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Die Seele des Bösen - Falsches Spiel

Sadie Scott 15

von Dania Dicken (Autor:in)
285 Seiten
Reihe: Sadie Scott, Band 15

Zusammenfassung

Als Sadie ausgerechnet von ihrer besten Freundin Tessa an ihrem dreißigsten Geburtstag versetzt wird, ist sie gleichermaßen verletzt und verärgert. Ihre alte Schulfreundin hat einen neuen Job, eine neue Freundin und scheint nun alle Brücken hinter sich abzureißen. Sadie versucht noch, Tessas Verhalten zu akzeptieren, als ihre Freundin sie überraschend und in wilder Panik anruft: Sie fühlt sich verfolgt, liegt leicht verletzt im Krankenhaus. Unter Tränen bittet sie die FBI-Profilerin Sadie, zu ihr nach San Francisco zu kommen, um dem Spuk gemeinsam auf den Grund zu gehen. Doch sehr bald kommen Sadie Zweifel: Alles sieht danach aus, als hätte Tessa durch Drogen hervorgerufene psychische Probleme. Aber nicht nur ihre Freundschaft gerät in Gefahr, als Sadie versucht, die Wahrheit herauszufinden …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Waterford, Sonntag, 8. April

 

Sadie stellte sich schlafend, als kleine Hände ihr Gesicht betasteten und befühlten. Es war nicht einfach, ihre Tochter hinters Licht zu führen, zumal Hayley normalerweise so lang an ihr herum zupfte, bis sie ihren Willen hatte und ihre Mutter wach war.

Doch diesmal war es Matt, der alles zunichte machte. „Guten Morgen! Da möchte dir jemand zum Geburtstag gratulieren!“

„Ich schlafe noch“, murrte Sadie und drehte sich auf die andere Seite.

„Ich glaube, unserer Tochter ist das egal.“

„Ich befürchte es.“ Sadie gähnte und blinzelte mit einem Auge. Neben ihr lag ein blondes Wesen mit zwei kurzen Hasenzähnchen und strahlte sie an.

„Du hast mich erwischt“, sagte Sadie, bevor sie sich ihre Tochter schnell schnappte und sich halb über sie beugte, um Hayley zu kitzeln. Das kleine Mädchen quiekte und jauchzte vor Vergnügen und lachte laut. Sie war nun acht Monate alt und Sadies ganzer Stolz. Norman hatte zwar auch ein Bettchen für sie, aber wenn sie in Waterford zu Besuch waren, durfte sie zwischen ihren Eltern schlafen. Das nutzte sie natürlich schamlos aus und weckte ihre Eltern auch an einem Sonntagmorgen unverfroren um kurz vor sieben.

„Und du bist auch so eklig gut gelaunt“, sagte Sadie mit einem fast strengen Unterton zu Matt.

Unbeeindruckt beugte er sich über Hayley zu Sadie und küsste seine Frau. „Alles Gute zum Geburtstag, meine Hübsche.“

„Danke“, sagte sie und lächelte.

„Wenn ich mal überlege, wie ich meinen Dreißigsten vor acht Jahren gefeiert habe … das war feuchtfröhlich. Die besten Jungs aus dem Department sind mit mir durch die Bars in Modesto gezogen und irgendwann endeten wir in einem Stripclub.“

„Wer, du?“, fragte Sadie, während sie Hayley durch die Haare wuschelte.

Matt nickte. „Ja, ich. Und das, obwohl ich damals eine Freundin hatte.“

„Wo war die denn?“

„Mit ihr habe ich separat gefeiert. Sie hat auch nie erfahren, dass wir in einem Stripclub waren.“

„Geständnisse des Matt Whitman“, neckte Sadie ihn.

„Hättest du ein Problem damit?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Du hast schon in einem Stripclub ermittelt und wärst da fast von einer Prostituierten vernascht worden.“

„Da hatte ich aber keine Wahl. Das war beruflich”, relativierte er.

„Ich weiß, du würdest mich nicht betrügen.“

Matt schüttelte den Kopf. „Niemals, da hast du Recht.“

Die beiden lächelten einander an, während Hayley fröhlich vor sich hin zappelte und brabbelte. Sadie spielte ein wenig mit ihr, bevor sie aufstand und der Kleinen eine frische Windel anzog. Für diesen Tag hatte sie Hayley ein hübsches kleines Kleid ausgesucht, das Hayley jedoch kaum wirklich zu würdigen wusste. Wie ein Wirbelwind robbte sie wenig später durchs Wohnzimmer und versuchte sich am Krabbeln, während Matt und Norman sich in der Küche dem Frühstück widmeten. Sadie wollte zwar helfen, aber da es ihr Geburtstag war, ließen die Männer sie nicht.

Augenblicke später wurde die Haustür geöffnet und Libby erschien mit Rusty darin. Als sie Sadie im Wohnzimmer entdeckte, strahlte sie.

„Hey! Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“, sagte sie und ging gleich zu Sadie, um sie zu umarmen.

„Danke.“ Sadie lächelte und strubbelte Rusty durchs Fell.

„Ich freue mich schon so aufs Backen“, sagte Libby.

„Es ist süß, dass du das immer machst.“

„Ich mache es gern! Für dich sowieso.“

Die beiden lächelten einander an. Bevor Libby jedoch zur Tat schreiten konnte, wurde erst einmal in Ruhe gefrühstückt. Hayley saß in ihrem Hochstuhl und war gar nicht glücklich darüber, dass sie nicht an all die vielen bunten und schönen Dinge auf dem Esstisch kam. Matt reichte ihr eine Rassel, mit der sie schließlich spielte und irgendwann auf dem Tisch herum trommelte, bis Matt ihr die Rassel wieder stibitzte und gegen ein kleines Stofftier tauschte.

Norman beobachtete die Szene ganz gerührt. „Es ist verdammt lang her, dass ich das hatte.“

„Mein Vater sagte, einen Enkel zu haben ist etwas ganz Anderes als eigene Kinder“, sagte Matt und fügte hinzu: „Schöner.“

„Irgendwie schon“, stimmte Norman zu. „Ich habe es wirklich gut: Zwei Enkelsöhne und zwei Enkeltöchter. Fanny hätte das genossen.“

Für einen Moment war es still am Tisch. Libbys Blick wanderte zu dem Foto von Fanny über dem Kamin.

„Schon über drei Jahre“, murmelte Sadie traurig.

„In der Zeit ist wahnsinnig viel passiert“, sagte Norman. „Manchmal kommt es mir länger vor.“

Sadie ging es da anders, sie hatte das Gefühl, als sei es gestern gewesen, dass ihr Vater ihre Tante ermordet hatte. Sie fragte sich manchmal, wie Norman damit zurechtgekommen war, das alles miterlebt zu haben. Sadie konnte sich ungefähr vorstellen, wie er empfunden haben musste – in dem Wissen, dass Rick bereit war, ihn wirklich zu töten. Und mitansehen zu müssen, wie er Fanny lebensbedrohlich verletzte. Sie hatte so etwas nie mitansehen müssen und war froh darum.

Matt brach das unangenehme Schweigen, indem er um die Marmelade bat. Schließlich wechselten sie das Thema und unterhielten sich wieder über Sadies Geburtstag. Für sie war es immer noch abstrakt, nun dreißig zu werden. In den letzten Jahren hatte sich tatsächlich viel verändert, sowohl in beruflicher als auch in privater Hinsicht. Sie war stolz, beim FBI zu sein und glücklich, dass sie Matt gefunden hatte. Hayley krönte das Ganze nur noch. Wenige Jahre zuvor hätte sie sich nicht träumen lassen, dass sie es einmal so weit schaffen und sogar ein Kind haben würde.

Und ihr dreißigster Geburtstag wurde nun auch groß gefeiert. Phil, Amelia und Alyssa hatten die Gelegenheit genutzt und sie ebenfalls in die Heimat begleitet, aus Patterson wurde Matts Vater erwartet, von Sadies übriger Verwandtschaft und ihrer besten Freundin ganz abgesehen. Matts Schwester Tammy jedoch schaffte es zu Sadies Bedauern nicht.

Libby wollte wieder einmal für alle Gäste backen, das bereitete ihr große Freude. Im Vorfeld hatte sie Rezepte ausgesucht und Norman hatte alle Zutaten besorgt. Matt ging Libby ein wenig zur Hand, damit Norman die Chance hatte, sich zusammen mit Sadie ein wenig um Hayley kümmern zu können. Das kleine Mädchen wollte immerzu Rustys weiches Fell anfassen, was der treue Hund sich auch geduldig gefallen ließ.

Während Sadie noch überlegte, ob sie das Thema Fanny erneut anschneiden sollte, klingelte ihr Handy. Sie hatte eine Nachricht von Tessa erhalten, die sie gleich gespannt öffnete.

Sorry Süße, ich habe ziemlich üble Migräne, die ich nicht los werde. Ich werde es heute nicht schaffen, so kann ich nicht mal Auto fahren. Wenigstens kümmert Lindsay sich rührend um mich. Wir holen das nach! Und alles Gute. Tessa xx

Sadie las die Nachricht erneut. An einem Satz blieb sie erneut hängen: Wenigstens kümmert Lindsay sich rührend um mich. Davon abgesehen, dass er einen üblen Beigeschmack bei ihr hinterließ, verriet er ihr auch etwas.

„Du machst ja ein Gesicht“, sagte Norman zu ihr. „Was ist los?“

Wortlos reichte Sadie ihm ihr Handy, so dass er die Nachricht selbst lesen konnte. Er war kaum fertig, als er fragend aufblickte.

„Wer ist Lindsay? Hieß ihre Freundin nicht Sylvie?“

„Hieß sie“, bestätigte Sadie. „Die Vorgängerin. Zu Tessas Geburtstag im Januar waren sie noch zusammen, aber inzwischen ist dem wohl nicht mehr so.“

„Das wusstest du?“, fragte Norman überrascht. Tessa als Sadies beste Freundin war ihm schon vor vielen Jahren ans Herz gewachsen, weil sie immer treu zu Sadie gestanden hatte. In der Schule war sie es gewesen, die sich der schüchternen Neuen angenommen hatte. Sie hatte immer Spaß mit Sadie gehabt, sie nach ihrem Selbstmordversuch im Krankenhaus besucht und wieder aufgebaut, sie motiviert, sie zur Bewerbung beim FBI ermutigt und über all die Jahre ihre Freundschaft gepflegt. Norman schätzte Tessa sehr und es gab vieles, das er ihr hoch anrechnete.

„Ich weiß nicht viel“, sagte Sadie. „Alles, was ich weiß, hat sie mir in unserem Telefonat gesagt, in dem ich sie für heute eingeladen habe. Sie hatte nicht viel Zeit und ich habe sie nur auf dem Handy erreicht, weil sie da mitten im Umzug war.“

„Ich erinnere mich“, sagte Norman. Sadie hatte ihm kurz davon erzählt.

„Sie ist jetzt also in San Francisco?“, fragte er weiter.

„Ja, sieht wohl so aus. Als ich mit ihr telefoniert habe, war mein letzter Stand, dass sie ihr Abschlusszeugnis bekommen und bei einigen Firmen im Silicon Valley Bewerbungen laufen hatte.  Sie wollte gern zu einem der Tech Ventures. Am Telefon sagte sie mir dann, dass sie einen Vertrag bei einer Firma für Internetsicherheit unterschrieben hat und gerade mit dem Umzugswagen auf dem Weg von Livermore nach Frisco ist. Als ich sie fragte, ob Sylvie mit dabei ist, hat sie das verneint und sagte, ihre Beziehung zu Sylvie liege gerade auf Eis.“

„Oh“, machte Norman.

„Ja, sie sagte, Sylvie wollte nicht aus Livermore weg. Was ich verstehen kann, sie arbeitet ja auch dort. Für Tessa gab es da aber wohl keine Diskussion, deshalb hat sie eine Beziehungspause vorgeschlagen und sich allein eine Wohnung in der Bay Area gesucht.“

„Nicht billig.“

„Habe ich mir auch gedacht … sie hat mir nicht gesagt, wo genau. Sie sagte aber, dass sie jemanden kennengelernt hat. Ich weiß nur, dass sie Lindsay heißt und auch in der Bay Area wohnt. Mehr kann ich dir nicht sagen.“

Norman zog die Augenbrauen hoch. „Was ist denn da los?“

Sadie zuckte mit den Schultern. „Ich bin davon ausgegangen, dass sie mitten im Umzug einfach Stress hat und es mir später erzählt, vielleicht heute. Aber bislang ist das nicht passiert.“

In diesem Moment kam Matt mit mehligen Händen aus der Küche. „Norman, wir sind auf der Suche nach einem Pinsel.“

Norman zog die Brauen hoch. „Ein Pinsel … lass mich mal nachsehen.“ Mit diesen Worten stand er auf und ging in die Küche.

„Was machst du denn für ein Gesicht?“, wandte Matt sich dann an seine Frau.

Sadie seufzte tief. „Tessa hat vorhin für heute abgesagt.“

Fragend runzelte Matt die Stirn. „Warum denn das?“

„Migräne. Die hatte sie früher schon mal ganz übel.“

„Hm“, machte Matt. „Hat sie dir geschrieben?“

Als Sadie bejahte, bat er sie, ihm die Nachricht einmal zu zeigen, und zog dann fragend eine Augenbraue in die Höhe.

„Was soll denn der Satz mit Lindsay?“

„Der ist mir auch aufgefallen“, sagte Sadie.

„Merkwürdig. Sieht ihr gar nicht ähnlich.“

Sadie zuckte mit den Schultern. „Hältst du es für eine Ausrede?“

„Ich weiß es nicht, aber der Satz mit Lindsay ist doch überflüssig. Klingt eher danach, als hätten die beiden großen Spaß miteinander …“

„Ich traue Tessa nicht zu, dass sie mich an meinem dreißigsten Geburtstag versetzt.“

In diesem Moment kehrte Norman ins Wohnzimmer zurück. „Der Pinsel ist jetzt da.“

Matt bedankte sich bei ihm und ging wieder in der Küche. Das trug nicht gerade dazu bei, dass Sadie sich besser fühlte.

Norman blickte Matt hinterher. „Er glaubt es ihr nicht?“

Sadie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich will gerade auch nicht darüber spekulieren.“

„Hast Recht“, sagte ihr Onkel.

Stattdessen beschloss Sadie, Tessa zu antworten. Meine beste Freundin wird mir an meinem dreißigsten Geburtstag sehr fehlen. Gute Besserung.  

Sie legte ihr Handy wieder weg und beobachtete Hayley, die vergnügt auf dem Teppich spielte. Erst eine ganze Weile später fiel ihr auf, dass keine Antwort mehr von Tessa kam. Daraus wollte sie jedoch nichts ableiten, denn auch, wenn sie Migräne nicht aus persönlicher Erfahrung kannte, wusste sie doch von Tessa, dass man sich dabei am liebsten vergraben wollte. Einen Stich versetzte diese Absage ihr jedoch trotzdem.

Sie kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, da es an der Tür klingelte. Weil Sadie gerade nichts Besseres zu tun hatte, ging sie zur Tür und achtete weiter mit einem halben Auge auf Hayley. Dann öffnete sie ihrer Kusine Joanna, die mit Tochter Michelle und Freund Jackson eingetroffen war.

„Hey“, begrüßte Jo Sadie erfreut und umarmte sie. „Alles Gute zum Geburtstag!“

„Danke“, sagte Sadie. „Schön, dass ihr schon hier seid.“

Auch Jackson begrüßte sie freundlich und Michelle beeindruckte Sadie immer wieder. Die Kleine war nun schon fast zwei – ihr Geburtstag war am nächsten Tag. Das konnte Sadie unmöglich jemals vergessen.

Joanna und Jackson begrüßten die anderen, während Michelle ganz erstaunt zu Hayley blickte. Jo musste sie ermutigen, ihrer Cousine Hallo zu sagen. Sadie konnte das Fremdeln des Mädchens verstehen, dafür sahen sie einander zu selten.

„Wahnsinn, wie groß sie schon ist“, sagte Joanna über Hayley. „Anfangs wachsen Kinder so unfassbar schnell … tut Michelle ja immer noch.“

„Das geht ja auch noch eine ganze Weile so weiter.“

Sie setzten sich zusammen und plauderten über Kinder. Damit hatte Sadie gerechnet und es war okay für sie. Natürlich setzte es sich fort, als wenig später Gary mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen dazu stieß. Im trauten Kreis der Familie zu sitzen, fühlte sich ganz wunderbar für Sadie an.

Sandra kümmerte sich schließlich ums Mittagessen, wobei Joanna ihr zur Hand ging. Libby war inzwischen fertig mit der Vorbereitung der Kuchen, die nun im Ofen standen. Bald duftete es köstlich im ganzen Haus – nach Kuchen und Mac and Cheese zugleich. Sadie wurde warm ums Herz, als sie sah, wie ausgelassen Libby mit Ben, Nicolas, Michelle und Hayley spielte. Es war so viel Leben im Haus – oder vielmehr im Garten, denn inzwischen tollten die Kinder mit Rusty draußen.

Bevor das Mittagessen fertig war, packte Sadie ihre Geschenke aus. Es rührte sie, welche Mühe die anderen sich gemacht und wie liebevoll sie an sie gedacht hatten. Als sie schließlich zusammen am Tisch saßen, sagte sie das auch laut.

„Man wird nur einmal dreißig“, sagte Gary schließlich mit einem ehrlichen Lächeln. „Genieße es. Ab jetzt geht es bergab!“

Lautes Gelächter war die Antwort. Mit halbem Auge beobachtete Sadie, wie die kleinen Kinder fröhlich im Essen matschten. Das hatte Hayley auch getan, als Matt sie vor dem Mittagessen noch mit Brei gefüttert hatte.

In diesem Moment tat es Sadie leid, dass sie mit Matt und den Kindern so weit entfernt in Los Angeles lebte. Solche Momente hätte sie nur zu gern öfter erlebt, aber auch, wenn es eine FBI-Dienststelle im dreißig Minuten entfernten Modesto gab, war sie dort als Profilerin auf verlorenem Posten. Und von Waterford nach San Francisco waren es hundert Meilen, das war keine diskutable Option. Zwar hätte sie in San Francisco leben und arbeiten können, aber nun besaßen sie das Haus in Los Angeles und Wohnraum in San Francisco war noch viel teurer als in L.A., vor allem auch aufgrund des Silicon Valley. Irgendwie war das alles keine Lösung.

Sie kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, weil Sandra sie ansprach. Sadie erzählte, dass sie noch einen Tag länger bleiben und erst Montag Nachmittag nach Hause fahren würden. Dafür waren sie aber auch Samstag erst gekommen. Sonntags lag ihr Geburtstag in diesem Jahr nicht so günstig wie im letzten.

Sie waren noch nicht lang mit dem Essen fertig, als Matts Vater eintraf. Sadie freute sich sehr, ihn zu sehen. Seit Hayleys Geburt war Mr. Whitman ihr gegenüber nicht mehr nur freundlich, sondern ausgesprochen herzlich. Den Grund war ihr klar, als sie sah, wie Matt mit seinem Vater bei Hayley saß und Mr. Whitman verzückt seine Enkelin beim Spielen beobachtete.

Es war idyllisch. Sadie liebte solche Momente und würde sie niemals als selbstverständlich annehmen, denn sie wusste, dass dem nicht so war. Als wenig später Phil mit seiner Familie eintraf, fühlte sie sich gleich wieder an ihr Leben und ihren Alltag in Los Angeles erinnert – was nicht schlecht war, aber jetzt in Waterford zu sein, schürte eine bisher nicht gekannte Sehnsucht nach einer gewissen Einfachheit.

Man überreichte ihr tolle Geschenke, gratulierte ihr von Herzen und die 30 auf einem von Libbys tollen Kuchen erinnerte sie daran, warum sie eigentlich dort war. Dreißig Jahre und sie war nun beim FBI und Mutter. Es gab vieles, auf das sie stolz sein konnte.

Um Hayley musste sie sich an diesem Tag nicht kümmern, überall war jemand, der auch noch etwas von der Kleinen erhaschen wollte. Dafür war Sadie alles andere als undankbar.

Als die anderen ihr das unvermeidliche Ständchen gebracht hatten, setzten sie sich gemeinsam an den Kaffeetisch. Anschließend schnappte sich Sadie doch einmal selbst ihre Tochter und ging mit Hayley auf dem Arm nach draußen auf die Veranda. Wenige Minuten später tauchte Phil neben ihr auf.

„Amelia gefällt es hier“, sagte er. „Aber ich mag es auch immer wieder. Los Angeles ist so riesig und laut.“

Sadie grinste. „Genau diese Gedanken habe ich mir vorhin auch gemacht. Liegt das an unseren Kindern?“

„Vielleicht“, sagte Phil.

„Alyssa macht sich gut.“

„Erstaunlicherweise. Sie kriegt schon den ersten Zahn, da hatten wir die Tage ziemliches Geschrei.“

„Oh, ich erinnere mich an das Elend“, sagte Sadie.

„Es ist schön, dass die beiden in einem ähnlichen Alter sind.“

„Das stimmt. Auch wenn vier Monate gerade noch ein sehr großer Unterschied sind.“

„Ja … das, was deine Tochter schon kann, möchte Alyssa gern.“

Sadie lächelte und gab Hayley einen Kuss auf die Wange.

„Kommt Tessa eigentlich nicht?“, fragte Phil.

„Nein … sie hat abgesagt. Migräne.“

„Schade. Hat sie Probleme damit?“

„Ja, gelegentlich. Ist so ein Frauenproblem, wenn du verstehst.“

„Ah“, machte er wissend. „Damit kenne ich mich inzwischen besser aus, als mir lieb ist!“

Sadie grinste. „Wir Frauen sind nicht zu beneiden, was?“

„Ach, wir Männer auch manchmal nicht … was macht Tessa eigentlich gerade? Du hast mir nur erzählt, dass sie nicht mehr mit ihrer Freundin zusammen ist und nach San Francisco zieht.“

Sadie nutzte die Gelegenheit, ihm etwas detaillierter davon zu erzählen, so dass er schließlich nickte.

„Klingt ganz danach, als befände sie sich im Umbruch“, schloss er.

„Ja, sehr. Im Moment macht sie sich wirklich sehr rar.“

„Siehst du eure Freundschaft in Gefahr?“

„Nein, aber sie fehlt mir gerade. Und wenn ich mal überlege, dass ihr extra aus Los Angeles mitgekommen seid …“

„Hey.“ Ungeachtet der Tatsache, dass Hayley immer noch auf Sadies Arm saß, umarmte Phil seine Freundin. „Tessa ist vielleicht deine beste Freundin, aber sind wir nicht mindestens genauso gut befreundet? Vielleicht nicht so lang. Aber du hast mir schon das Leben gerettet.“

„Du hast meins auch schon gerettet, Phil. Du hast … nein, lass uns nicht wieder davon anfangen. Ich bin dir einfach weiterhin dankbar.“

Er lächelte. „Gern geschehen.“

„Danke, Phil.“

Er klopfte ihr auf die Schulter, was in diesem Moment guttat. Tessas unpersönliche Absage hatte sie härter getroffen, als sie wahrhaben wollte. Umso schöner war es, zu wissen, dass sie noch andere tolle Freunde hatte.

 

 

 

 

 

Los Angeles, Montag, 2. Juli

 

„Ist nicht nächste Woche die Verkündung des Strafmaßes für Brian Leigh?“, fragte Cassandra, nachdem sie vom Schreibtisch aufgeblickt hatte.

„Richtig“, sagte Sadie. „Ich bin gespannt, ob sie ihn tatsächlich zum Tode verurteilen.“

„Was glaubst du?“

„Dass sie es tun“, sagte Sadie.

„Ungeachtet der Tatsache, dass er erst neunzehn ist?“, fragte Cassandra.

„Ja, weil er abgebrüht und kaltblütig vorgegangen ist. Natürlich hat er es nie geleugnet und sein Pflichtverteidiger hat verdammt gute Arbeit abgeliefert, aber du weißt doch, wie Geschworene ticken. Er hat monatelang das LAPD genarrt, er hat das durchdacht und kaltschnäuzig angestellt. Außer seinem Werdegang gibt es wenig entlastende Argumente für ihn.“

„Was auch immer daran entlastend sein soll“, sagte Cassandra. „Viele Menschen haben keine schöne Kindheit.“

„Eben. Nein, ich glaube, das geht nicht gut für ihn aus.“

„Hat Libby etwas dazu gesagt?“

„Außer, dass sie sich betrogen und zugleich verraten gefühlt hat? Sie hasst ihn dafür, dass er gewillt war, sie mit in den Tod zu reißen. Ich glaube, sie hat kein Mitleid.“

„Hatte ich auch nicht erwartet“, sagte Cassandra. „Sie ist dir verdammt ähnlich, weißt du das?“

Sadie lächelte. „Das denke ich mir ständig. Ich bin froh, dass wir sie adoptiert haben.“

„Das ist wahnsinnig toll von euch. Ihr habt jetzt so eine wundervolle Familie. War es seltsam für sie, ihren Namen zu ändern?“

„Kein Stück“, sagte Sadie. „Sie hat den Namen Whitman so gern angenommen wie ich seinerzeit.“

„Verständlich“, sagte Cassandra. „Und ihr fahrt morgen wieder nach Waterford?“

Sadie nickte. „Ich habe mit Hank abgesprochen, dass ich um drei gehen kann, dann schaffen wir es bis abends zu meinem Onkel.“

„Du hast es gut, jetzt wieder im selben Bundesstaat zu leben wie deine Familie. Nach New Jersey ist es so verdammt weit.“

„Ich weiß noch, wie das war, als ich in Virginia war. Allein die Zeitverschiebung.“

„Ja … unser Land ist so verrückt groß!“, sagte Cassandra und lachte.

„Was habt ihr für den Independence Day geplant?“, erkundigte Sadie sich. Sie wollte mit ihrer Familie die Gelegenheit nutzen und ein paar Tage bei der Verwandtschaft verbringen. Fünf ganze Tage in Waterford – das hörte sich himmlisch an. Sogar Libby freute sich. Soweit Sadie wusste, wollte Phil mit seiner Familie ebenfalls hinfahren, aber dazu wollte sie ihn abends noch einmal anrufen.

Cassandra wollte Sadies Frage gerade beantworten, als Sadies Handy auf dem Schreibtisch zu vibrieren begann. Als sie den Namen auf dem Display las, zog sie die Augenbrauen hoch. Es war Tessa.

„Entschuldige mich“, sagte sie zu Cassandra und nahm den Anruf an. Mit dem Handy in der Hand begab sie sich in eine ruhigere Ecke des Büros.

„Tessa“, sagte sie und versuchte, es nicht vorwurfsvoll klingen zu lassen. Was nicht unangebracht gewesen wäre, denn seit der knappen Textnachricht, die Tessa an ihrem Geburtstag geschickt hatte, war kein Lebenszeichen von ihr gekommen. Nichts. So viel zum Thema Nachholen.

Sie hörte ein Schniefen am anderen Ende der Leitung. „Sadie?“

„Ich bin hier. Was ist los?“

„Ich … ich hab Angst“, stammelte Tessa und schluchzte. „Jemand muss mir helfen …“

Sadie schluckte und versuchte, sich zu konzentrieren, ruhig zu bleiben. „Was ist los? Wo bist du?“

„Im Krankenhaus … Ich glaube, nur du kannst mir jetzt noch helfen.“

„Warum denn? Was ist passiert?“ Sadie verstand kein Wort.

„Ich weiß auch nicht, aber … jemand verfolgt mich. Ich glaube, er will mich umbringen. Sadie …“

„Und du bist im Krankenhaus? Was ist passiert?“

„Man hat mir gedroht, jemand ist bei mir eingebrochen und ich wurde fast überfahren … Sadie, du bist meine letzte Hoffnung. Meine einzige Hoffnung! Bitte …“

„Du wurdest angefahren? Man hat dir gedroht? Was …“ Sadie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, was ihr nicht leicht fiel.

„Das kann ich dir jetzt nicht sagen, Sadie. Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll. Und du … du bist beim FBI. Du bist meine Freundin, ich meine … ich war blöd an deinem Geburtstag, aber ich hoffe, du bist noch meine Freundin …“

„Hey, ganz ruhig“, versuchte Sadie, auf Tessa einzureden. „Bist du verletzt?“

„Nein, ich meine … nicht sehr. Ein paar Schürfwunden. Von einer Gehirnerschütterung ist die Rede. Ich soll hierbleiben, aber ich weiß nicht, ob das gut ist … bin ich hier sicher? Was soll ich tun?“

Es fiel Sadie nicht leicht, aus Tessas hysterischem Gestammel schlau zu werden. „Hat es mit deinem Job zu tun?“

„Nein, ich meine … keine Ahnung. Nicht direkt. Ich weiß nicht.“

Sadie rieb sich die Stirn. Das war nicht hilfreich. „Und du glaubst, jemand verfolgt dich?“

„Ja … Sadie, kannst du nach San Francisco kommen? Ich würde dich nicht bitten, wenn ich einen anderen Ausweg wüsste, aber ich habe echt Angst. Mit dir würde ich mich sicher fühlen. Du kannst mir helfen.“

„Wenn du meinst“, sagte Sadie, die sich etwas überfordert fühlte. „Ich kann sehen, dass ich einen Flug kriege. In welchem Krankenhaus bist du?“

Tessa sagte es ihr und bedankte sich mehrmals, dann beendete Sadie das Gespräch und setzte sich an ihren Rechner, um Flüge von Los Angeles nach San Francisco herauszusuchen. Sie wusste, täglich gingen zahlreiche Maschinen in die wundervolle Stadt mit der Golden Gate Bridge und besonders teuer waren diese Flüge auch nicht. Nun galt es nur noch, einen Platz zu kriegen. Das könnte schwierig werden.

Doch bevor sie sich darum kümmerte, beschloss sie, mit Matt zu sprechen. Er war nun seit einiger Zeit wieder zu Hause mit Hayley. Sie war im Februar ins Büro zurückgekehrt und Matt hatte seine Elternzeit dann wieder fortgesetzt. Sehr lange würde er das nicht mehr tun, bald schon wurde Hayley ein Jahr alt und würde dann zu einer Tagesmutter gehen. Das kostete zwar ordentlich Geld, aber Matt konnte nicht ewig aussetzen.

Cassandras fragende Blicke ignorierte sie, als sie zum Telefon griff, denn tatsächlich hatte sie jetzt keine Zeit für zusätzliche Erklärungen. Wenn sie einen Flug kriegen wollte, dann bald.

„Geliebte Ehefrau“, begrüßte Matt sie am Telefon. Im Hintergrund kreischte Hayley lautstark, aber es klang vergnügt.

„Matt, ich muss mit dir reden“, sagte Sadie. „Es ist wegen Tessa.“

„Tessa? Deine verschollene beste Freundin?“, sagte er nicht ohne eine gewisse Stichelei.

„Ja, aber darum geht es jetzt nicht. Sie hat mich gerade angerufen und klang wirklich verängstigt. Was genau los ist, weiß ich nicht, aber sie fühlt sich verfolgt und hat mich von einem Krankenhaus aus angerufen. Sie braucht meine Hilfe.“

„Hm“, machte Matt. „Klingt ja seltsam.“

„Ja, ich weiß auch nicht viel mehr, aber ich mache mir Sorgen. Sie hatte große Angst. Was auch immer da los ist – ich will versuchen, ihr zu helfen. Wäre es in Ordnung für dich, wenn ich jetzt versuche, einen Flug nach San Francisco zu kriegen? Du müsstest dann natürlich allein auf Hayley aufpassen und meine Sachen für morgen mit packen, aber …“

„Ach, wenn das alles ist“, sagte Matt. „Wenn du zu ihr fliegen willst, dann mach ruhig.“

„Danke, Matt. Ich halte dich auf dem Laufenden.“

„Ich bitte darum. Wir sehen uns dann morgen Abend.“

„Auf jeden Fall. Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch“, erwiderte Matt, dann legte Sadie auf. Cassandra bedachte sie derweil mit einem fragenden Blick.

„Tessa ist deine beste Freundin, oder?“

Sadie nickte. „Irgendwas ist nicht in Ordnung bei ihr.“

„Wenn deine feine Nase das sagt, solltest du der Sache nachgehen“, fand Cassandra.

„Das mache ich jetzt auch“, sagte Sadie und rief am Flughafen an, um zu erfahren, ob sie noch einen Flug nach San Francisco bekam. Tatsächlich hatte sie Glück und ergatterte einen der letzten beiden Plätze in der Maschine, die um halb sechs ging. Das würde sie schaffen.

Sie buchte den Flug und ging zu Hank, um ihm zu sagen, dass sie früher gehen musste. Ihr Chef nickte bloß, denn er wusste, Sadie hatte ihre Gründe. Um so etwas bat sie ihn nur, wenn es wichtig war.

In Windeseile suchte sie ihre Sachen zusammen und machte sich auf den Weg zum Flughafen. Zum Glück musste sie nicht mehr nach Hause, um ihren Pass zu holen, weil sie ihren Führerschein natürlich dabei hatte – und vermutlich tat ihr FBI-Dienstausweis es auch.

So fuhr sie direkt zum Thomas Bradley International Airport, parkte dort ihr Auto im Kurzzeitparkhaus und schrieb Matt eine Nachricht, in der sie ihn bat, mit Libbys Hilfe ihr Auto wieder abzuholen. Vor zwei Wochen hatte Libby nämlich ihre Führerscheinprüfung bestanden und durfte nun auch endlich fahren.

Sie war schon sechzehn. Sadie konnte kaum fassen, wie schnell die Zeit verging. Libby lebte nun schon anderthalb Jahre bei ihnen. Und Hayley feierte auch bald schon ihren ersten Geburtstag …

Bei der Sicherheitskontrolle war Sadie ganz ohne jedes Gepäck im Vorteil. Sie wusste noch nicht, wo und wie sie die Nacht verbringen sollte, aber das würde sich finden. Darüber machte sie sich jetzt keine großen Sorgen.

Die machte sie sich vielmehr um Tessa. Ihre Freundin hatte sich in den letzten Monaten ungewöhnlich verhalten und Sadie wurde das Gefühl nicht los, dass das alles miteinander zu tun hatte. Wenn Tessa sich verfolgt fühlte, wollte sie natürlich am Telefon nichts darüber sagen. Umso gespannter war Sadie darauf, was eigentlich im Busch war.

Im Wartebereich am Gate lehnte sie mit vor der Brust verschränkten Armen an einer Säule und überlegte. Die neue Freundin? Der Job? Etwas aus dem Studium? Tessa war ein Nerd – war sie im Netz auf etwas gestoßen, das nicht für ihre Augen bestimmt war?

Endlich durfte sie ins Flugzeug. Mit leichter Verspätung hob der Flieger schließlich ab in Richtung San Francisco. Tatsächlich war sie diese Strecke nie zuvor geflogen, denn von Waterford nach San Francisco brauchte man ja auch gut zwei Stunden – da konnte man besser gleich nach Los Angeles fahren. Aber dorthin wollte sie ja jetzt gar nicht, sie wollte direkt nach Frisco, wie die Einheimischen die Stadt gern nannten. Sie liebte die Stadt. Dort war es einfach wundervoll.

Der Flug dauerte eine gute Stunde. Vom nächsten Fenster aus konnte Sadie die Bay Area noch sehen, während der Flieger eine Schleife zog und schließlich zur Landung ansetzte. Eine Viertelstunde später beim Verlassen des Flugzeugs war Sadie froh, sich weder mit Handgepäck noch mit Koffer befassen zu müssen. Vor dem Terminal winkte sie kurzerhand ein Taxi heran und ließ sich zum UCSF Medical Center am Fuße der Twin Peaks bringen. Es überraschte Sadie nicht, dass auf dem Highway die Hölle los war und sie über eine halbe Stunde für die knapp fünfzehn Meilen brauchten. Die Fahrt führte sie ein gutes Stück direkt an der Bucht entlang, sie konnte die Bay Bridge und die San Mateo Bridge von weitem sehen, beide wundervoll angestrahlt von der sinkenden Sonne.

Schließlich hatte sie ihr Ziel erreicht, bezahlte den Fahrer und stieg aus. Zum Glück hatte Tessa ihr gesagt, wo genau sie sich befand, denn das Gelände dieses Krankenhauses war riesig und Sadie hätte dort lange herumlaufen und suchen können. So war sie jedoch gleich an Ort und Stelle – zumindest glaubte sie das. Tessa hatte ihr gesagt, dass man ihr ein Zimmer auf der allgemeinen Station geben wollte, doch als Sadie dort nach ihr fragte, verneinte die Schwester.

„Miss Henderson wurde als Akutfall auf der psychiatrischen Station aufgenommen“, sagte sie nach einem Blick in den Computer.

„Psychiatrie?“, fragte Sadie.

„Genaueres kann ich Ihnen nicht sagen – nur, wo Sie Miss Henderson finden.“

Sadie ließ sich Station und Zimmernummer sagen und machte sich auf den Weg ins entsprechende Gebäude. Zum Glück lag es nicht allzu weit entfernt.

Psychiatrie. Das wurde ja immer interessanter.

Sie verbot sich alle voreiligen Gedanken, während sie auf die Suche nach Tessa ging. Schließlich hatte sie das Zimmer gefunden und klopfte zaghaft. Tatsächlich war es ein Einzelzimmer, was Sadie überraschte.

„Tessa?“, fragte sie und ging weiter ins Zimmer hinein. Es war leer, der Fernseher ausgeschaltet.

Dann öffnete sich neben ihr die Badezimmertür. Zum Vorschein kam Tessas schreckhaftes Gesicht. Misstrauisch schaute sie sich um, dann blickte sie an Sadie von Kopf bis Fuß herunter und stürmte schließlich aus dem Bad, um ihre Freundin zu umarmen.

„Du bist schon hier“, stieß sie erleichtert hervor. „Danke …“

„Ich hatte Glück mit dem Flug“, sagte Sadie. „Lass dich mal ansehen.“

Tessa löste sich langsam wieder von ihr und blieb mit gesenktem Blick vor ihr stehen. Sie trug ein Kapuzenshirt und Jeans, das Shirt hatte Blutflecken. An Stirn und rechter Augenbraue hatte sie Pflaster, ebenso am Kinn. Einige weitere Schürfwunden verunzierten ihr Gesicht, ihre Haare standen wirr. Sie war blass, ihre Augen seltsam blutunterlaufen. An einer Hand hatte sie einen mit Pflastern festgeklebten Zugang.

„Was machst du denn bloß?“, sagte Sadie kopfschüttelnd.

„Deine Dienstwaffe hast du nicht mit, oder?“, fragte Tessa.

Sadie verneinte. „Ich saß vorhin in einem normalen Verkehrsflugzeug. Die hätten mir was erzählt. Ich bin gleich aus dem Büro gekommen, wie du siehst … ich habe nicht mal Gepäck dabei.“

„Oh Gott … Sadie …“ Tessa begann zu schluchzen. „Ich hätte dich nicht angerufen, wenn ich gewusst hätte, wen ich sonst fragen soll.“

„Was ist mit deiner Freundin? Mit Lindsay?“, fragte Sadie.

„Sie ist beruflich unterwegs. Ich habe sie noch gar nicht erreicht.“ Tessa schniefte und wischte sich mit dem Handrücken unter der Nase entlang. „Aber das macht eigentlich nichts. Bei dir fühle ich mich viel sicherer. Es ist so gut, dass du schon da bist.“

„Natürlich. Wir sind Freunde, Tessa. Bei dir steht alles Kopf, aber ich helfe dir. Wir kriegen das wieder hin.“ Als Sadie Anstalten machte, zum Bett zu gehen, setzte auch Tessa sich langsam in Bewegung. Sie versteckte die Hände in der Tasche ihrer Kapuzenjacke und nahm mit hochgezogenen Schultern auf der Bettkante Platz. Misstrauisch blickte sie sich um. „Es kann kein Zufall sein, dass ich jetzt in der Psychiatrie gelandet bin, oder? Vielleicht will mich jemand belauschen.“

Irritiert musterte Sadie ihre Freundin. Sie litt tatsächlich unter Verfolgungswahn. „Glaubst du das wirklich?“

„Kann doch sein, ich … ich wollte dich eigentlich gestern schon anrufen, aber dann habe ich nicht … ich hätte es tun sollen. Du hättest etwas damit anfangen können.“

„Womit?“, fragte Sadie. Als in diesem Moment die Zimmertür geöffnet wurde, zuckte Tessa zusammen und sprang auf. Ein junger Arzt lateinamerikanischer Herkunft kam in Begleitung einer Schwester herein.

„Die Schwester sagte mir, dass Sie Ihr Abendessen verweigert haben, Miss Henderson“, begann er und wurde dann erst auf Sadie aufmerksam. Freundlich nickte er ihr zu.

„Ich würde gern mit Miss Henderson allein sprechen“, sagte er.

„Sadie geht nicht raus“, knurrte Tessa und griff nach Sadies Hand. „Sie bleibt hier.“

„Wie Sie wünschen“, sagte der Arzt. „Die Schwester sagte mir, Sie hätten Angst, vergiftet zu werden.“

„Da roch etwas so komisch“, sagte Tessa verzweifelt. „Ich hab total Hunger, aber was, wenn mich das umbringt?“

Sadie war sprachlos. Nie zuvor hatte sie Tessa so erlebt.

„Niemand hier will Sie umbringen, Miss Henderson“, sagte der Arzt geduldig. „Wir sind hier, um Ihnen zu helfen.“

„Das kann ja jeder sagen“, erwiderte Tessa.

„Sie sind aufgebracht, das verstehe ich. Leider müssen wir noch auf die Ergebnisse der toxikologischen Untersuchung warten, bevor wir gezielter behandeln können, aber fürs Erste …“

„Ich brauche keine Behandlung!“, rief Tessa. „Ich entlasse mich gleich selbst.“

„Das sollten Sie tunlichst unterlassen. In diesem Zustand kann ich das nicht befürworten.“

„In welchem Zustand wären Sie denn, wenn jemand versucht, Sie umzubringen?“ Mit diesen Worten brach Tessa in Tränen aus. Sie schlug die Hände vors Gesicht und begann heftig zu schluchzen.

Irritiert beobachtete Sadie die Szene. Der Arzt nickte der Schwester zu, die zu Tessa ging und versuchte, sie zu beruhigen.

„Ich muss mich nicht beruhigen!“, schrie Tessa. „Lasst mich doch einfach in Frieden …“

„Sie brauchen Ruhe“, sagte die Schwester. „Bitte legen Sie sich aufs Bett.“

„Ich will weg hier. Geht! Lasst mich einfach …“

„Ich kann Ihnen ein Beruhigungsmittel anbieten.“

„Nein!“ Jetzt brüllte Tessa. Sie war vollkommen aufgelöst. Zwar hatte Sadie keine Ahnung, was los war, aber sie hatte nicht vor, ohne genauere Kenntnisse dem Arzt oder der Schwester ins Handwerk zu pfuschen. Toxikologischer Bericht … inzwischen hatte sie einen Verdacht.

Sie blieb neben dem Bett stehen und redete beruhigend auf Tessa ein, während der Arzt der Schwester zu Hilfe kam und Tessa festhielt, so dass die Schwester Tessa eine Spritze setzen konnte. Es dauerte nur einen Wimpernschlag, bis Tessas Körper erschlaffte und sie schwer auf die Matratze sank.

„Was machen Sie mit mir?“, fragte Tessa mit schwerer Zunge.

„Sie sollten schlafen“, sagte der Arzt. Tessas Blick wurde glasig, ihre Augenlider schwer. Arzt und Schwester warteten gemeinsam, bis Tessa weggedämmert war. Fassungslos beobachtete Sadie die Szene. Der Arzt hatte sich kaum zum Gehen gewandt, als sie sich an seine Fersen heftete und ihn auf dem Flur aufhielt.

„Was ist hier los?“, fragte sie besorgt.

„Gehören Sie zur Familie?“

Sadie schüttelte den Kopf, griff aber gleichzeitig nach ihrem Portemonnaie und hielt ihm ihren FBI-Dienstausweis unter die Nase. „Tessa ist eine Freundin aus Schultagen. Sie hat mich vorhin verängstigt angerufen und gebeten, herzukommen. Mehr weiß ich nicht.“

Der Arzt rang sichtlich mit sich und schaute sich um. Als die Schwester außer Hörweite war, begann er mit gesenkter Stimme: „Miss Henderson wurde heute Mittag mit leichten Verletzungen und Verdacht auf Gehirnerschütterung eingeliefert. Sie ist vor ein Auto gelaufen und kann froh sein, dass nicht noch mehr passiert ist. Der Alkoholtest war negativ, aber ich bin nicht sicher, ob sie etwas genommen hat.“

„Wer, Tessa?“, fragte Sadie stirnrunzelnd. „Sie nimmt keine Drogen.“

„Morgen wissen wir mehr, da erwarte ich das Ergebnis des Tox-Screenings. Miss Henderson scheint keine Vorgeschichte zu haben, aber sie hatte vorhin heftiges Nasenbluten. Ich bin ziemlich sicher, dass sie etwas genommen hat.“

Sadie schluckte. „Okay … Was vermuten Sie?“

„Eine drogeninduzierte paranoide Episode“, sagte der Arzt. „Sie leidet unter heftigem Verfolgungswahn. Wenn ich morgen endlich weiß, was sie genommen hat, können wir sie gezielt behandeln.“

„Hat sie denn nichts gesagt?“

„Nein, sie meinte auch, sie würde keine Drogen nehmen. Sie sprach nur die ganze Zeit davon, dass man sie umbringen will. Wenn sie erst mal wieder von ihrem Trip runter ist, wird sich das von selbst geben.“

Der Pieper des Arztes machte sich bemerkbar, so dass er sich verabschiedete, bevor Sadie noch etwas fragen konnte. Mit offenem Mund stand sie da und blickte ihm hinterher.

Tessa und Drogen – das fand sie so abwegig wie nur was. Allerdings musste sie zugeben, dass Tessa sich in letzter Zeit tastsächlich irgendwie seltsam verhalten hatte.

Weil sie ohnehin nichts Besseres tun konnte, kehrte sie ins Zimmer zurück und blieb neben dem Bett stehen. Besorgt begutachtete sie Tessa, die wie narkotisiert schlief und auf gar nichts mehr reagierte.

Dann versuchte Sadie, zu überprüfen, was der Arzt gesagt hatte. Schnupfte Tessa irgendwelche Drogen?

Sadie versuchte, ihrer Freundin in die Nase zu schauen, erkannte jedoch nichts außer getrocknetem Blut. Das entlastete Tessa nicht unbedingt.

Seufzend setzte Sadie sich ans Bett ihrer Freundin und griff nach Tessas eiskalter Hand. Für einen Augenblick sah sie Tessa einfach nur an, dann schüttelte sie den Kopf.

„Was machst du nur?“, murmelte sie besorgt.

Sie musste sich überwinden, um schließlich das Zimmer und das Krankenhaus zu verlassen, aber sie konnte hier ja nicht über Nacht bleiben. Als sie vor dem Gebäude stand und ihr Handy herausholte, um nach Hotels in der Umgebung zu suchen, kroch gerade der Pazifiknebel an der Golden Gate Bridge vorbei in die San Francisco Bay hinein. Es war kühl geworden, aber es war nicht ungewöhnlich, dass in San Francisco auch Anfang Juli die Temperaturen mitunter etwas unterkühlt waren. Sadie störte es nicht, für sie war San Francisco die schönste Stadt der Welt. Sollte das FBI dort jemals einen Profiler brauchen, war sie zur Stelle …

In einer halben Meile Entfernung fand sie ein Hotel. Im Internet erfuhr sie nicht mehr darüber, aber es war ihr gleich. Sie wollte dort nur schlafen. Beherzt machte sie sich dorthin auf den Weg und war bei ihrer Ankunft versucht, ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken. Das Gebäude war leicht heruntergekommen und es wurde laut Schild kein Frühstück angeboten, aber wenigstens waren die Zimmer billig.

Also fasste sie sich ein Herz und nahm sich ein Zimmer. An der Rezeption half man ihr mit ein paar Kosmetika und einer Bürste aus, was ihr für diesen Moment reichte. Doch als sie das Zimmer betrat, war sie schon im Vorhinein froh, dort nur eine Nacht verbringen zu müssen. Es war winzig, nicht sehr gemütlich und auch nicht besonders sauber, aber für eine Nacht würde es schon gehen. Es gab nicht einmal einen Fernseher. Doch gegen manche Dinge, die sie in der Vergangenheit erlebt hatte, war das hier der pure Luxus.

Auf dem Hinweg hatte sie ein kleines Diner entdeckt, keine zwei Minuten Fußweg entfernt. Sadie beschloss, zum Abendessen dorthin zu gehen. Inzwischen war es halb neun und sie hatte wirklich Hunger. Wenigstens war das Essen wirklich gut, wie sie wenig später feststellen durfte. Während sie aß, wurde es draußen ganz dunkel und sie konnte die Lichter der Skyline von San Francisco erahnen. Es war schön – aber trotzdem konnte sie es nicht genießen. Sie war ganz in Gedanken und ging jede Sekunde ihrer recht kurzen Begegnung mit Tessa durch.

Tessa hatte nie Drogen genommen – zumindest wusste Sadie nichts davon. Und sie wusste viel über Tessa. Bei ihr hatte Tessa ihr Coming Out gehabt, mit ihr hatte sie über ihre Freundinnen, ihre Sehnsüchte, ihr Empfinden Frauen gegenüber gesprochen. Sadie wusste auch, mit wem Tessa ihr erstes Mal gehabt hatte. Tessa hatte nie Probleme damit gehabt, ihr davon zu erzählen. Durch sie hatte Sadie keinen schlechten Einblick in die Lesbenszene des nördlichen Kalifornien gewonnen und zum Glück für Tessa war es ja so, dass die Nähe zu San Francisco sich diesbezüglich auszahlte. Sie konnte nicht nur als Lesbe ziemlich unbehelligt dort leben, sondern hatte auch nie Schwierigkeiten gehabt, in der Szene Kontakte zu knüpfen.

Aber Drogen? Nein. Sadie war ziemlich sicher, dass sie das irgendwann gemerkt hätte und außerdem war Tessa nicht der Typ dafür.

Zumindest nicht die Tessa, die sie bislang gekannt hatte. Vielleicht hatte sich etwas geändert. Durch Lindsay. Wer wusste das schon?

Drogeninduzierte paranoide Episode … so ungefähr hatte das für Sadie auch ausgesehen, aber noch wusste sie ja nicht viel.

Als sie fertig war, machte sie sich auf den Rückweg in ihr trostloses Hotelzimmer und rief dann zu Hause an. Sie hatte Matt gleich am Telefon.

„Gut, dass du anrufst“, sagte er. „Wie war dein Flug? Wie geht es Tessa?“

„Ich weiß nicht … mir schwirrt der Kopf“, sagte Sadie. „Der Flug war in Ordnung, ich war um kurz nach sieben schon bei ihr im Krankenhaus.“

„Wir haben übrigens vorhin noch dein Auto abgeholt. Libby fährt schon ganz ordentlich“, berichtete Matt.

„Sollte man meinen, schließlich hat sie den Führerschein. Ist sie in ihrem Zimmer?“

„Ja. Hayley schläft schon. Ich habe es mir unten auf dem Sofa gemütlich gemacht.“

„Gemütlich klingt toll … ich habe eine Bruchbude von Hotel entdeckt, aber für diese Nacht muss es reichen.“

„Oh je … wie willst du morgen nach Waterford kommen?“

„Weiß ich noch nicht“, sagte Sadie. „Ich glaube, bis Tracy kommt man von hier aus noch ganz gut.“

„Kann sein. Erzähl mal von Tessa.“

„Da kann ich eigentlich gar nicht viel erzählen … Ich war noch nicht lang da, als der Arzt sie sediert hat.“

„Oh“, machte Matt.

„Und sie war nicht mehr auf der allgemeinen Station, sondern in der Psychiatrie.“

Für einen Moment war es still am anderen Ende. „Was ist denn da bloß los?“

„Frag mich was Leichteres. Sie hatte sich im Bad versteckt, als ich ankam, und fiel mir um den Hals, als sei ich der Erlöser. Sie hat mich gefragt, ob ich meine Waffe dabei habe und hatte Angst, man könnte sie abhören. Dann kam ein Arzt, weil sie ihr Abendessen nicht angerührt hat. Sie hatte Angst, man wolle sie vergiften.“

„Was zum Teufel … klingt so, als sei sie nicht ganz falsch in der Psychiatrie.“

„Nein, nicht wirklich. Sie wurde laut und hysterisch, sprach davon, dass man sie umbringen will. Weil der Arzt die ganze Zeit da war und sie dann sedieren ließ, konnte sie mir gar nicht mehr sagen. Das war ziemlich blöd.“

„Du bist also umsonst hingeflogen.“

„Nein, das nicht, aber … ich weiß nicht, was hier los ist. Der Arzt nannte es eine drogeninduzierte paranoide Episode.“

„Drogeninduziert?“, fragte Matt. „Tessa nimmt Drogen?“

„Ich weiß doch nichts über ihre neue Freundin. Vielleicht nehmen die beiden wirklich Drogen zusammen.“

„Hat Tessa was dazu gesagt?“

„Der Arzt meinte, sie hat es abgestritten.“

„Hm“, machte Matt. „Sehr seltsam.“

„Ja … ich habe keine Ahnung, was hier los ist. Tessas Angst kam mir echt vor.“

„Hattest du den Eindruck, sie war stoned?“, fragte Matt. Während Sadie noch überlegte, fügte er hinzu: „Du weißt, wie das aussieht. Bei mir hast du es sofort gemerkt.“

„Stimmt“, sagte Sadie, die so weit noch gar nicht gedacht hatte. Sie überlegte kurz. „Ganz ehrlich? Nein. Sie war panisch, aber völlig klar.“

„Du musst mehr über ihre Freundin herausfinden.“

„Das denke ich auch … ich weiß einfach zu wenig. Tessa hat ein Problem, das war offensichtlich. Worum es eigentlich geht, weiß ich immer noch nicht.“

„Das findest du schon heraus. Du hast bislang immer Antworten gefunden.“

„Ja … ich hoffe, ich kann ihr helfen. Morgen weiß ich sicher mehr.“

Das hoffte Sadie wirklich. Sie machte sich große Sorgen um Tessa.

 

 

 

 

 

San Francisco, Dienstag, 3. Juli

 

Sadie erwachte früh am Morgen, als ein Krankenwagen mit lautem Sirenengeheul vorbeifuhr. Sie nahm es zum Anlass, gleich aufzustehen. Es fühlte sich seltsam für sie an, wieder in ihre Bluse und ihre schicke schwarze Hose zu schlüpfen, aber sie hatte ja keine andere Kleidung dabei.

Sie war froh, als sie das Hotel verließ und sich auf den Weg zur Uniklinik machte. Zum Frühstück holte sie sich im selben Diner wie am Vorabend einen Bagel und Saft. Das musste erst mal reichen. Tessa lag gerade allein auf ihrem Zimmer und hatte immer noch Angst – Sadie musste zu ihr.

Zehn Minuten später hatte sie das Krankenhaus erreicht. Tessa befand sich zu ihrer Erleichterung immer noch im gleichen Zimmer und saß dort mit trübsinniger Miene auf ihrem Bett. Vor ihr stand ein Tablett mit Frühstück, von dem sie nichts angerührt hatte.

„Hey“, sagte Sadie beim Betreten des Zimmers. Tessa rang sich ein Lächeln ab und beobachtete, wie Sadie sich einen Stuhl heranzog, um sich neben Tessas Bett zu setzen.

„Hey“, erwiderte Tessa gepresst.

„Ich war in einem Hotel in der Nähe“, sagte Sadie. „Hier konnte ich ja schlecht bleiben.“

„Schon klar … es ist nur … das ist alles so surreal.“

„Was denn?“, fragte Sadie.

„Alles einfach … Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Alles ist so verrückt.“

„Du solltest etwas essen.“

Misstrauisch starrte Tessa auf das Tablett. „Ich traue dem Ganzen nicht.“

„Soll ich deinen Vorkoster spielen?“

Das war Tessa dann doch wieder zu dumm. Sie schmierte Marmelade auf ihren Toast und begann zu essen. Sadie aß derweil ihren Bagel.

„Das war blöd gestern Abend“, sagte Tessa. „Du fliegst extra her und dann setzt der Doc mich außer Gefecht.“

„Solange du ihm da nichts unterstellst.“

Tessa zuckte mit den Schultern. „Ich glaub, der ist ganz okay. Aber ich weiß es nicht. Mir hat es in dem Moment gereicht, dass du da warst. Für dich schien das okay zu sein … und bevor ich nachdenken konnte, war ich weg.“

„Ich wusste doch gar nicht, was ich tun soll“, gab Sadie zu. „Weißt du, wie die Diagnose des Arztes lautet?“

Tessa nickte. „Hat er es dir gesagt?“

„Ja. Wenn man den Leuten einen FBI-Dienstausweis unter die Nase hält, werden sie immer sehr gesprächig.“

Das entlockte Tessa ein Grinsen. „Du weißt dir zu helfen, Süße.“

„Drogeninduzierte Paranoia?“

„Was weiß ich“, sagte Tessa achselzuckend. „Ich nehme nichts.“

„Du weißt, du könntest es mir sagen, wenn es so wäre. Erinnere dich an Matt“, versuchte Sadie, sie zu ermuntern.

„Ich nehme nichts“, beharrte Tessa.

„Nimmt Lindsay was?“

„Nicht, dass ich wüsste.“

„Hast du sie erreicht?“

„Ja, vorhin habe ich kurz mit ihr telefoniert. Sie ist in Bakersfield, schon seit Sonntag. Sie kommt erst heute Abend oder morgen früh zurück. Das wollte ich auch so, im Moment bist du ja hier. Das reicht mir.“

„Hm“, brummte Sadie. Tessa machte einen vollkommen klaren Eindruck auf sie, aber sie war auf die Ergebnisse der toxikologischen Untersuchung gespannt.

„Lindsay kommt hier aus der Stadt?“, fragte Sadie dann. Sie wollte sich weiter Tessas Verhalten anschauen und sich außerdem ein vollständiges Bild machen. Wenn sie sich erst unverfänglich unterhielten, lockerte das die Stimmung.

„Ja …“ Seufzend ließ Tessa ihren Toast sinken. „Mit meinem Abschluss stand alles Kopf, Sadie. Deshalb habe ich mich so rar gemacht. Ich habe meine Abschlussarbeit geschrieben und Sylvie hat mich kaum noch zu Gesicht bekommen. Irgendwie hat sie das auch nicht verstanden. Ich musste oft zur Uni, habe einen Großteil meines Jahresurlaubs für die Abschlussprüfungen geopfert und war nur noch müde. Bewerbungen habe ich auch geschrieben. Ich habe schnell festgestellt, dass das Valley nach mir ruft, und zwar ziemlich laut … ist ja auch klar. Ich bin auch zu einigen Gesprächen gewesen, in Palo Alto, San Mateo und San Jose … ich weiß gar nicht mehr, wo sonst noch.“

„Geworden ist es dann doch San Francisco“, sagte Sadie.

„Ja, ein ganz junges Unternehmen, gerade zu alt, um noch Start-Up genannt zu werden. Sie haben Fuß gefasst. Die bereiten das nächste große Ding in Sachen Internetsicherheit vor. Als ich die Zusage hatte, habe ich überlegt, wie es weitergehen soll. Die Aussicht, immer aus Livermore nach Frisco pendeln zu müssen, fand ich nicht gut … ich meine, ich weiß, wie teuer hier alles ist. Aber ich wollte gern umziehen und Sylvie hätte als Erzieherin auch problemlos etwas hier gefunden. Nur: Sie wollte nicht. Sie wollte in Livermore bleiben, aber das erschien mir irgendwie … ich weiß nicht. Ich habe mich eingeengt gefühlt. Hier ist die Szene so lebendig und wir hatten sowieso dauernd Streit, deshalb sagte ich, ich will eine Beziehungspause und nehme mir hier erst mal eine eigene Wohnung. Das hat ihr zwar nicht gepasst, aber ich habe tatsächlich ein kleines Apartment in Ingleside gefunden. Du kennst mich, ich brauche nicht viel. Mein Schreibtisch mit Computer passt rein, also ist es in Ordnung.“

Sadie grinste. „Ganz die Alte.“

„Warum auch nicht? Jedenfalls hatte ich den Mietvertrag gerade unterzeichnet, als es hier eine ziemlich berüchtigte Party gab, eine Lesbenparty. Das war am gleichen Abend und ich bin hingegangen. Dort habe ich dann Lindsay getroffen.“

„Sylvie weiß davon?“

Tessa nickte. „Ja, inzwischen schon. Ich habe sie angerufen, um ihr zu sagen, dass ich jemanden kennengelernt habe. Sie hat mir nicht mal bis zum Ende zugehört, sondern einfach aufgelegt.“

Das alles aus Tessas Mund zu hören, war wichtig für Sadie. So klang es gleich nachvollziehbarer und ergab ein ganz anderes Bild für sie.

„Hast du ein Foto von Lindsay?“, fragte Sadie.

„Klar.“ Tessa holte ihr Handy aus einer Schublade und zeigte Sadie ein Foto, auf dem beide gemeinsam zu sehen waren. Lindsay war eine sehr attraktive Brünette mit langem Haar, gekonntem Make-Up und einer tollen Figur. Sie war sexy. Sadie konnte sich schon vorstellen, dass sie Tessa den Kopf verdreht hatte.

„Hübsch“, sagte sie knapp.

„Ich bin ihr verfallen“, sagte Tessa offen. „Wir haben an diesem Abend gefeiert, getrunken und als sie mich zu sich nach Hause eingeladen hatte, hatten wir Sex. Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt schon mal so guten Sex hatte. Ich bin geradezu explodiert.“

„Und jetzt seid ihr zusammen“, folgerte Sadie.

„Ja … das war ziemlich schnell klar. Ich bin verrückt nach dieser Frau, Sadie. Das hatte ich so noch nie.“

„Was macht sie beruflich?“

„Marketing. Sie wohnt im Sunset District, sie hat also Geld. Im Moment wohnen wir noch getrennt, es ist alles noch frisch … aber ich bin verrückt nach ihr. Ich führe jetzt das Leben, das ich immer führen wollte, Sadie. Mein Job ist toll, ich arbeite jeden Tag mit Blick auf die Golden Gate Bridge. Lindsay ist der Hammer … aber gerade entgleist alles.“

Sadie nickte verstehend. „Ich bin jetzt hier, um dir zu helfen. Was ist es denn, das dir solche Angst macht?“

„Oh … ja. Natürlich.“ Tessa löste sich von ihr und zog die Schultern hoch. Skeptisch schaute sie sich um. „Es ist ein Video, das ich am Samstag bekommen habe. Und dann hat man mich bedroht …“

„Okay“, sagte Sadie. „Erzähl mir alles.“

 

 

 

 

 

San Francisco, Samstag, 30. Juni

 

Argwöhnisch nippte Tessa an ihrem Cocktail und beobachtete, wie Lindsay lauthals mit Brittany lachte. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. Sie wusste ja, wie Lindsay tickte – sie selbst war ihrer erotischen Anziehungskraft zum Opfer gefallen. Problemlos. Bereitwillig. Sie spürte jetzt noch ein verräterisches Kribbeln, wenn sie daran dachte, wie Lindsay sie verführt hatte. Angetrunken und hemmungslos hatten sie sich an jeder Stelle in Lindsays Wohnung vergnügt, die nur halbwegs geeignet erschienen war. Am nächsten Morgen hatte Tessa noch gespürt, wie Lindsay sie um den Verstand gebracht hatte. Sie wusste, wie man jemanden in Ekstase versetzte …

Aber eigentlich wollte Tessa das nur für sich allein haben. Sie war nun wirklich nicht prüde – das konnte man sich als Lesbe auch kaum leisten. Nur teilen wollte sie nicht. Lindsay war ihre Freundin und auf einen Dreier hatte sie keine Lust.

Es gefiel ihr nicht, wie Lindsay ihr Finger durch Brittanys Haar gleiten ließ und ihr ganz nah kam, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Schließlich legte Brittany eine Hand auf Lindsays Po und zog sie zu sich heran. Lindsay warf den Kopf in den Nacken und lachte.

Sie war so verdammt sexy bei allem, was sie tat. Eine perfekte weibliche Figur, wunderschöne, glänzende Haare, ein attraktives Gesicht. Es war verdammt lange her, dass Tessa eine solche Femme fatale getroffen hatte – aber sie liebte es. Zwar war sie glücklich mit der bodenständigen Sylvie gewesen, aber das hier war etwas anderes. Reizvoller. Lindsay war geheimnisvoll, verführerisch und eine echte Granate im Bett.

Mit ihrem kurzen Haarschnitt, den Retro-Boots und der zerschlissenen Jeans war Tessa das genaue Gegenteil, zumindest kam es ihr so vor. Sie wusste auch nicht, ob die Behauptung der Leute, dass viele Lesbenpärchen aus einem Stellvertreter für die Frau und einem für den Mann bestanden, wirklich ein Klischee war. Tatsächlich kannte sie viele Paare, auf die das zutraf, und sie selbst nahm sich da nicht aus. All ihre Freundinnen hatten bisher lange Haare gehabt und sehr weiblich gewirkt, was bei ihr selbst nicht der Fall war. Ihre Figur gab das auch gar nicht her, aber das hatte sie nie gestört.

Dafür störte sie, wie Lindsay jetzt Brittany in die Halsbeuge küsste. Tessa leerte in einem Zug ihren Cocktail, knallte das Glas auf den Tresen und stapfte hinüber zu den beiden.

„Hattest du gestern noch nicht genug Sex?“, fragte sie Lindsay provokant. Ihre Freundin blickte lächelnd auf und breitete einen Arm aus.

„Komm doch zu uns“, sagte sie.

Tessa verschränkte die Arme vor der Brust. „Nein, ich fände es besser, du kämst zu mir und wir würden nach Hause gehen.“

„Aber es ist doch gerade so … prickelnd …“ erwiderte Lindsay mit einem lasziven Augenaufschlag.

Diesmal prallte es an Tessa ab. „Schade, dass du jetzt schon vor meinen Augen fremd flirtest.“

„Ich flirte doch gar nicht.“

Tessa verschränkte die Arme vor der Brust. „Lindsay, ich bin weder blind noch dumm und ich mag das nicht, das weißt du.“

„Du weißt doch, wie es aussieht, wenn ich flirte …“ Lindsay wollte sich ihr schon um den Hals werfen, aber Tessa stand da wie versteinert.

„Vergiss es“, zischte sie.

„Jetzt hab dich doch nicht so …“

„Du hast zu viel getrunken“, stellte Tessa gereizt fest.

„Wir amüsieren uns doch nur!“

Weil Brittany ungerührt daneben stand und Maulaffen feilhielt, blickte Tessa schließlich zu ihr. „Soll ich dir Popcorn reichen?“

„Ach, Tessa“, machte Brittany achselzuckend und ging woanders hin.

„Was sollte das?“, fragte Lindsay schnippisch.

„Was das sollte? Du bist meine Freundin und ich finde es nicht cool, wenn du vor meinen Augen mit anderen Frauen flirtest!“

„Mein Gott, du stellst dich ja an. Wusste gar nicht, dass du neuerdings so prüde bist.“

„Bin ich nicht, aber das vorhin ging zu weit“, stellte Tessa fest.

„Würde ich sie küssen, ginge das zu weit.“

„Du siehst das echt nicht ein, oder?“

„Tessa“, sagte Lindsay und wollte ihre Freundin besänftigen, aber Tessa zuckte zurück, als Lindsay sie berühren wollte.

„Komm mir jetzt nicht so“, grollte sie.

„Meine Güte“, sagte Lindsay genervt. „Wenn du weiter so miesepetrig bist, kannst du am Mittwoch allein in den Urlaub fahren.“

„Vielleicht mache ich das sogar“, schnappte Tessa und wandte sich genervt ab.

„Wo willst du hin?“

„Nach Hause“, lautete die knappe Antwort. Für einen Moment blieb Tessa stehen und wartete ab, ob Lindsay ihr folgte, doch ihre Freundin stand wie festgewachsen neben der Säule und starrte sie nur an.

Also schön, das konnte sie haben. Tessa war nicht gewillt, da zu verhandeln. Sie hatte ihre Grenzen und Lindsay hätte sie ruhig respektieren können.

Aber vielleicht war das die Kehrseite, wenn man mit einer solchen frauenmordenden Liebesgöttin zusammen war. Tessa hatte schon mitbekommen, dass Lindsay in der hiesigen Szene den Ruf weg hatte, eine ziemliche Sexgranate zu sein. Das El Rio war Lindsays Lieblingsbar und dort hatten sie sich auch kennengelernt, denn es war die einzige Szenekneipe in der Nähe. Sie waren eben nicht in South of Market oder Duboce Triangle.

Sie fuhr mit dem Bus nach Hause. Zwar war es erst kurz vor Mitternacht und der Abend hätte eigentlich anders enden sollen, aber nun war es eben so. Das hatte sie nicht nötig. Ja, Lindsay liebte es, sich aufreizend und lasziv zu geben, was Tessa nicht immer gefiel. Aber so, wie sie ihre Freundin kannte, würde sie bald das schlechte Gewissen ereilen und dann würde sie angekrochen kommen. Auf Knien. Unter die Bettdecke.

Tessa schüttelte den Gedanken ab. Mit dem Bus waren zum Glück kaum Leute unterwegs, so hatte sie ihre Ruhe. Es war zehn Minuten vor Mitternacht, als sie zu Hause eintraf und erst mal den Briefkasten leerte. In der Nacht zuvor hatte sie bei Lindsay geschlafen und war auch von dort aus mit ihr gemeinsam ins El Rio aufgebrochen.

Rechnungen, Wurfblätter, ein gepolsterter Briefumschlag ohne jede Beschriftung. Weil sie pinkeln musste, warf sie die Briefe erst einmal in der Küche auf den Tisch und ging ins Bad. Minuten später kehrte sie zurück und beschloss, noch einen Tequila nachzulegen. Warum eigentlich nicht?

Nachdem sie sich eingeschenkt hatte, ging sie ihre Post durch. Der gepolsterte Umschlag erregte ihre Aufmerksamkeit. Wer schickte ihr denn da anonym spannende Dinge?

Sie öffnete den Umschlag und heraus fiel ein USB-Stick, auf dem ein Aufkleber klebte. Er war mit 7/8/18 beschriftet, was sich für Tessa wie ein Datum las. Achter Juli. Fragend runzelte sie die Stirn. Was war am achten Juli?

Für einen kurzen Moment war sie misstrauisch. Anonyme Post, ein USB-Stick … Also hatte es geklappt. Das kam bestimmt von den Neumaniacs – einer Hackergruppe, die sich nach dem Mathematiker John von Neumann benannt hatte, auf den die Architektur der meisten modernen Computer zurückzuführen war. Die Neumaniacs gab es erst seit etwa einem Jahr und sie verfolgten einen anderen Ansatz als alle anderen Hackergruppen in den Staaten, denn sie agierten nach moralischen und ethischen Grundsätzen. In dieser Hinsicht hatten sie sich den deutschen Chaos Computer Club zum Vorbild genommen, der weltweit ziemlich einzigartig war. Die meisten Hackergruppen reizten Chaos und Anarchie, aber bei ihnen war das anders.

Tessa fand das alles ungemein spannend und hatte eine gute Woche zuvor ein Aufnahmegesuch gestartet. Die Neumaniacs schrieben die Themen Datensicherheit, Netzneutralität und individuelle Freiheit groß – etwas, das Tessa persönlich am Herzen lag und auch in dem Unternehmen, in dem sie arbeitete, eine übergeordnete Rolle spielte.

Vielleicht musste sie sich erst beweisen. Sie ließ die Finger knacken und grinste. Herausforderung angenommen.

Mit dem Stick und dem Tequila ging sie zu ihrem Rechner und fuhr ihn hoch. Sie musste sich immer noch ans User Interface ihres neuen Kali Linux-Systems gewöhnen. Jahrelang hatte sie Whonix benutzt, um im Internet möglichst anonym unterwegs zu sein, aber nun arbeitete sie im Büro mit Kali und hatte es sich auch zu Hause installiert. Sie hatte derart viele Sicherheitssysteme eingerichtet, dass sie es riskieren konnte, den Stick an den Rechner zu hängen. Da kam nichts durch. Während sie den Stick in einen freien USB-Port steckte, leerte sie den Tequila in zwei Zügen.

Ihr Viren- und Malwarescanner ließ ein grünes Symbol aufleuchten und signalisierte so, dass der Stick sicher war. Tessa öffnete ihn. Ein 32 Gigabyte-Laufwerk und nur eine einzige Datei war darauf gespeichert. Es war ein Video mit einem kryptischen Namen: 851208518.mp4. Als sie die Datei mit einem Mausklick öffnen wollte, erschien ein Fenster, das sie zur Eingabe eines Passworts aufforderte.

„Nee, ist klar“, brummte sie und stützte den Kopf in die Hände.

Sie beschloss, die Herausforderung anzunehmen und versuchte es erst einmal ganz naiv mit dem Zahlencode aus dem Dateinamen. Als das nicht funktionierte, ließ sie die Zahlen schnell in Binärzahlen umrechnen, aber das funktionierte auch nicht. Dann testete sie das Datum, das auf dem Stick gestanden hatte, und versuchte die verschiedensten Schreibweisen. Das brachte alles keinen Erfolg.

Aber wozu war sie neuerdings Internet Safety Consultant, wie es hochtrabend auf ihrer Visitenkarte stand? Sie besaß allerhand Tools, die mit Bruteforce und anderen Algorithmen Passwörter entschlüsseln konnten. Sie hatte auch ein ganz cleveres Programm, das in der Lage war, das notwendigerweise irgendwo im Code hinterlegte Passwort zu finden und einzugeben. Das wollte sie gleich mal versuchen. Sie würde das hinkriegen.

Ohne Umwege öffnete sie gleich dieses Programm und gab den Pfad ein, unter dem die Videodatei zu finden war. Ein Blick auf die Dateiinformationen verriet ihr, dass das Video knapp zwei Gigabyte groß war. Die Passwortinformationen mussten aber irgendwo vorn im Code hinterlegt sein, es würde also hoffentlich nicht allzu lang dauern.

Während das Programm seine Arbeit machte, überlegte Tessa kurz, ob sie noch mehr Tequila trinken sollte, entschied sich dann aber dagegen. Sie war ohnehin schon betrunken, vielleicht sollte sie lieber mal aufhören.

Ein Ping aus dem Computer machte sie darauf aufmerksam, dass das Programm das Passwort entschlüsselt hatte. Es wurde automatisch in die Passwortabfrage eingegeben, Tessa musste nur noch auf OK klicken. Die Videodatei wurde geöffnet, sie sah das Standbild eines Bettes. Als sie auf Play klickte, wurde der Film abgespielt. Der Fortschrittsbalken verriet ihr, dass das Video etwas über zwanzig Minuten dauerte.

Zwei Frauen betraten den Raum. Eine war bis auf einen winzigen String splitternackt, die andere trug immerhin noch eine aufreizende Corsage. Die unbekleidetere der beiden Frauen legte sich aufs Bett. Sie küssten sich. Dann wurde Tessa der langen Seidenbänder gewahr, die am Kopf- und Fußende des Bettes bereits befestigt waren. Gespannt und mit pochendem Herzen beobachtete sie, wie die blonde Corsagenträgerin die Brünette an allen Vieren mit den Seidenbändern ans Bett fesselte.

Das traf einen Nerv bei ihr. Sie weigerte sich, hier an einen Zufall zu glauben. Bestimmt hatten die Neumaniacs schon Erkundigungen über sie eingeholt. Sie wollte mal sehen, was sie sich für sie überlegt hatten. Ein offensichtlicher Lesbenporno mit Fesselspielen … nicht schlecht. Das war sexy.

Nachdem die Corsagenträgerin ihre Gespielin gefesselt hatte, begann sie mit dem Vorspiel. Entspannt lehnte Tessa sich zurück und schaute sich das Spektakel an. Die beiden Frauen küssten einander, die Blondine streichelte die Brüste der anderen Frau, griff ihr zwischen die Beine und schob die Hand unter ihren String. Tessa fand das ziemlich heiß. Sie hatte nichts gegen gut gemachte Pornos, im Gegenteil. Und das, was sie da sah, gefiel ihr.

Schließlich unterbrach die Blondine das Liebesspiel und holte einen Ballknebel. Die gefesselte Frau ließ ihn sich widerstandslos anlegen und schien all das, was ihre Partnerin machte, sichtlich zu genießen. Das konnte Tessa auch hören, sie hatte sich zwischendurch ihre Kopfhörer aufgesetzt und lauschte dem Sound. Der Ersteller des Videos hatte zum Glück auf Pornomusik verzichtet und beschränkte sich ganz auf die Geräusche, die die Frauen machten. Das Stöhnen und Seufzen machte Tessa ganz wild. Jetzt hätte sie Lindsay doch gern bei sich gehabt …

Plötzlich hörte die Blondine auf, erhob sich und ging zur Tür. Tessa konnte sehen, wie die Tür geöffnet wurde und hörte dann die Blondine sagen: „Ihr könnt sie haben.“

Was war das jetzt? Die gefesselte Frau auf dem Bett hob den Kopf und begann erstickt zu wimmern, als zwei Männer das Zimmer betraten. Sie waren maskiert, trugen beide Sturmhauben über dem Kopf. Einer hatte ein Messer dabei, der andere eine Art Rohrstock.

Tessa griff wieder nach ihrer Maus und wollte das Videofenster schließen, aber der Cursor bewegte sich nicht. Sie versuchte, über diverse Tastenkombinationen das Programm zu beenden, doch es funktionierte nicht. Ihr Rechner war wie eingefroren.

Das musste von den Neumaniacs sein. Aber dann war das ein schlechter Scherz. Ein ganz schlechter.

Das Video offenbarte eine Gewaltorgie. Fassungslos und ungläubig sah Tessa, wie die Männer sich über die wehrlose Frau hermachten. Sie wurde geschlagen, gewürgt, mit dem Messer malträtiert. Tessa versuchte, sich damit zu beruhigen, dass das mit Sicherheit eine gestellte Situation war. Das passierte nicht wirklich. Man hatte ihr keinen Folterporno geschickt.

Einer der Männer vergewaltigte die Frau. Tessa wandte sich ab und tastete instinktiv nach dem Ausschaltknopf ihres Computers, aber dann traute sie sich doch nicht.

Sie musste wissen, ob das echt war.

Ihr kamen die Tränen, als sie das sah. Unwillkürlich musste sie an ihre beste Freundin Sadie denken, die vermutlich immer noch zu Recht wütend auf sie war und die wohl das oder etwas Ähnliches selbst schon durchgemacht hatte. So genau wusste Tessa das nicht und wollte es auch gar nicht wissen, aber was Sean Taylor ihr angetan hatte, war ja  für Tessa kein Geheimnis.

So hatte das ausgesehen?

Sie begann zu schluchzen und schlug die Hände vors Gesicht. Das durfte doch nicht wahr sein. Das war doch nicht echt …

Der Mann würgte die wehrlose Frau erneut, dann griff er nach seinem Messer und schnitt ihr die Kehle durch. Tessa schrie auf und schlug die Hände vor den Mund. Sie sah, wie die Frau verblutete.

Und das sah echt aus.

Dann fror das Bild ein. Das Ende des Videos war erreicht, die Frau wirkte wirklich leblos. Die Bildqualität war gut, immerhin war die Videodatei auch groß genug. Das alles wirkte echt.

Tessa schluchzte erneut und wischte sich über die Augen. Was für ein kranker Scheiß war das? Was hatten die Neumaniacs sich dabei gedacht? Im ganzen Video gab es keinen Hinweis auf sie oder irgendein Rätsel, das sie hätte lösen sollen.

Oder es kam einfach überhaupt nicht von der Hackergruppe.

Instinktiv griff Tessa nach ihrem Handy und wollte Sadie anrufen, doch sie hatte kaum die Nummer ihrer besten Freundin herausgesucht, als sie gleich wieder auflegte.

Es war fünfzehn Minuten nach Mitternacht. Sadie würde ihr was husten, wenn sie zu dieser Zeit anrief. Wegen eines Videos. Und das, nachdem sie Sadie an ihrem Geburtstag versetzt hatte. Sie hatte sie seitdem nicht einmal angerufen, weil das schlechte Gewissen an ihr nagte …

Nein, das konnte sie nicht tun. Nicht wirklich.

Gereizt zog sie den Stick ab und warf ihn in einer Impulshandlung in den nebenstehenden Mülleimer. Dann öffnete sie das Messageboard der Neumaniacs, in dem es auch einen öffentlichen Bereich für Interessenten, Bewerber und sogar die Presse gab. Dort hatte sie schon einmal gepostet und zur Antwort bekommen, man würde sich bei ihr melden. Sie öffnete den Thread und schrieb: Wenn ihr mir einen USB-Stick mit Video geschickt habt – das war echt geschmacklos. Was soll das?

Sie schickte ihre Nachricht ab und schloss die Seite wieder. Sie hatte Kopfschmerzen. Sie war müde. Sie musste ins Bett. Den Rest konnte sie sich morgen überlegen.

Doch bevor sie den Rechner ausschaltete, öffnete sie eine ihrer Lieblings-Internetseiten und surfte durch Memes und Katzenvideos. Sie musste diese Bilder aus dem Kopf kriegen. Sie war vielleicht betrunken, aber sie konnte das nicht vergessen.

Auch nicht, als sie eine halbe Stunde später im Bett lag und an die Decke starrte.

 

 

San Francisco, Sonntag, 1. Juli

 

Als Tessa erwachte, fühlte sie sich wie ausgedörrt. Ihre Augen brannten, ihre Zunge war pelzig, ihre Blase voll. Schlaftrunken torkelte sie ins Bad und sank auf der Toilette wie ein alter, undichter Luftballon in sich zusammen. Fast wäre sie dort wieder eingeschlafen, aber dann riss sie sich zusammen und stellte sich schließlich sogar todesmutig unter die eiskalte Dusche. Eine solche Schocktherapie half am besten bei einem drohenden Kater. Als sie fertig war, musterte sie sich selbst im Spiegel, zog ihre Augenlider hoch und runter und guckte sich selbst in den Rachen. Alles noch dran. Jetzt Rührei zum Frühstück und schon sah die Welt viel besser aus.

Da sie nicht vorhatte, an diesem Tag das Haus zu verlassen, suchte sie sich im Schlafzimmer eine Sweathose und ein schlabbriges T-Shirt heraus. Das war die perfekte Uniform für einen ausgedehnten Netflix-Marathon.

Als sie sich angezogen hatte, schlurfte sie in die Küche. Nachdem sie drei Eier in die Pfanne geschlagen hatte, zog sie ihr Handy aus der Hosentasche. Natürlich hatte Lindsay sich nicht gemeldet.

Blöde Kuh. Wenn sie mit Brittany gevögelt hatte, würde sie das auch weiterhin tun können. Offene Beziehungen waren nicht so Tessas Ding. Zum Glück konnte ihr das alles egal sein, denn für ihre Fünfzig-Quadratmeter-Bude war sie immerhin ganz allein verantwortlich. Sie war unabhängig.

Ja, sie mochte Lindsay. Sie war sexy, sie war lustig, hatte Charakter und Humor, sie war intelligent, schlagfertig und im Bett hatte sie es drauf. Sie beherrschte Dinge, die Tessas Blut beim bloßen Gedanken daran schon in Wallung brachten. Aber das alles hieß nichts. Sie waren noch keine drei Monate zusammen und wenn Tessa an Lindsay dachte, dann war sie verliebt und heißblütig zugleich, aber das war im Augenblick alles. Tiefer ging das nicht. Sie empfand noch nicht so für ihre neue Freundin wie zuvor für Sylvie. Es tat Tessa auch leid, dass das alles so gekommen war, aber tatsächlich hatte sie daran nicht allein Anteil gehabt. Sylvie war auch einfach ein wenig zickig gewesen, was sie schade fand.

Während sie das Rührei briet, überlegte sie, ob sie Lindsay schreiben sollte, entschied sich dann aber dagegen. Sie würde jetzt nicht angekrochen kommen, schließlich hatte sie nichts falsch gemacht. Das war aber ein generelles Problem unter Lesben, zumindest in der hiesigen Szene – vieles wurde sehr locker gesehen. Lockerer als es Tessa lieb war. Vielleicht war sie da untypisch, aber sie konnte es nicht ändern. Wollte es auch gar nicht.

Sie röstete zwei Scheiben Toast, nahm sich etwas Orangensaft und als das Rührei fertig war, setzte sie sich mit ihrem Frühstück vor den Fernseher. Sie wollte wissen, was draußen in der Welt so los war. Auf dem Weg dorthin bemerkte sie den geöffneten Luftpolsterumschlag vom Vorabend auf dem Tisch.

Ach ja. Der Lesbenporno, der als Snuff-Film geendet hatte. Welcher kranke Irre schickte ihr denn einen USB-Stick mit einem solchen Video? Und warum?

War das Video echt?

Das war ziemlich beunruhigend. Immer noch. Über Nacht hatte Tessa es fast vergessen, aber jetzt war der Gedanke daran wieder da.

Als sie aufgegessen hatte, ging sie noch einmal zum Mülleimer und holte den Stick wieder heraus. Sie wusste von Sadie, dass es solche Video tatsächlich gab. Echte Mordvideos. Es gab Serienkiller, die ihre Taten gefilmt hatten.

Was, wenn …

Das machte ihr Kopfschmerzen. Sie ging ins Bad und holte sich eine Kopfschmerztablette. Das konnte auch der Kater sein. Egal, es war jedenfalls nicht nötig, sich damit rumzuquälen.

Sie schluckte die Tablette und überlegte weiter. Das alles war ihr unheimlich.

Kurz entschlossen fuhr sie ihren Rechner hoch und öffnete als Erstes das Messageboard der Neumaniacs. Am Morgen um Viertel vor fünf hatte ihr ein Administrator geantwortet. Die hatten auch alle kein Leben. Schlaf wurde eindeutig überbewertet.  

Doch die Nachricht beruhigte sie nicht gerade. Von uns hast du noch nichts bekommen. Wir beraten heute über die Aufnahme neuer Mitglieder. Stay tuned.

Das war alles, doch so nüchtern, wie es da stand, glaubte Tessa es. Das Video war auch nicht der Stil der Neumaniacs.

Aber von wem kam der Stick dann?

Sie konnte das nicht einfach auf sich beruhen lassen. Sie kannte Pornos, auch Hardcorepornos, und sie kannte den Unterschied zwischen gestellten und echten Situationen.

Das hatte nicht gestellt ausgesehen. Und wenn es doch gestellt war, hatte jemand gekonnt dafür gesorgt, dass es echt aussah.

Das war alles seltsam. Wer schickte ihr so etwas und warum? Was sollte das heißen? Musste sie jetzt Angst haben, sich bedroht fühlen?

Schließlich entschied sie, sich das Video noch einmal anzusehen. Vielleicht konnte sie so bestimmen, was mit dem Video los war.

Sie ließ ihren Passwort-Cracker das Video erneut öffnen. Tessa schaute es sich noch einmal an – diesmal genauer und mit dem Blick fürs Detail. Sie achtete auf alles Mögliche und kam ziemlich schnell zu dem Schluss, dass das nicht gestellt wirkte. Die Frau auf dem Bett hatte das alles freiwillig begonnen, aber ihre Panik später wirkte echt. Ihre Schmerzensschreie ebenfalls. Ihre Kehle war dabei wie zugeschnürt und sie bekam eine Gänsehaut.

Mit solchen Dingen hatte Sadie in ihrem Beruf tagtäglich zu tun? Wie hielt sie das aus?

Ganz davon abgesehen, dass ihr Vater und Bruder solche Typen gewesen waren, die es liebten, Frauen so etwas anzutun. Das war widerlich.

Dieses Video wirkte verdammt echt. Tessa wusste, es gab Leute, die auf harte Sexspiele standen, aber nach Safe, Sane, Consensual sah das hier nun wirklich nicht aus.

Und am Ende war die Frau tot.

Vielleicht war es kein Zufall, dass sie das bekommen hatte. Vielleicht wusste ja jemand, dass Sadie ihre beste Freundin war.

Tessa griff zu ihrem Handy und beschloss, Sadie nun doch anzurufen. Das FBI hatte Techniker, die die Echtheit dieses Videos prüfen konnten. Sadie konnte herausfinden, wer die Frau auf dem Bett war. Ob sie tot war.

Und sie konnte sie vielleicht beruhigen, denn das alles behagte ihr gar nicht.

Sie hatte gerade begonnen, die Kontakte in ihrem Handy nach Sadie zu durchsuchen, als das Handy in ihrer Hand klingelte. Unknown Caller ID stand auf dem Display.

Tessa wurde kalt. War das ein Zufall? Sie beschloss, sich davon nicht ins Bockshorn jagen zu lassen und ging dran.

„Hallo?“

Für einen kurzen Moment war es still. Dann erklang eine blecherne, verzerrte Stimme.

„Da lag ein Umschlag in deinem Briefkasten. Ein gepolsterter Umschlag. Hast du ihn geöffnet?“

Tessa schluckte. Sollte sie lügen? Sie wusste nicht, was sie tun sollte.

„Hast du ihn geöffnet?“, fragte die verzerrte Stimme ungeduldig.

„Ja“, sagte Tessa.  

Die Stimme antwortete nicht gleich. „Er war ganz und gar nicht für dich bestimmt! Hast du die Datei geöffnet?“

Tessa bekam eine Gänsehaut. „Nein“, log sie. „War passwortgeschützt.“

„Du lügst.“

„Sie war passwortgeschützt!“

„Seit wann ist das ein Hindernis für eine Computerexpertin? Hör genau zu: Wenn du irgendjemandem von diesem Video erzählst, bist du tot. Wenn du es jemandem zeigst, bist du tot. Du solltest den Stick vernichten und vergessen, dass du dieses Video jemals gesehen hast.“

Tessa konnte es nicht fassen. Also war das Video wirklich echt.

Und es war gar nicht für sie bestimmt gewesen?

„Hast du verstanden?“, fragte die Stimme bedrohlich.

„Ja, schon klar, ist ja gut“, erwiderte Tessa nervös.

„Wenn du dich nicht dran hältst, wird es dir kaum besser ergehen“, sagte die Stimme. Dann war die Leitung tot.

„Oh mein Gott“, entfuhr es Tessa. Beinahe hätte sie ihr Handy fallen lassen.

Das war ein Witz. Das musste ein Witz sein. Das Video war wirklich echt? Was sollte sie jetzt tun?

Eigentlich musste sie Sadie anrufen. Jetzt erst recht.

Aber woher wusste die Stimme, dass sie das Video hatte?

Das machte ihr Angst. Große Angst.

Aber sie konnte das doch nicht auf sich beruhen lassen. Sie musste doch etwas tun. Irgendwas.

Auf einmal hatte sie ein Gefühl, als könne sie nicht mehr atmen. Als kämen die Wände näher.

Beobachtete sie jemand?

Sie stürmte zum Fenster und riss es auf. Die frische Morgenluft strömte vom Pazifik herein.

Sie konnte das doch nicht auf sich beruhen lassen. Das war Mord. Jemand machte sich die Mühe, sie deshalb anzurufen und zu bedrohen.

Aber warum hatte sie es dann bekommen? Und von wem? Sollte sie es nicht Sadie weiterleiten? Oder Phil? Oder irgendwem sonst, den sie bei den Behörden kannte?

Eigentlich musste sie das. Aber die Beklemmung in ihrer Brust sprach eine andere Sprache.

Irgendwie war es ja arg zufällig, dass diese Person mit der verzerrten Stimme sie ausgerechnet in diesem Moment angerufen hatte, als sie gerade mit Sadie sprechen wollte.

Konnte das ein Zufall sein?

Wurde sie beobachtet?

Sie hatte die Webcam an ihrem Rechner überklebt, das konnte es also nicht sein. Paranoid drehte sie sich um und fragte sich, ob sie auf eine andere Art beobachtet wurde. War das möglich?

Was war hier los?

Erneut holte sie ihr Handy und suchte Sadies Nummer heraus. Nicht mit ihr … das sah sie überhaupt nicht ein. Sie ließ sich doch keine Angst einjagen.

Doch genau in diesem Moment vibrierte das Handy in ihrer Hand und der Blick aufs Display verriet ihr, dass sie eine Nachricht erhalten hatte. Es war ein Bild.

Tessa schluckte und öffnete das Bild. Es war ein Standbild aus dem Video, eine der Nahaufnahmen der gefesselten Frau auf dem Bett. Der Absender hatte ein Foto von Tessas Kopf auf den Kopf der Frau gesetzt.

Beinahe hätte Tessa geschrien. Hastig knallte sie ihr Handy auf den Schreibtisch und schnappte nach Luft.

Das war nicht witzig. Alles andere als das. Das musste ein ganz, ganz übler Scherz sein.

Ratlos rieb sie sich die Schläfen. Sie bekam schon wieder Kopfschmerzen. Irgendwie erschienen ihr in dem Moment alle Farben grell, alles war laut und stürzte auf sie ein, obwohl sie bis vorhin noch geglaubt hatte, dass es still und leise in ihrer Wohnung war.

Das konnte doch alles nicht richtig sein. Als sie das Gefühl hatte, dass sich vor ihren Augen alles zu drehen begann, schleppte sie sich ins Bad, holte sich eine Schmerztablette und nahm sie mit einem Schluck Wasser. Doch das Schwindelgefühl blieb.

Tessa wankte zurück ins Schlafzimmer und ließ sich dort auf ihr Bett fallen. Für einen Moment schloss sie die Augen und versuchte, runterzukommen.

Was war nur los mit ihr? Wurde sie krank? Bekam sie etwa ihre Tage?

Tessa rechnete kurz nach und kam zu dem Schluss, dass es das nicht sein konnte. Aber manchmal bekam sie richtige Migräneattacken, wenn es so weit war und fühlte sich überhaupt ganz elend.

Aber das hier war auch anders.

Wollte ihr jemand etwas antun?

Ihre Kopfschmerzen blieben und wenn sie die Augen öffnete, drehte sich alles. Ihr war abwechselnd heiß und kalt. Plötzlich hatte sie das Gefühl, in ihrer Wohnung keine Luft zu bekommen. Kurzerhand sprang sie in ihre Sneaker, griff nach ihrem Schlüssel und verließ die Wohnung.

Sie musste raus. Hoffentlich wurde sie draußen nicht beobachtet. Sie würde spazieren gehen und versuchen, einen klaren Kopf zu bekommen. Vielleicht half das.

Unten angekommen, bereute sie sofort, keine Jacke mitgenommen zu haben. Sie war zwar auch früher oft in San Francisco gewesen, aber jetzt dort zu wohnen, war anders. Direkt an der Küste war es kühl. Sadie hatte das aus Los Angeles nicht berichtet, aber das lag auch sehr viel weiter südlich.

Fröstelnd ging sie mit hastigen Schritten die Straße entlang. Zwei Blocks weiter lag der Brooks Park, eine kleine Grünfläche, die ihr jetzt hoch willkommen schien.

An einem Sonntagmorgen waren dort viele Menschen unterwegs. Junge Mütter mit Kinderwagen, Hundebesitzer mit ihren vierbeinigen Begleitern, Kids auf Skates. Tessa konnte sie schon von weitem sehen. Sie musste nur noch die Straße überqueren und schon war sie am Ziel.

Sie schaute rechts und links und ging über die Straße. Kurz bevor sie auf der anderen Seite war, näherte sich von rechts ein alter Chevy. Den Fahrer tangierte es überhaupt nicht, dass Tessa noch auf der Straße war – im Gegenteil. Er beschleunigte noch und hielt genau auf sie zu. Erst, als er vorüber war, sah Tessa die grölenden Jugendlichen im Fahrzeug.

Fluchend beeilte sie sich, in den Park zu kommen und schaute dem Auto kopfschüttelnd hinterher. Das war alles unheimlich. Konnten das noch Zufälle sein?

Wollte ihr jemand etwas tun?

Dann fiel ihr ein, dass sie ihr Handy vergessen hatte. Mist. Hier draußen hätte sie vielleicht riskieren können, Sadie anzurufen.

Sie wusste nicht, ob es irgendwo ein öffentliches Telefon gab. Davon abgesehen hatte sie weder Sadies Handynummer noch ihre Nummer in Los Angeles im Kopf.

Eigentlich musste sie Sadie über alles in Kenntnis setzen. Kleinlaut, wenn sie an den verpatzten Geburtstag dachte … aber das konnte sie jetzt nicht mehr ändern.

An diese Situation konnte sie sich noch bestens erinnern. Sie war am Abend vorher mit Lindsay feiern und bei ihrer Ankunft zu Hause total scharf gewesen, Lindsay jedoch betrunken und müde. Allerdings hatte Lindsay sie am nächsten Morgen entschädigt, indem sie sie mit Zärtlichkeiten geweckt hatte. Tessa war aufgewacht und hatte Lindsay unter der Bettdecke mit den Lippen an einer wunderbaren Stelle ihres Körpers vorgefunden und hatte, ohne ganz wach zu sein, ihren ersten Höhenflug an diesem Tag erleben dürfen. Die beiden hatten sich ganz hemmungslos ihren Gelüsten hingegeben, gemeinsam geduscht und beim Frühstück hatte Lindsay ihr vorgeschlagen, einen wunderbaren Tag mit ausgedehnten Liebesspielen zu verbringen. Das hatte Tessa Sadie unmöglich sagen können, aber in diesem Moment war sie trotz – oder gerade wegen – des morgendlichen Intermezzos zu begierig gewesen, um noch klar zu denken. Lindsay hatte ihr in schillernden Farben ausgemalt, was sie alles hätten tun können und Tessa hatte es tun wollen. Tun müssen. Sie sagte immer scherzhaft, sie sei triebgesteuerter als jeder Mann.

Tatsächlich hatte Lindsay es ihr so richtig besorgt. Das konnte man nicht anders formulieren.

Nur hatte es dazu geführt, dass sie zu lüstern gewesen war, um die richtige Entscheidung zu treffen. Sie hatte tatsächlich Sadie abgesagt, das Handy weggelegt und erst am Abend wieder in die Hand genommen, als sie mit weichen Knien erneut auf dem Weg in die Dusche gewesen war. Als sie in diesem Moment Sadies Nachricht gelesen hatte, hatte das schlechte Gewissen sie fertig gemacht. Sie hatte neben der Dusche und dem rauschenden Wasser gesessen, die Nachricht angestarrt und sich das Hirn zermartert. Schließlich hatte sie unter dem Wasserstrahl gestanden und sich weiter das Hirn zermartert.

Ihr war nichts eingefallen, was sie zur Wiedergutmachung hätte tun können. Sie hatte Sadie noch nie so angelogen, aber sie fürchtete sich davor, es zu gestehen. Hätte sie schreiben sollen: Ich habe lieber mit meiner neuen Freundin gevögelt? Sorry, bin nicht zu dir gekommen, aber woanders?

Ihr war absolut gar nichts dazu eingefallen. Es wurmte sie auch, dass sie die Nachricht nicht rechtzeitig gesehen hatte, denn sonst hätte sie es sich anders überlegt. Das hätte sie vielleicht wachgerüttelt und sie hätte Sadie doch nicht versetzt.

Dafür schämte sie sich enorm. Und je länger sie darüber nachgedacht hatte, desto heftiger schämte sie sich.

Deshalb traute sie sich irgendwann gar nicht mehr, etwas zu schreiben. Es ging nicht. Sie hatte sich immer vorgenommen, Sadie anzurufen und es zu erklären. Es wieder gut zu machen.

Aber dann hatte sie es vergessen, es war immer peinlicher geworden, ihre Scham immer größer. Sie wusste auch, Sadie hätte ihr bestimmt verziehen, wenn sie es ihr erklärt hätte, aber sie konnte einfach nicht. Die Hemmungen wurden immer größer.

Und in diesem Moment fehlte Sadie ihr so unaussprechlich. Jetzt hätte sie ihre Hilfe gebraucht und irgendwie war sie nicht der Meinung, sie zu verdienen.

Dabei hätte Sadie ihr helfen können. Sie verdiente ihren Lebensunterhalt damit, die Verantwortlichen für solche Videos und ähnlich scheußliche Taten dingfest zu machen. Das alles erschreckte sie wohl längst nicht so wie Tessa.

Weil sie allmählich zu frieren begann, beschloss Tessa, aus dem Park in ihre Wohnung zurückzukehren. Sie war froh, als sie wieder im Haus war. Bevor sie jedoch den Schlüssel ins Schloss steckte, entdeckte sie Kratzspuren am Türrahmen.

Hatte jemand versucht, einzubrechen? Als sie die Tür öffnete, kam ihr erst einmal alles normal vor, doch dann bemerkte sie das Rauschen des Verkehrs und schaute sich um.

Das Fenster über dem Sofa war offen.

Sie begann zu frösteln. Jemand war bei ihr eingebrochen.

Hastig ging sie in die Küche und stellte fest, dass auch dort das Fenster offen stand. Dieses hatte sie aber auch ganz gewiss nicht geöffnet.

Instinktiv tastete sie nach dem großen Fleischmesser im Messerblock und ließ es nicht mehr los, während sie wachsam durch die Wohnung schlich.

Ihr erster Gedanke ging in Richtung USB-Stick. Sofort sah sie auf dem Schreibtisch nach. Er war weg. War es bloß darum gegangen?  

Sie schluckte und ging die ganze Wohnung ab, verriegelte die Eingangstür mit der Kette, überprüfte jedes Fenster. Sogar unters Bett warf sie einen Blick.

Nein, dort lauerte kein Monster und auch sonst niemand.

Jetzt war es so weit. Jetzt wusste sie, warum Sadie eine Zeit lang ihre Dienstwaffe in Reichweite neben ihrem Bett gelagert hatte. Eine Waffe hätte sie jetzt auch beruhigt.

Es half alles nichts. Ohne davon überzeugt zu sein, dass es half, wählte Tessa 911.

 

 

San Francisco, Montag, 2. Juli

 

Die beiden Officers, die am Vorabend zu Tessa gekommen waren, hatten auch die Spurensicherung bestellt. Man hatte Fingerabdrücke am Türrahmen und an den Fenstern genommen und Tessa hatte angegeben, dass nichts fehlte außer einem USB-Stick ungeklärter Herkunft und mit erschreckendem Inhalt. Das alles war aber so vage, dass die Polizisten ihr keine große Hoffnung machten, dass sie etwas finden würden.

Sie würde abwarten.

Nach dem Frühstück machte sie sich auf den Weg zur Arbeit. Wie so oft fuhr sie mit dem Bus. Kaum saß sie darin, kehrten die Kopfschmerzen zurück. Alles erschien ihr grell, laut und bunt.

Was war nur los mit ihr? Wurde sie doch krank? Musste sie vielleicht mal zum Arzt? Wenigstens hatte sie ja jetzt eine gescheite Krankenversicherung.

Es wurde auch nicht besser, als sie am Büro ankam. Es lag ziemlich zentral im Mission District, was ihr gefiel. So war sie wirklich mittendrin. Überhaupt liebte sie es, in San Francisco zu leben, denn die LGBTQ-Szene war nirgends so lebhaft wie hier. In Frisco hatte jede sexuelle Orientierung ihren Platz, es wehten Regenbogenfahnen im Wind, man konnte sich offen zeigen und hatte beste Kontaktchancen. Sie liebte es. Im Büro hatte sie auf Nachfrage, ob sie in einer Beziehung lebte, von ihrer Freundin erzählt und nicht mal ein Wimpernzucken geerntet. Inzwischen wusste sie von zwei weiteren Homosexuellen im Team – eine weitere Lesbe und ein Schwuler, dem man es aber auch gut ansehen konnte. Es war die Art, wie er sich kleidete und bewegte. Er hob sich deutlich von den anderen Männern ab, war aber dabei nicht so anstrengend wie viele andere Schwule, die Tessa kannte.

Es hatte Tessa nie wirklich gestört, lesbisch zu sein, seit sie ihr Coming Out gehabt hatte. In Kalifornien war das einfach kein großes Thema, nicht mal im Hinterland. Trotzdem hatte sie sich schon früh nach Modesto und San Francisco orientiert, um Anschluss an die Szene zu finden. Manchmal fand sie es aber auch anstrengend, dass in der Szene ständig eine aufgeladene Stimmung herrschte – die Möglichkeit, Sex zu haben, lag immer in der Luft. Das war anders als bei Heteros, das hatte sie schon mitbekommen. Frauen und Männer beschnupperten sich, hatten Dates, tasteten sich aneinander heran. Bei Sadie und Matt hatte sie das amüsiert beobachtet. Aber in ihrer Szene war das anders. War man sich sympathisch, stand schnell die Frage im Raum, zu wem man ging und was man dann dort miteinander machte. Manchmal hatte sie darauf überhaupt keine Lust und genoss es deshalb immer wieder, Sadie und ihre Familie in Waterford zu besuchen, denn dort waren alle durch und durch hetero, unaufgeregt, hatten kleine Kinder und waren so normal, wie man nur sein konnte.

Während sie mit Brummschädel vor ihrem Bildschirm saß, dachte sie reuig an Sadie – und Hayley. Sie hatte Sadies süße kleine Tochter seit Weihnachten nicht mehr gesehen, sie wurde in wenigen Wochen ein Jahr alt.

Nach Feierabend würde sie es noch einmal bei Sadie versuchen und ihr von allem erzählen. Die Mittagspause war keine gute Idee, denn Tessa wusste gar nicht genau, wann Sadies Pause war und ob sie dann überhaupt Zeit hatte.

Wenigstens kam ihnen ja keine Zeitverschiebung mehr in die Quere. Die zwei Male, die Sadie an der Ostküste gelebt hatte, waren Tessa wirklich zuwider gewesen. Lästig.

Die Kopfschmerzen machten sie irre. Sie fühlte sich völlig überreizt, starrte gedankenlos ihren Bildschirm an und hatte irgendwann vergessen, wofür sie den VPN-Client gestartet hatte. Das Teammeeting um elf rauschte ziemlich an ihr vorbei.

„Du siehst echt fertig aus“, sagte entsprechend Carlos zu ihr, als sie fertig waren und ins Büro zurückkehrten.

„Ich glaube, ich werde krank“, murmelte Tessa. „Natürlich vor meinem ersten Urlaub …“

„Natürlich“, erwiderte Carlos süffisant. „Ist doch immer so.“

„Ich werde meine Kopfschmerzen einfach nicht los.“

„Kann ich dir eine Tablette anbieten?“

„Was hast du dabei?“, fragte Tessa.

„Ibuprofen.“

„Perfekt. Würde ich nehmen“, sagte sie dankbar.

Er nickte und kam zwei Minuten später mit einer Tablette in der Hand zurück. Tessa schluckte die Pille und bedankte sich herzlich bei ihm. Carlos war, so wie sie, ein frischer Absolvent und der Sohn mexikanischer Einwanderer. Er war clever, freundlich und fleißig. Tessa schätzte ihn sehr.

Zu ihrer Erleichterung begann die Tablette nach einer halben Stunde zu wirken. Endlich ließen die dröhnenden und hämmernden Kopfschmerzen etwas nach und pünktlich zur Mittagspause kehrte auch ihr Appetit wieder zurück. Trotzdem hatte sie das Gefühl, immer noch einen Tunnelblick zu haben.

„Fertig?“, riss Carlos sie aus ihren Gedanken.

„Jep“, erwiderte sie und versuchte, möglichst unbefangen zu klingen. Sie verzichtete darauf, auf dem Weg zu Subway eine Jacke anzuziehen. Der Sandwichladen lag nicht weit entfernt und außerdem war das Wetter toll.

Zwei weitere Kollegen schlossen sich ihnen an. Sie gingen oft zu Subway, Tessas Punktekarte wies inzwischen ein prall gefülltes Konto auf. Für die Mittagspause war das eine gute Sache.

Sammy und Linda unterhielten sich auch unterwegs noch über die Arbeit, während Carlos und Tessa schweigend nebeneinander her trotteten und sich die Sonne auf den Pelz brennen ließen. Erst nach ein paar Minuten sprach Carlos sie wieder an.

„Wohin soll der Urlaub gehen?“

„Lake Tahoe“, erwiderte Tessa knapp.

„Oh, der ist schön. Wunderschön. Da wünsche ich euch viel Spaß!“

Tessa wollte schon etwas erwidern, aber da hörte sie hinter sich eine Stimme.

„Du“, rief jemand. Erst interessierte sie sich nicht dafür, aber die Person ließ sich nicht davon abbringen.

„Du da!“

Es war ein Mann. Er wiederholte die Worte mehrmals, bis er genauer wurde.

„Du mit den kurzen dunklen Haaren und dem roten T-Shirt“, sagte er. Tessa drehte sich misstrauisch um. Ein normal aussehender junger Mann, der ihr mit schnellen Schritten folgte. Irgendetwas daran machte ihr Angst.

„Bleib doch mal stehen“, rief er.

Doch Tessa wollte nicht stehen bleiben. Da war ein Fremder, der etwas von ihr wollte. Aber was?

Er hielt etwas in der Hand. War das eine Waffe?

„Lass mich in Ruhe“, rief sie und wollte hastig die Straße überqueren. Dabei übersah sie jedoch den SUV, der aus einer Parklücke ausparkte und losfuhr. Während Tessa sich noch nervös umdrehte, um zu sehen, ob sie weiter verfolgt wurde, stieg der Fahrer des Wagens auf die Bremsen und kam mit quietschenden Reifen zum Stehen. Allerdings zu spät, denn Tessa wurde von der Motorhaube gerammt und ging einfach zu Boden. Sie war mit dem Kopf irgendwo gegen geprallt und spürte Blut. Vor ihrem Augen drehte sich alles, dann verlor sie das Bewusstsein.

 

 

San Francisco, Dienstag, 3. Juli

 

„Jetzt sag mir mal, was hier los ist“, fragte Tessa, den Tränen nah. „Ich versteh die Welt nicht mehr, Sadie. Seit ich mir dieses Video angesehen habe, entgleist mir alles! Der Doc glaubt ja, ich bin auf Droge und schiebe einen Trip. Aber ich nehme keine Drogen, Sadie! Habe ich auch noch nie. Ich trinke, das gebe ich zu. Ich hatte auch schon Filmrisse. Aber Drogen?“

„Und wenn du es nicht mehr weißt?“, fragte Sadie ohne jeden Vorwurf.

„Wirke ich auf dich, als wäre ich stoned?“

„Ehrlich gesagt nicht“, musste Sadie zugeben.

„Ich dachte gestern, der Typ verfolgt mich und will mir was! Dabei ist mir bloß mein Portemonnaie aus der Tasche gefallen und er wollte es mir zurückgeben. Nett eigentlich. Aber anstatt mich zu freuen, kriege ich Panik, renne vor ein Auto und glaube dann auch erst noch, man hätte versucht, mich zu überfahren …“

„Ganz nüchtern betrachtet klingt das für mich schon ein wenig nach einem Trip“, sagte Sadie vorsichtig. „Oder was denkst du?“

„Kann ja sein, aber wie sollen die Drogen in mich reingekommen sein?“

„Vielleicht weißt du nichts davon.“

„Man merkt doch, ob man stoned ist“, behauptete Tessa.

„Weiß ich nicht, ich war noch nie stoned. Ich kann nur was zu einer Überdosis Benzos sagen, das ist nicht schön … zu dem Rest müsste ich Matt fragen.“

„Benzos?“, überlegte Tessa kurz, aber dann zeichnete sich an ihrem Blick die Erkenntnis ab. „Ich weiß. Stacy.“

Sadie nickte. „Seitdem habe ich keine starken Medikamente mehr im Haus.“

„Und Matt? Er hat gekokst, oder?“

„Ja, bei seinem ersten Undercoverjob. Um nicht aufzufliegen. Er war noch high, als er nach Hause kam. Das war nicht zu übersehen.“

„Hm“, machte Tessa. „Ich hatte am Wochenende dauernd Kopfweh, aber stoned war ich nicht.“

„Ich kann gleich gern mal in deine Wohnung gehen und mir alles ansehen“, schlug Sadie vor. „Wenn du magst, spreche ich auch mit der Polizei, die wegen des Einbruchs bei dir war. Vielleicht haben sie ja schon was zu den Fingerabdrücken. Und du bist sicher, dass es nichts mit den Neumaniacs zu tun hat?“

„Nein, sicher nicht, das ist einfach nicht ihr Stil. Ich weiß nicht, was hier los ist! Wer auch immer mich da bedroht, ich hatte die ganze Zeit so ein komisches Gefühl. Als ich dich kontaktieren wollte, rief diese Person mich gleich an. Es war irgendwie, als würde ich beobachtet! Ich bin ja in meiner eigenen Wohnung nicht mehr sicher! Diese Person kriegt doch mit, wenn du in meine Wohnung gehst ...“

„Ja und? Du hast gestern nach meiner Dienstwaffe gefragt. Ich hab mir auch in England eine geliehen. Wenn ich hier eine brauche, kriege ich auch eine“, erwiderte Sadie unbeeindruckt.

„Okay … das macht dir also alles keine Angst?“, fragte Tessa hoffnungsvoll.

Sadie schüttelte den Kopf. „Hast du vergessen, dass ich normalerweise Serienkiller jage? Brian Leigh hat auch versucht, mich einzuschüchtern. Wenn ich jedes Mal kalte Füße kriege, weil mir einer dumm kommt, kann ich ja nicht mehr arbeiten.“

„Ja, schon klar …“

„Du hast ganz Recht, Tessa. Wenn das Video echt ist, und davon müssen wir ja bei der aktuellen Sachlage ausgehen, dann sieht man darauf einen Mord. Die Drohungen sprechen dafür. Ich bin Bundesbeamtin, ich muss der Sache nachgehen.“

„Ich weiß … deshalb wollte ich dich auch anrufen“, sagte Tessa. „Ich hätte es tun sollen, aber ich habe mich nicht getraut … ich dachte, ich verdiene deine Hilfe nicht.“

„Warum denn das?“, fragte Sadie irritiert.

„Ich stand an deinem Geburtstag neben mir“, begann Tessa kleinlaut. „Am Vorabend war ich mit Lindsay feiern, wir hatten getrunken und wir hatten Sex. Geweckt hat sie mich auch so … Details willst du nicht, aber als sie fertig war und mit Dackelblick sagte, ich soll an diesem Tag nicht weggehen, setzte bei mir was aus. Ich hab über eine Stunde überlegt und dachte mir, ich mache es bei dir wieder gut. Ich biete dir was an. Dann hab ich dir geschrieben und als deine Antwort kam, wusste ich, das war scheiße von mir. Aber dann … es war zu spät. Ich habe mich geschämt, es tat mir leid. Ich hab die ganze Zeit überlegt, wie ich das retten soll, aber …“ Tessa schüttelte den Kopf. „Sorry, Sadie. Ich wünschte, ich hätte da anders entschieden. Du bist meine beste Freundin und hattest das nicht verdient.“

Mit dieser Offenbarung hatte Sadie nicht gerechnet. Sie schluckte und brauchte einen Moment, um sich zu sammeln.

„Also war das mit der Migräne nur eine Ausrede“, stellte sie fest.

„Ja … es tut mir leid. Aber … warst du schon mal so scharf, dass du an nichts anderes mehr denken konntest?“

Ohne mit der Wimper zu zucken, sagte Sadie: „Natürlich. Und nicht bloß, bis mir Sean begegnet ist.“

Tessa schluckte. „Sadie, ich … Es tut mir leid, ich wollte dich nicht verletzen.“

„Hast du nicht, aber du unterschätzt mich wohl auch etwas.“

„Es tut mir leid … alles tut mir leid.“

„Ja, schon gut. Hör auf damit. Wir haben hier ein ganz anderes Problem. Du hast etwas gesehen, das du nicht sehen solltest. Das ist wohl aus Versehen bei dir gelandet und ganz offensichtlich ist man bei dir eingebrochen, um den Stick zurückzuholen. Dieses Beweismittel ist also vorerst für uns verloren. Aber wie konnte das passieren?“

„Ich weiß es nicht, Sadie. Ehrlich. Darüber habe ich schon die ganze Zeit nachgedacht“, murmelte Tessa.

„Du sagtest doch, man hat dir ein Bild aufs Handy geschickt. Zeig mir das doch für den Anfang.“

„Oh, klar.“ Tessa griff nach ihrem Handy, um die Nachrichten herauszusuchen. Dann hielt sie erst inne, um danach ziemlich hektisch zu werden.

„Es ist weg.“

„Was heißt das, es ist weg?“, fragte Sadie stirnrunzelnd.

„Es ist weg! Jemand hat die Nachricht und das Foto gelöscht …“

Das verstand Sadie zwar nicht, aber sie bat Tessa um das Handy und ging dann selbst noch einmal alles durch. Aber es stimmte, es war nichts von dem zu sehen, was Tessa berichtet hatte.

„Das ist doch Schwachsinn!“, regte Tessa sich auf. „Das war da, Sadie. Ich bilde mir das nicht ein …“

„Das sagt doch auch niemand“, versuchte Sadie, ihre Freundin zu beruhigen. „Soll ich gleich mal in deine Wohnung gehen und mir alles ansehen?“

„Ja, bitte … Dort musst du ja alles finden“, sagte Tessa hoffnungsvoll.

„Gut. Dann sag mir mal, wo ich hin muss.“

Tessa erklärte ihr den Weg und gab ihr den Schlüssel, bevor sie Sadie beschrieb, wo sie die verdächtigen Dinge finden würde. Sadie machte sich auf den Weg und nahm den Bus und die Metro, wie Tessa es ihr empfohlen hatte. Eine knappe Dreiviertelstunde später schloss sie Tessas Wohnungstür in einem verhältnismäßig neuen Apartmentkomplex auf und inspizierte dann gleich den Türrahmen und das Schloss.

Ja, die Einbruchsspuren waren unverkennbar, ebenso das Fingerabdruckpulver der Polizei. Die Reste waren immer noch zu sehen.

Sadie betrat die Wohnung, schloss die Tür hinter sich und schaute sich um. Ja, das war Tessas Wohnung, sie erkannte einige Möbel wieder und überhaupt Tessas Stil. Nihilistisch, modern, clean. Und das lag nicht daran, dass sie gerade erst eingezogen war. Die Luft war jedoch furchtbar abgestanden.

Zuerst ging sie in die Küche und nahm das dortige Fenster unter die Lupe. Dort waren keine Einbruchsspuren erkennbar, ebensowenig wie an dem Fenster über dem Sofa, das sie anschließend inspizierte.

Tessa hatte von einem Luftpolsterumschlag auf dem Couchtisch gesprochen. Den konnte Sadie nicht finden, dafür aber eine leere Tequilaflasche und ein ebenfalls leeres Glas daneben. Das Bett war zerwühlt, in der Küche war ihr der Müll vom Essen aufgefallen. Tessa hatte sich tatsächlich etwas beim Koreaner geholt.

Sadie spähte kurz ins Bad. Am Waschbeckenrand lag ein umgestürztes Pillenröhrchen, einige Pillen hatten sich ins Waschbecken ergossen und waren dort aufgeweicht. Das Schild verriet ihr, dass es sich dabei um Schlaftabletten handelte.

Irritiert legte sie die Stirn in Falten und schaute weiter. Im Schlafzimmer lag ein Slip auf dem Boden vor der Wäschebox, ein BH daneben, Socken vor dem Bett. Es sah insgesamt etwas unaufgeräumt aus.

Aber deshalb war sie ja nicht hier. Unverzagt warf Sadie einen Blick in den Papierkorb. Dort war auch kein Luftpolsterumschlag.

Sadie untersuchte den Schreibtisch. Ja, er hatte seine chaotischen Ecken, so wie es das bei Tessa immer gegeben hatte, aber dort war nichts Verdächtiges zu finden. Dafür hatte sich vor der Tastatur ein Colafleck ausgebreitet und war getrocknet. Er war furchtbar klebrig.

Auch das war merkwürdig. Normalerweise ließ Tessa keine Getränke in die Nähe ihrer Tastatur. Zu denken gaben ihr auch die leere Tequilaflasche und die Schlaftabletten im Bad. Alkohol und Schlafmittel, das war keine gute Kombination.

So weh es ihr tat, aber sie konnte die Diagnose des Arztes nicht anzweifeln. Im Gegenteil. Sie begab sich auf die Suche nach Drogen. Dazu schaute sie in Tessas Nachttisch, in ihre Unterwäscheschublade, suchte an allen erdenklichen anderen Orten. Fündig wurde sie auf dem Couchtisch, dort entdeckte sie bei genauem Hinsehen etwas, das wie der Pulverrest einer Line aussah.

Tessa log sie an. Und Sadie hatte keine Ahnung, ob ihr das bewusst war.

Sie intensivierte ihre Suche und entdeckte einen Schuhkarton unter dem Bett. Als sie ihn öffnete, fand sie darin jedoch nur Sexspielzeug und war für einen Moment peinlich berührt. Beim Anblick einiger Utensilien für Fesselspiele schluckte sie kurz, rief sich dann aber zur Ordnung. Ihre persönlichen Maßstäbe waren hier gerade fehl am Platz.

Sie stellte den Schuhkarton genau so wieder hin, wie sie ihn vorgefunden hatte, und suchte weiter. Drogenbriefchen waren klein und konnten in jedem Spalt stecken.

Doch sie fand nichts. Schließlich nahm sie noch einmal die Küche unter die Lupe. Als sie den Kühlschrank öffnete, fand sie ihn bis auf ein schimmliges Stück Zucchini, einem Kanister ranzig riechender Milch und zwei Energydrinks leer vor.

Und das, wo Tessa doch laut eigener Aussage so verfressen war.

Das gefiel ihr alles überhaupt nicht.

Tessa hatte gesagt, dass sie sich beobachtet vorgekommen war. Erneut ging Sadie auf die Suche. Vielleicht entdeckte sie irgendwo eine Kamera oder ein Mikrofon.

Doch so sehr sie auch suchte, sie konnte nichts finden. Nichts in dieser Wohnung wies auf Tessas Bericht hin. Beunruhigender fand Sadie jedoch den leeren Tequila, die Pillen und die Pulverreste.

Sie packte die paar Sachen ein, um die Tessa sie gebeten hatte, und verließ die Wohnung dann ernüchtert. Auf die bevorstehende Unterhaltung freute sie sich überhaupt nicht. Während der Rückfahrt überlegte sie, wie sie es Tessa sagen sollte.

Das alles ergab ein schlüssiges Bild. Vermutlich nahm Tessa Drogen, seit sie mit Lindsay zusammen war. Das hätte auch den Aussetzer an Sadies Geburtstag erklärt.

Sie spürte Beklemmungen in der Brust, als sie darüber nachdachte. Wenn jetzt noch die Ergebnisse des Tox-Screenings kamen …

Nicht gut. Gar nicht gut.

Sie hatte es nicht eilig, zum Krankenhaus zurückzukommen. Es war noch nicht elf, als sie wieder dort war und Tessas Zimmer betrat. Ihre Freundin saß im Schneidersitz auf dem Bett und Sadie nahm daneben Platz.

„Den Luftpolsterumschlag, von dem du gesprochen hast, konnte ich nicht finden“, sagte Sadie. „Dafür sah alles etwas unaufgeräumt aus. Außerdem war da eine leere Flasche Tequila.“

„Leer?“, fragte Tessa. „Wo?“

„Auf dem Couchtisch.“

„Wie? Die habe ich Freitag aufgemacht und ein Glas daraus genommen!“

„Sie war leer“, wiederholte Sadie.

„Aber … das kann nicht sein! Sadie, ich lüge dich nicht an“, sagte Tessa verzweifelt. „Irgend jemand will mich fertig machen! Dieses Video … da war eine Frau ans Bett gefesselt. Sie hatten sie geknebelt, damit sie nicht schreit, wenn sie sie misshandeln! Es war furchtbar. Das muss ich dir doch nicht erklären, oder?“

Sadie wusste, Tessa hatte es nicht so gemeint, aber das saß trotzdem wie ein Faustschlag in den Magen.

„Nein, musst du nicht. Ich weiß gut genug, wie so etwas aussieht“, sagte sie gepresst.

„Sadie, das war Mord.“

„Schon klar. Aber wie kann das sein? In deinem Bad waren Schlaftabletten. Sie sind ins Waschbecken gefallen und aufgeweicht.“

„Was? Wie? Ich hab doch gar keine genommen“, sagte Tessa verwirrt.

In diesem Moment klopfte es an der Tür und herein kam der Arzt, den Sadie schon am Vorabend gesehen hatte. Er fragte Tessa, ob Sadie bleiben sollte, und Tessa bejahte.

„Wir haben die Ergebnisse des Tox-Screenings bekommen“, sagte er verheißungsvoll und blickte auf das Blatt Papier in seiner Hand.

„Und?“, fragte Tessa gespannt.

„Positiv auf Amphetamine, Betäubungsmittel und Spuren von Restalkohol“, sagte er.

„Was? Das kann nicht sein. Ich nehme doch nichts!“, rief Tessa aufgebracht.

Der Arzt seufzte. „Es hilft nicht, wenn Sie Ihren Drogenkonsum vor sich selbst verleugnen, Miss Henderson. Unser Labor weiß, was es tut.“

„Ich hab nicht …“ Tessa hob hilflos die Hände.

„Überlegen Sie in Ruhe, was Sie tun wollen. Sprechen Sie mit Ihrer Freundin“, schlug der Arzt vor. „Für mich ergibt das ein plausibles Bild. Es ist nicht das erste Mal, dass jemand am Wochenende über die Stränge geschlagen hat und bei uns gelandet ist. Filmrisse kommen vor. Paranoia auch. Sehen Sie es als Warnsignal, Ihren Konsum zu überdenken.“

„Was soll das denn heißen?“, rief Tessa gereizt.

„Ich werde Sie jetzt erst mal in Ruhe lassen, dann können Sie überlegen, wie Sie vorgehen wollen. Sie finden hier bei uns auch Hilfe.“

„Ja, toll“, knurrte Tessa ungehalten.

„Ich sehe später noch mal nach Ihnen.“

„Tun Sie, was Sie nicht lassen können.“ Während der Arzt wieder hinausging, tötete Tessa ihn mit Blicken. Das hätte Sadie fast komisch gefunden, wäre die Situation nicht so ernst gewesen.

„Amphetamine“, murmelte sie. „Speed … das kann durchaus solche psychischen Zustände auslösen.“

„Ich bin in keinem psychischen Zustand!“, rief Tessa. „Ich bin bedroht worden, Sadie.“

Sadie seufzte tief. „Tessa … du weißt, ich habe Psychologie studiert. Kriminologie. Ich bin Profilerin. Du kannst ruhig ehrlich zu mir sein, alles andere ist nämlich sinnlos. Ich habe Spuren von Drogen bei dir gefunden, eine leere Flasche Tequila, Tabletten. Die Wohnung war leicht chaotisch.“

„Was soll das denn wieder heißen?“, schnappte Tessa.

„Herumliegende Wäsche, schimmliges Essen im Kühlschrank. Der war fast leer.“

„Du guckst in meinen Kühlschrank? Verdammt, Sadie, was soll das denn? Was hast du an meinem Kühlschrank verloren?“

„Jetzt beruhige dich, Tessa, ich bin nicht dein Feind. Ich will dir wirklich helfen, aber du musst auch mitmachen“, sagte Sadie ruhig.

„Du solltest mich besser kennen, Sadie Whitman! Ich habe in meinem Leben noch keine Drogen genommen!“

„Das Tox-Screening vorhin sagte etwas Anderes.“

„Ja, aber …“ Tessa suchte nach Worten. „Irgendjemand spielt hier ein falsches Spiel mit mir, Sadie. Ich bilde mir das nicht ein. Ich habe das Video gesehen und nein, ich habe den Tequila nicht geleert! Warum glaubst du mir denn nicht?“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739419381
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (August)
Schlagworte
Profiler Freundschaft Thriller Verrat Krimi Spannung Drogen FBI Psychothriller Ermittler

Autor

  • Dania Dicken (Autor:in)

Dania Dicken, Jahrgang 1985, schreibt seit der Kindheit. Die in Krefeld lebende Autorin hat in Duisburg Psychologie und Informatik studiert und als Online-Redakteurin gearbeitet. Mit den Grundlagen aus dem Psychologiestudium setzte sie ein langgehegtes Vorhaben in die Tat um und schreibt seitdem Psychothriller mit Profiling als zentralem Thema. 2014 hat sie ihre ersten Psychothriller und Fantasyromane im Selfpublishing veröffentlicht; die Profiler-Reihe erschien neu bei Bastei Lübbe.
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Titel: Die Seele des Bösen - Falsches Spiel