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Die Seele des Bösen – Tödliche Rituale

Sadie Scott 18

von Dania Dicken (Autor:in)
280 Seiten
Reihe: Sadie Scott, Band 18

Zusammenfassung

Nachdem Sadie und Matt dem FBI den Rücken gekehrt haben und nach Pleasanton gezogen sind, haben sie dort Fuß gefasst: Sadie unterrichtet die Profiler von morgen an der Universität in San Francisco und ist inzwischen eine renommierte Gutachterin, während Matt sich einen Namen als Fotograf macht. Auch ihre Adoptivtochter Libby fühlt sich wohl in der Bay Area: Die inzwischen Neunzehnjährige besucht mit ihrem Freund Kieran die San José State University. Als Kieran sie mit seinem Wunsch konfrontiert, Mitglied in einer Studentenverbindung zu werden, ist Libby zunächst skeptisch. Tatsächlich wird Kieran schon bald nach seiner Aufnahme mit einem düsteren Geheimnis konfrontiert und versucht, die Wahrheit herauszufinden. Libby rät ihm, Sadie und Matt um Hilfe zu bitten, doch dazu kommt es nicht mehr …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Samstag, 9. Oktober

 

Mit einer Mischung aus Freude und Aufregung drückte Sadie auf die Klingel und blickte hinunter zu Hayley, die ihre Hand hielt und mit großen Augen zu ihr empor schaute.

„Du weißt ja: Ganz vorsichtig sein“, erinnerte Sadie ihre Tochter, die eifrig nickte. Matt strich Hayley lächelnd über den Kopf und Libby steckte gerade rechtzeitig ihr Handy weg, als Jason auch schon die Tür öffnete und alle hereinbat.

„Wie schön, dass ihr gekommen seid.” Nacheinander umarmte er sie zur Begrüßung. „Ich freue mich, euch wiederzusehen!“

„Ich mich auch“, sagte Sadie.

„Du bist richtig erwachsen geworden“, sagte Jason zu Libby. Zu Cassandra und Jason hatte Libby immer ein gutes Verhältnis gehabt, seit sie für ein paar Wochen bei ihnen gewohnt hatte, als Sadie und Matt aufgrund von Sadies Schussverletzung in Europa geblieben waren.

„Wie geht es euch?“, erkundigte Matt sich.

„Müde“, erwiderte Jason lachend. „Aber es ist grandios. Kommt, ich bringe euch zu Cassie und Ethan.“

Die Gäste folgten Jason ins Wohnzimmer, wo Cassandra gerade mit ihrem winzigen Sohn im Arm auf dem Sofa saß und ihn leise summend wiegte. Sadie fiel sofort auf, wie müde auch Cassandra aussah, aber das überraschte sie nicht. Leise gingen sie zu den beiden und nahmen auf dem Sofa Platz. Ethan war gerade eingeschlafen und als Cassandra sicher war, dass sich das nicht ändern würde, reichte sie ihn Sadie, die den kleinen Säugling vorsichtig auf den Arm nahm und sanft weiter wiegte.

Er hatte dichtes, dunkles Haar und auch seine Gesichtszüge erinnerten eher an seinen Vater, der sich zu Cassandra setzte und seinen Arm um sie legte. Sadie strich über den weichen Flaum auf dem Kopf des Babys und lächelte.

„Er duftet noch so herrlich, wie nur kleine Babys duften“, sagte sie.

„Ich liebe das auch“, sagte Cassandra verträumt. „Davon kriege ich überhaupt nicht genug!“

Matt überreichte den frischgebackenen Eltern das Geschenk, worüber sie sich sehr freuten. Sadie hatte mit Libbys Hilfe ein Baby-Überraschungspaket mit Kleidung, Spielzeug und Plegeprodukten gepackt, das sehr willkommen war. Schließlich reichte Sadie den Kleinen an Libby weiter, neben der Hayley saß und einen langen Hals machte, um möglichst viel von dem Baby sehen zu können. Sie war inzwischen vier Jahre alt, hatte vor zwei Monaten Geburtstag gefeiert und war ein neugieriges und aufgewecktes Kind. Hayley war völlig entzückt und wollte den Kleinen auch mal halten, wogegen seine Eltern nichts einzuwenden hatten.

Nachdem Matt ihn auch einmal gehalten hatte, ging er Jason auf der Terrasse bei den Grillvorbereitungen zur Hand. Ethan lag in seinem Stubenwagen und Libby begleitete Hayley zum Spielen in den kleinen Garten, während Sadie bei der sichtlich blassen Cassandra auf dem Sofa sitzen blieb.

„Ich hoffe, wir fallen euch jetzt nicht zur Last“, sagte Sadie.

„Nein, nicht doch“, erwiderte Cassandra kopfschüttelnd. „Ich freue mich, dass ihr gekommen seid. Ich bin vielleicht gerade nicht die beste Gastgeberin, aber Jason ist ja auch noch da.“

„Ich erinnere mich noch gut daran, wie man sich fühlt. Bei mir war es so, als hätte mich ein Laster überfahren.“

„Das kommt der Sache ziemlich nah. Inzwischen merke ich den Blutverlust, aber seit ich Eisentabletten nehme, geht es besser.“

„Die Geburt ist vier Tage her! Du darfst nicht zu viel von dir erwarten.“

„Ich weiß, aber du kennst mich. Manchmal habe ich einen fatalen Hang zum Perfektionismus. Und nachdem es ja erst hieß, wir könnten froh sein, wenn es überhaupt klappt …“

Sadie erinnerte sich daran, wie Cassandra ihr bei ihrer Hochzeit vor anderthalb Jahren etwas beschwipst davon erzählt hatte, dass sie schon länger versuchte, schwanger zu werden und man mehr zufällig festgestellt hatte, dass sie unter Endometriose litt. Voller Hoffnung hatte sie sich operieren lassen, aber der erhoffte Erfolg war weiterhin ausgeblieben. Sie hatte versucht, sich damit zu trösten, dass sie inzwischen Leiterin des Profiler-Teams war, denn die Arbeit gab ihr sehr viel. Aber dann hatte sie mit Jason ihren Weihnachtsurlaub in der Karibik verbracht und dort hatte es endlich geklappt. Zwischendurch hatte Cassandra sich Sadie anvertraut, weil sie in ihrer Freundin eine gute Ratgeberin in solchen Dingen wusste und Sadie hatte immer versucht, ihr Mut zu machen und ihre Ängste ernst genommen. Umso glücklicher stimmte es sie jetzt, zu sehen, dass Cassandras Wunsch in Erfüllung gegangen war.

„Euer Sohn ist wirklich ein wunderschönes Kind“, sagte Sadie.

„Ich liebe ihn auch sehr. Es ist ja verrückt, da ist plötzlich ein neuer, fremder Mensch, aber man liebt ihn sofort und will ihn beschützen“, sagte Cassandra und seufzte nachdenklich. „Ich bin übrigens froh, dass ich auf dich gehört habe und für die Geburt auch nach Santa Monica gegangen bin.“

„Das freut mich“, sagte Sadie ehrlich.

„Es hat mich immer beeindruckt, welche Stärke du nach Hayleys Geburt ausgestrahlt hast. Das hat dich verändert. Jetzt weiß ich, wie sich das anfühlt. Wenn ich mal überlege, dass ich nach der Sache mit Whittaker erst gar nicht über Familie nachdenken wollte und später immer dachte, ich schaffe das bloß, indem ich einen Kaiserschnitt machen lasse …“

Wortlos griff Sadie nach Cassandras Hand. In dieser Beziehung verstanden sie sich ohne Worte. Zwischendurch wachte Ethan auf, so dass Cassandra ihn aus seinem Bettchen nahm und summend in den Armen wiegte, während sie ihn stillte. Das zu sehen, rief Erinnerungen in Sadie wach. Gedankenverloren beobachtete sie Hayley, die mit ihrer älteren Schwester im Garten spielte. Inzwischen hatte Hayley langes blondes Haar, das sie zu zwei Zöpfen gebunden trug. Sie war ein richtiger Wildfang, aber das gefiel Sadie. Sie war als Kind ganz anders gewesen und freute sich, dass ihre Tochter viel fröhlicher war.

Nach dem Stillen wechselte Cassandra die Windel ihres Sohnes, wobei Sadie ihr wie selbstverständlich zur Hand ging. Anschließend wiegte Cassandra den Kleinen wieder in den Schlaf und als er wieder selig schlummerte, gesellten die beiden sich zu den anderen in den Garten.

Libby saß etwas abseits auf einer kleinen Mauer und tippte eifrig auf ihrem Handy. Inzwischen unterschied sie sich nicht mehr von Gleichaltrigen. Man merkte ihr nicht länger an, dass sie vor fünf Jahren aus einer Sekte geflohen war. Sie trug hautenge Kleidung, trat selbstbewusst auf und schrieb, so vermutete Sadie, heißblütige Nachrichten an ihren Freund. Aber Sadie freute sich darüber, denn sie hätte es traurig gefunden, hätte Libby sich verhalten wie sie selbst in diesem Alter.

Jason erzählte davon, wie sehr er sich darauf freute, im Anschluss an Cassandra, die sechs Monate zu Hause bleiben würde, ebenfalls ein halbes Jahr mit seinem Sohn zu verbringen. Matt beglückwünschte ihn zu dieser Entscheidung, während er hinüber zu Hayley schielte und zufrieden lächelte. Sadie wusste, wie sehr er seine Tochter vergötterte. Er hatte mal gesagt, dass sie ihm das Leben gerettet hatte und Sadie wusste, dass es stimmte. Sie war froh darüber.

„Du gehst jetzt zur Uni, habe ich gehört“, richtete Jason sich an Libby.

„Ja, ich habe gerade angefangen“, erwiderte sie knapp.

„Was studierst du denn?“

„Erziehungswissenschaften in San José. Das macht Spaß. Ich habe auf ein eigenes Auto gespart, mit dem ich jetzt immer zur Uni fahren kann, denn ich wohne nicht am Campus. Viel zu teuer.“

„Du hast auch gesagt, dass du gern bei uns wohnen bleiben möchtest“, warf Matt von der Seite ein.

„Klar, das auch. Du würdest mir sonst viel zu sehr fehlen“, sagte Libby mit Blick auf Hayley. Die Kleine grinste breit.

Die ganze Wahrheit sah etwas anders aus: Sadie und Matt hätten es Libby gern ermöglicht, nach San José zu ziehen, aber seit Matts Prozess zwei Jahre zuvor war es finanziell einfach nicht drin. Sie beteiligten sich an den Studiengebühren und am Wochenende jobbte Libby, um ihren Eltern nicht bloß auf der Tasche zu liegen und das Auto unterhalten zu können, aber ein Studentenzimmer oder eine Wohnung in San José war einfach zu teuer. Libby legte aber tatsächlich auch keinen Wert darauf. San José lag eine halbe Autostunde entfernt und so pendelte sie nun dorthin. Die meisten ihrer Kommilitonen lebten in der Nähe der Uni, weshalb sie fast eine Außenseiterin war, aber damit kam sie zurecht.

Dafür war sie mit jemandem an die Uni gegangen, der immer hinter ihr stand: Ihr Freund Kieran, den sie an der High School in Pleasanton kennengelernt hatte, hatte dort ebenfalls gerade mit seinem Studium der Luft- und Raumfahrttechnik begonnen. Er pendelte ebenfalls noch von Pleasanton an die Uni, beabsichtigte aber, nach San José zu ziehen. Nun überlegte Libby, ob sie vielleicht mit ihm zusammen ziehen sollte, aber sie war sich nicht sicher.

Danach erkundigte Cassandra sich, der Sadie erzählt hatte, dass Libby inzwischen einen Freund hatte. Kieran war ihr erster Freund, er kannte Libbys Hintergrund und störte sich überhaupt nicht daran.

„Und wie läuft es bei dir beruflich?“, erkundigte Jason sich bei Matt.

„Ich kann nicht klagen. Ich bin immer gut ausgelastet. Vom Verlag in San Francisco bekomme ich regelmäßig Aufträge und auch sonst hat es sich wohl inzwischen herumgesprochen, dass ich ganz brauchbare Fotos mache. Finanziell ist es zwar nicht mehr so luxuriös wie früher, aber ich habe viel Zeit für die Familie. Wir kommen gut zurecht.“

„Du siehst auch sehr zufrieden aus, wenn ich das mal so sagen darf“, stellte Jason fest.

„Bin ich auch. Tatsächlich vermisse ich die Ermittlungsarbeit kein bisschen.“

„Das kann ich verstehen, du musstest auch einiges wegstecken.“

„Das ist wahr, aber ich habe das Gefühl, dass meine Sehprobleme nachlassen. Damit hat zwar keiner gerechnet, aber es ist verdammt beruhigend.“

„Das glaube ich dir. Und wie ist es so an der Uni, Sadie? Gefällt es dir immer noch?“, fragte Jason.

„Sehr sogar“, sagte Sadie. „Tatsächlich macht es verdammt viel Spaß, sich bloß mit der Theorie zu befassen. Ich habe engagierte und neugierige Studenten … die meisten zumindest. Und ich bin inzwischen auch eine gefürchtete Gerichtsgutachterin.“

„Das warst du doch früher schon“, sagte Cassandra. „Ich glaube, ich vertrete dich da aber ganz würdig.“

„Davon bin ich überzeugt“, sagte Sadie. „Wobei ich zugeben muss, dass unsere Zusammenarbeit mir immer noch manchmal fehlt. Die Arbeit an der Uni ist anders, da arbeite ich nicht so im Team wie früher bei euch. Das ist manchmal schade. Wie läuft es denn bei euch?“

„Gut“, sagte Cassandra. „Kurz bevor ich meinen Mutterschaftsurlaub angetreten habe, haben wir auch noch Verstärkung bekommen, diesmal wieder ein Mann. So fühlt Dennis sich nicht ganz so einsam.“

„Und er bleibt?“

„Ja, Rob wird uns erhalten bleiben, er ist nicht bloß meine Vertretung. Unser Team ist inzwischen auch ziemlich etabliert, wir haben immer viel zu tun.“

Das konnte Sadie sich vorstellen. Das zu hören, versetzte ihr einen leichten Stich, denn ihr fehlte die Profilerarbeit. Allerdings waren die letzten beiden Jahre idyllisch und ruhig verlaufen – keine Gefahren, keine Ängste, kaum noch Stress. Auf diese Lebensqualität wollte sie nicht mehr verzichten. Jeder Blick in den Spiegel, der ihre Narben offenbarte, erinnerte sie daran, was diese Arbeit für sie bedeutet hatte, aber an der University of California in San Francisco war ihr ein Neustart gelungen. Sie verheimlichte dort nicht, wer sie war, aber sie thematisierte es auch fast nie und deshalb war es auch fast kein Thema mehr.

Jason kümmerte sich aufmerksam um seine Familie und die Gäste versuchten, möglichst pflegeleicht zu sein. Weil es nicht mehr so heiß war, konnte der kleine Ethan auch draußen in seinem Stubenwagen schlafen, während Jason für die Gäste grillte und sie zusammen aßen.

„Ich hätte nie gedacht, dass es so wunderbar ist, ein Kind zu haben“, sagte Cassandra schließlich mit liebevollem Blick auf ihren Sohn. „Er ist ein echtes Geschenk. Ich bin froh, dass wir ihn haben.“

„Ich bin auch froh über unsere zwei Mädchen“, sagte Sadie.

„Seid ihr denn fertig mit der Familienplanung?“

Sadie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie diese Frage hasste. Erstens, weil sie sie indiskret fand und zweitens, weil sie keine Antwort darauf hatte. Zwar war es etwas anderes, wenn enge Freunde danach fragten, aber sie hasste es trotzdem.

„Bisher ja“, sagte sie. „Libby wird gerade flügge und Hayley ist aus dem Gröbsten raus. Eigentlich hätte ich keine Lust, noch mal von vorn anzufangen.“

„Kann ich verstehen. Ich bin ja gerade so voll mit Hormonen, dass ich gleich wieder könnte …“

Sadie lachte. „Ja, das kann ich verstehen. Das ist ziemlich einzigartig.“

„Das ist überhaupt alles ziemlich einzigartig. Ich bin so glücklich, dass der Kleine da ist.“

„Und ich bin verdammt stolz auf dich, weil du die Geburt wirklich großartig gemeistert hast“, sagte Jason.

Sadie und ihre Familie blieben, bis sowohl bei Hayley als auch bei den frischgebackenen Eltern Ermüdungserscheinungen einsetzten. Cassandra und Jason verabschiedeten ihre Besucher selig und Matt fuhr noch bis zu der Privatunterkunft, die sie für dieses Wochenende gebucht hatten. Am Montag war Columbus Day, weshalb sie die Gelegenheit beim Schopf gepackt und nach Ethans Geburt kurzfristig gebucht hatten.

Durch die dämmrigen Straßen von Los Angeles zu fahren, löste ein vertrautes Gefühl in Sadie aus. Sie vermisste die Stadt nicht, aber es hingen Erinnerungen daran. Hayley war hier geboren.

Sie hatten ein kleines Apartment mit zwei Schlafzimmern gemietet, so dass Libby ihre Ruhe hatte. Als Hayley schlief, setzten Sadie und Matt sich hinaus auf den Balkon, während Libby sich an ihrem Tablet eine Serie anschaute.

„Ich freue mich für Jason und Cassie“, sagte Matt, bevor er einen Schluck Mountain Dew nahm.

„Ja, der Kleine ist wirklich süß.“

„Und dann hat Cassie die Todesfrage gestellt.“

Sadie rollte mit den Augen. „Warum müssen alle immer danach fragen, wie viele Kinder man haben will?“

„Ich glaube, das ist oft nur als Smalltalk gemeint.“

„Das ist trotzdem viel zu privat. Was ist denn bei Leuten, die gern Kinder hätten und es klappt einfach nicht? Das müsste sie doch eigentlich kennen.“

„Sag das nicht mir. Ich würde das auch nicht fragen.“

Sadie seufzte. „Wenn wir jetzt noch mal anfangen würden, wäre Hayley fünf, wenn sie ein Geschwisterchen bekäme.“

„Fände ich okay. Vom Altersabstand her.“

„Seit wann willst du noch ein Kind?“

„Überhaupt nicht. Wir haben zwei. Gut, das eine ist längst kein Kind mehr, aber trotzdem.“

Zwar erleichterte es Sadie, dass Matt die Dinge so entspannt sah, aber sie wünschte, sie hätte für sich selbst auch eine so eindeutige Antwort geben können.

 

 

Sonntag, 10. Oktober

 

Nachdem Matt seine Familie bei Nathan abgesetzt hatte, fuhr er quer durch Los Angeles nach Chino. Das war Ehrensache für ihn. Dort angekommen, stieg Matt mit einem Gefühl der Beklemmung aus seinem Auto und atmete tief durch. Der Anblick des Gefängniskomplexes schnürte ihm die Kehle zu, aber davon wollte er sich nicht unterkriegen lassen. Er hatte Danny ewig nicht gesehen und er hatte sich ihm auch gar nicht angekündigt, aber er hoffte, dass sein früherer Zellengenosse sich über seinen Besuch freute.

Am Eingang herrschte Hochbetrieb. Zahlreiche Angehörige und Freunde warteten darauf, der Reihe nach abgefertigt und zu den Insassen vorgelassen zu werden. Da Matt Danny schon mehrmals besucht hatte, kannte er das Prozedere noch und ließ es gleichmütig über sich ergehen. Bei zwei Wärtern am Eingang spürte er vielsagende Blicke auf sich ruhen, aber beide sagten nichts. Sie erkannten ihn.

Er hasste es.

Endlich war es so weit, dass er in den Besuchsraum vorgelassen wurde. Danny kam nach wenigen Augenblicken und schaute sich erst ratlos suchend um, doch er lächelte gleich, als er Matt entdeckte.

„Hey“, sagte er und umarmte Matt zur Begrüßung. „Das ist ja eine Überraschung! Schön, dich zu sehen. Wie geht es dir?“

Die beiden setzten sich einander gegenüber. Matt versuchte immer noch, ruhig zu atmen und das Gefühl der Enge in der Brust zu ignorieren. Wie oft hatte er in diesem Besuchsraum auf der falschen Seite gesessen, in einem orangen Häftlingsanzug und der steten Gewissheit, dass seine Familie wieder gehen musste und er zurückbleiben würde.

„Mir geht es gut“, sagte Matt. „Wir sind spontan in Los Angeles zu Besuch, weil eine Freundin meiner Frau am Dienstag ihr Kind bekommen hat. Gestern haben wir den neuen Erdenbürger kennengelernt und ich habe natürlich die Gelegenheit genutzt, herzukommen.“

„Das ist echt in Ordnung von dir“, fand Danny. „Wie lang ist das jetzt her?“

„Zu lang“, sagte Matt. „Aber wie geht es dir?“

„Es geht seinen Gang. Ich habe jetzt die Hälfte meiner Zeit hier abgesessen und versuche, unter dem Radar zu bleiben. Bislang klappt das ganz gut. Ich werde ja die Hoffnung nicht los, dass ich auf die Art vielleicht früher rauskomme.“

„Ich würde es dir so wünschen. Hast du immer noch denselben Zellengenossen?“

Danny nickte. „Es ist okay. Mit dir war es besser, aber es war auch schon fast zu gut, um wahr zu sein. Du warst ja bloß ein paar Monate hier. Nicht, dass ich es dir nicht gönne, draußen zu sein … du hast ja nie wirklich hierher gehört. Aber daran wurde auch offensichtlich, dass du hier falsch bist.“

„Ich kann ja nicht mal etwas für dich tun, ich bin ja nicht mehr bei der Behörde.“

„Nein, schon gut. Das würde ich gar nicht erwarten. Für das, was er meiner Tochter angetan hat, hat dieser Scheißkerl bekommen, was er verdient hat.“

„Wäre mir doch nicht anders gegangen.“

„Ich weiß. Lass uns nicht darüber reden. Erzähl mir lieber von dir. Wie läuft es oben bei euch? Arbeitest du immer noch als Fotograf?“

Matt nickte und erzählte Danny ein wenig von sich und seiner Familie. Er berichtete, dass Libby nun zur Uni ging und Danny erzählte ihm, dass auch seine Tochter nun ein Studium begonnen hatte.

„Ich bin verdammt stolz auf sie. Ich finde es nur traurig, dass sie seit dieser Sache mit keinem Jungen mehr ausgegangen ist. Das klingt jetzt vielleicht verrückt, aber …“

„Nein, ich verstehe“, unterbrach Matt ihn schnell. „Das wäre normal. Kommt sie denn damit zurecht?“

„So wie meine Frau sagt, geht es inzwischen. Chelsea hatte auch Hilfe. Das Verhältnis zu meiner Tochter ist ja auch gut, sie ist mir nicht böse. Im Gegenteil … es ist manchmal, als wäre sie froh, dass ich sie gerächt habe.“

Matt nickte verstehend. „Was es hier drin einfacher machen dürfte.“

„Schon, ja. Ach, weißt du, wer nicht mehr hier ist?“

„Sag jetzt nicht Baker.“

Danny lachte und schüttelte schnell den Kopf. „Nein, ach was. Der ist seit seinem Three Strikes-Urteil in einem anderen Trakt und nervt hier nicht mehr. Ich meine Dougherty, den Wärter. Das mit dir damals konnte ihm ja nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden, weil Baker ihn gedeckt hat, aber seitdem hat er noch einiges mehr auf dem Kerbholz angesammelt. Er ist jetzt schon seit fast einem Jahr weg.“

„Gut so“, sagte Matt. Er erinnerte sich gut an den Wärter, der ihn so gern drangsaliert und dafür gesorgt hatte, dass Baker ihm die Knochen brechen konnte.

„Ja, mich freut es auch. Eigentlich ist es hier gerade wirklich ganz okay, wenn man davon absieht, dass ich im verdammten Knast hocke.“

Matt nickte verstehend. „Ist auch nicht schön hier.“

„Nein … ich rechne es dir auch hoch an, dass du wirklich herkommst und mich besuchst. Ich weiß ja nicht, ob ich das könnte.“

„Es ist tatsächlich nicht einfach“, gab Matt zu. „Vorhin haben mich auch zwei Wärter erkannt. Sie haben nichts gesagt, aber es kostet mich Überwindung, hier reinzugehen. Ich erinnere mich so verdammt gut an diesen Raum und an alles, was hier passiert ist. Das ist hart.“

„Glaube ich dir. Aber diesmal bist du derjenige, der gleich hier rausspazieren darf.“

„Irgendwann darfst du auch.“

„Ich weiß. Vielleicht sehen wir uns ja vorher noch ein paar Mal.“

„Wann auch immer ich in Los Angeles bin, komme ich her.“

„Ich weiß. Du bist schon in Ordnung.“

Matt blieb noch eine Weile und unterhielt sich einfach mit Danny, weil er wusste, wie froh man als Häftling über Besuch und den damit verbundenen Zeitvertreib war. Doch schließlich war es so weit, dass er sich wieder auf den Weg machen musste, und er verabschiedete sich sehr herzlich und mit einer Umarmung von Danny.

„Halt die Ohren steif“, sagte er. „Das schaffst du hier auch noch.“

„Klar. Wir sehen uns“, sagte Danny nicht ohne einen hoffnungsvollen Unterton und Matt nickte. Er würde wirklich versuchen, Danny zu besuchen, wann immer es sich einrichten ließ.

Nachdem er den Besuchsraum verlassen hatte, ging er zur Anmeldung, um seinen Autoschlüssel wieder abzuholen. Gerade war niemand außer ihm und einem der Wärter dort, die ihn vorhin schon so aufmerksam angesehen hatten.

„Ich erinnere mich an Sie“, sprach er Matt deshalb an. „Sie waren doch auch mal hier. Der FBI-Agent, den Baker so auf dem Kieker hatte.“

Matts Gesichtsausdruck versteinerte. „Weshalb er jetzt mit Recht lebenslänglich sitzt.“

„Sie wurden freigesprochen, oder?“

„Richtig, und deshalb werde ich jetzt auch wieder gehen.“

„Hat man nicht so oft, dass ehemalige Insassen ihre Zellengenossen besuchen.“

Matt erwiderte nichts, sondern nahm nur seinen Schlüssel in Empfang und machte, dass er weg kam. Erst, als er draußen vor dem Gebäude stand, konnte er wieder frei durchatmen.

Es machte ihn fertig, wenn ihn auch noch ein Wärter erkannte und darauf ansprach, dass er hier mal gesessen hatte. Da half es auch nicht, zu wissen, dass er unschuldig war. Hätte er Danny nicht so gern gehabt und gewusst, welcher Lichtblick solche Besuche waren, er wäre nicht wieder gekommen.

Als er in seinem Auto saß, drehte er die Musik laut auf und stellte auf dem Freeway den Tempomat ein, denn sonntags um diese Zeit war nicht allzu viel los und er konnte entspannt mit dem Verkehr mitschwimmen.

Um sich auf andere Gedanken zu bringen, dachte er daran, dass er jetzt Nathan wiedersehen würde. Darauf freute er sich sehr.

Und vor allem würde er wieder bei seiner Familie sein. Während er sich von Chino entfernte, fiel die Anspannung allmählich wieder von ihm ab. Es war vorbei, er war ein freier Mann. Das wusste er inzwischen wirklich zu schätzen.

Eine Dreiviertelstunde später parkte er vor Nathans Auffahrt und klingelte. Er hörte schon das Lachen seiner Tochter aus dem Garten und wurde freundlich von Nathans Frau Lauren begrüßt, die ihn bat, hereinzukommen.

„Wie schön, euch wiederzusehen“, sagte sie auf dem Weg in den Garten. Matt war überrascht, Libby mit Nathans Sohn zusammen am Pool zu sehen. Hayley planschte mit Schwimmflügeln darin herum und freute sich lautstark, als sie ihren Vater entdeckte.

„Da bist du ja wieder“, begrüßte Sadie ihren Mann und stand auf, um ihn zu umarmen. Sie saß mit Nathan gleich am Pool, der ebenfalls aufstand und Matt umarmte.

„Es ist schon wieder viel zu lang her“, stellte er fest.

„Allerdings. Was habe ich verpasst?“

„Noch nicht viel. Die Kids sind versorgt und Sadie hat mir von eurem Leben in der Bay Area erzählt. Klingt so, als ginge es euch gut da oben.“

„Ja, sehr. Kommt doch mal zu Besuch und überzeugt euch selbst davon!“

„Das sollten wir wirklich tun. Setz dich, Matt. Was möchtest du trinken?“

Matt bat bloß um ein Wasser und nahm neben Sadie Platz. Hayley versuchte, ihre Eltern nass zu spritzen, was eine strenge Ermahnung ihres Vaters nach sich zog. Sadie hingegen griff nach der Wasserpistole und rächte sich.

„Wie war es in Chino?“, erkundigte Nathan sich, nachdem er Matt eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank besorgt und sich zu ihnen gesetzt hatte.

„Danny hat sich gefreut, mich zu sehen. Ich fand es auch toll, der letzte Besuch ist  schon eine Weile her. Aber ich muss sagen, es ist verdammt merkwürdig, das Gefängnis noch einmal zu betreten.“

„Das glaube ich dir. Ich war nie gern in Gefängnissen, aber für dich ist das ja noch eine ganz andere Sache.“

„Ganz ehrlich? Ich hasse es. Zumal mich vorhin ein Wärter erkannt hat. Was das angeht, bin ich froh, nicht mehr hier zu leben. Oben in Pleasanton weiß kein Mensch, dass ich hier mal im Gefängnis saß und auch, wenn ich unschuldig bin und freigesprochen wurde, schäme ich mich immer noch dafür.“

Überrascht angesichts von Matts Offenheit hob Nathan die Augenbrauen und sagte: „Musst du nicht, aber ich kann es verstehen. Ich bin froh, dass du so einen guten Anwalt hattest.“

„Frag mich mal.“

„Dass Vincenzo und Carroll und nicht zuletzt Evans und Chief Hooker ziemlichen Ärger wegen der ganzen Sache hatten, stellt mich immer noch sehr zufrieden.“

„Das war mir ehrlich gesagt egal. Ich bin bloß froh, dass es vorbei ist. Entschuldigt mich kurz“, sagte Matt und stand auf, um ins Haus zu gehen.

Während Sadie ihm kurz hinterher blickte, sagte Nathan: „Er ist nie wieder ganz der Alte geworden, oder?“

„Nein, das nicht. Aber es geht ihm gut, wir sind glücklich. Unsere Töchter geben uns jeden Grund dazu und der Jobwechsel war die beste Idee überhaupt.“

„Tja, ich muss leider noch ein bisschen … und bei der Polizei aufhören und zu einem privaten Sicherheitsunternehmen wechseln oder etwas ganz anderes machen – das sehe ich irgendwie auch nicht“, sagte Nathan.

„Du bist ein guter Polizist. Los Angeles braucht das.“

Jetzt lachte er. „Seit wann musst du dich denn so beliebt bei mir machen?“

„Das ist mein Ernst. Ich habe gern mit dir zusammen gearbeitet und vermisse das manchmal, auch wenn ich es nicht vermisse, für die Behörde zu arbeiten.“

„Ich kann mir ja richtig vorstellen, wie du dich an der Uni machst. Schön, dass du was gefunden hast, was dir Spaß macht.“

„Absolut“, stimmte Sadie zu.

Als Matt Augenblicke später wieder nach draußen kam, fragte Nathan: „Wer hat Hunger?“

 

 

Dienstag, 12. Oktober

 

„In unserer heutigen Sitzung werden wir uns einem Thema widmen, mit dem Sie in Ihrer beruflichen Laufbahn ziemlich sicher konfrontiert werden, nämlich der dissozialen oder antisozialen Persönlichkeitsstörung“, begann Sadie mit Blick auf ihre Studenten. Die meisten jungen Leute wirkten interessiert, nur einige schienen nicht aufzupassen. Sadie nahm es nicht persönlich und sie störte sich auch nicht daran, denn das musste jeder Anwesende für sich entscheiden. Wenn sie die jungen Leute ansah, musste sie immer daran denken, dass Libby gerade in einem ähnlichen Hörsaal saß und hoffte, dass sie wenigstens gut aufpasste.

„Die meisten von Ihnen werden sicher eine Person kennen, auf die viele Merkmale der dissozialen Persönlichkeitsstörung zutreffen. Sie ist gekennzeichnet von der bewussten Ignoranz sozialer Normen, Verantwortungslosigkeit und mangelndem Schuldbewusstsein. Betroffene besitzen kein oder nur wenig Einfühlungsvermögen, sie verhalten sich leicht aggressiv, führen meist nur instabile Beziehungen und verfügen über eine geringe Frustrationstoleranz. Auf die verschiedenen Subtypen gehen wir gleich noch ein. Die Begrifflichkeiten und Diagnosekriterien unterscheiden sich je nach Diagnosemanual, was für unseren Anwendungsbereich nicht weiter von Bedeutung ist. Was jedoch wichtig ist, ist die Klarstellung, worum es sich bei der antisozialen Persönlichkeit in Abgrenzung zur Psychopathie und Soziopathie handelt. Alle drei Begriffe werden häufig synonym verwendet, ohne es zu sein.“

Sadie blendete eine Seite ihrer Präsentation ein, die grafisch darstellte, wie die Begrifflichkeiten sich zueinander verhielten, und erklärte das Schaubild.

„Bei der Psychopathie handelt es sich allgemein um eine besonders schwere Form der antisozialen Persönlichkeitsstörung, während es sich bei der Soziopathie um keine offizielle psychiatrische Diagnose handelt. Soziopathen sind meist in der Lage, empathisches Verhalten zumindest zu erlernen, verhalten sich aber oft bewusst von geltenden gesellschaftlichen Normen abweichend. Deviantes, also abweichendes Verhalten, ist hier das Stichwort – einer der Kernbegriffe in der Kriminologie. Sofern Sie eine Laufbahn bei der Polizei oder einer anderen Strafverfolgungsbehörde anstreben, wird Ihnen mit Sicherheit irgendwann die eine oder andere Person mit antisozialen Persönlichkeitszügen begegnen. In der Normalbevölkerung wird das Auftreten der antisozialen Persönlichkeitsstörung für die männliche Bevölkerung mit drei Prozent angegeben, rund ein Prozent sollen Psychopathen sein. Bei Frauen liegt die Zahl um mehr als die Hälfte niedriger. Schätzungen gehen jedoch davon aus, dass bis zu siebzig Prozent der Gefängnisinsassen Merkmale dieser Persönlichkeitsstörung tragen, etwa fünfzehn bis fünfundzwanzig Prozent könnten sogar Psychopathen sein. Das heißt nun weder, dass alle Psychopathen Mörder sind oder alle Mörder Psychopathen sein müssen, aber eine gewisse Korrelation besteht durchaus.“

Sadie blendete die nächste Seite der Präsentation ein. Sie war bemüht, es nicht zu trocken zu halten, was nicht immer einfach war.

„Das wissen wir von Kent Kiehl, Professor für Neurowissenschaften an der University of New Mexiko. Er hat einen Computertomografen in ein Wohnmobil einbauen lassen und damit alle zwölf Staatsgefängnisse des Bundesstaates besucht, wo er die Gehirne Freiwilliger im Tomografen gescannt hat. Bei dieser und ähnlichen Untersuchungen kam heraus, dass die Gehirne der Betroffenen Anomalien in mehreren Bereichen aufweisen. Die Amygdala, die vor allem für das Furchtempfinden zuständig ist, kann bei Psychopathen um bis zu zwanzig Prozent verkleinert ausfallen. Auch der mit der Amygdala verknüpfte Hippocampus verfügt bei Psychopathen oft über ein geringeres Volumen, der präfrontale Kortex kann in bestimmten Bereichen auffällig sein und der Gyrus superior temporalis ist bei Psychopathen verglichen mit der Kontrollgruppe weniger aktiv. Das ist insofern bedeutsam, als dass dieses Hirnareal maßgeblich für die Fähigkeit ist, sich in andere Menschen hineinzuversetzen – das Stichwort hier lautet Theory of Mind.“

Sadie blendete eine Seite ein, auf der die betreffenden Hirnareale in einer schematischen Zeichnung hervorgehoben waren und ließ den Studenten Zeit, das Schaubild zu betrachten.

„Tatsächlich konnte auch schon nachgewiesen werden, dass diese Veränderungen der Gehirnstruktur genetisch bedingt sein können. Eines dieser insgesamt drei Gene ist auch als Risikofaktor für Alkoholismus bekannt. Die Wahrscheinlichkeit, psychopathische oder zumindest antisoziale Züge zu entwickeln, steigt mit dem Vorliegen jedes weiteren dieser Gene. Aber auch dann ist die Entwicklung nicht garantiert – mit der Anlage-Umwelt-Theorie im Hinterkopf ist immer zu bedenken, dass es auch einen entsprechenden Auslöser braucht, etwa traumatische Erlebnisse in der Kindheit.“

Im Folgenden ging Sadie auf die fünf Subtypen der antisozialen Persönlichkeitsstörung ein, die der amerikanische Psychologe Theodore Millon vorgeschlagen hatte, und drei weitere Subtypen, die jedoch immer noch Gegenstand wissenschaftlicher Kontroversen waren. Der instrumentell-dissoziale Typ ist vor allem auf Macht und Geld ausgerichtet und vor diesem Hintergrund häufig in der freien Wirtschaft anzutreffen, denn eine gewisse Skrupellosigkeit kann von Vorteil sein, um seine Ziele zu erreichen. Der impulsiv-feindselige Typ ist hauptsächlich durch impulsives und aggressives Verhalten gekennzeichnet, fühlt sich schnell provoziert und rastet deshalb aus. Der ängstlich-aggressive Typ ist zwar eher unauffällig, kann aber in Extremsituationen regelrecht explodieren und jegliche Deprimiertheit und Schüchternheit hinter sich lassen.

„Psychopathen verfügen sowohl über spezielle Persönlichkeitsmerkmale als auch über antisoziale Verhaltensweisen, während bei der antisozialen Persönlichkeitsstörung nur diese Verhaltensweisen vorliegen. Die angesprochenen Veränderungen in der Hirnstruktur bedeuten auch, dass Psychopathen nicht nur geringere negative Affekte verspüren, sondern auch positive Gefühle, das liegt daran, dass bei ihnen häufig erhöhte Dopamin- und erniedrigte Serotonin- und Cortisol-Spiegel vorliegen. Psychopathie ist also nicht bloß ein psychologisches Konstrukt, sondern forensisch nachweisbar“, erklärte Sadie und blendete die nächste Seite ein.

„Wenn man den Betroffenen nicht gleich in den Tomografen schieben will, lassen sich Merkmale der Psychopathie auch mit der Psychopathy Checklist Revised des Kriminalpsychologen Robert Hare abfragen, der unter anderem auch das FBI berät. Bei dieser Checkliste werden zwanzig Merkmale abgefragt, deren Vorhandensein mit null, einem oder zwei Punkten bewertet werden können. Wer mindestens dreißig von vierzig möglichen Punkten erreicht, wird als Psychopath eingestuft.

Aber warum ist das wichtig? Das ist deshalb wichtig, weil es gar nicht so leicht sein muss, einen Psychopathen zu erkennen. Zwar mag das limbische System eines Psychopathen anders ausgeprägt sein als bei anderen Menschen, so dass das emotionale Erleben anders ist, aber Psychopathen beherrschen die Kunst der Manipulation. Sie können sehr charismatisch sein und anderen Menschen vorspielen, was diese zu sehen wünschen. Das kann so weit gehen, dass geschickte Psychopathen erst gar nicht erwischt oder aber schneller aus der Haft entlassen werden. Überdies fällt es ihnen leicht, besonders verletzliche und hilflose Opfer auszumachen und das für sich zu nutzen. So auch Ted Bundy, der überdies immer angegeben hat, in einer liebevollen Familie aufgewachsen zu sein – wenn man von der Tatsache absieht, dass er ein uneheliches Kind war, das von seinen Großeltern aufgezogen wurde und seine Mutter für seine Schwester gehalten hat.“

In Sadies Kriminologie-Vorlesung wurde es sehr häufig psychologisch. Nicht immer, was sie noch aus ihrem eigenen Kriminologie-Studium vor über zehn Jahren kannte, aber das interdisziplinäre Fach kam auch gar nicht ohne Psychologie aus. Noch extremer war es in ihrem Aufbauseminar zum Thema Profiling. Seit dem letzten Semester bot sie außerdem ein Seminar zum Thema Traumapsychologie an, das ihr sehr am Herzen lag. Sie betreute Seminar- und Hausarbeiten, hatte inzwischen eine angehende Doktorandin und verfasste immer wieder selbst wissenschaftliche Arbeiten.

Aus persönlichem Interesse heraus forschte sie im Bereich der Gene, die für die Entstehung einer psychopathischen Persönlichkeit mitverantwortlich waren. Immer wieder hatte sie überlegt, ob sie sich selbst darauf testen lassen sollte, hatte dann aber davon abgesehen. Das zu wissen, würde ihr nichts bringen, denn selbst wenn sie die entsprechenden Gene trug, so hatten sie sich bei ihr nicht ausgeprägt. Gern hätte sie ihren Vater getestet, aber von ihm gab es kein DNA-Material mehr, das man hätte testen können und exhumieren ließ Sadie ihn bestimmt nicht. Bei ihm war es ähnlich wie bei Ted Bundy – es war kaum erklärbar, warum er zum Serienmörder geworden war, aber er war definitiv ein Psychopath, den Sadie hautnah kennengelernt hatte.

Ihre Arbeit an der University of California in San Francisco erfüllte sie vollkommen. Es hatte Zeiten gegeben, in denen Sadie das nicht erwartet hätte, aber tatsächlich musste sie nicht mehr raus an die Front und selbst Verbrecher dingfest machen. Das überließ sie Cassandra, Nathan und Phil.

Sie freute sich schon auf ihr Treffen mit Phil, Amelia und der kleinen Alyssa am Wochenende, mit der Hayley sich bestens verstand. Phil würde sie hoffentlich nicht auf ihre Familienplanung ansprechen, obwohl inzwischen bei ihm wieder Nachwuchs anstand.

Nachdem Sadie hinsichtlich der Merkmale der antisozialen Persönlichkeitsstörung und ihrer Subtypen ins Detail gegangen war, berichtete sie noch von Fallbeispielen aus der Praxis und schon war die Vorlesung zu Ende. Im Anschluss musste sie noch für einige Besprechungen in ihr Büro, aber sie schaffte es, pünktlich Feierabend zu machen und vor dem Berufsverkehr nach Hause zu fahren. Sie war meist früh genug zu Hause, um viel von ihrer Tochter zu haben, und sie musste auch gar nicht jeden Tag nach San Francisco. Bislang hatte es nie Probleme damit gegeben, Hayley aus dem Kindergarten abzuholen. Meist war Matt dafür zuständig, aber auch Sadie tat es oft genug und in den seltenen Fällen, in denen beide es nicht schafften, war Libby noch da.

Sie folgte der Bay Bridge nach Oakland und schaute seitlich zur Golden Gate Bridge. In goldener Herbstsonne lag sie da, weit und breit war kein Nebel zu sehen. Die Fahrt von vierzig Meilen nahm eine Stunde in Anspruch, aber das war kein Problem für Sadie. Inzwischen hatte sie ein neues Auto und genoss die entspannte Fahrt über den Freeway. Wenn sie nach Hause kam, würde Hayley schon auf sie warten. Darauf freute sie sich unbändig.

Sie parkte in der Auffahrt, weil sie Matts Auto in der Garage wähnte, und hörte fröhliches Kichern, als sie das Haus betrat. Sie ging den Geräuschen nach und fand Matt und Hayley im Wohnzimmer. Die beiden waren gerade damit beschäftigt, Memory auf dem großen Teppich vor dem Sofa zu spielen und wurden dabei von Figaro beobachtet, der es sich auf dem Sessel bequem gemacht hatte und dort genüsslich seine Pfoten leckte.

„Hey“, begrüßte Sadie ihre Familie und Hayley blickte kurz auf, bevor sie ihr winkte.

„Hier macht mich gerade wieder jemand fertig“, klagte Matt. „Warum sind Kinder so gut in Memory?“

„Das kann ich dir erklären“, sagte Sadie. „Das hat was mit der Art und Weise zu tun, wie Kinder diese Karten betrachten. Sie schauen anders hin als Erwachsene, das Gedächtnis verändert sich ja im Laufe des Lebens.“

„Oh, keine Details über das Gedächtnis, bitte“, sagte Matt mehr im Scherz, aber Sadie wusste, wie er das meinte. Das war sein wunder Punkt, über solche Dinge dachte er nicht gern nach.

„Bin gleich bei euch“, sagte Sadie und zog sich erst im Schlafzimmer um, bevor sie sich zu Matt und Hayley gesellte und sie eine neue Runde Memory begannen. Es bereitete dem kleinen Mädchen auch keine Probleme, ihre beiden Eltern zu schlagen, was sie mit großem Stolz erfüllte.

So lange Hayley wach war, nahm Sadie sich Zeit für sie. Die Arbeit konnte auch bis abends warten, wenn die Kleine schlief.

Während Sadie und Matt sich der Zubereitung des Abendessens widmeten, saß Hayley in der Küchentür und spielte mit ihren Puppen. Mitten hinein platzte wenig später Libby, die ihre Tasche einfach im Flur fallen ließ und ihre Schuhe abstreifte, bevor sie sich auf Hayley stürzte und ihr durchs Haar strubbelte. Sofort sprang Hayley auf und floh kreischend ins Wohnzimmer, wohin Libby sie lachend verfolgte. Grinsend beobachtete Sadie ihre Töchter durch die Küchentür und freute sich über die Lebendigkeit unter diesem Dach. Sie war froh, dass sie nicht nur Hayley hatten, sondern auch Libby – und dass sie ihnen immer noch erhalten blieb. Nun lebte sie schon seit fünf Jahren bei ihnen und die Zeit war wie im Nu verflogen.

Schließlich saßen sie auf der Veranda zum Essen zusammen und erzählten einander von ihrem Tag. Hayley konnte inzwischen mit ein wenig Hilfe auch schon sehr gut allein essen, worauf sie sehr stolz war.

„Ich finde es wirklich toll an der Uni“, sagte Libby. „Den ganzen Tag beschäftige ich mich mit etwas, das mich wirklich interessiert. Wenn ich mal überlege … vor ein paar Jahren hätte ich mir noch nicht träumen lassen, dass ich mal so ein Leben führen würde.“

„Es ist toll, dass es jetzt so ist“, sagte Sadie. „Ich kann es mir gar nicht mehr anders vorstellen.“

„Ich mir auch nicht“, sagte Matt. „Bist du am Wochenende hier?“

„Weiß ich noch nicht. Ich muss arbeiten und Kieran ist ja auch noch da.“

„Ich frage nur wegen unserem Besuch am Samstag. Wenn Phil und Amelia kommen, wollte ich vielleicht grillen und müsste wissen, ob du da bist.“

„Ich glaube nicht, aber danke“, sagte Libby und lächelte.

 

 

Donnerstag, 14. Oktober

 

Die San José State University sah nicht wirklich aus wie eine Hochschule, zumindest empfand Libby es nicht so. Die im spanischen Stil erbauten Gebäude wurden von großzügigen Grünflächen mit Palmen abgelöst. Es gefiel ihr dort und sie bereute ihre Wahl keineswegs. Viele ihrer Mitschüler hatten versucht, an Elite-Unis wie Stanford und Berkeley zu kommen, aber das hatte Libby nie interessiert. Zweckmäßig und bezahlbar musste es sein und deshalb war ihre Wahl auf San José gefallen. Die Uni in San Francisco war für sie nicht in Frage gekommen, weil sie nicht die Tochter einer Dozentin sein wollte. Da sie ja seit Jahren den Namen Whitman trug, war ihr Verhältnis zu Sadie zu offensichtlich.

Sie trottete quer über die Wiese bis zur Mensa. An diesem Tag hatte ihr Stundenplan früh begonnen, sie hatte schon eine Vorlesung und ein Seminar gehabt und jetzt eine ausgedehnte Mittagspause vor sich, bevor sie in die nächste Vorlesung musste. Sie hatte die Mensa noch nicht ganz erreicht, als sie vor der Treppe neben einer Gruppe anderer Studenten ihren Freund Kieran entdeckte. Er hatte seine Messenger Bag lässig umgehängt und die Hände in den Hosentaschen vergraben. Libby mochte vor allem seine grünen Augen, die immer ein wenig frech glitzerten. Er trug sein braunes Haar kurz, war nie ohne seine Converse-Schuhe anzutreffen und vielleicht nicht sonderlich groß, aber er hatte jahrelang Kampfsporttraining gehabt und war entsprechend gut gebaut. Als Libby ihn erreicht hatte, küsste er sie leidenschaftlich und legte ungeniert eine Hand auf ihren Po.

„Willst du mir etwas sagen?“, raunte sie ihm grinsend zu.

„Ich stehe halt auf dich“, erwiderte er augenzwinkernd und wandte sich zum Gehen. Gemeinsam betraten sie die Mensa und studierten den Speiseplan. Libby entschied sich für Chicken Curry, während Kieran den Cheeseburger mit einer Extraportion Salat nahm.

„Und wie war es bei dir?“, erkundigte Libby sich bei ihrem Freund.

„Mir raucht ganz schön der Kopf. Ich wusste ja, dass der Studiengang kein Spaziergang wird, aber die setzen Dinge voraus …“

„Das schaffst du schon, du bist ja nicht auf den Kopf gefallen.“

„Nicht umsonst nennt man meinen Studiengang ja auch im Scherz Raketenwissenschaften. Das hat definitiv einen Grund.“

„Mach dir keinen Kopf. Wir können ja am Wochenende zusammen ein bisschen für die Uni lernen. Ich muss noch ein paar Texte lesen, was von Piaget … das wäre schöner, wenn du dabei wärst.“

„Hm“, machte Kieran wenig überzeugt. „Sonntag vielleicht. Am Samstag steigt hier eine Party, zu der ich gern hingehen würde. Wann musst du am Samstag arbeiten?“

„Ich hab die Mittagsschicht. Elf bis siebzehn Uhr. Sonntag muss ich erst abends.“

„Ist doch perfekt. Danach könnten wir herfahren und auf die Party gehen.“

„Vielleicht will ich ja gar nicht“, sagte Libby achselzuckend und nahm noch einen Bissen.

„Ach, komm schon. Wir gehen am Samstag schön feiern und am Sonntag lernen wir zusammen. Vielleicht verbringen wir ja auch die Nacht zusammen“, sagte Kieran mit vielsagendem Blick.

Inzwischen errötete Libby nicht mehr, wenn er solche Anspielungen machte. Darauf war sie stolz. Sie kannte Kieran seit ihrem Wechsel auf die High School in Pleasanton, wo sie zusammen den Physikkurs und einige andere Fächer besucht hatten. In Physik war Libby nie sonderlich gut gewesen und Kieran, der schräg hinter ihr gesessen hatte, hatte sie auf Anhieb gemocht und sich berufen gefühlt, ihr unter die Arme zu greifen. Daraufhin hatten sie sich immer wieder unverfänglich nach der Schule getroffen und sich zusammen den Hausaufgaben gewidmet. Sadie und Matt hatten ihn vorbehaltlos willkommen geheißen und schon bald hatte er sich erkundigt, woher sie eigentlich kamen und warum sie nach Pleasanton gezogen waren. Deshalb hatte Libby ihm erzählt, dass ihre Eltern beim FBI gewesen waren, was Kieran sehr imponiert hatte, und auf die Frage nach dem Altersunterschied zwischen ihr und Hayley hatte sie ihm erklärt, dass sie adoptiert war und eigentlich aus einer Sekte stammte.

Weiter ins Detail war sie von sich aus nicht gegangen. Zwar hatte Kieran einige Fragen über die Fundamentalist Church of Jesus Christ of  Latter-Day Saints gestellt und Libby hatte sie ihm auch alle beantwortet, aber sie hatte ihm nie von Brian Leigh, Matts Zeit im Gefängnis oder der Vergangenheit ihrer Adoptivmutter erzählt. Es tat ihr gut, dass Kieran sie so annahm, wie sie war, und schon bald hatten sie angefangen, miteinander auszugehen. Kieran hatte Rücksicht darauf genommen, dass er Libbys erster Freund war und es langsam angehen lassen.

Doch irgendwann war ihre Beziehung ernster geworden. Sadie und Matt hatten keine Einwände gehabt, als er bei ihnen übernachten wollte und Libby hatte sich die Pille verschreiben lassen. Ihr erstes Mal mit Kieran war ein schönes Erlebnis gewesen, an das sie sich gern erinnerte. Er hatte sie zum Abschlussball ausgeführt und sich mit ihr zusammen für die Uni in San José entschieden. Sie war froh, dass sie ihn hatte und glücklich, wenn sie Zeit mit ihm verbringen konnte.

Und sie war stolz und erleichtert zugleich, weil sie inzwischen eine ganz normale junge Amerikanerin war. Außer Kieran wusste an der Uni niemand von ihrer Vergangenheit und man merkte es ihr auch nicht mehr an. Trotzdem hatte sie sich nicht zuletzt auch deshalb für das Studium der Erziehungswissenschaften entschieden, weil sie einen Draht zu Kindern hatte. In der FLDS hatte sie viel mit Kindern zu tun gehabt und sie liebte Hayley über alles. Tatsächlich konnte sie sich am besten vorstellen, beruflich etwas mit Kindern zu machen, und bislang hatte sie ihre Entscheidung für das Studium nicht bereut.

„Von mir aus“, sagte Libby schließlich. „Gehen wir zur Party, du übernachtest bei mir und am Sonntag lernen wir zusammen.“

„Toll“, sagte Kieran und lächelte. „Wird ja Zeit, dass wir hier ein paar Kontakte knüpfen, meinst du nicht?“

Da musste Libby ihm zustimmen. Sie hatte zwar einige Kommilitonen, die sie regelmäßig sah und mit denen sie sich gut verstand, aber abgesehen von Kieran hatte sie noch niemanden, mit dem sie ihre Tage an der Uni verbringen konnte. Aber das war vielleicht nach ein paar Wochen auch zu viel verlangt.

Nach dem Mittagessen gingen sie zusammen hinaus auf die Wiese und legten sich, wie so viele andere Studenten, in die Sonne. Kieran nahm seine Kopfhörer und hörte ein wenig Musik, während Libby ihren Kopf auf seinen Bauch bettete und ein wenig in einem ihrer Bücher las. Anlage-Umwelt-Diskussion – was formt den Menschen? Die Gene oder seine Umgebung? Sie hatte Sadie schon davon sprechen hören und fand es spannend, wie viele Überschneidungen die Pädagogik tatsächlich mit der Psychologie hatte. Sadie war deshalb eine gute Ratgeberin in Fragen, die ihr Studium betrafen.

In der Nähe war ein Infostand der Sportteams und über den Rand ihres Buches hinweg beobachtete Libby das Treiben dort interessiert. Vielleicht war das auch eine Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen.

Irgendwann zog Kieran ihr das Buch aus den Händen und machte Anstalten, sich aufzurichten. Grinsend beobachtete Libby, wie er sich über sie beugte und sie küsste. Sie genoss es aus vollen Zügen, einfach in der Sonne im Gras zu liegen und mit ihrem Freund zu knutschen. Diese Freiheit hatte sie sich noch vor ein paar Jahren nur gewünscht. Aber jetzt hatte sie nicht nur jemanden gefunden, sie führte sogar eine stabile Beziehung mit ihm. Das war toll.

So manches Mal hatte sie überlegt, ob sie ihm nicht doch mehr aus ihrer Vergangenheit erzählen sollte, weil sie das Gefühl hatte, ihn anzulügen. Allerdings hatte sie sich nie getraut und je länger es nun schon so lief, desto weniger wollte sie es riskieren. Sadie und Matt waren verständlicherweise auch froh, alles hinter sich gelassen zu haben und dabei sollte es eigentlich bleiben.

Schließlich war es für beide an der Zeit, die nächste Vorlesung zu besuchen, deshalb verabschiedeten sie sich voneinander und machten sich auf den Weg zu den entsprechenden Gebäuden.

Libby fand ihre Vorlesung äußerst interessant, denn es ging um die Sprachentwicklung bei Babys und Kleinkindern. Vor nicht allzu langer Zeit war Hayley ein lebendes Beispiel für all das gewesen, was ihre Dozentin gerade erzählte, aber umso spannender fand Libby es.

Nach der Vorlesung machte Libby sich auf den Heimweg. Manchmal fuhr sie mit Kieran zusammen, aber an diesem Tag hatte er abends noch eine Übung und musste länger bleiben. Deshalb machte Libby sich allein auf den Heimweg und folgte der Interstate 680 im zähen Berufsverkehr nach Hause Richtung Pleasanton.

Die Stadt war hübsch, viele Häuser waren ebenfalls im spanischen Stil errichtet, es lag malerisch zwischen Hügeln und war eher ruhig und beschaulich. Sadie und Matt hatten im Süden der Stadt zwischen Bäumen ein hübsches Haus gekauft, in dem Libby sich vom ersten Tag an wohl gefühlt hatte.

Sie stellte ihr Auto vor dem Vorgarten ab und war überrascht, von Geschrei begrüßt zu werden, als sie die Haustür öffnete. In der Küche sah sie dann, worum es ging – Hayley wollte unbedingt Süßigkeiten, bekam vor dem Abendessen aber keine.

„Hey“, sagte Libby und schnappte sich ihre kleine Schwester, die sie gegen ihren anfänglich starken Widerwillen durch die Luft wirbelte. Schließlich drückte sie ihr einen Kuss aufs Haar.

„Wie wär’s, wenn wir bis zum Abendessen ein bisschen spielen? Du kriegst doch danach bestimmt etwas Süßes“, sagte sie.

„Wenn sie lieb ist“, erwiderte Matt streng.

„Klar bist du lieb“, murmelte Libby. „Wäre es okay, wenn ich am Samstag mit Kieran auf eine Party an der Uni gehe und er anschließend hier übernachtet?“

„Von mir aus“, sagte Sadie.

„Wir würden gern am Sonntag zusammen lernen“, ergänzte Libby.

„Sehr anständig von euch“, sagte Matt augenzwinkernd.

 

 

Samstag, 16. Oktober

 

„Kommt rein.“ Sadie umarmte Amelia und Phil nacheinander und begrüßte auch die kleine Alyssa, die sofort auf die Suche nach Hayley ging.

„Danke für die Einladung“, sagte Amelia, bevor sie ihre Hände wieder in ihr Kreuz stemmte. Ihr Babybauch war inzwischen zu einer beachtlichen Größe herangewachsen.

„Schön, dass ihr hier seid! Wie geht es dir?“

„Ach, ich wünschte, er wäre schon draußen. Wie soll ich das noch vier Wochen lang aushalten?“

Sadie lachte und ging voraus in den Garten. Alyssa war dort schon angekommen und hatte sich zu Hayley gesellt. Matt, der bislang mit dem Grill beschäftigt war, kam nun auch, um die Gäste zu begrüßen und bestaunte Amelias beachtlichen Bauch ebenfalls.

„Wie schnell das immer geht“, sagte er.

„Das findet aber auch nur ihr Männer!“, protestierte Amelia. „Ich bin froh, dass Phil und ich uns einig sind, mit zwei Kindern genug zu haben. Noch mal müsste ich das nicht haben.“

„Das kann ich dir gut nachfühlen“, sagte Sadie solidarisch, während sie Amelia einen kleinen Hocker holte, damit sie die Füße hochlegen konnte. Amelia lachte und bedankte sich herzlich für diese nette Geste.

„Wo ist denn Libby?“, fragte Phil, der sich suchend umgeschaut hatte.

„Arbeiten“, sagte Matt. „Sie kellnert doch im Bistro auf der Main, Ecke Neal Street. Später ist sie noch auf einer Party.“

Phil überlegte kurz, nickte dann aber. „Dabei wollte ich sie doch fragen, wie ihr die Uni gefällt.“

„Gut, wenn man ihrer Auskunft Glauben schenken darf.“

„Toll, wie das Mädchen sich gemacht hat. Und jetzt sieh sich einer unsere beiden Prinzessinnen an.“

„Seit wann ist Hayley eine Prinzessin?“, fragte Sadie. „Eher die Königin der aufgeschürften Knie.“

„Sie ist furchtbar süß. Wie hast du das gemacht, Matt?“, feixte Phil und ging in Deckung, während Matt einen Topflappen nach ihm warf.

„Das war alles Sadie“, sagte er, nachdem Phil den Topflappen zurückgeworfen hatte.

„Wie läuft es bei der Arbeit?“, erkundigte Sadie sich bei Phil.

„Gut. Es ist ja anders bei der Polizei … man ermittelt mehr, ist involvierter in die eigenen Fälle. Das macht verdammt viel Spaß. Ich bin ja nicht mehr bloß der Scharfschütze, sondern mache viel mehr. Diese Woche hatten wir aber tatsächlich auch wieder einen Bankraub dazwischen.“

„Ich hasse es“, murrte Amelia von der Seite.

„Mir passiert nichts, das weißt du.“

„Das weiß ich eben nicht, du wurdest schon mehrmals verletzt. Ach … vergiss es. Ich bin schwanger und nah am Wasser gebaut.“

„Ich weiß“, sagte Phil und strich seiner Frau geduldig und liebevoll übers Haar.

„Du nimmst mich gar nicht ernst!“

„Doch, natürlich. Ich bin bloß froh, wenn unser Sohn endlich da ist.“

„Frag mich mal …“

Sadie bemühte sich nach Kräften, Amelia das Leben irgendwie leichter zu machen. Ihre eigene Schwangerschaft mit Hayley hatte ja drei Wochen vor dem eigentlichen Termin schon geendet, deshalb konnte sie sich nur vorstellen, wie mühsam es werden konnte – aber die Vorstellung reichte ihr.

Während die Kinder vergnügt im Garten spielten, verdingte Matt sich als Grillmeister, dem Phil nach Kräften zur Hand ging. Amelia erzählte davon, wie sehr sie sich darauf freute, dass Phil nach der Geburt wieder drei Monate zu Hause bleiben würde. Beim San Francisco Police Department hatte er das überraschenderweise nicht so leicht durchsetzen können wie seinerzeit in Los Angeles beim FBI, aber schließlich war es geglückt.

Als die Würstchen fertig gegrillt waren, setzten sich auch Hayley und Alyssa an den Tisch und aßen begeistert mit. Die Hitze des Tages wich allmählich, als die Sonne dem Horizont entgegen sank. Amelia war heilfroh darüber, denn ihr schlugen die Temperaturen naturgemäß auf den Kreislauf.

Die Kinder waren nach dem Essen kaum wieder zum Spielen verschwunden und Matt brachte gerade das erste schmutzige Geschirr in die Küche, als Phil sich zu Sadie vorbeugte, die Ellbogen auf die Knie stützte und ein ernstes Gesicht machte.

„Wir würden dich gern etwas fragen und ich möchte vorausschicken, dass es kein Problem ist, wenn du das nicht möchtest und es dir nicht vorstellen kannst“, begann er.

„Was kommt denn jetzt?“, fragte Sadie irritiert.

„Du weißt, wie Alyssas Geburt gelaufen ist. Weder Amelia noch ich sind auf ein weiteres Erlebnis dieser Art erpicht und wir haben darüber nachgedacht, es zu machen wie ihr und für diese Geburt in ein Geburtszentrum zu gehen, bloß sprengt das unser Budget“, sagte Phil mit unglücklichem Gesichtsausdruck. „Unsere Krankenversicherung übernimmt die Kosten leider nicht, genau so wenig wie eure damals. Nach langem Hin und Her haben wir uns also entschieden, wieder ins Krankenhaus zu gehen – das bei uns in Castro Valley soll ja gar nicht schlecht sein. Amelia äußerte aber vor kurzem den Wunsch, nicht nur mich als Begleiter dabei zu haben, sondern auch jemanden, der sich ein bisschen besser auskennt und für sie eintreten kann. Dabei dachte sie an dich.“

Im ersten Moment wusste Sadie nicht, was sie sagen sollte. Sie fühlte sich geehrt und gleichzeitig unter Druck gesetzt und suchte nach Worten.

„Ich kenne mich doch gar nicht aus“, widersprach sie, als sie sich gefangen hatte. „Ich habe bloß meine eigene Tochter in einem Geburtszentrum bekommen, weil ich in einem normalen Krankenhaus Angstzustände bekommen hätte.“

„Ja, aber du weißt, wie es laufen kann. Du bist so eine starke Person und wenn es ist wie beim letzten Mal, dann brauche ich Phil an meiner Seite. Er hat dann weder die Zeit, noch kennt er sich genügend aus, um zu wissen, was notwendig ist und was nicht. Ich habe nur solche Angst, dass es wieder so … blutig wird. So schmerzhaft. Ich will nicht wieder verletzt werden“, sagte Amelia sichtlich aufgewühlt.

„Das verstehe ich, aber ich bin da wirklich kein Profi.“

„Ich weiß. Es ist nur … du könntest für mich eintreten. Du bist meine Freundin, Sadie, und ich vertraue dir. Ich würde mich schon viel sicherer fühlen, wenn du dabei wärst.“

Matt kehrte nach draußen zurück und hörte bloß interessiert zu, doch wieder musste Sadie überlegen, was sie sagen sollte.

„Ich könnte keinen Arzt aufhalten, wenn er sagt, es geht um das Leben deines Kindes“, gab sie zu bedenken.

„Ich weiß. Ich habe schriftlich festgehalten, was auf keinen Fall ohne Rücksprache getan werden soll und ich würde dir zutrauen, dass du ein Auge darauf haben kannst“, erklärte Amelia.

Nachdenklich sah Sadie ihre Freundin an. Hoffentlich erwartete Amelia nicht zu viel, so dass Sadie sie enttäuschen würde. Doch je länger sie darüber nachdachte, desto mehr relativierten sich ihre Bedenken. Es ging Amelia bloß um ein Gefühl von Sicherheit und eine weitere Begleitperson, die das Personal im Notfall daran erinnerte, was die Patientin eigentlich wollte. Und das traute sie sich tatsächlich zu.

„Egal, was dabei herauskommt, du wärst nicht dafür verantwortlich“, sagte Phil. „Aber eigentlich fühle ich mich auch ganz wohl bei dem Gedanken, dass du uns begleiten könntest.“

Hilfesuchend blickte Sadie zu Matt, der inzwischen eine Ahnung hatte, worum es ging, und ihr ermutigend zunickte.

„Es freut mich, dass ihr mir so sehr vertraut“, sagte Sadie schließlich. „Das ist wirklich eine große Ehre und ich begleite euch gern. Das Krankenhaus ist nicht weit von euch entfernt, oder?“

Phil schüttelte den Kopf. „Fünf Minuten Fahrt.“

„Okay. Ich bin dabei. Ich komme zu euch, wenn es los geht, und wir schauen uns das an und entscheiden dann gemeinsam, wann wir ins Krankenhaus fahren. Am besten so spät wie möglich.“

Amelia nickte sofort. „Das klingt gut. Du würdest bestimmt einen ausreichend kühlen Kopf bewahren, um den Überblick nicht zu verlieren.“

„Was mir dann fehlen würde“, sagte Phil sofort.

„Das schaffst du“, sagte Matt von der Seite.

Sadie nickte. „Wenn ihr das möchtet, gern. Das ist wirklich etwas Besonderes!“

„Danke, Sadie“, sagte Amelia erleichtert und zwinkerte verlegen eine Träne aus ihrem Augenwinkel weg. „Jetzt geht es mir schon besser …“

„Ist doch klar“, erwiderte Sadie gleich. Schließlich ging sie Matt beim Aufräumen zur Hand und während Amelia sich aus ihrem bequemen Liegestuhl hoch quälte, um zur Toilette zu gehen, setzten Sadie und Matt sich mit neuen Getränken wieder zu Phil, der Sadie nachdrücklich und gleichzeitig dankbar ansah.

„Sollte es dir irgendwann zu viel werden, sag das einfach. Wir erwarten gar nichts … es ist nur, dass wir deine Durchsetzungsfähigkeit und deine ruhige Art in diesem Moment sicher zu schätzen wüssten. Ich wäre erst gar nicht auf die Idee gekommen, aber als Amelia es vorgeschlagen hat, war ich begeistert. Wir sind so gute Freunde, es wäre auch einfach ein tolles Erlebnis.“

„Das stimmt“, sagte Sadie.

„Solange ich nicht mit muss“, sagte Matt augenzwinkernd.

„Nein, wir Männer sind doch unnütz im Kreißsaal, wenn wir nicht gerade der werdende Vater sind. Und selbst dann …“

„Seid ihr überhaupt nicht“, widersprach Sadie gleich.

„Und das ist wirklich kein Problem für dich? Wir wollen dich nicht unter Druck setzen. Es ist ja völlig klar, dass du keine Hebamme bist, aber ich glaube, Amelia stellt sich vor, dass du dich schützend vor sie wirfst, wenn jemand ungebeten mit einem Messer anrückt.“

„Was ich definitiv tun würde“, sagte Sadie gleich. „Das wäre auch meine Horrorvorstellung gewesen.“

Phil nickte stumm, dann stand er auf und machte Anstalten, Sadie umarmen zu wollen. Sie stand ebenfalls auf und schloss ihn kameradschaftlich in die Arme.

„Ich freue mich wirklich, dass ihr mich dabei haben wollt. Das wird bestimmt gut“, sagte sie.

„Sicher. Ich mag deinen Vorschlag, so lange wie möglich zu warten. Weniger Zeit, etwas zu verbocken.“

Sadie nickte langsam. Sie hatte nicht vergessen, wie gut es ihr getan hatte, sich während der Geburt sicher zu fühlen. Wenn sie Amelia helfen konnte, das auch zu erleben, wollte sie es tun.

Sie wechselten das Thema, bevor Amelia zurückkehrte, und unterhielten sich über ihre Kinder und das Leben im Allgemeinen. Schließlich rutschte auch Phil ohne böse Hintergedanken die Frage heraus, ob Sadie und Matt fertig mit der Familienplanung waren, worauf diesmal Matt antwortete und sagte, dass es eigentlich gar kein Thema für sie war.

Sadie war ihm unendlich dankbar für diese Intervention, das sagte sie ihm gleich, als Phil und Amelia schließlich gegangen waren, weil Alyssa ins Bett musste. Als Hayley schlief, alles aufgeräumt war und sie es sich drinnen auf dem Sofa noch für einen Moment gemütlich machten, küsste sie ihn und dankte ihm für die Rettung ihrer Nerven, wie sie es formulierte.

„Phil meint es nicht böse“, sagte Matt gleich.

„Ich weiß, aber die Frage impliziert immer, dass wir eigentlich nicht glücklich sein können, so wie es ist. Das ist doch Unsinn. Mir fehlt überhaupt nichts.“

„Mir auch nicht. Im Moment geht es uns gut, auch finanziell, und wenn wir noch ein Kind bekämen, fiele unsere Hauptverdienerin länger aus. Überhaupt weiß ich nicht, ob unsere Finanzlage mit einem weiteren Kind immer noch so gut wäre.“

„Libby wird irgendwann auf eigenen Füßen stehen. Es wäre kein Dauerzustand.“

„Willst du?“, fragte Matt gerade heraus.

Sadie seufzte tief und schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht.“

„Dann lassen wir es doch einfach. Mich drängt nichts dazu und ich würde es nur tun, wenn dein Herz dran hinge. Aber so …“

Das zu hören, erleichterte Sadie. Sie hätte deshalb gar kein Problem gehabt, wären da nicht immer die anderen gewesen.

 

 

Samstag, 16. Oktober

 

Nach ihrer Schicht war Libby gleich zu Kieran gefahren, hatte sich dort umgezogen und für die Party vorbereitet. Anschließend hatten sie auf dem Weg nach San José noch etwas gegessen und waren pünktlich am Campus eingetroffen.

Die Cafeteria war geöffnet und auf der Wiese davor herrschte bereits ein buntes Treiben, als sie eintrafen. Kieran begrüßte gleich einige seiner Kommilitonen und stellte ihnen Libby vor, die auf jeden freundlich zuging und keinerlei Berührungsängste hatte. Das war vorbei. Wenig später stellte sie fest, dass sie auch einige Gesichter aus ihren Vorlesungen wiedererkannte und sprach diejenigen nun ebenfalls an. Das war die Gelegenheit.

Kieran holte sich ein zweites Bier, während Libby ihre Mitstudenten im Licht der untergehenden Sonne beobachtete. Sie interessierte sich nicht für Alkohol, aber sie hatte auch kein Problem damit, dass Kieran welchen trank, obwohl er selbst gerade erst neunzehn war. Gedurft hätte er es erst mit einundzwanzig, aber darauf achtete bei der Party niemand.

Während sie mit einer ihrer Kommilitoninnen namens Hannah ins Gespräch kam, beobachtete sie, wie sich ein junger Mann mit Kieran unterhielt, auf dessen T-Shirt zwei griechische Buchstaben prangten. Libby hielt ihn für einen von Kierans Kommilitonen und wunderte sich über die Buchstaben, dachte sich aber so lange nichts dabei, bis Hannah mit einer Kopfbewegung auf die beiden deutete.

„Ist dein Freund ein Verbindungsanwärter?“, fragte sie.

„Ein was?“, erwiderte Libby irritiert.

„Weil er mit jemandem von Theta Phi spricht.“

Als Libby weiterhin ein ratloses Gesicht machte, sagte Hannah mit hochgezogener Augenbraue: „Kennst du keine unserer Studentenverbindungen hier?“

„Nein … sollte ich?“, erwiderte Libby peinlich berührt. Da war wieder so eine Sache, von der sie überhaupt keine Ahnung hatte. Das kam immer noch vor, wenn auch zunehmend seltener.

„Hier an der SJSU gibt es ziemlich viele Verbindungen. Ich habe schon drüber nachgedacht, vielleicht Mitglied in einer zu werden.“

„Was hätte man davon?“, fragte Libby vorsichtig.

„Freundschaften … man hat immer Ansprechpartner, egal wobei, auch über die Studienzeit hinaus. Viele Gruppen hier haben auch Verbindungshäuser, in denen man wohnen kann. Man lebt zusammen, lernt zusammen, ist nie allein und wenn man Glück hat, findet man später leichter einen besseren Job.“

„Das klingt doch nicht schlecht“, sagte Libby.

„Ja, bloß sind manche Verbindungen ziemlich elitär und übertreiben es mit ihren Aufnahmeprozeduren. Man muss das wirklich wollen, bei einigen heißt es: Alles für die Verbindung … Das geht so weit, dass manche Leute nur noch mit den Mitgliedern ihrer Verbindung rumhängen und kaum noch mit anderen. Ich hab das bei meiner älteren Schwester mitbekommen, die ist Mitglied bei Kappa Delta. Das würde es mir erleichtern, reinzukommen, aber ich bin nicht sicher, ob ich will.“

Libby nickte verstehend. „Verstehe. Klingt ja fast ein bisschen wie … ich weiß nicht …“

„Ein Kult? Keine Ahnung. Manche führen sich auf wie eine Sekte und die Leute huldigen den älteren Mitgliedern, aber wofür überhaupt? Vor allem finde ich die Vorstellung der Aufnahmerituale gruselig.“

„Warum?“

Mit gesenkter Stimme fuhr Hannah fort: „Dabei sind schon Leute gestorben.“

Libby lachte. „Aber klar.“

„Nein, das ist mein Ernst. Lambda Phi Epsilon wurde hier vom Campus verbannt, nach dem an der San Francisco State University vor ein paar Jahren ein Student bei einem Aufnahmeritual an einer Alkoholvergiftung gestorben ist.“

Ungläubig starrte Libby Hannah an. „Wie viel muss man denn trinken, damit das passiert?“

„Ich weiß es nicht, aber obwohl solche Aufnahmerituale verboten sind, gibt es sie immer noch, zumindest im Geheimen. Pass mal besser auf deinen Freund auf, bevor der sich für Theta Phi begeistert, denn die machen das auch immer noch.“

„Okay“, sagte Libby verunsichert und schluckte.

„Ich meine ja nur“, sagte Hannah. „Willst du auch noch was zu trinken?“

„Nein, danke.“ Kopfschüttelnd blickte Libby hinüber zu Kieran, der sich immer noch sehr angeregt mit dem anderen jungen Mann unterhielt und sehr interessiert zu sein schien. Kurzerhand ging sie hinüber und hakte sich bei Kieran unter.

„Hey“, sagte er und blickte zu seinem Gesprächspartner. „Das ist meine Freundin, Libby Whitman.“

„Sehr erfreut, ich bin Anthony, aber Tony genügt“, sagte der junge Mann mit den griechischen Buchstaben auf dem T-Shirt und hielt Libby freundlich seine Hand hin. Sie versuchte, sich ihre Skepsis nicht anmerken zu lassen, als sie seine Hand schüttelte.

„Studiert ihr zusammen?“, erkundigte sie sich.

„Ich bin im gleichen Studiengang und leite eine von Kierans Übungen“, erklärte Tony.

„Und du bist bei Theta Phi“, sagte sie, um eine Reaktion zu provozieren.

Tony nickte und blickte hinab auf sein T-Shirt. „Das ist kein Geheimnis.“

„Verbindungen sind gar nicht schlecht“, sagte Kieran. „Ich habe mich gerade mit Tony über die Vorteile einer Mitgliedschaft bei Theta Phi unterhalten.“

„Ach was“, erwiderte Libby schnippisch.

„Dir könnte ich Delta Gamma empfehlen. Bei uns sind leider keine Frauen zugelassen, auch wenn sie so hübsch sind wie du“, sagte Tony augenzwinkernd.

Libby lächelte zuckersüß und zog Kieran am Arm. „Ich muss mit dir reden.“

„Wir sehen uns“, sagte Kieran entschuldigend zu Tony und folgte Libby an einen ruhigeren Platz auf der Wiese.

„Was ist denn los?“, fragte er irritiert.

„Denkst du etwa drüber nach, ein Verbindungsmitglied zu werden?“, fragte Libby.

„Warum denn nicht? So etwas kann sich lohnen. Wusstest du, dass Verbindungsmitglieder bessere Noten haben als Studenten, die nicht in einer Verbindung sind? Tony hat Recht, du könntest auch Mitglied in einer Verbindung für Frauen werden.“

Libby lachte kurz und schüttelte heftig den Kopf. „Nein, bestimmt nicht, Kieran. Ich werde auf keinen Fall Mitglied in irgendeiner Gruppe. Wie du dir vielleicht vorstellen kannst, habe ich es nicht so mit elitären Gemeinschaften, die glauben, für sie gelten keine oder nur ihre eigenen Regeln.“

„Was denn? Du hast doch gar keine Ahnung, wie die drauf sind“, verteidigte er sich, ohne auf ihre Aussage näher einzugehen.

„Du schon?“

„Ich würde es mir gern mal anhören, ja. Nächste Woche ist eine Verbindungsparty, zu der Tony mich gerade eingeladen hat.“

„Das hast du doch gar nicht nötig.“

„Ich würde es mir zumindest gern mal ansehen. Wenn du so etwas nicht magst, ist das deine Sache, aber lass mir doch auch meine Freiheit.“

„Schon gut“, sagte Libby und hob zum Zeichen des Friedens die Hände. „Mach, was du willst, aber lass mich bloß damit in Ruhe.“

„Klar, du musst ja nicht“, sagte Kieran, der sich bei ihrem Ausbruch in diesem Moment nichts dachte. Sie kehrten mitten ins Partygeschehen zurück und Libby stellte Hannah und Kieran einander vor, als Hannah wieder da war. Irgendwann tauchte auch Tony wieder auf und unterhielt sich sehr freundlich mit allen. Libby versuchte, nicht allzu misstrauisch zu sein und sagte sich, dass sie wohl kaum aus ihrer Haut konnte. Mit ihrer Vergangenheit musste sie Studentenverbindungen ja skeptisch betrachten.

Doch sie war sehr schweigsam, als sie später mit Kieran auf dem Heimweg war. Sie fuhr, da sie nichts getrunken hatte, und starrte stur geradeaus auf die Straße. Auf dem Freeway in Höhe Milpitas war es ihm schließlich zu dumm.

„Du bist immer noch sauer auf mich“, mutmaßte er.

„Ich bin nicht sauer, Kieran, ich mache mir nur Sorgen“, erwiderte Libby.

„Sorgen? Weshalb? Wegen einer Studentenverbindung?“

„Das verstehst du nicht“, sagte sie kopfschüttelnd. „Das ist mein eigenes Problem, aber ich finde die Vorstellung einer solchen Gruppe angsteinflößend.“

Kieran wollte schon etwas erwidern, aber dann hielt er inne und überlegte kurz.

„Verstehe. Es ist wegen deiner Herkunft, oder?“

Libby nickte und war nicht sehr überrascht, dass Kieran daran nicht gedacht hatte. Das war selten ein Thema zwischen ihnen. Sie ließ es ihn nie spüren, dass sie da eine Vergangenheit hatte – nicht einmal, wenn sie intim miteinander waren. Den Missbrauch durch ihren Onkel hatte sie längst überwunden, sie hatte Kieran nie davon erzählt. Sie wollte nicht, dass er sie mit Samthandschuhen anfasste.

„Ich kann mir das nur so schwer vorstellen“, sagte Kieran entschuldigend. „Das eine hat doch auch nichts mit dem anderen zu tun …“

„Das ist mir egal“, sagte Libby schnell. „Ich will einfach nie wieder in irgendeiner Gruppe sein. Da, wo ich herkomme, zählte man als Einzelner nicht, als Frau sowieso nicht. Es gab dort Regeln … wenn ich dir jetzt davon erzählen würde, würdest du mir nicht glauben. Du weißt ja, dass ich weggelaufen bin, weil ich die fünfte Frau meines Onkels werden sollte.“

Kieran nickte. „Das kann ich mir tatsächlich kaum vorstellen.“

„Als Frau ist man dort eine Sklavin, verstehst du? So etwas will ich nie wieder erleben. Ich will nicht Teil einer Gruppe sein, deren Regeln ich mich unterordnen muss. Das kann ich einfach nicht. Das wäre schlimm für mich.“

„Verstehe. Du musst ja nicht, ich meine … wenn du so darüber denkst …“

„Ich kann nicht, Kieran. Es behagt mir auch nicht, dass du das tun willst. Vorhin habe ich mit Hannah darüber gesprochen und sie hat mir erzählt, dass schon jemand bei der Aufnahmeprozedur in eine solche Gruppe gestorben ist.“

„Ja, das hat es mal gegeben, aber das ist verboten“, sagte Kieran. „Das würde ich doch nicht machen. Du musst dir keine Sorgen machen, es passiert doch nichts Schlimmes.“

„Wenn du das sagst“, murmelte Libby unglücklich und klang nicht sehr überzeugt.

„Ich schaue mir das nächste Woche mal an und wenn mir da irgendwas suspekt ist, bin ich sowieso gleich wieder weg.“

„Also schön“, sagte Libby, die keine Zicke sein wollte. Trotzdem fiel es ihr schwer, da entspannt zu bleiben.

Zu Hause angekommen, parkte Libby am Straßenrand und sie stiegen aus. Im Haus war es bereits dunkel und still, weshalb die beiden sich bemühten, keinen Lärm zu machen, um niemanden zu wecken. Sie schlichen gemeinsam nach oben in Libbys Zimmer und entspannten sich erst wieder, als die Tür zu war. Kieran zögerte keinen Augenblick zu lang, sondern drückte Libby verspielt gegen die Wand und küsste sie.

„Bist du müde?“, fragte er verschwörerisch.

Libby grinste. „Worauf willst du hinaus?“

„Du hast den ganzen Abend über so heiß ausgesehen …“

„Willst du mich etwa ins Bett kriegen?“

„Würdest du?“

Sie nickte und küsste ihn stürmisch. Es dauerte nicht lang, bis sie nebeneinander im Bett lagen, ihre Kleidungsstücke hatten sie wild auf dem Boden verstreut. Kieran beugte sich über Libby und küsste sie leidenschaftlich. Er schmeckte noch sehr nach Alkohol, woran sie sich nicht zu stören versuchte. Betrunken war er jedoch nicht, er bemühte sich sehr darum, zärtlich und aufmerksam zu sein und machte ein zufriedenes Gesicht, als Libby sich an ihn klammerte und leise stöhnend auf die Lippen biss.

Sie genoss es jedes Mal. Anfangs hatte sie immer daran gedacht, dass dieses Vergnügen ihr in der FLDS verwehrt geblieben wäre. Dort hatte man keinen Sex zum Spaß. Dort ließ man sich zum Zwecke der Vermehrung vergewaltigen. Sie war so froh, dass sie es gewagt hatte, von dort zu fliehen. Etwas Besseres hatte sie nicht tun können.

Schließlich löste sie sich von Kieran, warf ihn aufs Bett und setzte sich rittlings auf ihn. Er genoss es und ließ sie machen, aber sie hatte auch keine Hemmungen. Schließlich hielt sie sich selbst den Mund zu, um nicht laut herauszuschreien, und sank zitternd auf Kieran nieder, der sich von ihr mitreißen ließ und sie schließlich belustigt ansah.

„Meine süße Freundin ganz wild“, sagte er, als Libby keuchend neben ihm lag und versuchte, wieder zu Atem zu kommen.

„Erzogen wurde ich anders“, sagte sie und grinste breit.

„Ich bin froh, dass dir das immer egal war.“

„War es. Die Verantwortlichen sitzen ja zum Glück im Gefängnis, wo sie hingehören.“

„Wenn du jemals mehr davon erzählen willst, dann mach das ruhig“, bot Kieran an.

„Eigentlich nicht.“ Mit diesen Worten stand Libby auf und holte sich ihr Schlaf-Shirt und ihren Slip. „Ich bin nicht mehr Liberty Nichols und das ist auch gut so.“

 

 

Donnerstag, 21. Oktober

 

„Neuere Erkenntnisse lassen darauf schließen, dass Schlafentzug unmittelbar nach einem traumatischen Erlebnis die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer posttraumatischen Belastungsstörung verringern kann“, sagte Sadie mit kurzem Blick auf die Uhr. „Eine Studie an der University of Oxford ergab 2015, dass normaler Schlaf, der auf ein traumatisches Erlebnis folgt, die traumatischen Erinnerungen konsolidieren kann. Sie werden im Schlaf noch einmal durchlebt und festigen sich. Die Vermutung liegt also nahe, dass die bisherige Vorgehensweise, traumatisierten Personen Beruhigungsmittel für besseren Schlaf zu geben, in Wirklichkeit kontraproduktiv ist. Wer hingegen wenig oder gar nicht nach einer traumatischen Erfahrung schläft, leidet seltener an einer PTBS. Eine Bestätigung der Forschungsergebnisse aus Oxford steht bislang aus, aber ein Überdenken der sofortigen Intervention durch Seelsorge und Medikamentengabe ist auf jeden Fall überfällig. Damit wären wir für heute am Ende.“

Sadie bedankte sich für die Aufmerksamkeit und ihre Seminarteilnehmer begannen einzupacken. Wie meist kamen noch einige Studenten mit Fragen zu ihr, die sie gern beantwortete. Eine Studentin begleitete sie noch auf dem Weg zu ihrem Büro, wo Sadie vor der Mittagspause ihre Mails checken wollte. Sie hatte ihren Rechner gerade hochgefahren, als das Telefon klingelte.

„Whitman“, meldete sie sich.

„Detective Ellen Otero, San Francisco Police Department. Man sagte mir, dass Sie psychologische Gutachten in Strafverfahren erstellen …?“

„Das ist richtig. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Wir haben hier einen Fall, bei dem wir eine Beurteilung der Schuldfähigkeit des Täters brauchen.“

„Okay, das habe ich schon gemacht.“

„Können wir reden? Wann haben Sie Zeit?“

„Mein Seminar für heute ist schon zu Ende, ich kann gern zu Ihnen kommen.“

„Oh, das wäre fantastisch. Sie kennen die Central Police Station?“

Als Sadie bejahte, schlug Otero vor: „Ich weiß nicht, ob Sie schon gegessen haben, aber ich könnte Ihnen alles bei einem Mittagessen erklären. Mögen Sie Chinesisch? Ich lade Sie ein.“

Sie verabredeten einen Treffpunkt und Sadie machte sich gleich auf den Weg. Mittagessen mit einer Polizistin – das war ganz nach ihrem Geschmack.

Die Fahrt führte sie einmal quer durch San Francisco in den östlichen Teil unweit der Bay Bridge. Es war wieder ein goldener Herbsttag, was Sadie in dieser Gegend sehr genoss.

Sie parkte genau gegenüber der Police Station in einem Parkhaus und fand Detective Otero vor dem Haupteingang des Polizeigebäudes. Die Polizistin war eine kleine Latina Anfang vierzig mit kurzem Zopf, deren kräftiger Händedruck aber zu ihrer übrigen Präsenz passte, denn sie wirkte sehr selbstbewusst. So hatte ihre Stimme schon am Telefon geklungen.

„Kommen Sie“, sagte sie zu Sadie. „Die Nähe zu Chinatown sollten wir nutzen. Mögen Sie Dim Sum?“

Sadie nickte und folgte der Polizistin in ein gemütliches Restaurant zwei Blocks entfernt. Eine kleine Chinesin führte sie an einen ruhigen Tisch in einer Ecke und sie studierten erst einmal die Speisekarte, bevor sie sich dem Grund ihres Treffens zuwandten.

„Ich freue mich, dass Sie so schnell kommen konnten“, sagte Detective Otero, nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatten.

„Kein Problem. Donnerstags halte ich nur mein Seminar zum Thema Traumapsychologie.“

„Ja, ich habe schon auf Ihrer Seite des Fachbereichs gesehen, dass Sie das tun und in welchen Bereichen Sie forschen. Sie waren mal beim FBI?“

Sadie nickte. „Ich war Profilerin.“

„Fantastisch. Man hat Sie mir empfohlen, weil ich wirklich einen kniffligen Fall zu bearbeiten habe. Der Verteidiger möchte jetzt natürlich unbedingt die Schuldunfähigkeitskarte ausspielen und hat seinerseits schon einen Gutachter beauftragt, der – wen wundert es – in seinem Sinne geurteilt und der Frau bescheinigt hat, dass sie zum Tatzeitpunkt schuldunfähig war. Jetzt wollen wir natürlich wissen, ob das sein kann, und ich habe der Staatsanwaltschaft angeboten, mich zu kümmern, weil ich Ihren Namen schon einmal gehört hatte.“

„Wo denn das?“

„Einer meiner Kollegen kennt einen Scharfschützen beim SWAT.“

Sadie grinste. „Phil Richardson.“

„Genau. Richardson hatte ihm Ihren Namen schon einmal genannt und so bin ich jetzt bei Ihnen gelandet.“

„Worum geht es denn?“, fragte Sadie. Otero wartete mit ihrer Antwort, bis die Kellnerin die Getränke und die Suppe gebracht hatte.

„Es geht um eine junge Frau, die versucht hat, sich und ihre zwei Kinder umzubringen. Erweiterter Selbstmord. Das jüngere Kind ist gerade sechs Wochen alt. Die Frau heißt Anna Maynard, sechsundzwanzig, frisch vom Vater der Kinder getrennt. Sie scheint eine bipolare Störung zu haben, was wir so weit auch gar nicht anzweifeln, weil sie diese Diagnose schon lange hat. Sie hat aber wohl zu Beginn der Schwangerschaft ihre Medikamente abgesetzt, sie nahm unter anderem Lithium. Das scheint eine Kaskade von Problemen ausgelöst zu haben, weshalb der Kindsvater gegangen ist – mehr aus Verzweiflung und Ratlosigkeit, weil er nicht mehr mit ihr zurechtkam. Er hat dann das Jugendamt verständigt, weil er sich Sorgen um die Kinder machte, und deshalb wollte sie dann sich und die Kinder umbringen.“

Sadie nickte ernst. Sie fand die Vorstellung, dass eine Mutter ihre eigenen Kinder töten wollte, unerträglich.

„Geht es den Kindern gut?“, erkundigte sie sich.

„Ja, beide sind wohlauf und jetzt in der Obhut des Vaters. Miss Maynard ist akut suizidgefährdet und befindet sich in der geschlossenen Psychiatrie.“

„Wurde eine postpartale Psychose ausgeschlossen?“, fragte Sadie.

Otero machte große Augen. „Eine was?“

„So, wie es postpartale Depressionen gibt, gibt es auch postpartale Psychosen. Sie sind seltener, aber auch viel gefährlicher. Bedingt durch die Hormonumstellung und bei entsprechender Prädisposition können frischgebackene Mütter kurz nach der Entbindung Zwangsgedanken entwickeln.“

„Das habe ich ja noch nie gehört. Davon war bislang auch nicht die Rede, aber das klingt ja nicht unpassend.“

„Und jetzt wollen Sie, dass ich mal mit der Frau rede und herausfinde, was in ihr vorgegangen ist und ob sie schuldfähig ist oder nicht.“

„So ungefähr“, sagte Otero. „Wir wollen ihr nichts Böses, verstehen Sie? Die Frau ist verzweifelt, das ist mir klar. Wir müssen jetzt nur wissen, ob ihr bewusst war, was sie tut und wie wir weiter mit ihr verfahren müssen. Reicht eine begleitende Therapie im Gefängnis oder sollte sie von vornherein in einem Hochsicherheitskrankenhaus behandelt werden?“

„Oder in einem normalen Krankenhaus“, sagte Sadie. „Es ist ja gut, dass sie jetzt schon in der Psychiatrie ist, das ist der richtige Ort für sie.“

„Das war versuchter Mord an Schutzbefohlenen, wir müssen das verfolgen.“

„Ich weiß, ich war selbst lang genug Ermittlerin. Ich rede gern mit ihr, Detective, und spreche Ihnen meine Empfehlung hinsichtlich der weiteren Vorgehensweise aus.“

„Wunderbar, vielen Dank“, sagte Otero. „Wenn Sie gleich nach dem Essen mit mir ins Büro kommen, gebe ich Ihnen eine Kopie der Fallakte, damit Sie sich vorbereiten können und ich sorge dafür, dass Sie eine Besuchserlaubnis für Miss Maynard erhalten.“

„Sehr gut, danke. Ich werde sehen, was ich tun kann.“

„Danke, Mrs. Whitman. Ich will hier keinen Fehler machen, verstehen Sie?“

„Sicher, das ist auch richtig so. Danke für Ihr Vertrauen.“

„Selbstverständlich! Ich meine, wenn Sie mal Profilerin waren, gibt es vermutlich nichts, was Sie nicht schon mal gesehen haben.“

„So ungefähr“, sagte Sadie. „Was auch der Grund dafür ist, dass ich in die Lehre gegangen bin. Da geht es erheblich ruhiger zu.“

„Das glaube ich Ihnen. Sie waren aber nicht hier beim FBI, oder?“

„Nein, in Los Angeles.“

„Verstehe. Da hatten Sie sicher alle Hände voll zu tun.“

„Schon, ja.“ Sadie unterhielt sich gern mit der Polizistin, denn Otero war zwar interessiert, aber nicht aufdringlich. Die Zeit beim Mittagessen verflog im Nu und Sadie begleitete die Frau anschließend noch kurz in ihr Büro, wo Otero ihr eine vorbereitete Akte überreichte und ihr versprach, sich zu melden, sobald sie für Sadie eine Besuchserlaubnis in der Psychiatrie erwirkt hatte.

Sadie verabschiedete sich von ihr, machte sich mit der Akte unter dem Arm auf dem Weg zum Parkhaus und fuhr schließlich nach Hause. An der Uni hatte sie an diesem Tag keine Termine mehr, was ihr jetzt sehr gelegen kam.

Zu Hause angekommen, nutzte sie den Umstand, dass sie noch ganz allein war, um sich gleich in die Akte zu vertiefen. Libby war in der Uni, Hayley im Kindergarten und Matt unterwegs zu einem Fotoshooting.

Zuerst las sie den Polizeibericht, der beschrieb, was sich an dem fraglichen Tag zugetragen hatte. Gefunden hatte die Familie tatsächlich eine Mitarbeiterin des Jugendamtes, die mit Anna Maynard hatte sprechen wollen. Sie hatte um vierzehn Uhr vor der Tür gestanden und niemand hatte geöffnet. Es war totenstill in der Wohnung gewesen, doch eine Nachbarin, die das Klopfen gehört hatte, hatte angegeben, dass niemand die Wohnung verlassen hatte. Daraufhin hatten sie den Hausmeister alarmiert, der den Zutritt zur Wohnung ermöglicht hatte, und dort hatte man dann die Mutter mit ihren beiden Kindern im Arm auf dem Bett gefunden. Alle drei hatten eine Überdosis Beruhigungsmittel geschluckt, doch zum Glück war gerade beim Säugling die Menge nicht ausreichend gewesen, um ihm nachhaltig zu schaden. Die Mutter hatte unterschätzt, wie viel sie dem Neugeborenen hätte geben müssen. Die Dosis des älteren Kindes hatte sich als weitaus problematischer dargestellt.

Die herbeigerufenen Sanitäter hatten alle drei in Windeseile ins Krankenhaus gebracht, wo man sie hatte stabilisieren können. Die Kinder hatte man der Mutter gleich weggenommen, woraufhin sie fast wieder versucht hatte, sich umzubringen. Als sie stabil genug gewesen war, hatte man sie in die Psychiatrie gebracht und die Kinder dem Vater übergeben.

Sadie las gespannt weiter. Man hatte bei Anna Maynard mit fünfzehn die Diagnose einer bipolaren Störung gestellt und seitdem nahm sie verschiedene Antidepressiva, Neuroleptika und Beruhigungsmittel, außerdem seit der Geburt ihres ersten Kindes Lithium, das sie mit Bekanntwerden der zweiten Schwangerschaft abgesetzt hatte, um dem Kind nicht zu schaden. Überhaupt hatte sie nur die allernötigsten Medikamente genommen, was Sadie interessant fand. Sie hatte sich also auf ihr Kind gefreut und nur das Beste für das Ungeborene gewollt.

Allerdings wusste Sadie auch, dass das im Falle einer bipolaren Störung problematisch sein konnte, denn die Medikamente sorgten natürlich auch für emotionale Stabilität bei der Mutter, die nicht unwichtig war. Offensichtlich war genau das zum Problem geworden, denn Anna Maynard hatte ihren neugeborenen Sohn gestillt und deshalb auch nach seiner Geburt fast keine Medikamente genommen.

Sadie hatte eine ungefähre Vorstellung, was passiert war, die untermauert wurde, als sie die Aussage des Vaters der Kinder las. Anna war nach der Geburt regelrecht euphorisch geworden, aber wenige Tage später geradezu in ein Loch gefallen, aus dem sie nicht mehr herausgekommen war. Sadie stellte sich das wie einen tausendfach verstärkten Babyblues vor. Anna hatte nur noch mit dem Kind im Bett gelegen und es gestillt, geschlafen und ab und zu fern gesehen. Der Haushalt war verwahrlost, das ältere Kind hatte nur etwas zu essen bekommen, wenn der Vater nach der Arbeit etwas gemacht hatte. Er hatte schnell gesehen, dass es so nicht weiterging, eine Hebamme und Annas Arzt kontaktiert und schließlich seine Drohung, sie zu verlassen, wenn sie sich nicht helfen ließ, wahr gemacht. Weil er aber seine Kinder nicht schutzlos zurücklassen wollte, hatte er das Jugendamt eingeschaltet und Anna davon berichtet. Daraufhin hatte sie sich und die Kinder töten wollen.

In der ganzen Akte entdeckte Sadie keinen Hinweis darauf, ob Anna möglicherweise an einer postpartalen Psychose litt. Im Kontext ihrer Vorerkrankung fand Sadie das überhaupt nicht unwahrscheinlich und war etwas überrascht, dass daran bislang noch niemand gedacht hatte.

Falls Anna tatsächlich aufgrund einer psychotischen Störung Stimmen gehört hatte, die ihr befohlen hatten, ihre Kinder zu töten und sie nicht mehr zwischen Realität und Wahn hatte unterscheiden können, war es durchaus möglich, dass sie als schuldunfähig einzustufen war.

Sadie hatte bereits ein Gutachten in einem anderen Fall erstellt, in dem es um die Schuldfähigkeit gegangen war, und damals hatte sie die Schuldfähigkeit eindeutig festgestellt. Man war nur dann schuldunfähig, wenn man sich zum Tatzeitpunkt nicht darüber im Klaren war, dass man etwas Falsches und Verbotenes tat. Das bloße Vorliegen einer psychischen Erkrankung sorgte noch nicht dafür, dass jemand schuldunfähig war.

Sie schaffte es, sich in die Akte einzulesen, bis Libby nach Hause kam. An diesem Tag hatte Libby nur bis zum frühen Nachmittag Veranstaltungen in der Uni und war deshalb zeitig zurück, sogar noch vor Matt und Hayley. Nachdem sie ihre Schuhe ausgezogen hatte, stattete sie Sadie im Wohnzimmer einen Besuch ab und winkte leicht mit einer Hand zum Gruß.

„Hey“, sagte Sadie und lächelte ihr zu. „Hattest du einen guten Tag?“

„Jep“, erwiderte Libby relativ einsilbig. „Ich bin oben, wenn du mich suchst.“

„Alles in Ordnung?“

„Schon“, sagte Libby. „Hab nur viel zu tun.“

„Na dann … bis später“, sagte Sadie. Libby nickte und wandte sich zum Gehen, Sadie hörte ihre Schritte auf der Treppe. Sie wusste nicht, ob Libby nur schlecht gelaunt war oder ob etwas im Argen lag, aber sie würde das Mädchen nicht bedrängen. Wenn Libby sie brauchte, war sie da.

Donnerstag, 21. Oktober

 

Es war ihr schwer gefallen, ihn gehen zu lassen. Sie hatten die ganze Woche über nicht mehr über Kierans Vorhaben gesprochen, sich eventuell Theta Phi anzuschließen und Libby hatte auch keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Aber nun war Kieran allein in San José bei dieser Party von Theta Phi, zu der Tony ihn eingeladen hatte, und Libby hatte es versäumt, rechtzeitig Bescheid zu geben, dass sie an diesem Abend hätte arbeiten können. So saß sie nun allein in ihrem Zimmer und überlegte, ob sie sich einen Film ansehen sollte, um sich die Zeit zu vertreiben, aber dann kam ihr eine andere Idee.

Sie setzte sich vor ihren Laptop und beschloss, sich zum Thema Studentenverbindungen schlau zu machen. Vielleicht war das alles auch halb so wild und sie machte sich ganz umsonst Gedanken und Sorgen, aber das war ein Thema, mit dem sie sich noch nie auseinandergesetzt hatte und über das sie auch nicht viel wusste.

Auf der Homepage ihrer Uni stand einiges zu Studentenverbindungen. Die meisten waren nach Geschlechtern getrennt, manche beschränkten sich auf bestimmte Fachbereiche, andere waren nur für asiatische oder afroamerikanische Mitglieder. Die Uni ermutigte ausdrücklich dazu, sich in Studentenverbindungen zu engagieren, um sich das Leben an der Uni noch angenehmer zu machen. Libby las von neun Millionen Verbindungsmitgliedern in den USA, also hatte sie es nicht mit einem Randphänomen zu tun. Alle bis auf zwei US-Präsidenten waren Verbindungsmitglieder und fast achtzig Prozent der Kongressmitglieder. Aber das hatte Kieran ihr ja auch gesagt – als Verbindungsmitglied konnte man es weit bringen. Vielleicht weiter als jeder Einzelkämpfer, denn die Mitgliedschaft bestand nicht nur an der Hochschule. Freundschaft, Spaß, Gemeinschaft … das klang eigentlich wirklich nicht schlecht. Es war Libbys persönliches Problem, dass sie bei solchen Gemeinschaften skeptisch war.

Nach ihrer Flucht aus der FLDS hatte sie sich umfassend über das Treiben der Sekte aus unabhängigen Quellen informiert und war nur noch erleichterter darüber, dass sie diesem Elend entkommen war. Seitdem hatte sie sich geschworen, nie wieder einer ähnlichen Gruppe angehören zu wollen und es gefiel ihr nicht, dass Kieran es jetzt wollte.

Auch an der SJSU gab es Verbindungshäuser, in denen man wohnen konnte. Eigentlich klang das alles ganz gut, aber sie fand schnell den Hinweis auf am Campus verbotene Verbindungen und las tatsächlich etwas über einen Todesfall im Zusammenhang mit Hazing.

Libby beschloss gleich, den Begriff nachzuschlagen und schluckte schwer, als sie sah, dass Hannahs Befürchtungen nicht aus der Luft gegriffen waren. Ungefähr die Hälfte aller Verbindungen unterzog Anwärter einer rigorosen Aufnahmeprozedur, in der sie sich erst als würdig erweisen sollten – ungeachtet der Tatsache, dass Hazing eigentlich verboten war.

Ihr wurde fast übel, als sie weiterlas. Hiebe mit Rohrstöcken und Trinkwettbewerbe gehörten da fast noch zu den harmloseren Dingen. Manchmal wurden Anwärter dazu gezwungen, verdorbene Lebensmittel zu essen, sich mit Exkrementen einzureiben, bei Trinkspielen ihr eigenes Erbrochenes zu essen oder Zimmer zu reinigen, die voller Exkremente oder toter Tiere waren. Manche Anwärter wurden gezwungen, rohe Eier oder viel scharfe Soße zu essen, sich lächerlich zu kleiden, bekamen Brandings, wurden mit Lärm gequält oder durften nicht schlafen. Je weiter Libby las, desto eher erinnerten diese Beschreibungen sie an Folter. Als sie in der Wikipedia einen Link zu einer langen Liste von Hazing-Todesfällen fand, wurde ihr kalt.

Sie las von Alkoholvergiftungen, unterlassener Hilfeleistung, Wasservergiftungen, stumpfer Gewalt und Ertrinken. Sie konnte es nicht fassen.

Sofort griff sie nach ihrem Handy und schrieb eine Nachricht an Kieran. Bitte melde dich bei mir. Wenn die irgendwelche kranken Aufnahmerituale machen wollen, verschwinde da bloß. Ich mache mir Sorgen.

Das war es nicht wert. Sie hoffte, dass Theta Phi nicht tatsächlich Hazing-Rituale durchführte und dass Kieran ansonsten klug genug war, zu gehen und sich nicht darauf einzulassen. Das alles las sich wirklich nicht gut.

Wer würde so etwas tun? Waren Studenten nicht klug genug, um bei so etwas nicht mitzumachen? Es fiel Libby schwer, sich vorzustellen, warum jemand sich so demütigen und quälen ließ. Die Verbindungen begründeten es damit, dass die Anwärter erst beweisen mussten, dass sie würdig waren, aber Libby hatte für solch elitäres Gehabe nichts übrig. Sie hatte ja gewusst, dass es an Hochschulen ein Problem mit sexueller Gewalt gab und sich innerlich gewappnet und gefreut, dass sie Kieran hatte, aber darauf war sie nicht vorbereitet gewesen.

Nein, sie hatte für solche Gruppen definitiv nichts übrig. Hoffentlich war Kieran vernünftig …

Sie las über ein Gesetz, das im Zusammenhang mit dem Hazing-Todesfall von Matthew Carrington erlassen worden war, und klappte schließlich frustriert und mit Herzrasen ihren Laptop zu. Das war zu viel. Sie beschloss, nach unten zu gehen, wo Sadie und Matt allein saßen, weil Hayley schon im Bett war. Vielleicht konnten die beiden ihr etwas dazu sagen und sie vielleicht sogar beruhigen.

Sie unterhielten sich gerade und Libby holte sich erst einmal etwas Kühles zu trinken, bevor sie sich zu ihnen setzte. Sie hatte gerade erst Platz genommen, als eine Antwort von Kieran sie erreichte.

Alles bestens. Hab dich lieb.

Das war immerhin besser als nichts, dachte Libby und steckte ihr Handy wieder weg. Matt sah sie überrascht an, als sie aufblickte.

„Hat Kieran heute etwas vor?“, fragte er ahnungslos.

„Ja, leider“, erwiderte Libby.

„Was ist denn los?“, erkundigte Sadie sich.

Libby starrte auf das Glas in ihren Händen und seufzte. „Er ist heute auf einer Verbindungsparty.“

„Von einer Studentenverbindung?“, fragte Matt.

„Genau. Hattet ihr damit mal zu tun?“

Die beiden sahen einander an und Matt antwortete zuerst.

„Persönlich nicht. Ich glaube, in Modesto, wo ich am College war, gibt es zwar Verbindungen, aber ich habe mich nie dafür interessiert. Bei dir?“

„Schon“, sagte Sadie. „Ich habe mich auch nie dafür interessiert, ich war eine ziemliche Einzelgängerin am College. In der Schule habe ich mich ja so durchgewurschtelt und hatte immer Tessa als Ansprechpartnerin, das hat mir gereicht. Auf dem College hatte ich ja wieder das Problem, dass ich nicht sagen konnte, wer ich wirklich bin und ich habe mich tatsächlich sehr aufs Studium konzentriert. Ich kann mich aber an einen Vorfall erinnern, der damals auch durch die Medien ging. Ein Student ist bei einer Aufnahmeprozedur fast an einer Alkoholvergiftung gestorben. Da wusste ich wieder, warum mich das alles gar nicht interessiert …“

„Klingt so, als wärst du ein ziemliches Mauerblümchen gewesen“, sagte Matt.

„Eher eine Streberin. Es war ja nicht, dass es keine Studenten gegeben hätte, die mir gefallen hätten, aber ich habe mich nie getraut, einen anzusprechen. Wärst du damals nicht so hartnäckig gewesen, wären wir auch nicht zusammen.“ Sadie lachte und wandte sich Libby wieder zu. „Kieran will also in eine Verbindung?“

„Hat er gesagt, ja. Er will sich das mal anschauen. Ich habe schon mit ihm darüber gesprochen und er meinte ja sogar, ich soll mir das doch auch überlegen …“ Libby verdrehte die Augen.

„Das ist doch genau das Richtige für dich“, feixte Matt.

„Ja, total. Ich hatte bis gerade gar keine Ahnung, dass es das gibt und was das überhaupt ist, aber jetzt habe ich auch von diesem Hazing bei der Aufnahme gelesen und mache mir ehrlich gesagt Sorgen.“

„Praktiziert diese Verbindung das denn?“, fragte Sadie.

„Hannah meinte, sie tun es. Auch wenn mir nicht ganz klar ist, warum jemand sich das antun würde.“

„Das hat wieder etwas mit Psychologie zu tun“, sagte Sadie. „Eine solche Prozedur über sich ergehen zu lassen, führt dazu, dass man sich schließlich erhabener fühlt und einen stärkeren Zusammenhalt hat.“

„Okay, aber wenn man doch weiß, wie ätzend das ist – warum würde man das dann seinen Nachfolgern noch antun?“

„Warum sollten die es besser haben?“

Libby verstand. „Das ist doch krank. Was soll ich denn jetzt machen?“

Sadie verstand die Not, in der ihre Adoptivtochter sich befand, und war auch selbst beunruhigt. „Warte mal ab, was Kieran erzählt. Vielleicht ist es ja gar nicht das Richtige für ihn.“

„Und was, wenn doch? Wenn er da Mitglied werden will und sie wollen, dass er so kranken Mist macht? Es ist ja nicht bloß, dass ich das falsch finde. Vor allem ist es gefährlich.“

„Warte erst mal ab. Wenn es Handlungsbedarf gibt, finden wir sicher auch noch eine Lösung.“

Ein Lächeln huschte über Libbys Lippen. „Danke. Es ist toll, dass ich mit euch darüber reden kann.“

„Du kannst mit uns über alles reden“, sagte Matt. „Ist doch klar.“

„Okay. Ich halte euch auf dem Laufenden.“ Mit diesen Worten stand Libby auf und ging wieder in ihr Zimmer. Nachdenklich schaute Sadie ihr hinterher.

„Dass gerade sie bei solchen Dingen einen wunden Punkt hat, ist ja nun keine Überraschung“, sagte Matt.

„Sicher, aber diese Aufnahmeprozeduren sind ein echtes Problem. Da kann ich ihre Sorgen schon verstehen.“

„Kieran wird doch wohl klug genug sein, sich nicht auf so etwas einzulassen.“

„Das hat mit Intelligenz nichts zu tun. Studentenverbindungen bringen viele Vorteile mit sich, und wenn harte Aufnahmeprozeduren durchlaufen werden müssen, um sich diese Vorteile zu erschließen, dann beißen die Anwärter die Zähne zusammen und ziehen das durch. So etwas gibt es ja nicht bloß im universitären Umfeld.“

„Nein, sicher. Ich weiß nicht, wie es bei dir an der Police Academy war, aber als Neuling musste ich es mir auch gefallen lassen, mich mal mit Handschellen irgendwo anketten zu lassen und zu sehen, wie ich klarkomme …“

„Ja, aber in deinem Fall war das Spaß. Hazing ist manchmal kein Spaß mehr, sondern Folter.“

Matt runzelte fragend die Stirn. „Seit wann kennst du dich denn da aus?“

Sadie bedachte ihn mit einem schiefen Blick. „Als Psychologiedozentin sollte ich vielleicht wissen, wie so etwas abläuft. Ganz davon abgesehen, dass es vor wenigen Jahren einen Todesfall wegen Hazing an der San Francisco State University gab.“

„Das wusste ich nicht.“

„Ja, soweit ich weiß, ging es da auch um eine Alkoholvergiftung. Die San Francisco State hat Lambda Phi Epsilon dann vom Campus verbannt. Die Verbindung ist für asiatischstämmige Studenten und das war meines Wissens schon der dritte Todesfall landesweit, der mit ihnen in Verbindung gebracht wurde. Das ist also nicht bloß ein Randphänomen.“

„Nein, sicher. Ich hätte nur nicht gedacht, dass du da Ahnung hast.“

„Wir als Dozenten sind natürlich auch in der Pflicht, ein Auge darauf zu haben, ob ein Student sich merkwürdig verhält. In eine Studentenverbindung schafft es nicht jeder, diese Initiationsriten sollen ja auch ein wenig den Status des Besonderen betonen. Viele Verbindungen verzichten auch darauf oder machen wirklich nur harmlose Spielchen, aber manchmal machen die Sachen, die grenzen wirklich an Folter.“

„Ich hoffe, Libby macht sich ganz umsonst Sorgen.“

„Das hoffe ich auch. Sollte dem nicht so sein, würden wir es wohl merken.“ Sadie nahm sich fest vor, darauf zu achten, weil sie wusste, dass damit nicht zu spaßen war.

 

 

 

 

 

Donnerstag, 21. Oktober

 

Während er sich dem Verbindungshaus von Theta Phi näherte, versuchte Kieran, seine Aufregung in den Griff zu bekommen. Man hatte ihn eingeladen. Das war der erste Schritt in die richtige Richtung. Tony hatte ihm so viel Positives erzählt, dass er es kaum erwarten konnte, ein Teil des Ganzen zu werden. Das konnte nur gut werden!

Libby war voreingenommen. Das verstand er auch, sie konnte ja gar nicht anders – bei ihrer Vorgeschichte …

Er hatte immer zur Kenntnis genommen, was sie ihm erzählt hatte. Dass sie aus einer Mormonensekte stammte, die nicht nur polygam lebte, sondern darüber hinaus auch ziemlich kranke Vorstellungen hatte. Er hatte das einfach akzeptiert und sich gewundert, denn er hatte es ihr nie angemerkt. Sie wirkte total normal auf ihn, deshalb hatte ihn auch ihr Ausbruch bezüglich der Studentenverbindung überrascht.

Natürlich sah sie das kritisch. Sie war solchen Gruppen gegenüber garantiert nicht positiv eingestellt.

Aber er war es. Er wollte ein Teil dieser Gruppe sein, weil es gut für ihn war. Bei Tony hatte er es gesehen, er war einer der Jahrgangsbesten, er leitete seine Übungsgruppe und wusste verdammt viel. Er hatte ihn auch schon oft zusammen mit anderen Verbindungsmitgliedern gesehen. Sie wohnten zusammen im Verbindungshaus und weil das günstig für sie war, konnten sie sich sogar coole Autos leisten. Was sprach dagegen, an der Uni Anschluss zu finden und einer von den Überfliegern zu werden? Einer von denen, zu denen andere aufblickten? Er fühlte sich ja geehrt, dass Tony ihn bei seinen Leuten vorgeschlagen hatte und er nun eingeladen worden war. Das war eine riesige Chance für ihn – da konnte er auf Libbys Befindlichkeiten wenig Rücksicht nehmen, zumal es sie ja nur am Rande betraf.

Er hatte das Haus noch nicht erreicht, als Tony ihm persönlich die Tür öffnete, ihn willkommen hieß und ihn bat, einzutreten. Der Flur und auch der Raum, den sie anschließend betraten, empfingen ihn mit Dämmerlicht. Es waren schon viele Verbindungsmitglieder anwesend, alle trugen Kleidung mit den aufgedruckten griechischen Buchstaben ihrer Verbindung.

„Meine Herren, Kieran Woodley“, stellte Tony ihn in der Runde vor. „Erstes Semester Luft- und Raumfahrtwissenschaften. Er ist einer der hellsten Köpfe in meiner Übung und in meinen Augen stellt er eine gute Ergänzung unserer Verbindung dar.“

Kieran freute sich insgeheim, als er von allen sehr herzlich begrüßt wurde. Er schüttelte eine Hand nach der anderen, die Verbindungsmitglieder gingen freundlich auf ihn zu. Allerdings war er nicht der einzige Außenstehende, zu der Party waren natürlich auch andere Anwärter eingeladen worden. Das hatte Tony ihm aber auch nicht anders versprochen. Es ging darum, sich vorzustellen und natürlich auch selbst die Verbindung kennenzulernen. Es war ein gegenseitiges Beschnuppern unter dem Gesichtspunkt, ob man zueinander passte.

Es gefiel ihm auf Anhieb. Es lief aktuelle Musik, man reichte ihm etwas zu trinken, er wurde immer wieder in Gespräche verwickelt. Plötzlich war er Teil von etwas. Das hatte er sich so gewünscht und bisher gefiel es ihm verdammt gut. Als er spürte, wie sein Handy in seiner Hosentasche vibrierte, zog er es heraus und entdeckte eine Nachricht von Libby. Sie machte sich Sorgen um ihn. Kranke Aufnahmerituale … Kieran schüttelte leicht den Kopf und tippte eine kurze Antwort, um sie zu beruhigen. Sie sollte sich nicht verrückt machen.

Das Haus war groß und sehr ansprechend eingerichtet – ausgehend von dem, was er bislang gesehen hatte. Wenn Libby schon nicht mit ihm zusammenziehen wollte, war das für ihn eine gute Möglichkeit, aus Pleasanton rauszukommen.

Libby war da eigen. Es störte ihn nicht, auch wenn er manche Dinge bei ihr einfach akzeptieren musste. Ihr Verhältnis zu ihren Adoptiveltern war eng, vor allem zu Mrs. Whitman, was Kieran zwar für seine Freundin freute, aber das kannte er von Gleichaltrigen nicht. Alle hatten es furchtbar eilig, zu Hause rauszukommen, aber Libby zauderte da ein wenig und hatte ihre vierjährige Schwester als Grund dafür angeführt, warum sie nicht von zu Hause weg konnte. Wer zum Teufel interessierte sich denn nach dem High School-Abschluss noch dafür, was eine Vierjährige machte? Und dann auch noch die Tochter der Adoptiveltern …

Libby hatte ihm nicht alles über sich und ihre Eltern erzählt, das wusste Kieran inzwischen. Er konnte sich auch denken, warum das so war – sie wollte einfach nur ein normales Leben leben. Sie hatte ihm zwar noch erzählt, dass sie vor einigen Jahren als Zeugin gegen ihren eigenen Vater, ihren Onkel und den Sektenführer aus Yucca Vally ausgesagt hatte. Er wusste auch, dass ihr Vater ihre Mutter umgebracht hatte und konnte verstehen, dass sie froh war, bei den Whitmans ein neues Zuhause gefunden zu haben. Allerdings wusste er inzwischen auch, dass sie ihm eine ganze Menge speziell über ihre Adoptivmutter nicht erzählt hatte, wodurch er erst vor den Kopf gestoßen war, aber dann hatte er versucht, es zu verstehen. Inzwischen glaubte er, dass die Whitmans nicht ohne Grund Los Angeles und das FBI verlassen und ein ruhiges neues Leben in Pleasanton begonnen hatten. Er bezog das nicht auf sich und hatte beschlossen, es einfach hinzunehmen, was er für das Beste hielt. Aber Libbys Beziehung zu ihrer Familie war eben speziell und das musste er akzeptieren – aber sie musste eben auch akzeptieren, dass er weiterkommen wollte.

„Und, amüsierst du dich gut?“, erkundigte Tony sich bei ihm, nachdem er mit einem der anderen Anwärter gesprochen hatte.

„Es ist toll. Du hast nicht zu viel versprochen“, erwiderte Kieran erfreut.

„Das dachte ich mir doch. Es macht im Studium einen Unterschied, ob man ein solches Netzwerk für sich nutzen kann. Für das ganze restliche Leben eigentlich … du kannst ja immer Mitglied bleiben. Fast alle bleiben das auch und unterstützen ihre Nachfolger, was ein wichtiger und wertvoller Beitrag ist.“

Kieran nickte verstehend. „Nur so kann eine solche Gemeinschaft funktionieren.“

„So ist es.“

„Wonach sucht ihr eure Anwärter aus?“

„Nun, wir suchen die vielversprechendsten Talente aus unterschiedlichen Fachbereichen. Kluge Köpfe, die wissen, was sie wollen. Menschen mit Sinn für die Gemeinschaft, die das zu schätzen wissen, sich gegenseitig unterstützen und auf die Verlass ist. Wir wollen aber auch Spaß miteinander haben und halten uns gegenseitig den Rücken frei. Ich hatte den Eindruck, dass ich da bei dir auch was gesehen habe.“

„Da liegst du wohl nicht ganz falsch“, sagte Kieran.

„Ob das stimmt, musst du natürlich, so wie alle anderen auch, erst noch unter Beweis stellen“, sagte Tony mit verschwörerischem Gesichtsausdruck. Kieran horchte sofort auf.

„Inwiefern?“

„Na, denkst du, die Mitgliedschaft hier gibt es umsonst? Alle Anwärter müssen erst beweisen, dass sie es wert sind, ein Teil unserer Gemeinschaft zu werden.“

Kieran nickte verstehend und überlegte, ob er provokant fragen sollte, aber eigentlich war es ihm das nicht wert. Er würde es auf sich zukommen lassen und sehen, was geschah.

Doch Tony bemerkte sein Zögern und sah ihn forschend an. „Was ist los?“

„Gar nichts“, behauptete Kieran.

„Es ist wegen der Aufnahme, nicht wahr? Wir machen hier nichts Verbotenes. Nicht, dass du das denkst. Das ist alles freiwillig.“

„Also muss man das nicht machen, wenn man Mitglied werden will?“

„Doch, aber es zwingt einen ja niemand, hier dabei zu sein.“

Kieran fand die Logik eigenwillig, wies Tony aber nicht darauf hin. Stattdessen fragte er: „Wie geht es jetzt überhaupt weiter?“

„Nun, du solltest heute Abend dafür sorgen, dass viele Mitglieder dich kennenlernen. Das gilt für die anderen Anwärter genau so, denn wir sind hier in der Aufnahme nicht beschränkt, ihr müsst also um keine knappen Plätze konkurrieren. Erfahrungsgemäß ist es allerdings so, dass man mindestens mit einem der anderen Anwärter eine engere Freundschaft schließt, also seid nett zueinander.“

„Okay“, sagte Kieran. „Und was muss man hier machen, um sich zu beweisen?“

„Das ist geheim“, sagte Tony augenzwinkernd. „Du wirst schon sehen. Verhalte dich heute einfach wie immer und sei schön gesellig, dann wirst du in ein paar Tagen erfahren, ob du in die engere Auswahl gekommen bist oder nicht. Wenn das so ist, wirst du wieder hierher eingeladen für die Aufnahmeprozedur. Wenn du das gut machst, bist du sofort drin. Auf Lebenszeit, wenn du willst. Wir werfen niemanden raus, es sei denn, er begeht eine schwere Verfehlung.“

„Und was wäre das zum Beispiel?“

„Nun, wir haben tatsächlich schon jemanden rausgeworfen, der mindestens eine Studentin vergewaltigt hat. So etwas dulden wir hier überhaupt nicht.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739443249
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Mai)
Schlagworte
Profiler Rituale Entführung Krimi Psychopath Spannung Studentenverbindung Hazing Psychothriller Ermittler

Autor

  • Dania Dicken (Autor:in)

Dania Dicken, Jahrgang 1985, schreibt seit der Kindheit. Die in Krefeld lebende Autorin hat Psychologie und Informatik studiert und als Online-Redakteurin gearbeitet. Mit den Grundlagen aus dem Psychologiestudium setzte sie ein langgehegtes Vorhaben in die Tat um und schreibt seitdem Psychothriller zum Thema Profiling. Bei Bastei Lübbe hat sie die Profiler-Reihe und ihre neue Serie "Profiling Murder" veröffentlicht, im Eigenverlag erscheinen "Die Seele des Bösen" und ihre Fantasyromane.
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Titel: Die Seele des Bösen – Tödliche Rituale