengelernt und zum letzten Mal gesehen habe. Du bist als Profilerin beim FBI, immer noch. Und du hast jetzt das Kind, das zu haben du dich nie getraut hast.“

„Und das war eine gute Idee“, sagte Sadie mit Blick zu Matt und Hayley.

 

Als Julie am Nachmittag aus der Schule gekommen war, gab es ein großes Hallo zwischen ihr und Katie. Die beiden fielen einander herzlich in die Arme und begrüßten sich wie alte Freunde, was Sadie angesichts des Altersunterschiedes der beiden überraschte. Sie hatte nicht erwartet, dass die beiden einander so vertraut waren.

Sie machten sich alle zusammen auf den Weg ins Zentrum Londons zu den größten Sehenswürdigkeiten. Hayley schlief gemütlich an Sadie geschmiegt in ihrer Trage, während sie mit der U-Bahn zur Haltestelle Westminster fuhren. Unterwegs raunte Libby ihr zu, dass sie den britischen Akzent großartig fand, so wie sie es auch Julie schon gesagt hatte.

Sie hatte sich sehr lang mit Katie unterhalten. Trotzdem hatten sie es bis zu ihrem Aufbruch noch geschafft, über die Konferenz zu sprechen, auf die Sadie nun schon sehr gespannt war. Inzwischen war auch Nick Dormer in London gelandet und hatte sich bei ihnen gemeldet, stieß beim Sightseeing aber nicht dazu, weil er zu müde war.

Sadie staunte nicht schlecht, als sie am Fuße des Big Ben die U-Bahn verließen und zur Westminster Bridge liefen. Andrea erklärte den Besuchern weltmännisch, dass gegenüber die Houses of Parliament lagen und schlug zuerst den Weg zur Westminster Abbey ein, bevor sie schließlich die Brücke passierten und die Themse auf ihrem Weg zum London Eye überquerten.

Matt warf einen liebevollen Blick auf seine schlafende Tochter an Sadies Brust. Hayley war der ganze Trubel vollkommen egal. Sie war warm eingepackt und hatte alles, was sie brauchte.

Sadie genoss, dass sich der Winter in London auch wie Winter anfühlte. In Los Angeles kam man ja so gut wie nie in die Verlegenheit, von Klimaanlage auf Heizung wechseln zu wollen. Aus Waterford kannte sie den Anflug von Winter, aber in London war es wirklich kalt. Überall war es bereits weihnachtlich dekoriert. Touristengruppen kreuzten ihren Weg, die Straßenhändler froren. Immer wieder prüfte Sadie, ob ihrer Tochter warm genug war, aber da war alles in Ordnung.

Sie fand es toll, die roten Doppeldeckerbusse und schwarzen Taxis fahren zu sehen, für die London berühmt war. Europa war anders, aber es gefiel ihr. Nur den Linksverkehr fand sie weiterhin verstörend.

Julie und Libby schlenderten an den Ständen der Straßenhändler entlang und liefen direkt bis ans Themseufer. Matt sprach mit Andrea über die Arbeit beim FBI und darüber, dass er es sehr genoss, für Hayley auszusetzen und sie zu betreuen. Sadie und Katie schlenderten anfänglich nur hinterher und hörten zu.

Schließlich raunte Katie Sadie zu: „Manche Männer sind ein Geschenk.“

Sadie erwiderte ihren Blick und lächelte. „Er ist der erste und einzige Mann, mit dem ich je zusammen war.“

„Und ich dachte, ich wäre da ungewöhnlich.“

„Was verständlich ist. Aber nein, bis ich sechsundzwanzig war, war die Männerwelt für mich ein großes Geheimnis!“

Katie lächelte nachdenklich. „Wie hast du ihm gesagt, wer du bist?“

„Gar nicht. Er hat es selbst herausgefunden.“

„So wie Ryan auch.“

„Ich hab lange gebraucht, um anzunehmen, dass er es ernst gemeint hat. Ich habe nie verstanden, warum er mit jemandem zusammen sein will, der solchen Ballast mit sich herumschleppt.“

„Kann ich verstehen“, sagte Katie. „Ich habe Ryan ziemlich früh dieselbe Frage gestellt.“

„Was hat er gesagt?“

„Dass es ihm egal ist. Es hat ihn schlichtweg nicht interessiert oder gestört. Natürlich gab es immer wieder Momente, in denen er es mir angemerkt hat. Das hat er aber nie persönlich genommen.“

„Da ist Matt genauso. Ich habe ihm schon reflexhaft ins Gesicht geschlagen, als ich einmal einfach Angst hatte. Das hat er verstanden.“

Katie zögerte kurz, dann fragte sie: „Was war der Grund? Musstest du an deinen Vater denken?“

Sadie schüttelte den Kopf. „An meinen Bruder. Hat Andrea je davon erzählt?“

„Von deinem Bruder?“ Katie überlegte. „Ich weiß, dass sie drüben in den Staaten war, als du von einem Killer entführt worden bist.“

„Ja. Wie sich herausstellte, war das mein Halbbruder. Mein Vater hatte noch einen Sohn, von dem niemand wusste.“

Sichtlich geschockt fragte Katie: „Dein eigener Bruder hat dich entführt?“

Sadie nickte. „Und er hat mich ziemlich übel zugerichtet. Es war auch seinetwegen, dass ich eigentlich nie Kinder wollte.“

Katie verstand und blickte lächelnd auf Hayley. „Und doch hast du jetzt eins.“

„Ich habe dafür gesorgt, dass ich bei der Geburt keine Angst haben muss. Jetzt bin ich stolz, das geschafft zu haben. Und vor Matt hatte ich trotz allem eigentlich nie Angst.“

„Wow, das ist toll. Ich will vielleicht auch Kinder. Was hat dir geholfen, das durchzuziehen?“

Sadie erzählte Katie davon und die junge Engländerin hörte gleichermaßen aufmerksam und begeistert zu. Schließlich sagte sie: „Das ist toll, so könnte ich es mir auch vorstellen. Wie du dir denken kannst, verbinde ich mit Krankenhäusern nämlich auch nichts Gutes.“

„Das verstehe ich nur zu gut. Aber schön, dass du dich trotzdem auch so bewusst mit allem auseinandersetzt und sogar Hilfestellung für Libby leistest.“

„Ach, so viel Hilfe braucht sie gar nicht“, sagte Katie. „Wir haben darüber gesprochen, wie es sich für sie anfühlt, jetzt in einer neuen Welt zu leben … sozusagen. Aber sie nutzt effektive Bewältigungsstrategien und lässt sich darauf ein. Du und dein Mann seid ihr eine große Hilfe. Wir haben uns darüber ausgetauscht, wie es sich anfühlt, ins kalte Wasser geworfen zu werden und eine neue Welt zu betreten. Sie macht das schon ganz gut. Natürlich hat sie mir einige Fragen gestellt – sie wollte wissen, wie ich mit allem umgegangen bin und wir haben festgestellt, dass es da teilweise große Unterschiede gibt. Was sie bedrückt hat, war die Sache mit Brian.“

Sadie nickte verstehend. „Sie wirft sich vor, auf ihn reingefallen zu sein, nicht wahr?“

„Sie wollte von mir wissen, ob sie zu gutgläubig ist. Zu naiv. Tatsächlich habe ich ja damals ganz anders reagiert, ich war allem und jedem gegenüber misstrauisch. Liegt wahrscheinlich darin begründet, dass wir eben doch nicht das Gleiche erlebt haben.“

„Hat sie von ihrem Onkel erzählt?“

„Sie hat kurz angedeutet, dass er sie missbraucht hat und dafür verurteilt wurde. Ich habe gespürt, dass da etwas ist. Ich merke es, wenn jemandem das auch passiert ist.“

Sadie zögerte kurz. „Lass mich raten: Ich hätte gar nichts sagen müssen.“

Ein Lächeln huschte über Katies Lippen. „Nein, ich hatte es ohnehin vermutet. Nach dem, was ich wusste …“

„Was wundere ich mich“, sagte Sadie. „So ist es mir auch schon gegangen.“

„Überlebende erkennen einander.“

Das fand Sadie schön gesagt. Es bereitete ihr überhaupt keine Schwierigkeiten, darüber mit Katie, die sie kaum kannte, zu sprechen. Vermutlich lag das daran, dass sie Katies Geschichte schon kannte und wusste, dass die Engländerin sie verstand.

„Ich weiß gar nicht, was ich Libby mit auf den Weg geben soll“, wechselte Sadie wieder das Thema.

„Du tust mehr für sie, als zu erwarten wäre“, sagte Katie. „Sie hat mir von euch erzählt und da schwingt schon eine große Freude und Dankbarkeit mit. Sie ist froh, dass sie bei euch leben darf und dass ihr für sie sorgt. Das hättet ihr nicht tun müssen.“

„Für mich hat das auch mal jemand getan“, murmelte Sadie.

„Wenn sie sich dafür bedanken möchte, indem sie euch hilft, lass sie das ruhig tun. Das ist ihr ein Bedürfnis.“

„Das muss sie nicht.“

„Ja, aber lass sie einfach.“

„Du hast Recht“, sagte Sadie. „Hältst du sie für naiv?“

„Ich denke, dass es eine Rolle spielt, wo sie aufgewachsen ist“, sagte Katie. „Sie hat kein naives Gemüt, aber sie ist erst ein Jahr draußen, um es mal so zu sagen. Sie hatte kein Rüstzeug, um Brian zu erkennen. Jetzt zweifelt sie grundsätzlich an ihrer Entscheidung, hinaus in die Welt zu gehen und daran, wie sie Menschen einschätzen soll. Ob sie es beim nächsten Mal besser macht.“

„Diesen Eindruck hatte ich auch.“

„Ich fürchte, man kann ihr nicht weiter helfen, als dass man Erfahrungen mit ihr teilt“, mutmaßte Katie.

„Über Männer lernt sie viel von Matt.“

Katie lächelte. „Mach dir keine Sorgen, Sadie. Das wird schon alles.“

„Wahrscheinlich hast du Recht.“

„Sollen wir hinüber zur Tower Bridge und zum Tower fahren?“, schlug Andrea vor.

„Gute Idee“, sagte Sadie.

„Oder zum Buckingham Palace? Ich weiß gar nicht, wo wir anfangen sollen!“

„In London ist wirklich so viel auf einem Fleck“, sagte Matt staunend.

„Das stimmt. Also dann?“

 

 

 

 

 

Dienstag, 21. November

 

Die Rush Hour in London stand der in Los Angeles in nichts nach. Andrea fuhr deshalb meist mit der U-Bahn, die aber auch überfüllt war. Sadie und Katie begleiteten sie. Matt und Libby waren nicht mitgekommen, sie kümmerten sich um Hayley und hatten überlegt, später dem Wachsfigurenkabinett Madame Tussaud’s einen Besuch abzustatten.

Sadie fühlte sich ohne Hayley in der fremden Stadt irgendwie einsam und beraubt, auch wenn sie die Kleine bei ihrem Vater in den besten Händen wusste. Dieser Tag stand voll im Zeichen der Profiler-Tagung. Andrea als Veranstalterin wollte auf jeden Fall rechtzeitig dort sein und bei den letzten Vorbereitungen helfen. Die Tagung fand unweit des College in einem Hotel statt, um die Raumnot an der Universität nicht noch zu verschlimmern.

Um kurz vor halb neun trafen sie dort ein. Zwei Kollegen aus Andreas Team waren schon dort, weitere trafen fast zeitgleich mit ihnen ein. Andrea stellte alle einander vor und Sadie war es fast unangenehm, mit welcher Achtung ihr alle begegneten. Natürlich, sie war vom FBI, aber was hieß das schon?

„Guten Morgen“, begrüßte sie eine wohlvertraute Stimme von hinten.

„Nick!“, rief Sadie und begrüßte ihn mit einer Umarmung.

„Du siehst gut aus“, sagte er. „Gar nicht wie eine dieser übernächtigten jungen Mütter, die mir sonst gelegentlich begegnen …“

„Vortäuschung falscher Tatsachen“, erwiderte Sadie trocken. „Wie geht es dir? Hattest du einen guten Flug?“

„Ich kann nicht klagen. Andrea … das ist viel zu lang her.“ Energisch schüttelte Nick ihre Hand.

„Wahre Worte“, stimmte Andrea zu. „Darf ich dir Katie Archer vorstellen?“

„Freut mich sehr“, sagte Nick und schüttelte auch Katies Hand, dann drehte er sich kurz zu Andrea. „Im Kopf hatte ich eine Siebzehnjährige … wie lang ist das alles her?“

„So ging es mir auch schon“, sagte Sadie lachend. „Katie ist so alt wie ich.“

„Spannend“, fand Nick. Andrea stellte ihn auch all seinen Kollegen vor, doch dann wandte er sich wieder Sadie zu.

„Deine Familie ist doch mitgekommen, oder?“

„Sicher, aber die beschäftigen sich anderweitig.“

„Oh, ich hatte so gehofft, deine Tochter mal zu sehen“, sagte er.

Andrea drehte sich zu ihm um und sah ihn stirnrunzelnd an. „Glaubst du ernsthaft, dass du den heutigen Abend allein verbringst?“

Nick lachte. „Okay, ich verstehe. Ich habe nichts gesagt!“

Sie mussten die privaten Plaudereien leider abbrechen, weil es noch genug zu tun gab. Andrea zerriss sich zwischen den letzten organisatorischen Fragen und der Begrüßung der Konferenzteilnehmer, wobei die anderen sie jedoch nach Kräften unterstützten. Zwischendurch hörte Sadie Andrea mit einigen Teilnehmern sprechen und wunderte sich, dass sie kein Wort verstand. Aufmerksam lauschte sie und entwickelte einen Verdacht. Augenblicke später beendete Andrea ihr Gespräch und wollte schon an Sadie vorbei, als Sadie sie abfing.

„Woher kommen die drei dort drüben?“, fragte sie.

„Aus Deutschland. Du hast uns reden hören“, sagte Andrea grinsend.

„Ja. Ich hatte es schon vermutet.“

„Außer mit meiner Familie komme ich ja hier nie dazu, Deutsch zu sprechen.“

„Man hört deine Herkunft fast nicht mehr. Du hast einen lupenreinen britischen Akzent.“

Andrea lachte. „Da würden dir die Londoner aber etwas anderes sagen!“

Das musste Sadie ihr einfach glauben, aber sie hörte da keinen Unterschied.

Pünktlich um zehn war es dann soweit: Andrea stand vorn an einem Rednerpult und begrüßte die Konferenzteilnehmer.

„Ein Gipfeltreffen dieser Art ist bislang ziemlich einzigartig, zumal ich die Freude habe, nicht nur Experten aus verschiedenen europäischen Ländern begrüßen zu dürfen. Bei uns sind auch zwei Profiler des amerikanischen FBI, die uns in verschiedenen Vorträgen ihre Methodik näher bringen werden.“

Sadie spürte kurz Andreas Blick auf sich, während sie das sagte. Andrea stellte den Zeitplan vor, den Sadie bereits kannte. Andrea würde einen ganz grundsätzlichen Vortrag über die verschiedenen Ausbildungs- und Einsatzmöglichkeiten in Europa halten, bevor Nick dasselbe hinsichtlich des FBI tat. Es würde einen gemeinsamen Vortrag von Sadie und Andrea über Serienmörder mit einer Vorliebe für sexuellen Sadismus geben und Sadie würde in einem Workshop über ihren Vater auf Grundlage ihres Essays sprechen. Nick tat dasselbe mit einigen anderen Fallbeispielen, ebenso boten andere Profiler solche Workshops an.

Mit großer Spannung wurde auch der Vortrag von Katie und Andrea zu Katies Fall erwartet, während Andrea, Sadie und Andreas Kollege Gordon gemeinsam mit Katie über die Bedeutung traumapsychologischer Methoden im Umgang mit Verbrechensopfern sprechen würden. Sadie und Nick würden sich in einem gemeinsamen Workshop den Fragen zu Vorgehensweisen des FBI stellen und umgekehrt einiges über die Arbeitsweisen anderer Profiler erfahren.

In Andreas erstem Vortrag erfuhr Sadie einiges darüber, wie Profiler in anderen Ländern arbeiteten. Andrea führte ihr Team ähnlich dem amerikanischen Vorbild, wohingegen es in ihrer deutschen Heimat keine spezielle Profiler-Einheit gab. In Deutschland wurden erfahrene Kriminalbeamte entsprechend fortgebildet und es gab eine Handvoll Profiler deutschlandweit mit psychologisch-wissenschaftlichem Hintergrund, aber das war dann auch schon alles. Sadie konnte sich trotzdem vorstellen, dass das funktionierte. Sie arbeitete auch allein mit Cassandra in Los Angeles und hatte da bislang keinerlei Schwierigkeiten erfahren.

Nicks folgendem Vortrag lauschte sie nicht sehr aufmerksam, weil sie in Gedanken noch einmal durchging, was sie in ihrem Vortrag mit Andrea sagen wollte. Schließlich war es so weit und sie ging nach einer Pause mit Andrea nach vorn. Für einen Moment sortierte Andrea ihre Notizen und ergriff dann das Wort.

„Wir fahren fort mit einem Vortrag über den häufigsten Serienmördertypus. Die meisten von Ihnen werden vermutlich schon mit ihm zu tun gehabt haben oder zukünftig mit ihm zu tun haben: dem sexuellen Sadisten. Die meisten Menschen denken, wenn sie den Begriff Serienmörder hören, zuerst an einen frauenmordenden Triebtäter und tatsächlich ist es sehr häufig auch genau das. Viele berühmte Namen lassen sich dieser Kategorie zuordnen: Ted Bundy, Gary Ridgway, Ed Kemper – hierzulande denken wir an Namen wie Peter Sutcliffe oder Jonathan Harold. Letzterem bin ich persönlich begegnet, während ich noch Studentin war und mit dem Gedanken gespielt habe, Profilerin zu werden. Jonathan Harold hatte maßgeblichen Einfluss darauf, dass ich heute hier stehe. Ähnliches gilt für meine FBI-Kollegin Sadie Whitman. In einem der Workshops heute wird sie detailliert über Rick Foster sprechen, der in den USA über zwanzig Frauen getötet hat. Agent Whitmans Beziehung zu Rick Foster ist noch spezieller als meine, die ich zu Jonathan Harold hatte, denn sie ist Rick Fosters Tochter.“

Andrea machte eine Pause und begann, über die häufigsten Merkmale sexueller Sadisten zu sprechen. Es waren Grundlagen, die Sadie im Schlaf rückwärts herunterbeten konnte: Sadisten liebten es nicht, Schmerzen zuzufügen, sondern zu sehen, wie andere Menschen darunter litten. Sexualsadisten erregte es, die Qual anderer zu beobachten. Es begann mit Fantasien, die irgendwann danach schrien, in die Tat umgesetzt zu werden. Solche Täter folgten Skripten, vorgegeben durch ihre Fantasien. Einige liebten es, ihre Opfer zu würgen, andere erstachen sie lieber. Auch die Vorlieben sexueller Handlungen variierten stark. Gut die Hälfte der Täter behielt Andenken an die Taten oder die Opfer und beinahe die Hälfte war verheiratet. Da musste Sadie nur an ihren Vater denken. Die meisten Täter mordeten in ihrer eigenen ethnischen Gruppe und nutzten verschiedene Tricks, um ihre Opfer in ihre Gewalt zu bringen.

„Damals als Studentin war ich selbst in der verqueren Situation, durch mein Praktikum bei der Polizei ein Profil des Campus Rapist von Norwich zu erstellen, das in weiten Teilen zutreffend war und trotzdem nicht verhindern zu können, dass er weiter mordet. Ich konnte nicht einmal verhindern, selbst in sein Fadenkreuz zu geraten und trotz Polizeischutz von ihm verschleppt zu werden. Es liegt in der Natur der Sache, dass wir das Meiste über die Vorgehensweise von Serienkillern von ihnen selbst erfahren haben. Es gibt nur wenige überlebende Opfer – ich selbst habe gesehen, wie Harold Caroline Lewis erwürgt hat.“ Andrea machte eine kurze Pause. „Wie Sie sich denken können, hat er mich nicht ohne Hintergedanken zusehen lassen. Das war für ihn Teil des Spiels.“

Andrea beschrieb und analysierte überraschend ausführlich, was damals geschehen war. Für Sadie war das nichts Neues, sie hatte Andrea schon darüber sprechen hören, darüber gelesen und auch nach ihrer Entführung durch Sean mit ihr darüber gesprochen. Es hatte ihr damals geholfen, sich mit jemandem auszutauschen, der Ähnliches durchgemacht hatte.

Schließlich gab Andrea das Wort an sie ab. Sadie holte tief Luft und blickte in viele gespannte Gesichter.

„Unsere Disziplin lebt von Fallstudien. Ich hatte selbst schon öfter die Gelegenheit, mit Serienmördern über ihre Taten zu sprechen. Carter Manning, ein homosexueller Sexualsadist mit dissoziativer Persönlichkeitsstörung, hat mit mir während seines Strafvollzugs gesprochen. Für homosexuelle Sexualsadisten gelten ähnliche Regeln wie für Männer, die Frauen töten, nur kommt bei ihnen oft die Komponente einer unterdrückten und nicht gesund gelebten Sexualität hinzu – in einem Maße, wie wir das bei heterosexuellen Tätern nicht kennen. Noch genauer kann ich die Motive meines eigenen Vaters beschreiben, wie ich es später in einem eigenen Workshop tun werde. Dort werde ich Ihnen auch auf Grundlage meines Essays den Hintergrund eines solchen Täters im Detail erläutern können. Wie gut die Hälfte der sexuell motivierten Serienmörder war mein Vater verheiratet und ich hatte noch zwei Geschwister. Zwar pflegte er einen problematischen Umgang mit Alkohol, war aber nicht abhängig. Er war der Alleinverdiener in unserer Familie, oft auf Montage. Seine Taten sind da überhaupt nicht weiter aufgefallen. Zu Hause jedoch war er gewalttätig und hat, wie ich heute weiß, nicht nur meine Schwester vergewaltigt, sondern auch meine Mutter. Ich weiß noch, dass meine inzwischen verstorbenen Großeltern nach seiner Festnahme zu seiner Kindheit befragt wurden, doch sie konnten keine Faktoren nennen, die dazu beigetragen hätten, dass er zum Frauenmörder wurde. Anders war das beim Pittsburgh Strangler, der – wie der Name vermuten lässt, in Pittsburgh Frauen entführt und ermordet hat.“

Sadie holte tief Luft. Andrea verzog keine Miene, doch Nick im Publikum war sichtlich überrascht, dass Sadie ihn ansprach.

„Ich hatte vor seinem Tod die Chance, mit Sean Taylor über seine Beweggründe zu sprechen. Er war das einzige Kind einer alleinerziehenden Mutter, hervorgegangen aus einer flüchtigen Affäre. Das Fehlen einer konkreten männlichen Identifikationsfigur hat ihn als Jugendlichen verunsichert, als er zum ersten Mal festgestellt hat, dass Folter und Lust für ihn untrennbar zusammengehören. Taylor beschrieb mir die klassische Karriere des sexuellen Sadisten: Für ihn waren von Beginn an Lustgefühle mit dem Schmerz anderer verbunden. In den Anfängen quälte und tötete er kleine Tiere, was er als sehr erregend empfand. Ihm war jedoch schon damals bewusst, dass dieses Verhalten nicht der üblichen Norm entspricht. Als er etwas älter war, hat er Prostituierte aufgesucht, gewürgt und geschlagen, um sich Befriedigung zu verschaffen. Das wäre auch noch eine Weile gut gegangen, wäre dann nicht seine Mutter gestorben. Das war für ihn der Auslöser, junge Frauen zu kidnappen, sie in seinem Versteck zwei Autostunden entfernt von Pittsburgh einzusperren und bis zu ihrem Tod zu foltern.“

Sadie wischte sich die schweißnassen Hände an ihrer Hose ab und blickte wieder auf. „Ihm war die gesamte Vorgehensweise bis hin zur Entsorgung der Leichen wichtig. Er hat sie wieder nach Pittsburgh zurückgebracht und sogar mit den Ermittlern kommuniziert, um Macht zu demonstrieren. Ihm war, wie den meisten Tätern seiner Gruppe, jeder einzelne Teilaspekt seiner Handlungen wichtig. Er hat mit Vorliebe Zwangsmittel genutzt, egal ob sie nun notwendig waren oder nicht. Während es für die meisten Täter unabdingbar ist, ihr Opfer zu fesseln und damit handlungsunfähig zu machen, wäre es in seinem abgelegenen Haus durchaus möglich gewesen, auf Knebel zu verzichten. Für ihn war es jedoch von Bedeutung, sein Opfer zu knebeln und auch durch das Verbinden der Augen vollkommen wehrlos zu machen und zu unterwerfen. Gezielte körperliche Schwächung spielte ihm dabei natürlich in die Hände. Die meisten Sexualsadisten genießen es, die Macht über ihr hilfloses Opfer zu haben. Dabei erleben sie nicht nur sexuelle Übergriffe als sehr lustvoll, sondern auch Zufügen von Schmerzen, etwa durch Verletzungen mit Messern.“

Mit Herzrasen fuhr sie noch ein wenig fort in der Aufzählung von Dingen, die sie bei Sean erlebt hatte und die typisch für Täter wie ihn waren. Vor der Tagung hatte sie lang überlegt, ob sie wirklich bereit dazu war, über ihn zu sprechen. Aber sie hielt es allgemein und selbst wenn sie ins Detail ging, versuchte sie, den Umstand zu ignorieren, dass er ihr das angetan hatte. Sie beschrieb in groben Zügen, was damals geschehen war und pickte exemplarisch einige Aspekte heraus, um daran bestimmte Dinge zu verdeutlichen. Es gab ihr Sicherheit, zu wissen, dass Andrea neben ihr stand, während sie das alles ausführte. Andrea war inzwischen auch in der Lage, detailliert über Jonathan Harold zu sprechen, aber bei ihr war es deutlich länger her und er hatte sie auch nicht vergewaltigt. Aus eigener Erfahrung wusste Sadie, dass es das einfacher machte. Über die Erlebnisse mit ihrem Vater konnte sie erheblich besser sprechen als über ihre Begegnung mit Sean, denn da spielte auch immer Scham mit hinein.

Pünktlich zur Mittagspause waren Andrea und Sadie fertig mit ihrem Vortrag. Auch während des Essens blieben sie beim Thema, denn ein Kollege aus Frankreich und einer aus Deutschland setzten sich zu ihnen und sprachen mit ihnen über die Dinge, die sie zuvor gehört hatten. Sadie entging nicht, wie Nick sie von weitem ansah, aber er sagte nichts und sie beließ es vorerst auch dabei.

Nach der Mittagspause fanden sich Katie, Sadie, Andrea und ihr Kollege Gordon, den kennenzulernen Sadie sehr gefreut hatte, für einen gemeinsamen Vortrag über die Arbeit mit traumatisierten Opfern zusammen. Sie hatten beschlossen, dass Katie beginnen würde, und die anderen drei hielten sich im Hintergrund, während sie nach vorn ging und aufrecht in den Saal blickte.

„Mein Name ist Katie Archer. Ich bin neunundzwanzig Jahre alt und seit zwölf Jahren wieder Teil dieser Welt. Mit siebzehn gelang mir die Flucht aus dem Kellerverlies, in dem meine Schwester Tracy und ich acht Jahre lang eingesperrt waren, wo man uns vergewaltigt, geschlagen und dabei gefilmt hat.“ Sie machte eine bedeutungsschwere Pause. „Versuchen Sie, sich vorzustellen, wie es ist, wenn man acht Jahre im Dunkeln gehaust hat. Dort, wo es kalt ist. Stellen Sie sich vor, Sie hätten keine Toilette, sondern nur einen Eimer. Sie wären abhängig davon, dass Ihre Entführer irgendwann kommen und etwas zu essen bringen. Mehr war da nicht. Sie bekommen nur neue Kleidung, wenn es gar nicht anders geht. Sie können sich nicht beschäftigen. Sie haben nur Ihre Schwester, mit der Sie reden können, auch wenn Ihnen irgendwann gar nichts mehr einfällt. Ihre Schwester will auch gar nicht reden, sondern verletzt sich lieber irgendwann selbst, um nicht den Verstand zu verlieren, weil sie es nicht mehr aushält, vergewaltigt zu werden. Und dann plötzlich steht die Tür offen, so dass Sie weglaufen können. Allein, weil Ihre Schwester zu schwach zum Laufen ist, denn sie hat gerade das Kind eines Ihrer Entführer geboren.“

Erneut blickte Katie in den Saal und machte eine Pause. Eine beinahe schmerzhaft lange Pause. Sie wollte das gerade Gesagte tief wirken lassen und fuhr dann fort.

„Draußen war es hell. Es war kalt und Schuhe hatte ich nicht, ich hatte ja nie welche gebraucht. Ich bin bloß in einem Pullover, einer Hose und auf Socken durch Birmingham gelaufen, meine Entführer im Nacken, und habe Hilfe gesucht, immer noch die Schreie meiner Schwester unter der Geburt im Ohr und nur Minuten vorher, wie sie mir sagt, dass ich weglaufen und Hilfe holen soll. Ich habe sie mit ihrem neugeborenen Sohn zurückgelassen – nicht wissend, was aus den beiden wird. Ob man sie tötet, zur Strafe für meine Flucht. Aus Angst. Aus Hass. Meine Schwester, die doch über Jahre meine einzige Vertraute war und mit angesehen hat, was mir geschieht. Genauso habe ich wohl mit angesehen, wie ihr Sohn gezeugt wurde.“

Andrea sorgte dafür, dass Fotos von Katie, Tracy und Jonah im Hintergrund gezeigt wurden, während Katie sprach.

„Draußen fuhren Autos, die ich noch nie gesehen hatte. Ich hatte England nie verlassen, aber ich fühlte mich wie auf einem anderen Stern. Ich wusste auch nicht, wohin ich gehen soll. An wen ich mich wenden soll, wem ich vertrauen kann. Ich war entkommen – etwas, worauf ich jahrelang gehofft hatte. Aber dann war ich draußen und alles stürzte auf mich ein. Als ich ein Krankenhaus betreten habe und mich das hektische Treiben verschluckt hat, gab es einen Kurzschluss in meinem Kopf. Ich bin schreiend zusammengebrochen, habe das Bewusstsein verloren und als ich wieder zu mir kam, waren da Ärzte und Pfleger, Schwestern, Sozialarbeiter … alle redeten auf mich ein und wollten wissen, wer ich bin, denn ich hatte ja diese Narben und man konnte sehen, dass etwas mit mir nicht stimmt. Aber ich konnte nicht antworten. Es ging einfach nicht. Es war, als hätte mein Hirn eine Schranke eingebaut, weil es überfordert war. Ich hatte Angst. Ich war frei, aber ich hatte Angst. Vor allem eigentlich, aber besonders vor Männern.“

Sie drehte sich um zu Gordon. „Dr. Gordon Weaver war aus London gekommen, um mir zu helfen, mit mir zu sprechen, mich zurückzuholen. Aber da gab es ein Problem: Er war ein Mann. Es war, als hätte ich Rot gesehen. Ich konnte nicht mit ihm sprechen. Das konnte ich erst, als er Andrea Thornton rief, weil er verstanden hatte, was das Problem ist. Andrea kam dann aus London, setzte sich einfach auf meine Bettkante und erzählte von sich. Sie stellte keine Erwartungen, sie war einfach nur da und gab mir zu verstehen, dass ich ihr vertrauen kann. Als sie kurz den Raum verlassen hat und ich ihre Sachen betrachtet habe, um mehr über sie zu erfahren, hat sie mich bei ihrer Rückkehr ermutigt, etwas von ihr zu behalten. Und sie hat mich bei sich aufgenommen, damit ich sanfter in dieser Welt ankommen kann.“

Katie drehte sich wieder zu Andrea um und lächelte. Andrea ging zu ihr nach vorn, legte eine Hand auf die Schulter und sprach ins Mikrofon.

„Damit verdeutlicht Katie uns, dass es wichtig ist, wie wir mit Opfern umgehen. Oder Überlebenden, wie sie sagen würde. Ihr Schock hat einen selektiven Mutismus bei ihr ausgelöst und ich habe Tage gebraucht, um von ihr zu erfahren, was aus ihrer Schwester geworden ist. Daran ist Gordon Weaver leider aufgrund seines Geschlechts gescheitert, denn üblicherweise übernimmt er in unserem Team die Betreuung traumatisierter Verbrechensopfer. Analog dazu hat sich auch Special Agent Sadie Whitman in den USA entsprechend fortbilden lassen, um besser mit überlebenden Opfern sprechen zu können. Unser Vortrag dreht sich um die Bedeutung dieses Aspekts für die Arbeit eines Profilers.“

Sie alle kamen zu Wort. An Katies Beispiel erläuterten sie und Andrea die Vorgehensweise, Gordon verlor einige Worte dazu und schließlich berichtete auch Sadie von guten Erfolgen dieser Arbeit in ihrem Alltag. Es war ein längerer Vortrag und als schließlich andere Sprecher über die Arbeit in anderen europäischen Ländern berichteten, fiel es Sadie schwer, noch zu folgen. Sie sehnte das Ende dieses Tages herbei, der nächste würde mit seinen kleineren Workshops noch anstrengend genug werden.

Sie kamen auch am Ende nicht gleich weg, sondern wurden noch von einigen Teilnehmern mit Rückfragen aufgehalten. Irgendwann saßen sie endlich in der U-Bahn und kehrten nach Fulham zurück. Tatsächlich begleitete Nick sie, weil Andrea ihn ausdrücklich zum Abendessen eingeladen hatte. Sie hatte mit Gregory besprochen, dass er für alle kochen würde.

Als sie Fulham endlich erreicht hatten, wurden sie schon sehnsüchtig erwartet. Libby, Julie und Matt waren von ihrem kleinen Sightseeingausflug zurück und Hayley strahlte übers ganze Gesicht, als Matt sie ihrer Mutter auf den Arm setzte.

„Hey, meine Kleine“, sagte Sadie und küsste Hayley auf die Stirn. „Du hast mir heute gefehlt.“

Dann wandte sie sich zu Matt und erkundigte sich, ob sie einen schönen Tag gehabt hatten. Matt bejahte und wollte schon erzählen, als er hinter Sadie Nick entdeckte und zu ihm ging, um ihn zu begrüßen.

„Das ist viel zu lang her“, sagte er, während er Nicks Hand schüttelte.

„Das ist wahr“, bestätigte Nick. Sadie drehte sich mit Hayley zu Nick, der Hayley ganz freundlich ansah und eine entsprechende Antwort bekam.

„Da habt ihr aber einen süßen Fratz in die Welt gesetzt“, sagte er anerkennend. „Was riecht hier eigentlich so gut?“

Gregory kochte typisch britisch Pie für sie alle, in diesem Fall mit Geflügel und Gemüse. Über die Auswahl einiger Gemüsesorten beschwerte Julie sich beim Essen und wurde von ihrer Mutter dafür ermahnt.

„Keiner mag alles, oder?“, sprang Nick Julie zur Seite und zwinkerte ihr zu.

„Und wie war es heute?“, erkundigte Matt sich.

In der Hauptsache erzählten Andrea und Katie von der Tagung, während Sadie immer wieder zu Nick spähte. In diesem Moment gab er nichts zu erkennen, doch nach dem Essen, als Julie und Libby auf Julies Zimmer verschwunden waren, war seine Gelegenheit gekommen. Er fragte Sadie ganz direkt, ob er mit ihr sprechen konnte und sie willigte ein. Während die anderen sich aufs Sofa setzten, verschwanden Sadie und Nick in die Küche.

„Ich weiß, was du jetzt sagen wirst“, nahm Sadie seine Worte vorweg.

„Du hast heute nicht allgemein über Taylor gesprochen, oder?“

„Nein. Ich wusste, dass du es merkst.“

„Wessen Idee war das?“

„Meine“, sagte Sadie unbeeindruckt. „Es ging in dem Vortrag um Sexualsadisten und ich kannte einen aus ganz persönlicher Anschauung. Ich fand, er darf da nicht fehlen.“

„Und Andrea fand die Idee gut?“

„Warum denn nicht?“

Nick seufzte. „Ich mache mir nur Sorgen, verstehst du? Nicht, dass irgendjemand sich fragt, wie du mit einem Täter sprechen konntest, der statt festgenommen zu werden gleich erschossen wurde.“

„Das weiß doch hier niemand.“

„Jeder kann das herausfinden.“

„Und wenn schon. Ich habe es allgemein gehalten und nur exemplarisch einiges herausgegriffen. Das war meine Entscheidung und ich stehe dazu.“

Doch Nick wirkte nicht überzeugt. „Ich muss zugeben, dass ich wirklich immer gern von dir gehört hätte, was damals geschehen ist, weil man diese Chance viel zu selten hat. Aber ich weiß auch, dass du das nicht einfach so erzählen kannst.“

„Das habe ich heute auch nicht getan. Ich habe doch nur allgemein über seine Vorlieben gesprochen. Was davon er getan hat, konntest du dir doch sowieso immer denken, oder? Du hast das Video gesehen, das er Matt geschickt hat und meine Verletzungen ebenfalls.“ Sie spielte darauf an, dass sie ausführlich über Seans Vorliebe gesprochen hatte, sie mit dem Messer zu traktieren.

Nick seufzte tief. „Ich will doch nur nicht, dass du dich selbst verletzt. Ich habe immer geheim gehalten, in welchem Verhältnis er zu dir stand und dass er dich gekidnappt hat, weil wir an deinem Vater gesehen haben, was passiert, wenn man dich mit so etwas assoziiert.“

„Ich weiß, Nick. Ich verstehe. Aber ich bin jetzt so weit, dass ich in dem Maße über ihn sprechen kann und war bereit, es zu tun. Du musst jetzt nicht denken, dass ich vorhin keine Schweißausbrüche hatte … aber es ist vorbei. Er ist tot. Seit Hayleys Geburt macht mir das keine Angst mehr.“

„Ausgerechnet“, murmelte er.

Sadie lächelte. „Das wirst du natürlich nie ganz nachvollziehen können, aber das war ein gutes Erlebnis für mich. Natürlich ist eine Geburt schmerzhaft und ich musste mich von meiner Hebamme anfassen lassen. Ich würde auch lügen, würde ich behaupten, dass ich keinen schwachen Moment hatte. Die Erinnerungen an Sean kamen kurz hoch. Aber ich habe meine Tochter ganz aus eigener Kraft bekommen, ohne jedes Schmerzmittel, und das war nicht so schmerzhaft wie das, was Sean getan hat. Es war anders. Ich habe die Regeln bestimmt und es hat mich stärker gemacht.“

Für einen Moment schwieg Nick nachdenklich und lächelte dann kurz. „Das strahlst du auch von weitem aus. Ich weiß nicht, ob dir das schon jemand gesagt hat. Jetzt bist du die, die du immer hättest sein können.“

Sadie schluckte und starrte ihn für einen Moment nur an. „Das klingt so, als wäre es meine Schuld, dass dem nicht so war.“

„Überhaupt nicht, nein. Um Gottes Willen. Das ist ganz positiv gemeint. Ich war nur geschockt heute und habe nicht verstanden, warum du das tust. Ich glaube, jetzt verstehe ich es besser.“

„Das ist gut … es macht mir keine Angst mehr. Seit Hayley da ist, ist alles anders.“

Nick legte eine Hand auf Sadies Schulter. „Du hast auch nichts anderes verdient.“

 

 

Mittwoch, 22. November

 

Den Vormittag hatten Matt und Libby zusammen mit der Kleinen im Natural History Museum verbracht und hätten noch viel mehr Zeit dort gebrauchen können, aber für den Nachmittag hatten sie sich mit Julie am Camden Market verabredet. Sie wollte gleich nach der Schule dorthin kommen und den beiden alles zeigen.

Im Augenblick standen Matt und Libby zusammen in der U-Bahn. Noch zwei Haltestellen. Matt richtete das Mützchen seiner schlafenden Tochter und strich ihr über den Kopf. Er hatte sie in die Trage gesetzt, wo sie sich zufrieden an ihn gekuschelt hatte. Sie war warm genug angezogen, so dass sie die unterkühlten Temperaturen Londons nicht störten, als sie wenig später aus der U-Bahn stiegen und auf Julie warteten, um sich ins bunte Getümmel des Camden Markets zu stürzen.

Matt schaute auf die Uhr. Vermutlich war Sadie mit ihrem Workshop schon fertig. Er bewunderte es, dass sie inzwischen geradeheraus über ihren Vater sprach und er hatte aufgeschnappt, dass sie wohl auch ein paar Worte über Sean verloren hatte. Wenigstens traute sie sich das jetzt.

Zwei Züge später traf Julie ein und steuerte zielstrebig auf sie zu. Natürlich trug sie noch ihre Schuluniform, die Libby zu Julies Überraschung ziemlich cool fand. Überhaupt gefiel es Libby in England sehr gut. Sie sog alles in sich auf und hatte sich auch schon richtig mit Julie angefreundet. Am Vorabend hatte Sadie schon bedauert, dass die beiden Tausende Meilen voneinander entfernt wohnten, das war wirklich schade.

„Das ist so cool“, sagte Julie mit Blick auf Matt und das Baby.

„Was denn?“, erwiderte er achselzuckend. „Ich trage die Kleine gern. Ist praktischer.“

„Es sollte mehr so coole Männer auf der Welt geben.“ Julie knuffte Libby und grinste breit. „Lass uns shoppen gehen!“

Belustigt folgte Matt den beiden Mädchen. Er war also ein cooler Mann. Das hatte man ihm so auch noch nicht gesagt. Und das nur, weil er seine Tochter ganz entspannt trug. Für ihn gehörte das wie selbstverständlich dazu.

Camden Market waren eigentlich mehrere Märkte in Camden Town und bei Touristen und Einheimischen gleichermaßen beliebt. Julie führte Matt und Libby mit großer Sicherheit durch das Getümmel und unterhielt sich mit Libby über alles Mögliche. Matt klinkte sich weitgehend aus und betrachtete nur die Angebote des Marktes. Irgendwann regte Hayley sich in der Trage und wurde sichtlich unruhig. Augenblicke später verriet Matts Nase ihm, was los war. Hayley hatte in die Windel gemacht.

„Julie“, sagte er und die Mädchen blieben gleich stehen. „Kann man hier irgendwo wickeln?“

„Entweder wir gehen irgendwo in ein Café oder zu den öffentlichen Toiletten, die sind nicht weit … da müsste es im Behindertenklo eine Wickelmöglichkeit geben.“

„Wenn das sauber ist …“

„Ja, die sind ganz okay. Kommt mit.“

Julie ging voraus und wies Matt den Weg zu den Toiletten. In seinem kleinen Rucksack hatte er alles Nötige dabei, im Windelwechseln war er mittlerweile der absolute Profi.

Sie mussten ein wenig warten, da gerade eine Mutter mit ihrem Kind zum Windelwechsel drin war. Julie und Libby schauten sich die Stände in der Nähe an und bestaunten vor allem einen mit selbst gemachten Schmuckstücken. Julie rechnete Libby den Pfundpreis in Dollar um.

Schließlich war es so weit, dass Matt mit Hayley zur Tat schreiten konnte. Er verdrehte die Augen, als er beim Ausziehen sah, dass etwas neben die Windel gegangen war. Jetzt musste er die Kleine auch noch umziehen. Zuerst kümmerte er sich aber um die Windel, denn es lag ein erbärmlicher Geruch in der Luft.

Bis er die Windel gewechselt, Hayley wieder angezogen und in die Trage gesetzt hatte, verging einige Zeit. Zwischendurch spielte er mit dem Gedanken, sich Libby als helfende Hand hinzu zu holen, aber er wollte Hayley nicht aus den Augen lassen.

Endlich war er fertig und ging wieder nach draußen. Libby und Julie waren nicht zu sehen. Matt stöhnte innerlich und schaute sich in der Hoffnung um, die Mädchen irgendwo zu entdecken.

Doch es gelang ihm nicht. Er ging los und hielt überall Ausschau. Während er das tat, überlegte er sich schon, was er den beiden sagen würde, wenn er sie ausfindig machte. Er fand das nämlich überhaupt nicht lustig.

Aber egal, wo er suchte, er fand sie nicht. Schließlich rief er Libby an und lauschte auf das Freizeichen, bis irgendwann ihre Mailbox ansprang. Libby ging nicht ans Telefon. Mehr konnte er aber gerade nicht tun,  denn Julies Nummer hatte er nicht und auch nicht die ihrer Eltern.

Kurzerhand beschloss er, Sadie anzurufen, hatte damit aber auch keinen größeren Erfolg. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass er sie zwar anrufen konnte, wenn etwas mit Hayley war, sie aber während ihrer Workshops nicht drangehen würde. Also war sie noch nicht fertig.

Was konnte er noch tun?

Er kehrte zu den Toiletten zurück und beschloss, dort zu suchen und zu warten. Vielleicht kamen die Mädchen dorthin zurück. Eigentlich waren sie ja nicht unüberlegt oder verantwortungslos.

Doch letztlich stand er ganz allein dort. Von den Mädchen keine Spur.

Allmählich machte er sich Sorgen.

Er rief noch einmal bei Libby an. Immer noch Freizeichen. Kurz bevor wieder die Mailbox ansprang war ihm, als hätte er irgendwo eine Tonfolge gehört, die ihm von Libbys Klingelton bekannt vorkam. Er rief gleich nochmal an und tatsächlich, ganz leise hörte er von irgendwo die vertraute Melodie.

Während Hayley sich neugierig umschaute, ging Matt suchend umher und rief immer wieder Libbys Handy an, bis der Ton endlich lauter wurde. Anscheinend lief er in die richtige Richtung.

Er näherte sich einer nicht sehr einladend wirkenden Gasse, wo hinter einem Stand mit Taschen ein offener Müllcontainer stand, in den er gleich spähte. Zu seinem Entsetzen entdeckte er darin die beiden Taschen der Mädchen und hörte immer noch Libbys Klingelton. Die Toiletten waren keine zwanzig Meter entfernt.

„Verdammt“, murmelte er und rief wieder bei Sadie an. Doch es blieb dabei, er hatte keinen Erfolg. Dann war sie wohl mitten im Workshop.

Er überlegte, die Polizei zu rufen und zwang sich zur Ruhe. Was würde die Polizei tun? Nein, das würde ihm jetzt auch nicht helfen, denn dafür kam keine Spurensicherung und die hätte auch nicht viel zu sichern gehabt. Stattdessen machte er ein Foto von dem Container, bevor er die Taschen der Mädchen herausfischte und zur U-Bahn-Station zurücklief.

Er erinnerte sich düster, dass die Frauen die Russel Square Station als die der Tagungsstätte Nächste genannt hatten. Die Tagung fand im President Hotel statt.

Das würde er finden.

Er zögerte nicht lang, sondern ging zur U-Bahn und fuhr los. An der Kings Cross Station musste er umsteigen und überlegte derweil immer noch, ob er das Richtige tat. Er konnte nicht erst die Polizei rufen, das fühlte sich falsch für ihn an. Er musste erst Sadie und Andrea Bescheid geben. Die beiden waren Profiler, Andrea würde wissen, was zu tun war. Wenn er der Polizei etwas über zwei verschwundene Teenager erzählte, hatte das nicht dasselbe Gewicht, als wenn Andrea das tat.

Es war etwas passiert. Er hätte es nicht für möglich gehalten, seines Wissens waren europäische Städte doch sicherer als ihre eigenen in den USA. Aber die Mädchen waren verschwunden und er hatte das nicht verhindert. Er hatte es nicht einmal gemerkt.

Es war mitten am Tag, kurz nach halb fünf. Als er am Russel Square aus der U-Bahn stieg, wurde seine Unruhe immer größer. Er fand das President Hotel auf Anhieb, darin war der Weg zur Tagung sogar ausgeschildert. Voll bepackt und mit der schlafenden Hayley vor der Brust lief er durch die Eingangshalle  und landete schließlich vor dem Vortragssaal. Ein aufgestelltes Flipchart verriet ihm, wann welche Veranstaltung stattfand. Im Augenblick lief noch Sadies Workshop mit Nick über Ausbildungsmöglichkeiten des FBI in einem kleineren Raum. Matt suchte also weiter und als er den Raum gefunden hatte, klopfte er beherzt.

Das Innere des Raumes erinnerte ihn an die Besprechungsräume beim FBI. Nick stand vor einer heruntergelassenen Leinwand, Sadie saß schräg vor ihm an einem der quadratisch angeordneten Tische. Als sie Matt in der Tür stehen sah, machte sie große Augen und stand auf.

„Augenblick“, sagte sie und ging um den Tisch herum zur Tür. Als Nick ihr hinterher sah, bedachte er Matt mit einem undeutbaren Blick.

„Was machst du denn hier?“, raunte Sadie ihm zu und verschwand mit ihm auf den Flur.

Mit betretener Miene hielt Matt Libbys Rucksack hoch. „Irgendwas ist passiert.“

„Was soll das heißen? Was meinst du?“

„Die Mädchen sind weg.“

Unverständig sah Sadie ihn an. „Was heißt weg? Was ist passiert?“

Matt holte tief Luft. „Ich musste Hayley wickeln. Julie hat mir eine öffentliche Toilette gezeigt, wir waren in Camden Town. Die Mädchen haben draußen gewartet … und als ich rauskam, waren sie weg.“

„Das ist Libbys Tasche“, sagte Sadie, die selbst noch zu verstehen versuchte, was passiert war.

Matt nickte. „Ich habe die beiden überall gesucht und schließlich ihre Taschen in einem Müllcontainer gefunden. Sadie, ich … ich weiß nicht, was passiert ist. Ich habe nicht aufgepasst.“

„Du hast dich um Hayley gekümmert“, sagte Sadie, die sofort bei der Sache war. „Sie waren nirgends zu sehen?“

„Nein … ich habe überall gesucht und versucht, Libby anzurufen. Julie konnte ich nicht anrufen, ich habe die Nummer nicht. Aber ihr Handy ist vermutlich in ihrer Tasche, also …“

Er war vollkommen kopflos. So kannte Sadie ihn nicht, aber sie konnte es ihm nicht verübeln. Die Mädchen waren verschwunden, ihre Taschen hatte man weggeworfen – das hatten sie nicht selbst getan. Sie mussten von Fremdeinwirkung ausgehen. Matt gab sich die Schuld. Früher hätte er anders reagiert, aber er hatte sich verändert und Libby war Teil ihrer Familie. Auch für Julie fühlte er sich verantwortlich. Und sie waren in einer fremden Stadt.

„Du hast nicht die Polizei gerufen?“, fragte Sadie, die versuchte, kühlen Kopf zu bewahren.

„Nein. Wir waren selber bei der Polizei, ich konnte mir denken, wie die wohl reagieren, wenn ein Amerikaner denen was von zwei verschwundenen Jugendlichen erzählt.“

„Muss nicht sein, aber vermutlich kann Andrea mehr bewirken“, nahm auch Sadie an. Sie überlegte kurz, dann bat sie Matt, ihr zu folgen und ging in den großen Vortragssaal. Die Veranstaltung dort hatte gerade geendet und sie entdeckte Andrea in einer Gruppe im Gespräch. Schnurstracks ging sie zu ihr und Andrea wurde gleich aufmerksam, als sie Sadie und Matt sah. Sie entschuldigte sich und kam den beiden entgegen.

„Was ist los?“, fragte sie.

„Die Mädchen sind verschwunden“, sagte Sadie und gab wieder, was Matt ihr berichtet hatte. Er wiegte derweil Hayley, die sich unruhig bewegte. Sadie hatte noch nicht geendet, da froren Andrea die Gesichtszüge ein. Nie zuvor hatte Sadie sie so ernst gesehen.

„Lass mal sehen“, bat sie Matt und nahm ihm Julies Rucksack ab. Tatsächlich war ihr Handy darin.

„Okay.“ Sie nickte. „Aus Erfahrung kann ich sagen, dass Julie niemals einfach so verschwinden würde. Man müsste sie gewaltsam zwingen.“

„Ich war vielleicht zehn, zwölf Minuten mit Hayley auf der Toilette. Sie …“

Andrea unterbrach Matts wortreiche Entschuldigung, indem sie ihm die Hände auf die Oberarme legte.

„Ich weiß nicht, was passiert ist, aber das ist nicht deine Schuld.“

„Es geht hier um deine Tochter!“, widersprach er.

„Ja, und sie wurde schon einmal vermisst. Sie weiß sich zu helfen.“ Andrea fuhr sich durchs Haar und überlegte. „Allzu viele Möglichkeiten gibt es nicht.“

Sadie verstand, Andrea musste gar nicht mehr sagen. Die Mädchen schwebten in Gefahr.

„Was sollen wir tun?“, fragte Sadie.

„Wir weihen Nick und meine Kollegen ein, dann rufen wir die Polizei. Ich weiß nicht, was passiert ist, aber wir finden das raus. Du hast gut reagiert, Matt.“

Das zu hören, erleichterte ihn doch. „Ich wusste nicht, ob ich gleich die Polizei rufen soll.“

„Ist wohl besser, wenn ich das mache.“ Andrea wurde gleich aktiv und ging zu ihren Kollegen, während Sadie beschloss, Nick einzuweihen. Matt blieb mit Hayley und den Taschen im Foyer stehen und fragte sich, was passiert und wie das überhaupt möglich war. Mitten am Tag und auf einem belebten Markt … das musste doch jemand gesehen haben. Ob es Überwachungsaufnahmen gab?

Sie versuchten, es so unauffällig wie möglich zu halten und setzten sich schließlich fast unbemerkt von der Tagung ab. Andreas Kollegen und Nick hatten versprochen, ihnen den Rücken freizuhalten und alles zu einem sauberen Ende zu bringen, so dass sie sich darum zumindest nicht mehr kümmern mussten. Als das geschafft war, wählte Andrea im Foyer in einer ruhigen Ecke den Notruf, noch bevor sie ihren Mann informierte. Was dann jedoch geschah, ließ sie laut werden.

„Bitte wie? Ich sagte doch gerade, ihre Taschen lagen in einem Müllcontainer. Wir müssen von Fremdeinwirkung ausgehen!“ Sie machte eine kurze Pause. „Sie hören mir nicht zu. Ich … ach, vergessen Sie’s.“ Entnervt legte sie auf.

„Was ist los?“, fragte Sadie.

„Wir sollen bei einer lokalen Dienststelle eine Vermisstenanzeige aufgeben. Ist das zu fassen? Ich habe gerade versucht, der Dame begreiflich zu machen, dass am besten jemand rauskommen sollte, weil ich von einer Entführung ausgehe, aber nichts!“ Andrea blickte zu Matt. „Gut, dass du nichts versucht hast. Ich werde jetzt mal sehen, was ich noch tun kann. Ich kenne ja hier einige Leute bei der Polizei.“

„Gibt es hier keinen Amber Alert?“, fragte Matt verwirrt. Damit konnte man der Vermisstenmeldung eines Kindes besondere mediale Aufmerksamkeit zukommen lassen.

„Doch, sicher. Ich weiß nicht, ob die beiden zu alt sind, um noch darunter zu fallen, aber das geht so nicht.“ Kopfschüttelnd wählte Andrea die Nummer ihres Mannes und entfernte sich ein wenig, um in Ruhe mit ihm zu telefonieren.

„Für einen Amber Alert braucht es aber auch mehr, als wir jetzt haben“, murmelte Sadie. „Wir brauchen mindestens eine Beschreibung eines Verdächtigen oder eine Idee davon, was passiert ist, bevor hier irgendeiner was tut.“

Matt nickte langsam. „Stimmt, das ist bei uns nicht anders.“

„Die Polizei springt nicht bei jedem vermissten Kind gleich im Sechseck. Die würden nichts anderes mehr tun.“

Das musste Matt einsehen und als Andrea fertig mit Telefonieren war, kam sie wieder zu ihnen und seufzte, als sie sich gesetzt hatte.

„Ich rufe jetzt jemanden direkt bei der Polizei an. Ich meine, ich verstehe schon, warum die beim Notruf so reagieren; die wissen ja nicht, wer wir sind und warum wir das einschätzen können. Das hatte ich schon damals mit meinem Polizeikollegen, als Julie verschwunden war. Ich hatte nichts außer der Tatsache, dass sie nicht da war. Auf welcher Grundlage hätte er sofort aktiv werden sollen?“

„Es tut mir so leid“, sagte Matt gepresst.

„Jetzt hör schon auf, du bist nicht schuld daran.“

„Vielleicht gibt es Videoaufnahmen, die uns weiterhelfen“, überlegte Sadie.

„Ja, das sollte hier in London kein Thema sein. Hoffentlich. Greg ist auf dem Weg nach Camden Town, ich habe mit ihm besprochen, dass wir uns dort treffen und uns alles ansehen.“ Andrea suchte mit ihrem Handy eine Nummer heraus und begann zu telefonieren, während sie sich auf den Weg zur U-Bahn-Station machten. Glücklicherweise erreichte sie die Person sofort.

„Tut mir leid, Ihren Feierabend zu stören, Inspector, aber ich brauche Ihre Hilfe“, sagte Andrea. „Es geht um meine Tochter. Sie ist mitsamt einer Freundin verschwunden und ich glaube, da liegt ein Verbrechen vor.“

Unterwegs schilderte sie kurz, was geschehen war und verabredete dann mit dem Inspector, dass er ebenfalls nach Camden Town kam. Sie beendete das Gespräch, bevor sie die U-Bahn-Station betraten.

„Ich habe schon einige Male mit Detective Inspector Barley zusammengearbeitet“, erklärte Andrea, als sie sich auf den Weg nach unten machten. „Gleich mein erster Fall war mit ihm zusammen, da ging es um die Entführung einer Millionärstochter. Wir haben aber auch in jüngerer Vergangenheit noch einmal kooperiert.“

„Er kennt dich also“, sagte Matt.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739411712
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Mai)
Schlagworte
Profiling Profiler Entführung London Spannung FBI Psychothriller Krimi Ermittler

Autor

  • Dania Dicken (Autor:in)

Dania Dicken, Jahrgang 1985, schreibt seit der Kindheit. Die in Krefeld lebende Autorin hat in Duisburg Psychologie und Informatik studiert und als Online-Redakteurin gearbeitet. Mit den Grundlagen aus dem Psychologiestudium setzte sie ein langgehegtes Vorhaben in die Tat um und schreibt seitdem Psychothriller mit Profiling als zentralem Thema. 2014 hat sie ihre ersten Psychothriller und Fantasyromane im Selfpublishing veröffentlicht; die Profiler-Reihe erschien neu bei Bastei Lübbe.
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Titel: Die Seele des Bösen - Vermisst