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Limitless Love Die Unsterblichkeit der Liebe

Liebesroman

von Adelina Zwaan (Autor:in) Anna Conradi (Autor:in)
305 Seiten
Reihe: Limitless Love, Band 1

Zusammenfassung

Was opferst du, wenn die Liebe auf dem Spiel steht?

Als der zurückhaltende Rafael auf einer Geburtstagsparty die hellsichtige Paula trifft, sprühen die Funken der Liebe. Sie werden ein Paar, bekommen eine Tochter, reisen nach Island. Jahre später, in Berlin zurück, gerät ihre Beziehung in turbulente Gewässer. Inmitten von Familiengeheimnissen und emotionalen Stürmen kämpfen beide verzweifelt um ihr Glück.

Trotz ihrer ungebrochen starken Liebe trennen sich beide. Ein schicksalhafter Fehler ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhalt

Limitless Love - Die Unsterblichkeit der Liebe

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Das Warum und Wie

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Bibliografie AZ Books

Über die Autorin

Impressum

 

 

 

 

 

 

 

Limitless Love - Die Unsterblichkeit der Liebe

Adelina Zwaan

 

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Widmung

 

Für meinen lieben Mann, allerbesten Freund und geliebten Seelenpartner.

Du bist alles für mich.

Alles.

 

Loslassen entfaltet seine heilende Wirkung erst, wenn sich die Finger nach und nach aus der krampfenden Faust lösen.

 

Adelina Zwaan

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

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Der heutige Tag ist knallrot in meinem Kalender markiert. Obendrein mehrmals eingekreist. Einen Text habe ich mir gespart und stattdessen eine liegende Acht in das Notizfeld gekritzelt.

Viele Worte braucht es für gewisse Sachen nicht. Jedenfalls nicht für einen denkwürdigen Tag.

Seltsamerweise ignoriere ich die Tränen, die meine Wangen hinabrollen. Ich spüre jedoch die klammen Finger der Krankenschwester, als würde mich der Tod umkreisen und unaufhaltsam in seinen Bann ziehen. Vermutlich übertreibe ich. Sie berührt meine Schulter, damit ich mich in dieser schweren Stunde nicht verloren fühle. Wie sich bestimmt all jene verloren fühlen, die vor wenigen Augenblicken den Raum betreten haben.

Nah an meinem Ohr flüstert der Oberarzt tröstende Worte. Er sagt, es tut nicht weh. Er weiß gar nichts.

Wie auch? Er ahnt nicht wie gewaltig die Flammen in mir lodern. Keiner hört die verzweifelten Schreie, das herzzerreißende Flehen.

Niemand versteht es. Wie so oft.

Wer begreift schon, was sich direkt vor seiner Nase abspielt? Alle gaukeln sich vor, sie würden das Leben verstehen. Trotzdem zanken und streiten sie sich permanent, anstatt zu verzeihen und den Gott einen lieben Mann sein zu lassen.

Hinterher. Ja, hinterher verstehen wir, wie das Spiel läuft. Dann bereuen wir bitter, dem Moment nicht grundehrlich Ehre erwiesen zu haben.

Leise murmele ich einen Gruß und verlasse das Krankenzimmer. Keiner der Umstehenden wagt es, mich zurückzuhalten.

Vor der Tür eines Krankenzimmers geht Sarah auf und ab. Patricia, meine Schwiegermutter, liegt in dem Zimmer und erholt sich von dem aufreibenden Geschehen. Sarah passt auf sie auf.

Nun steht sie dort, der Blick verhangen, das Unfassbare kaum begreifend. Unruhig knabbert sie am Daumennagel. Nachdem sie mich bemerkt, wendet sie sich schmollend ab. »Du hast Glück, Rafael. Die Krankenschwester war schnell mit einer Beruhigungsspritze da, sonst hätte sie mir glatt die Augen ausgekratzt. Ich würde mal sagen, es war ziemlich knapp von dir kalkuliert.«

Ihre Stimme klingt unzufrieden, dabei haben alle Beteiligten ihre Sache erstklassig erledigt. Besonders sie.

»Ruht sie sich aus? Danke dir, Sarah.«

»Was passiert jetzt?«, erfragt sie ihren nächsten Auftrag und wendet sich ab, obwohl sie mich in den Raum begleitet, in dem meine Schwiegermutter ausruht.

»Ich fahre heim.«

»Du fährst heim? Als wäre nichts passiert?«

»Ich habe erreicht, was ich wollte. Hier gibt es nichts mehr zu tun, daher fahre ich heim.«

»Viel Spaß«, entgegnet sie mit finsterer Miene, schnappt ihre Jacke und legt sie über ihren angewinkelten Unterarm. Sie bedenkt mich mit einem tiefsinnigen Blick und runzelt ihre Stirn, statt zu gehen. »Für wie blöd hältst du mich, Rafael?«

»Ich halte dich nicht für blöd. Besorgt um deine Zulassung, trifft es eher. Ebendarum habe ich dich engagiert. Hier ist dein vereinbartes Honorar. Wie besprochen in einhundert Euro Scheinen. Möchtest du nachzählen?«

»Nicht nötig«, murmelt sie, schlägt mehrmals den braunen Briefumschlag auf ihren Handrücken und mustert mich kritisch. Wie immer zeichnet sich dabei eine eindeutige Falte am unteren Augenwinkel ab. »Möchtest du über eben sprechen?«

»Nein, da gibt es nicht zu besprechen. Alles ist nach Plan gelaufen. Wir sind fertig.«

»Du verhältst dich wie ein Oberarsch, damit … Gott, ich dachte …«

Meine Finger, die ich rasch auf ihren Arm lege, unterbrechen ihren Anflug von Groll, der sich nun in einer tiefen Zornesfalte zwischen den Augenbrauen äußert. Sogleich schweigt sie. Reglos, mit fest zusammengepressten Lippen und niedergeschlagen starrt sie aus dem Krankenhausfenster zu einem Krankenwagen, der mit Blaulicht und Martinshorn einen Patienten in die Notaufnahme einliefert.

»Sag das nicht«, bitte ich flüsternd.

»Rafael, ich … ich mag dich.«

Ihr Gesichtsausdruck wechselt von ungehalten zu inständig bittend, bis ich sie in meine Arme ziehe. Dort weint sie ihre Enttäuschung hinaus und bricht mein Herz in zwei Teile. Verzweifelt wimmert sie, rüttelt damit an meinem Entschluss, bis ich mein Gesicht in ihre Haare vergrabe und sie zum Abschied kräftig umarme.

Es geht nicht.

Ich kann nicht.

»Und ich mag dich, kann aber im Moment nicht. Ich muss los. Mein Vorstellungstermin.«

»Oh Mann, oh Mann. Du raubst mir echt die letzten Nerven, Rafael. Du sturer, dummer Mann. Bitte geh nicht.«

Meine Zeit drängt, dennoch lächele ich verzagt und schiebe sie behutsam von mir. Tapfer wischt sie ihre Tränen fort, als wäre ihr soeben nicht das verlockende Angebot über die Lippen gekommen. Von der neuerlichen Zurückweisung gekränkt, senkt sie den Kopf, reißt sich zusammen und fummelt geistesabwesend an der modischen Bluejeans herum.

»Denkst du wenigstens gelegentlich an mich?«, hauche ich erstickt.

»Ich könnte während der Sitzungen Strichmännchen neben die Notizen malen und an dich denken, du dummer, aber liebenswerter Mann.«

Ein zufriedenes Lächeln huscht über meine Lippen, denn ich habe ein Faible für ihren subtilen Humor entwickelt. Auf die eine oder andere Art vermisse ich ihn schon jetzt.

Nachdenklich betrachtet sie Patricia, die fix und fertig ist. Sarah hingegen hat die paradoxe Situation unbeschadet überstanden. Sie wirkt kraftvoll wie der frisch eingezogene Frühling. Ausnahmsweise hat sie heute Morgen die Therapeutin im Büro gelassen und ist jetzt nichts weiter als eine Frau, die sich tränenreich von einem Mann verabschiedet.

»Mach es gut, Rafael«, flüstert sie und verlässt zögerlich das Krankenzimmer.

Ich könnte hinterherlaufen, ihr hinterherrufen, bitte nicht zu gehen und sie für immer in meine Arme schließen. Allerdings vermag ich nicht, hinterherzulaufen, hinterherzurufen, sie möge bei mir bleiben oder beteuern, sie für immer ganz fest in meine Armen zu nehmen. Ich liebe Paula.

Paula ist meine Frau.

Ich bleibe allein zurück. Lange spüre ich den Krankenhausgeräuschen nach, bevor ich Patricia einen vorbereiteten Umschlag in die Handtasche stecke. Auf dem Kuvert habe ich in fein säuberlicher Handschrift ihren Namen geschrieben. Sachte streiche ich über das kostbare Seidenpapier, fahre vorsichtig über ihre Wange und beuge mich hinab. »Danke für alles und auf bald.«

Dem Krankenhaus kehre ich den Rücken zu und eile an abgehetzten Krankenschwestern, Besuchern und dem gestressten Pförtner vorbei. Ich steige in meinen Wagen, der auf dem Parkplatz bereitsteht, drehe den Schlüssel im Zündschloss, bis der Motor startet und der Neuanfang prickelnd durch meine Venen rauscht.

Ich verlasse Berlin, fahre durch die östlichen Bezirke und halte mich exakt an die geplante Route, die durch menschenleere Ortschaften führt. Jeder gefahrene Kilometer bringt mich meinem anvisierten Ziel näher.

Nach einer einstündigen Fahrt parke ich auf einem abgelegenen Parkplatz. Er befindet sich mitten in einem nebelverhangenen Nadelwald. Die Luftfeuchtigkeit sammelt sich in zähflüssigen Dunstschleiern, die die Aussicht auf den kilometerlangen Wanderweg erschweren und bleischwer zwischen den Nadelbäumen kleben. Keine Menschenseele treibt sich um diese Uhrzeit in dieser gottverlassenen Gegend herum.

Da bin ich also. Kurz vor dem Ziel meiner Träume.

Aus dem Handschuhfach hole ich eine Medikamentenbox. Ich öffne das Fach, in dem die Tabletten liegen. Mit einem Schluck Mineralwasser spüle ich hastig die bitteren Pillen hinab. Die schmecken abartig bitter.

Ich steige aus und rufe meine Mutter an.

»Bachman.«

»Hallo Mutter.«

»Rafael! Vater und ich sorgen uns schrecklich, weil du so früh von Gabriels Hochzeitsfeier fort bist. Dein Bruder war während der Trau-Zeremonie gar nicht bei der Sache, so sehr ist ihm deine überraschende Abwesenheit nahe gegangen. Ist alles in Ordnung bei dir? Alona sagt …«

»Mir geht es hervorragend. Tut mir leid, wenn ich ohne ein Wort verschwunden bin. Ich bin stundenlang durch die Stadt geschlendert und habe darüber völlig die Zeit vergessen. Ich bin Alona ziemlich grob angegangen. Es ging um … Nicht weiter dramatisch … ich rufe nicht an, um mit dir darüber zu streiten.«

»Komisch, das hat sie mit keiner Silbe erwähnt. Dabei haben wir vorhin gemeinsam Kaffee getrunken. Und du weißt doch, dass sie mir sonst immer alles erzählt.«

Ja, das weiß ich.

Es sieht Alona, die unsere Familie als ihr zweites Zuhause betrachtet, wahrhaftig nicht ähnlich. Diese Nachricht muss ich verdauen. Ratlos greife ich an meinen Kopf und rätsele über dieses sonderbare Verhalten.

»Sie hat nichts erwähnt?«, erkundige ich mich skeptisch.

Meine Mutter seufzt und spart sich jeden Kommentar, was Alona betrifft. Angenehmerweise ist sie inzwischen über diese schwierige Phase hinweg, mich unablässig mit der Tochter ihrer besten Freundin verkuppeln zu wollen.

»Wie fandest du und Vater die Polterhochzeit von Gabriel?«

»Polterhochzeit«, schnaubt sie verächtlich aus. »Ehrlich gesagt, war es ungewohnt für mich. Das schöne Porzellan.«

»Ach komm, wir zerbrechen auch ein Glas.«

»Ich muss dich sogar durch das Telefon rügen, Rafael Bachman. Wir werfen bei der Trau-Zeremonie nicht tonnenweise Essgeschirr auf den Boden, wie du weißt. Nein, nein, das tun wir gewiss nicht. Uns genügt ein Glas. Und wir zertreten es manierlich unter einem weißen Tuch. Ganz gesittet. Der Radau von der Polterhochzeit hat mich an etwas Barbarisches erinnert. Schon gut, schon gut! Ich schweige jetzt lieber, denn ich höre eindeutig dein schwaches Schnaufen, mein Junge. Ja, ja, sogar durch das Telefon. Gabriel liebt Katrin. Es war so schön, beide unter dem Baldachin stehen zu sehen. Sag mal, wo treibst du dich eigentlich herum?«

»Ich stehe auf einem Parkplatz. Gleich habe ich ein wichtiges Gespräch, rufe dich aber fix an, wegen des Einkaufs für das Gartenfest am Wochenende. Leider schaffe ich es heute nicht rechtzeitig, Aurora aus der Schule abzuholen und zu euch ins Einkaufscenter zu bringen. Ich möchte mich vollständig auf das Gespräch konzentrieren.«

»Dein Bewerbungsgespräch in deiner alten Firma?«

»Haargenau. Ich möchte dich bei dieser Gelegenheit um eine weitere Sache bitten, Mutter. Es geht um die Albträume von Aurora. Die, in denen sie mit anderen Frauen eingesperrt ist, panisch herumschreien und ihr Angst machen. Er kommt immer wieder. In letzter Zeit beinahe jede Nacht.«

»Oh, Jahwe!«

»Bitte sprich mit ihr. Für mich wäre es ungemein wichtig, dass sie aus dem Teufelskreis rauskommt und von den unschönen Dingen aus der Vergangenheit erfährt. Die gab es doch, nicht wahr? Sie muss auch das wissen. Vor allem das. Und zwar von dir. Du kannst es gewiss einfühlsamer als ich. Nach Möglichkeit vor Bat Mizwa, bitte. Geht das?«

Lange genug habe ich diese Bitte vor mir hergeschoben.

Um mich konkreter auszudrücken: zu lange. Ich gerate in Erstaunen, jetzt, wo dieser Herzenswunsch auf dem Tisch liegt, mir ein riesiger Stein vom Herzen fällt und ausreichend Platz zum Atmen lässt. Mit der flachen Hand an der Kehle nehme ich den nicht zu leugnenden Umstand verwundert zur Kenntnis.

»Sorge dich nicht darum, mein Sohn. Selbstverständlich übernehme ich das, denn du schleppst augenblicklich genug Last mit dir herum. Ich nehme mich gerne deiner Bitte an und weiß auch schon, wie ich die heikle Thematik anpacke. Ach, und wegen des Einkaufs mach dir bitte keine Sorgen. Vater und ich holen Aurora nachher sehr gerne von der Schule ab, bevor wir für das Gartenfest einkaufen fahren. Du nimmst dir heute die Zeit, die du benötigst, um dein berufliches Leben in die Spur zu bekommen. Wir drücken dir fest die Daumen. Rede ich zu viel?«

»Hm«, reiße ich mich brutal zusammen und drücke gewaltsam die Lippen aufeinander, um meine Emotionen besser zu kontrollieren.

»Ja oder nein?«

»Ach Mutter«, presse ich gequält hervor, ringe zugleich um Luft und Fassung.

»Gibt es neue Nachrichten?«

»Nein.«

»Wieso glaube ich dir nicht? Mal sehen. Ah, da steht es im Kalender. Heute war der Termin.«

»Nein, der Termin, den du meinst, findet erst morgen statt.«

Gepeinigt schließe ich meine Augen, denn mir wird plötzlich speiübel. Ich hasse es, meine Mutter anzulügen.

»Wahrhaftig? Warum habe ich dann heute ein Kreuz in den Kalender markiert? Himmel, das ganze Chaos mit der Hochzeit deines Bruders bringt mich völlig durcheinander. Warte kurz, bin gleich wieder da.«

Ich höre durch das Telefon, wie sie geräuschvoll auf Papier kritzelt, vermutlich das Kreuz durchstreicht und den Termin auf morgen verschiebt. Angesäuert murmelt sie, was ihr in letzter Zeit mental alles durch die Lappen geht und es dringend mit ihrem Hausarzt besprechen muss. Laut ihrem Gemurmel erfahre ich unfreiwillig, dass die überzogen teuren Kräutertees nicht helfen und ihr ›Apothekerheini‹ seit ihrem Tinnitus immer zügelloser zu einer Finanzhyäne mutiert.

»So, ich habe rasch den Eintrag korrigiert. Dein Vater und ich begleiten dich.«

»Nicht nötig. Ich schaffe das allein und komme anschließend zu euch. Dann setzen wir uns gemütlich zusammen und können in aller Ruhe darüber sprechen.«

»Wie du willst, aber ein mulmiges Gefühl darf mich schon beschleichen?«, zögert sie mit ihrer Frage.

»Aber ja. Vertrau mir. Ich liebe euch.«

Seufzend gibt sie nach, obwohl die Klangfarbe ihrer Stimme wankelmütig tönt.

»Ach, mein kluger, gutmütiger Junge. Ich wünschte, ich könnte die Uhren zurückdrehen.«

»Das wäre schön, nicht wahr?«

»Das wäre sogar fantastisch, mein Junge«, versucht sie, mich aufzumuntern.

Es misslingt, liegt aber nicht an ihrem unbeholfenen Versuch, sich zu entschuldigen.

Prompt verstummt sie. Dieses Thema schmerzt entsetzlich. Mich freut, zu sehen, wie sie obendrein nach all meinen Ehejahren mit Paula von der Ansicht abrückt, Christen, Juden und Moslems bleiben besser unter sich.

Gabriel, mein jüngerer Bruder, und seine frisch angetraute Ehefrau profitieren von ihrer neuen, aufgeklärten Betrachtungsweise. Was mich für beide freut, aber zu Teilen neiderfüllt dreinblicken lässt.

»Ich richte Paula liebe Grüße von dir aus«, kommt heiser aus meiner Kehle.

Andauernd sehe ich zu den Kieselsteinen am Boden und scharre sie unnötigerweise beiseite, um das Brechen meiner Stimme zu vermeiden. Oder davon abzulenken.

»Ich bewundere dich für deine Stärke.«

»Da gibt es nichts zu bewundern«, versichere ich, denn das ist die ungeschminkte Wahrheit. »Ich muss los. Gib Aurora nachher einen dicken Kuss von mir und umarme sie ganz fest für mich.«

»Du klingst höllisch müde, fällt mir auf. Ist wirklich alles in Ordnung?«

»Rührend, dass du dich um mich sorgst. Ich bin doch schon erwachsen.«

»Selbstverständlich sorge ich mich um dich. Egal wie alt und erwachsen du bist. Du bleibst mein kleiner Geologe, der mir mit seinen Kieselsteinen alle drei Jahre die Waschmaschine ruiniert hat. Lenke nicht ab, Rafael!«

»Ich fühle mich müde. Irrsinnig müde sogar, aber davon abgesehen geht es mir …«

»Du lügst deine Mutter doch wohl nicht etwa an?«

»Die lange Autofahrt sitzt mir im Nacken und ich bin offen gestanden ziemlich nervös wegen des Termins. Mach dir aber bitte keine Sorgen um mich. Ich möchte es so. Gleich stelle ich mein Telefon auf lautlos.«

»Zumindest warnst du mich vor«, murmelt sie tadelnd.

»Danke für alles. Wir sehen uns. Ich meine es ernst.«

»Geh schon los, sonst verpasst du frecher Lümmel noch deinen Termin. Bis nachher.«

Augenblicklich beende ich das Telefonat, bevor sie mich erneut mit Fragen löchert. Sie anzulügen, ist mir nie leichtgefallen. Ich stelle das Handy auf lautlos und lasse den Blick über den fremdartigen Ort schweifen.

Noch immer liegt der einsam gelegene Parkplatz wie ausgestorben da. Bleischwer wabert die Dunstwolke zwischen den geisterhaften Bäumen, die schaurig anzuschauen sind und mir einen kalten Schauder über den Rücken jagen. Noch immer zwingt mich ein bestialischer Schmerz in die Knie, spült mich mit sich fort und schmettert mich gewaltsam vor die Füße des Widersachers.

»Ich glaube nicht«, schreie ich verzweifelt und aus Leibeskräften.

Meine Hände gleiten auseinander. Offen für jedes Gegenargument stehe ich im Nebel und weine meinen Kummer hinaus. Lachhaft. Es ist ein ungleicher Kampf, den ich nur verlieren kann. Ich habe aller Welt doch erschöpfend bewiesen, dass ich rechtmäßig angeklagt werde, elendig zu versagen.

Die Stille bleibt.

Sei es drum. Fick dich ins Knie, wenn du feiger Mistkerl heute nicht mit mir streiten willst! Ich habe mich entschieden und du kannst rein gar nichts daran ändern.

Mit wutverzerrtem Gesicht richte ich mich unbeirrt auf, denn er darf mich kreuzweise. Wie wahnsinnig lache ich bei diesem verstörenden, aberwitzigen Gedanken und pfeife auf …

Egal, ich pfeife auf alles.

 

 

 

Kapitel 1

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»Meine Mama sagt, ich soll leise spielen. Im Arbeitszimmer wartet eine Klientin, die einen Heimgegangenen vermisst.«

»Ich habe es gehört, Paula. Du redest selbst laut und schimpfst mit mir. Ich spiele nicht mehr mit dir. Du langweilst mich«, wettert Priska.

Vorsätzlich stößt mein Besuch mit ihrem Fuß gegen meine Verkaufswaren. Wir spielen Kaufmannsladen. Die farbigen Pappschachteln purzeln vom Verkaufstresen, von dem ich zum Glück rechtzeitig zwei Stücke Kuchen wegräume. An denen setzt sie auch andauernd etwas aus und feilscht hartnäckig um den besten Preis.

Angeblich kosten meine Waren zu viel.

»Was du nicht sagst.«

»Liebste Paula, ich finde, du benimmst dich heute hundsgemein«, murmelt sie und stellt den Einkaufskorb vor dem Tresen ab.

»Hundsgemein darf man nicht sagen. Das ist ungeschriebenes Gesetz und wir sagen auch auf keinen Fall blöd. Deine Idee, erinnerst du dich?«

»Blöd, blöd, blöd. Dreimal blöd. Was sagst du jetzt, meine Liebe?«

Ihre Unterlippe steht vor, was die Vierzehnjährige ziemlich albern aussehen lässt. Zumal sie immer selbst betont, sie würde schon lange nicht mehr mit Kindern und niemals Kaufmannsladen spielen, weil sie dieser Kinderkram entsetzlich ermüdet.

»Heute gehst du mir nicht auf die Nerven mit deinem: meine Liebste. Geh ruhig für fünf Minuten in die Kuschelkiste. Ich räume fix auf und komme gleich hinterher.«

»Du gehst mir sehr wohl auf die Nerven. Gewaltig sogar. Nein, exorbitant und gewaltig gehst du mir auf die Nerven. Und in dem blöden Karton passt nur eine von uns rein. Sagst du immer selbst«, murrt sie und rafft ihr auffälliges, aber schmutziges Sommerkleid zusammen.

Breitbeinig stapft sie zum riesigen Karton und zieht einen Schmollmund. In der Kiste hockt sie am liebsten, wenn sie mich besucht. Ich gehe jede Wette ein, dass sie beim Kaufmannsladen absichtlich nörgelt, damit sie schnell in den gemütlichen Karton kriechen kann.

Die oberste Seite des monströsen Kartons hat Mama mit etlichen Lichterketten gespickt, die ein kuscheliges Licht erzeugen und gute Gefühle verbreiten. Darum nennt Mama sie auch Kuschelkiste.

Priska benötigt dringend ›gute Gefühle‹. Nicht im Traum denke ich daran, meinen Besuch weiter aufzuregen. Stattdessen sortiere ich die kleinen Früchte aus Pappmaschee, die Mama gebastelt und mir vorletzte Weihnachten geschenkt hat. Danach schiebe ich den Tresen an das Verkaufsregal, stelle den Einkaufskorb davor und drehe das Öffnungsschild auf das Bild mit dem ›Feierabend‹.

Alles blitzt und blinkt, liegt an seinem angestammten Platz und ich fühle mich hervorragend. Perfekt.

Nachdem ich meine Kinderhände an der beigefarbenen Schürze abwische, schaue ich zum Karton aus Pappe, in den Priska nicht hineinkrabbelt. Auf Zehenspitzen schleicht sie aus der Kinderzimmertür, was mich beunruhigt nachsetzen lässt, zumal Mama ausdrücklich um Stille gebeten hat.

»Priska«, rufe ich mit unterdrückter Stimme der Unvernünftigen nach und spähe in den Flur.

Der biegt am Ende rechts ab. Exakt dort, wo Mamas Arbeitszimmer liegt und ich einen winzigen Zipfel des gelben Sommerkleides mit der auffälligen Schleife in der schmalen Taille entdecke. Priskas eigensinniges Verhalten finde ich definitiv nicht ulkig und eile auf Zehenspitzen hinterher.

Aus Mamas Arbeitszimmer dringt leises Gemurmel und das Schluchzen einer weinenden Frau. Ich betrete nie das Zimmer, wenn Mama mit einer Klientin arbeitet. Mamas Erklärungen dazu genügen.

Gebührend unbehaglich fühle ich mich bei dem Gedanken, ihre Bitte nicht zu befolgen. Selbst wenn ich nur mucksmäuschenstill an der angelehnten Tür stehe, steif wie ein Brett lausche und durch den offenen Spalt Priska suche.

Dieses dickköpfige Mädchen.

Mir stockt der Atem, sobald ich sie hinter dem Stuhl entdecke, auf dem die Klientin sitzt. Voller Entdeckerfreude betrachtet das junge Mädchen das grau gelockte Haar, welches sich durch einen Weinkrampf heftig auf und ab wippt. Enthusiastisch, verzückt und imponiert, erkundet sie hemmungslos die Locken der Klientin, all ihre Eigenheiten und sogar ihren Duft.

Schwere Vorhänge verdunkeln Mamas Arbeitszimmer. Eine entzündete Kerze, die auf dem runden Tisch steht, erhellt den Raum spärlich. Es reicht aus, um einen Blick auf meine Mutter zu erhaschen. Sie sitzt auf der gegenüberliegenden Seite, stützt ihre ineinander gefalteten Hände auf dem Tisch ab und hält ihren Kopf gesenkt.

Séance nennt sie es und bedeutet, Kontakt mit den Verstorbenen der Klienten herzustellen und Nachrichten zu übermitteln. Quasi vom Diesseits ins Jenseits und umgekehrt, von dazwischen und kreuz und quer.

Es gibt viele Geschöpfe, die heimgegangen sind. Es gibt aber auch welche, die in einer Zwischenwelt festhängen. Sie wollen oder können nicht heimgehen, weil sie eine Aufgabe zu erledigen haben. Das meine ich mit dazwischen und kreuz und quer.

Andere Kinder meiden mich, weil Mama ihr Gehalt für die Miete und das Essen angeblich als Hexe verdient. Dabei lautet die korrekte Bezeichnung ›Medium‹. Mittler wäre auch in Ordnung.

Priska meint, jeder raffinierte und intelligente Mafioso besitzt mindestens einen Mittelsmann und mehrere Kontaktmänner. Gewissermaßen eine Person, die abseits des Trubels der lärmenden Straße Botschaften oder geheime Nachrichten von A nach B überbringt.

So was in der Art macht Mama. Nur eben nicht für Mafiabosse.

Und selbst, wenn sie eine Hexe wäre? Sie stiehlt das Geld nicht, betrügt die Menschen nicht mit falschen Aussagen und fordert kein Honorar ein, gesetzt den Fall, dass sie bei der Séance keine Verbindung aufbaut.

Mich nennen die Kinder aus der Schule ›kleine Hexe‹ oder ›Hexentochter‹. Andauernd reden davon, dass wir nachts mit dem Besen durch die Luft fliegen. Natürlich ist das Unfug.

Nachts schlafen wir.

Ich stelle mir in meiner Fantasie ab und zu vor, wie es sich anfühlt, gemeine Menschen in Stubenfliegen zu verhexen. Dann denke ich mir aber, dass ihnen damit nicht geholfen wäre. Den Grund nenne ich gerne, ist aber auch kein großes Geheimnis, weil Stubenfliegen ihren Stuhlgang nach dem Zauberspruch überall in der Gegend erledigen und schlimme Krankheiten übertragen. Eine Spur ekelhafter finde ich, dass sie sich auf Kuhfladen, Hundehaufen und anderen unaussprechlichen Sachen setzen und sich dort auch noch wohlfühlen.

Igitt.

»Ich spüre eine Anwesenheit«, verkündet Mama nach einer Zeit der Trance.

Sie reißt mich aus meiner Gedankenkette, die mich an die erinnert, die seit meinem vierten Geburtstag über meinem Bett hängt.

Vor Jahren hat Mama mir auf Nachfrage erklärt, was Trance bedeutet. Es käme dem Gefühl gleich, das sich kurz vor dem Einschlafen einstellt. Ähnlich einem Gefühl von Schweben, Segeln oder Fliegen, aber jeder empfindet es halt anders, hat sie gemeint.

Hm, nach meiner Logik wären dann alle Menschen Hexen, fällt mir gerade auf, verschiebe die Gedankengänge aber auf später und lausche angespannt ins Zimmer.

»Mein Mann?«

»Unseligerweise nein, aber für jeden Kontakt gibt es einen triftigen Grund.«

»Oh«, ruft die Frau entsetzt aus und schüttelt ihre graue Haarpracht kräftig durch.

Priska macht das, aber die arme Frau weiß das nicht. Ihre duftigen, luftigen Locken flattern munter umher, als würde sie auf einem Fahrrad sitzen und den frischen Frühlingswind hindurchgleiten lassen. In meiner rührseligen Fantasie stelle ich mir vor, das Fahrrad ist in Wirklichkeit ein Auto ohne Dach.

Wie heißen die noch mal?

Kapriolen.

Exakt, in meinem Bild sitzt sie in einer knallroten Kapriole. Ein umwerfend aussehender und aufmerksamer Mann, ihr Herzensprinz, fährt sie zum Galadinner, auf dem sie mit ihren herrlichen Locken punktet. Und alle verlieben sich in sie.

Blah, blah, blub, ich habe jetzt keine Zeit, es weiter auszuführen, weil sich etwas Sensationelles im Zimmer tut. Darum lasse ich vom Thema Herzensprinz und lockige Haare ab.

Auf den Gliedmaßen der Klientin richten sich alle Härchen senkrecht auf, was ich sogar von der Tür aus erkenne. Sofort weiß ich, warum sie aufgeregt atmet. Dieses Mädel kann einen aber auch wahnsinnig machen.

Kurzerhand schleiche ich in das abgedunkelte Zimmer und flitze zum gepolsterten Sitzmöbel. Mit Müh und Not verstecke ich mich rechtzeitig hinter dem massigen Rücken der Frau, denn Mama hebt den Kopf und schaut sich im Raum um, in dem die Luft vibriert. So wie kurz vor einem Gewitter, bevor der Wind die Bäume gehörig durchschüttelt und jeder spürt: Gleich geht es los.

So ungefähr.

»Ganz entspannt bleiben«, murmelt Mama mit gefasster Stimme und wachsamen Augen. »Nennst du uns deinen Namen und deine Absicht? Ich schreibe deine Worte gerne auf das Papier, wenn du durch mich sprechen magst und uns etwas für deine Lieben mitteilen möchtest.«

»Was geschieht hier?«, fragt die Klientin.

Mittlerweile liegen ihre Hände wieder auf der dunkelroten Tischdecke aus Samt. Beschwichtigend hebt Mama den Zeigefinger und signalisiert ihr damit, sie solle sich bitte einen Augenblick gedulden.

Vorsichtig zupfe ich an Priskas Rocksaum, damit sie sich geräuschlos neben mich setzt. Dummes Mädchen. Nicht lustig.

»Kindlich, aber andererseits auch nicht«, erklärt Mama und senkt ihren Kopf, um sich nochmals zu konzentrieren. »Eine äußerst junge Frau. Bedrückt und …«

»Und was?«

»Nenn uns deinen Namen«, bittet Mama einladend.

Wiederholt zupfe ich am gelben Rocksaum, doch Priska beeindruckt das nicht im Mindesten. Kichernd fährt sie mit ihren Händen durch das lockige, luftige Haar.

Auf der Stelle stößt die Frau einen Schreckensschrei aus, springt entsetzt in die Höhe und sieht sich panisch um. Mir gelingt es gerade noch rechtzeitig, mich hinzuhocken.

»Oh mein Gott! Oh, mein Gott! Was zum Henker geht hier vor?«, ruft die Frau mit geweiteten Augen, weil sie niemand entdeckt und mit einem Mal einen Geist im Raum vermutet.

»Beruhigen Sie sich, Frau Kampe! Ich spüre keine negative Energie.«

Die Frau beruhigt sich jedoch nicht. Schrill und markerschütternd schreiend, schiebt sie den Stuhl rückwärts, wobei er unsanft in meinen Rücken kracht.

»Aua«, entfährt es mir.

Priska tritt an die Wand zurück und legt ein erfreutes Lächeln auf. Sie amüsiert sich über das Chaos und kichert.

Zu Tode erschrocken, starrt mich die Klientin an. Meine Welt bricht zusammen. Irgendwie schaffe ich es aber, sie tapfer anzusehen. Reglos bleibe ich an Ort und Stelle hocken. Und lächele, obwohl ich am liebsten weinen möchte.

»Hallo, gute Frau«, schluchze ich und befürchte drohenden Krach mit Mama.

»Jesus«, schreit die Frau auf und stolpert kopflos über meine Beine. »Jesus Christus, steh mir bei. Ich sehe Geister. Ich sehe Geister.«

»Bitte beruhigen Sie sich, Frau Kampe«, fleht Mama, die nun in die Höhe schnellt und um den Tisch eilt.

»Ich muss hier raus. Raus, raus, raus. Ich muss weg. Weg, weg, weg.«

Die Wohnungstür kracht in das Schloss. Stille kehrt ein. Ich höre eine Stecknadel fallen, während ich mit flatterndem Herzen aufsehe, vor Schuldbewusstsein in den Erdboden versinke und stoisch meine Schelte erwarte.

Mama stemmt ihre Hände in die Taille und schaut mich unzufrieden an. »Paula?«

»Ich wedele mit einer schwarzen Flagge.«

»Ich sehe keine schwarze Flagge.«

»Wenn du sie nicht siehst, rufe ich Parley.«

Ich habe das Wort in einem Abenteuerfilm mit Piraten aufgeschnappt.

»Parley?«

»Das bedeutet, wir verhandeln jetzt über das weitere Vorgehen«, plappere ich den Text der Hauptdarstellerin nach.

»Dann verhandelst du allein. Mich interessiert einzig, warum du Frau Kampe erschreckt hast. Also, ich höre.«

Zaghaft lasse ich meinen Blick zu Priska gleiten, die noch immer an der Wand steht. Ihr Lächeln erstirbt jäh. Mit riesigen Augen beäugt sie Mama.

Im Gegensatz zu früheren Annahmen, erkenne ich schlagartig meinen Irrtum. Entgeistert reiße ich meinen Mund auf. Mir fällt ein Schuppen von den Augen.

Ich weiß zwar nicht genau, wie konkret ein Geräteschuppen von den Augen fällt, aber Priska sagt es immer, wenn sie eine Eingebung hat. So in etwa, als wenn der Schuppen vorher im Weg steht und die Sicht auf wichtige Sachen versperrt. Egal. Jedenfalls fällt dieser Schuppen von meinen Augen, weil er die Sicht versperrt.

Mit offenem Mund starre ich meine angebetete Mama an und fasse kaum, dass sie Priska nicht sieht, denn sie kommt oft zu Besuch.

Echt oft.

Augenblicklich verstehe ich, warum Priska mich gebeten hat, ihre Besuche nicht herumzuposaunen. Dabei spiele ich nicht einmal ein Musikinstrument. Schuldbewusst senke ich den Kopf. Fieberhaft denke darüber nach, warum Mama sie nicht sehen kann. Nie sehen konnte. Und, warum Priska ihre Besuche vor Mama geheim hält.

»Sag schon.«

»Kann ich nicht, weil ich es nicht herumposaunen soll.«

»Was sollst du nicht herumposaunen?«

»Das wüsste ich erst, wenn ich eine Posaune hätte.«

»Du möchtest ein Musikinstrument spielen lernen? Paula, jetzt ist nicht die Zeit für Scherze. Antworte auf meine Frage.«

»Wie war die noch mal?«

Bevor ich Luft holen kann, stößt meine Mama einen Seufzer aus, packt mich am Oberarm und zerrt mich rigoros in die Höhe. Okay, okay, die Zeit für Scherze ist vorbei. Habe es verstanden.

Noch immer sehe ich sie nicht an, starre stattdessen auf die Spitzen der knallroten Pantoffeln, die ich zu Weihnachten geschenkt bekommen habe. Die, von denen jede Dritte in meiner Klasse träumt, sie aber nicht kriegt, weil sie viel Geld kosten.

Echt viel Geld. Bäcker, Kraftfahrer und Sekretärinnen verdienen offensichtlich nicht so viel wie Hexen.

Meine tollen, knallroten Pantoffeln, die ich glückstrahlend trage, vor dem Schlafengehen gründlich von Teppichfusseln reinige und akkurat vor das Bett stelle, heben Mama nicht an. Sie sind in Anbetracht der Umstände einerlei.

Blah, blah, blub, denn Mama wippt inzwischen mit einem Fuß und verlangt plausible Antworten.

»Sag schon«, bittet sie mich kaum hörbar und hebt mein Kinn mit ihrem Zeigefinger an.

»Wir haben dich nicht absichtlich bei der Arbeit gestört«, lüge ich flüsternd und undeutlich, um meinen Besuch zu schützen.

Der rückt von der Wand ab, als wolle Priska genauestens meine Worte hören. Zu genau erinnere ich mich an das Versprechen, welches ich ihr einst gegeben habe, sitze aktuell aber in der Zwickmühle. Ich habe Mama lieb und finde Lügen doof.

»Wir? Also du und wer noch?«

Mama verschwimmt vor mir. Heiße Tränen rinnen über meine Wangen, bis ich sie nur noch als grauen Schatten wahrnehme. »Parley, Mama. Biittteeee.«

»Sag mir, wer anwesend ist, sonst finde ich es ohne deine Hilfe heraus«, fordert Mama und beugt sich zu mir hinab.

»Parley«, hauche ich.

Meine Tränen laufen derweil aus der Nase und ich fühle mich erbarmungswürdig. Beharrlich schüttele ich den Kopf. Ich habe versprochen, Priska nicht zu verpetzen.

»Geh in dein Zimmer!«

Gehorsam wende ich mich zu der Tür und schlüpfe hinter Priska hinaus.

»Nur du.«

Augenblicklich bleibt Priska stehen und schaut mich fragend an. Mamas Anweisung setzt ihr eindeutig zu, was glasklar in ihrem Gesicht geschrieben steht.

»Geht das?«, fragt meine Mutter plötzlich sanft wie kuschelige, frisch aufgezogene Bettwäsche.

Sie schreitet um den Tisch und setzt sich auf ihren Stuhl. Fragend blickt sie mich an und erwartet eine Antwort. Prüfend schaue ich zu meiner Freundin. Damit einverstanden, nickt diese, schluckt schwer und huscht tapfer zurück in das Arbeitszimmer.

»Es geht schon, aber ihr kommt die Sache nicht hundertprozentig sympathisch vor«, übermittle ich. »Sie gruselt sich vor dir.«

»Sie? Aha, verstehe. Ich habe ihre Energie vorhin gespürt. Sie gruselt sich vor mir? Also gut. Wie dem auch sei. Ich beiße niemanden.« Ungeduldig klopft sie auf den Tisch. »Setze dich bitte einen Moment zu mir. Ich möchte mit dir plaudern.«

Lautlos schließe ich die Tür und schlurfe kraftlos in mein Kinderzimmer. Dort knipse ich die Lichterkette an und krauche in den Karton. Das Gesicht zu den vielen Lämpchen gewandt, lege ich mich auf den Rücken. Rhythmisch hebe und senke ich meine Hände und spiele mit dem Fokus, damit die Lichter verschwimmen.

Irgendwann klopft es leise an meiner imaginären, aufklappbaren Eingangstür. Mama öffnet den Eingang ein Stück, um mich besser auszumachen. »Versteckst du dich?«

Meine Hände sinken und ich antworte nicht, sondern sehe sie lange an.

»Kommst du kurz zu mir raus? Ich erkläre dir heute etwas Wichtiges, statt eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen.«

Rasch drehe ich mich herum, krabbele in Windeseile hinaus und knipse die Lichterkette aus. Mit ernster Miene sitzt meine Mutter auf meinem Kinderbett und wischt ihre Hände an den Oberschenkeln ab. Nachdem ich vor ihr stehe, schaut sie mich bedeutsam an.

Ich liebe es, mit meinem Finger ihre Oberlider entlangzufahren, wenn sie mich mit einer fesselnden Gute-Nacht-Geschichte zudeckt. Mama ist eine hinreißende, friedvolle und lustige Frau.

Später möchte ich mal werden wie sie. Nur eben ohne den ganzen Séance-Kram.

»Du bekommst regelmäßig Besuch, wie ich höre?«

»Sie fürchtet sich vor dir, sonst hätte ich längst etwas gesagt.«

»Vor mir? Warum?«

»Weil du mit den Verstorbenen sprichst und sie das gruselig findet.«

»Habe ich dir erzählt, dass deine Großtante im Zweiten Weltkrieg gestorben ist? Nein, darüber spricht die Familie nicht gerne. Ich habe sie nie kennengelernt, nur von ihr gehört. Das, was sich so erzählt wird. Sie war sehr hübsch, klug und unglaublich forsch.«

»Nein, das hast du mir noch nie erzählt. Woran ist sie gestorben. War sie krank?«

»Ich fürchte, du verstehst es noch nicht.«

»Mann oh. Ich kann das nicht ab, weil Priska das auch andauernd zu mir sagt. Dabei bin ich gar kein Baby mehr.«

»Ich möchte dich etwas fragen. Kannst du Priska sehen?«

»Du denn nicht?«

»Nein, ich fühle ihre Anwesenheit. Aber nur schwach. Sie möchte unbemerkt bleiben. Vermutlich aus Angst. Für mich nachvollziehbar. Nein, bleibe hier und sage mir, was dich bedrückt!«

»Hexe sagen sie in der Schule zu mir und fragen, ob ich mal heimlich unsere Besen mitbringe«, bricht aus mir heraus, was mein Kinderherz aufwühlt.

»Mein liebes, liebes Kind. Alle Frauen in unserer Familie sehen oder fühlen Menschen, die aus dem Leben gegangen sind. Dazu brauchen wir nicht zwangsläufig Hexenbesen oder Zaubersprüche. Sieh es so: Andere Familien bauen schöne Häuser. Wieder andere verkaufen als Apotheker Arzneimittel.«

»Andere unterrichten Kinder als Lehrer.«

»Kluges Kind.«

»Warum haben die Leute aber vor uns Angst und nicht vor den Familien, die schöne Häuser bauen oder Kinder unterrichten?«

Liebevoll hätschelt Mama mich. Geduldig beantwortet sie alle Fragen, die ich stelle. Leider bleiben viele unbeantwortet, was sie mir mit bekümmerter Mimik erklärt.

Zur gleichen Zeit, wie Mama das Licht meiner Bettlampe löscht, sich zu mir beugt, um mir ein Küsschen zu schenken, und viele, süße Träume wünscht, erkenne ich eine wesentliche Tatsache. Sie sieht Priska nicht, kennt nicht alle Antworten und versteht die Welt ebenso wenig, wie ich.

Blöderweise habe ich gedacht, dass etwas mit mir nicht stimmt, weil sich im Umgang mit den Menschen alles so knifflig gestaltet. Dabei merke ich, ich bin okay.

Total normal.

Eben nur keine Bäckerstochter, sondern eine Hexentochter. Quasi anders normal, aber davon abgesehen, völlig normal.

 

 

 

Kapitel 2

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Mit dem Ellbogen stoße ich einen Freund von mir an. »Schau mal, Daddel. Der Stein stammt aus einer Zeit, in der Deutschland geologisch gesehen am Äquator gelegen hat. Das war vor dreihundertfünfzig Millionen Jahren. Zieh dir die vielen Jahre rein! So lange gibt es diesen Stein schon, an dem die Menschen vorbeigehen, ihn mit der Fußspitze wegschnipsen und nicht weiter beachten. Er hat gewaltige Dinosaurier vorbeilatschen gesehen oder den Neandertaler, der einen Säbelzahntiger jagt. Zieh dir nur mal rein, wie lange das her ist.«

»Faszinierend«, murmelt Daddel. »Ja, ja, nee, Rafa. Dinosaurier find ich echt faszinierend. Aber dreckige Steine nicht so.«

»Das ist kein dreckiger Stein, sondern ein Gemisch.«

»Aus was?«

»Das ist doch gerade das Spannende. Jeder Stein ist anders und das erkennst du an dem Gemisch. Hier schau! Siehst du die ganzen Einschüsse? Das ist dort ist Gras. Wie krass alt das ist«, murmele ich, obwohl ich meinen Freund nicht weiter langweilen möchte.

In Biologie und Erdkunde schläft er ein, statt den aufregenden Ausführungen unserer Lehrerin gebannt zu verfolgen. Sie bekommt jedes Mal leuchtende Augen, wenn ich die Hand hebe, um genauer nachzufragen.

Meine Fingerspitzen drehen und wenden den schmucklosen Stein, der für mich zur reinsten Offenbarung wird. Mutter bringen meine Gesteine zur Verzweiflung. Regelmäßig vergesse ich welche in der Hosentasche. Beim Wäschewaschen klackern sie in der Waschmaschine, dass einem das blanke Grauen überkommt.

Die Bausteine unserer Erde sprechen eine klare Sprache. Sie verheddern sich nicht in Lügen und erzählen zahlreiche Geschichten. Beispielsweise die, in denen es um die Geburt unseres Planeten geht. Als sich unser Sonnensystem geordnet hat, sind gigantische Gesteinsbrocken umhergeschwirrt. Voll Karacho sind sie aufeinandergeprallt und haben durch ihre Masse die Gravitation immer mehr erhöht. Damit haben sie immer weitere angezogen, bis ein junge Planet regelrecht alles um sich herum angesaugt hat.

Der geschundene Merkur ist noch heute ein mahnendes Beispiel für die Dynamik, die unser Sonnensystem aufbringt. Seine zahlreichen Krater zeugen von purer Kraft.

Als Sechsjähriger habe ich mit meinem Vater eine Ausstellung besucht. Dort habe ich begriffen, dass alles Gestein auf der Erde aus dem All stammt. Unser blauer Planet besteht aus einem einzigartigen, zufälligen Gemisch, die ihn zu dem hat werden lassen, was er heute ist. Ein Gesteinsplanet, der zeittechnisch gesehen in der idealen Stellung im Sonnensystem und der Galaxie steht. Durch diesen Zufall konnte er Lebewesen erschaffen.

Im Vergleich zu unserem Körper stellt unsere Galaxie noch nicht einmal eine Körperzelle dar, so winzig ist er im komplexen Zusammenhang gesehen. Unbegreiflich winzig, dabei halten sich die Menschen für das Allergrößte. Was ich groß finde, sind die Myriaden von Galaxienhaufen, die miteinander verwoben sind und ein filigranes Cluster-Muster ergeben.

Also wenn ich von oben draufschauen würde. Ich meine, wenn ich es könnte. Aber ich möchte Geologe werden. Klappt das nicht, dann bleibt mir die Astronomie.

»Schau dir lieber das an«, knufft Daddel mich unsanft.

Er holt mich aus meinen Überlegungen, in denen ich kolossale Klumpen im All aufeinanderprallen sehe und mir die krassen Geräusche und vibrierende Energie vorstelle, die dabei entsteht.

Daddel ist mein bester Freund.

Ich habe nicht viele. Hauptsächlich liegt das daran, dass ich lieber auf dem Boden nach Gesteinsbrocken Ausschau halte, statt mich über coole Autos oder Sport zu unterhalten. So bin ich schon immer gewesen. Ich kann halt mehr mit Steinen anfangen als mit Menschen.

Wenige fasziniert die Erde, habe ich festgestellt. Mich hingegen schon. Die zufällige Mischung aus unterschiedlichen Mineralien, Chemikalien, Gesteinsbruchstückchen, Resten von Organismen und Gräsern begeistert mich. Wie etwa dieses exemplarische Sedimentgestein in meiner Hand.

Genauso nachsichtig wie Daddel mit meinen Eigenheiten umgeht, respektiere ich sein eigenwilliges Wesen, seinen Hang zur Tollkühnheit und seine Abenteuerlust. Ich sehe auf und weite erschrocken meine Augen. Daddel legt ein selbstgefälliges Grienen auf und wiegt in seiner Hand drei Münzkapseln.

»Sag bloß«, entfährt es mir heiser, worauf sich das freche Schmunzeln meines Freundes um weitere Zentimeter verbreitert.

»Ich habe sie aus dem Münztableau stibitzt, damit wir sie uns in aller Ruhe ansehen können. Keine Sorge, ich bringe sie anschließend wieder zurück und du musst dir nicht gleich die Hose vollscheißen.«

»Dein Großvater dreht uns den Hals um, wenn er Wind davon bekommt.«

»Quatsch! Wir erleben unseren zehnten Geburtstag nicht mehr, sollte er Wind davon bekommen«, albert er herum und wirft eine Kapsel übermütig in die Luft.

Erschrocken stolpert mein Herz, weil die Münzen wertvoll und unbezahlbar sind. Doch er fängt sie genauso mühelos, wie er alles hinbekommt, was er sich in den Kopf setzt. Ich muss zugeben, genau darum habe ich Sympathien für ihn entwickelt.

Daddel ist geistreich, spontan und schlagfertig. Mit diesen Charaktereigenschaften nährt er unsere Freundschaft, seit mich Frau Finke am ersten Schultag neben ihn gesetzt hat.

»Das ist pures Gold und sogar fähig, einen Geo-Nerd wie dich zu begeistern. Stimmt doch, oder?«

»Nicht der Wert begeistert mich. Eher das Material, Daddel. Gib mal her!«

Jeder von uns öffnet eine Kapsel und staunt auf seine Weise über das, was uns der Weltraum an Erbgut abgetreten hat. Schätzungsweise der halbe Erdkern besteht aus Gold, das sich in extremer Hitze verflüssigt und die Gemüter auf der Erdkruste erhitzt.

Irrsinn. Zudem beispiellos idiotisch und egoistisch.

Aber das Element begeistert auch mich. Es glänzt in der flirrenden Sommersonne, erwärmt das Herz und verrät mir allerlei geologische Geheimnisse. Leider erzählt Gold auch die Geschichten, die von Habgier und Besitzsucht berichten. Von Unrecht und Qualen.

Zum Beispiel von derlei Geschichten, in denen Menschen nach ihrem Tod die Goldkronen herausgebrochen wurden. Totengold nennt meine Großtante dieses Gold. Sie meint, die Schweizer und andere ›neutrale Staaten‹ haben es, trotz des Wissens um dessen Herkunft, damals in ihren Banken eingelagert und sich damit ihre Souveränität im Zweiten Weltkrieg erkauft. Meine Großtante sagt, die Säulen des heutigen Wohlstandes dieser Länder wurden auf den geschundenen Körpern von Millionen toten Juden errichtet.

Denke ich an die vielen Opfer des langen Krieges, verkraftet meine kleine Knabenseele das unfassbare Verhalten nur schwerlich. Zumal ›souverän‹ verharmlosend für einen knallharten Deal mit Nazideutschland klingt. Sagt meine Großtante.

Zurück zur Goldmünze. Rein theoretisch könnte sie aus dem Mund meiner Ahnen stammen. Ich lasse meine Hand sinken. Prompt trauere ich um die armen Seelen und blende die schrecklichen Bilder aus, die sich diesbezüglich in meine kindliche Fantasie schleichen.

»Gold ist Käse, wenn es den Leuten nur um den eigenen Profit geht.«

»Ach komm! War dein Großvater nicht auch ein deutschlandweit bekannter Banker?«

»Alles Animositäten-Dingsbums, sagt meine Mutter, die es schließlich wissen muss«, stottere ich das komplizierte Wort hinaus, welches sie immer benutzt, wenn es um Vorurteile geht.

Leider habe ich meinen Großvater nie kennengelernt. Nach allem, was ich höre, ist er ein feiner Mensch gewesen, dem das Herz am richtigen Fleck gewachsen ist. Klar hat er eine Menge Kohle gescheffelt, obwohl er nach dem Krieg nicht einen Groschen in der Tasche gehabt hat. Nie hat er diese Tatsache vergessen.

Er ist gestorben. An Prostata-Krebs gestorben.

Das ist ein Tumor. Am Hoden. Schon bei dem Gedanken zieht sich bei mir untenrum alles zusammen. Das will ich nicht bekommen und lenke mich mit der antiken Goldmünze ab. Die, für die Menschen ihre Kinderstube vergessen, morden und andere aufwiegeln, um es ihnen abzuluchsen.

»Gestern hat mich Alona ausgequetscht. Sie wollte wissen, ob du eine Freundin hast. Sie versucht, ihren schmachtenden Blick geschickt hinter einem Augenaufschlag zu verpacken. Ich musste mir echt das Lachen verkneifen. Alter, die Braut fährt voll auf dich ab. Ihre Familie ist stinkreich, sagt mein Bruder. Ich fürchte er steht auf die Tussi. Keine Ahnung warum.«

»Mein Bruder schwärmt auch für sie. Soll sie ihn fragen, ob er mit ihr ins Schwimmbad will. Ich finde Mädchen langweilig.«

»Und ich erst. Bei denen dreht sich alles um die schönste Sache der Welt.«

»Gesteine?«

Daddel biegt sich vor Lachen. Er springt von der kleinen Balustrade am Sandkasten und öffnet die dritte Münzkapsel. Jede Goldmünze legt er fein säuberlich darauf aus und rückt näher an sie heran. Meine Frage ignoriert er und ich meine sie auch nicht ernst.

Ich möchte nicht über Alona sprechen, das ist alles. Mein Kopf funktioniert einwandfrei. Ich merke allemal, wie oft die Tochter Mutters Freundin an unserer Haustür klingelt. Mit einem ehrfürchtigen Knicks schielt sie auf die Kuchenform in ihrer Hand und lässt Mutters Herz jedes Mal überschäumen.

»Ist sie nicht niedlich und wohlerzogen anzuschauen?«, schwärmt Mutter dann immer und packt in ähnlichen Lobliedern das köstliche Backwerk ihrer Freundin aus. Wortkarg sitze ich am Tisch, wenn sie Alona einlädt, auf einen Tee zu bleiben und mit uns Konversation zu halten.

Mal ehrlich … Konversation zu halten. Schon die geschwollene Ausdrucksweise lässt massenhaft Pickel auf meiner Stirn sprießen, als wären sie im Leben zuvor Pilze in einem Mischwald gewesen.

»Um die Sache kurz zu machen, Daddel. Konserviert Alona mit mir, rolle ich mit den Augen, rülpse absichtlich flegelhaft oder stecke ungezogen die Zunge heraus. Mutter bringt das furchtbar auf.«

»Häh? Alona konserviert mit dir? Kommt das von Konserve?«

»Bestimmt, aber überkandideltes Deutsch ist nicht so meins. Ich denke, es ist so was, wie vornehm miteinander zu quasseln oder so zu tun. Wie es in Alonas Familie halt üblich ist.«

»Also, ich halte mich lieber an die Konserve, statt an Mädels.«

»Ich auch. Das ist alles echt kompliziert mit denen. Mir reicht meine Mutter schon. Die kann einem echt ein Ohr abkauen.«

»Deine Mutter ist in Ordnung. Sie konserviert nur ein bisschen zu viel. Was lachst du so gehässig? Deine Mutter ist der graziöse Storch unter den Vögeln. Den Kopf trägt sie ganz oben, die Haltung ist eins a und erst der anmutige Gang …«

Daddel imitiert den Gang eines Storches, was dem meiner Mutter unwahrscheinlich nah kommt. Mein Körper schüttelt sich vor Lachen. Es schallt über den gesamten Monbijoupark und erschreckt die kleinen Kinder im alten Kinderbad. Auch die Berlin-Touristen, die herkommen, um wie zu Anno Dutt knutschende Liebespärchen zu entdecken, sehen sich suchend nach der lärmenden Quelle um.

»Da schau an. Wen haben wir denn hier?«

Hinter uns haben sich Kalle, Heinz und Siggi herangeschlichen. Breitbeinig und mit Händen in den Hosentaschen fühlen sich die eineiigen Drillinge wie die Kings. Sie kontrollieren den Park und fordern von jedem Schutzgeld ein, der seine Beine nicht in die Hand nimmt. Wer nicht zahlt, kassiert Prügel, bis er doch lieber bezahlt.

Gossenkinder nennt Mama sie. Ist sie sehr wütend sogar hinterhältige Kartoffelfresser. Aber das sagt sie nur, wenn sie denkt, ich bin nicht in der Nähe. Irgendwie habe ich auch keine besondere Schwäche für diese drei blonden, heißspornigen und raufsüchtigen Drillinge entwickelt.

Normalerweise hängen sie am Volleyballfeld ab. Selten verirren sie sich zum Kinderspielplatz. Hier liegen die Tageseinnahmen ihrer Erpressungen niedriger, weil besorgte Mütter diese elenden Aasgeier konsequent verscheuchen.

»Was wollt ihr?«, lenke ich absichtlich ab.

Geistesgegenwärtig stopft sich Daddel derweil unbemerkt die kostbaren Münzen in die Hosentasche. Ich fürchte echt, ich erlebe meinen zehnten Geburtstag nicht mehr.

Meine Fresse! Sein Großvater dreht uns garantiert den Hals um. Wenn nicht, dreht er uns spätestens dann den Hals um, wenn die gierigen Kartoffelfresser-Drillinge Wind davon bekommen, einen auf Gangsterboss machen und uns die seltenen Münzen abknöpfen.

Kommt das raus, sind wir erledigt. Und ich Depp labere unwissend mit seinem netten Opa, während sich Daddel heimlich am Safe der Familie zu schaffen gemacht hat.

»Wer fragt dich, du Spasti? Also, Daddelheim, spuck es aus! Was macht ihr hier?«

»Ich wüsste nicht, was es dich angeht.«

»Ihr seid Schwulis«, kichert Siggi und bewegt seine Zunge anzüglich an der Innenseite der Wange, bis eine dicke Beule entsteht, die … ich denke, das Bild ist eindeutig.

»Gay Crusing1 oder was?«, höhnt Heinz, der Kalle anstupst.

»Genau. Die Schwulis treffen sich bestimmt hier, um sich einen blasen zu lassen. Wie im siffigen Klohäuschen am Alex.«

»Du kennst dich wunderbar aus. Jetzt wundert mich nicht mehr, warum ich dich neulich am Alex gesehen habe«, kontert Daddel und feixt.

Nicht spaßig. Gar nicht spaßig, wenn ich mir Kalles Miene eingehender betrachte.

In einem irrsinnig schnellen Satz ist er bei Daddel. Er packt meinen Freund am Hals und reißt ihn blitzschnell zu Boden. So schnell kann ich gar nicht gucken. Heinz und Siggi feuern ihn heiser schreiend an, auf Daddel einzuprügeln. Der wehrt sich nach Leibeskräften und verteilt Kinnhaken, bis ein Treffer auf die Nase für kurze Zeit die Rauferei unterbricht.

»Zehn Euro oder ich poliere dir deine hässliche Schwulen-Juden-Visage. Höre zu, zu elende Schwuchtel: Heute lasse mal Gnade vor Recht walten. Beim nächsten Mal kassiere ich fünfzehn Euro und komme nicht erst nachfragen. Du bringst sie mir aus freien Stücken zum Volleyballfeld, kapiert?«

»Fick dich selbst ins Knie«, röchelt Daddel und kassiert dafür harte Schläge auf Kopf und Brustkorb.

»Hört auf«, schreie ich.

»Hau ihm eine rein!«

»Mach weiter rechts!«

»Hört auf«, schreie ich noch einmal und ernte einen prüfenden Blick von Siggi. Der überlegt, ob er mich angreift. Rasch reagiere ich und sprinte los.

»Ja, lauf nur, du Judas! Ich weiß genau, wer uns neulich beim Rektor verpfiffen hat. Sieh zu, dass du Land gewinnst.«

Ohne nach vorn zu schauen, flitze ich davon. Unsanft pralle ich gegen jemand. Es ist ein Pärchen, das an der Spree entlang schlendert.

»Bist du nicht der älteste Sohn der Bachmans? Was geht hier vor sich?«, fragt der Mann.

Alle in der Gemeinde tuscheln über ihn, weil er mit einer zweifach geschiedenen Frau zusammenlebt. Einigen geht das gewaltig gegen den Strich, meint mein Vater. Was auch immer das bedeutet.

Ich meine, wie sieht es aus, wenn ein Strich gewaltig geht? Keine Ahnung, was sie damit meinen. Erwachsene labern manchmal echt zusammenhangloses Zeugs.

»Hinterhältiger Verräter«, schreit Siggi.

Er und Heinz setzen mir nach. Der junge Mann horcht auf. Er hört Hilferufe und schaut mich fragend an. Ich habe keine Zeit das wie und warum zu erklären. Daddel ist in Not.

Ich springe in die Höhe, ergreife den nächstbesten Ast des Baumes, unter dem ich stehe und breche ihn ab. Er ist armdick und taugt allemal als verlängerter Meinungsverstärker.

Mein Vater sagt, er steht dem Judentum liberaler gegenüber. Gewalt und Rache lehnt er ab und findet, jede Form von Radikalismus ist die Wurzel allen Übels auf der Welt. Muss er seine Familie und sich verteidigen, würde er aber niemals zögern.

Niemals.

Und das hat gewiss nichts mit der Konfession zu tun. So ticken die Menschen, meint er.

Darin gleiche ich ihm. Verprügelt jemand meinen besten Freund, muss er mit allem rechnen. Heute mit diesem Ast.

Die dunklen Augen vor mir weiten sich entsetzt, jedoch bleibt dafür keine Zeit. Ich renne zu Daddel, der von Kalles Schlägen hart getroffen und regelrecht malträtiert wird.

»Ich mach dich fertig, du Jude, wenn du mir die zehn Euro nicht rausrücken willst«, schreit Kalle und schäumt vor Wut.

»Verpiss dich, du stinkender Furz! Ich habe keine zehn Euro«, brüllt Daddel und schlägt wild um sich.

»Lass ihn sofort los«, brülle ich aus Leibeskräften und halte den Meinungsverstärker in die Höhe wie ein bekannter Baseballstar in Amerika. Zum Abschlag bereit und gewillt, einen ›Hit‹ zu landen.

Ich bin zu allem bereit.

Mich regt tierisch auf, was er andauernd für schwachsinniges Zeug schwafelt. Vor allem, dass er fortwährend den jüdischen Glauben aus der Kiste kramt, um uns eins reinzuwürgen. Bei Muslimen macht er das auch. Mir reicht es. Ich habe das ständige Anfeinden satt. Wofür hat er ein Hirn, wenn er es nicht zum Denken benutzt?

Kalle schaut auf. Er verzieht seinen Mund, grinst höhnisch und entblößt seine gelblichen Zähne. Ich überlege nicht lange und möchte meinen Freund aus seinen Klauen befreien. Zumal mich das überhebliche und selbstgefällige Spötteln vom katholisch erzogenen Kalle schon seit Jahren anstinkt.

Mit einem urgewaltigen Schrei und einem kräftigen Hieb knallt der Ast auf seinen Oberarm. Er zerbricht. All meine angestauter Zorn entlädt sich in diesem Schlag. Ich bin es leid, wenn meine Religion Ursache für Streit ist und so ein Spast glaubt, er kann jeden Andersgläubigen herumschubsen.

»Kannst du mir mal verraten, was dein Problem ist?«, brülle ich.

»Hast du dreckiger Jude mich etwa mit einem Ast geschlagen?«

»Was ist dein Problem?«

Eigentlich brauche ich nicht fragen, denn ich ahne es. Er quatscht seinen Eltern alles nach. Die quatschen ihren Eltern alles nach. Und so geht es immer weiter, weil sie einen Sündenbock für ihr verkacktes Leben brauchen. Juden, Moslems, Russen, Arbeitslose, Schwule, Lesben …

Ich bin es leid und hebe den verbliebenen Rest des Astes in die Höhe. »Schwuchteln sind auch Menschen. Du lässt uns ab heute besser in Ruhe«, schreie ich und versprühe Speichel dabei.

»Was macht ihr Jungs denn da?«, fragt der junge Mann und zerrt mich fort, damit ich mich besser nicht weiter vergesse. »Und wenn ich aus deinem Mund noch einmal ›dreckiger Jude‹ höre, setzt es was hinter die Ohren, verstanden? Ihr seid keine zehn Jahre alt und schon dermaßen festgefahren. Schämt euch! Allesamt. Euch sollte klar sein, dass selbst Tiere eine bessere Moral an den Tag legen als ihr ungehobelten Lümmel. Die helfen sich in der Not, statt einander zu zerfleischen. Jetzt trollt euch nach Hause! Los, haut schon ab, bevor ich euch Beine mache!«

Kalle fällt getroffen zur Seite und hält sich jammernd den Oberarm. Mühelos zerrt mich der junge Mann zur Seite. Zu meinem Entsetzen sehe ich, wie die drei Münzen aus Daddels Hosentasche purzeln.

Damit bin ich nicht allein.

»Was ist das? Wo habt ihr die her?«, will der Mann in einem strengen Ton wissen.

Daddel und ich tauschen einen Blick. In dem liegt alles, was unsere Freundschaft ausmacht und sich jetzt zum tausendsten Mal beweist.

Er bückt sich.

Ich tobe, schreie und schimpfe wie ein Rohrspatz, um die Aufmerksamkeit des Mannes auf mich zu lenken. Nachdem Daddel, der unter dem aufmerksamen Blick von Kalle steht, die Münzen wieder in die Hosentasche gestopft hat, reiße ich mich los. Wie ein geölter Blitz presche ich in Richtung Oranienburger Straße.

Es dauert nicht lange, bis mich der sportliche Daddel einholt. »Wo lang?«

»Zur Gespenstermauer, dann im Zickzack zu mir nach Hause«, keuche ich, weil ich Schritt mit dem athletischen Jungen halten möchte.

Wir flitzen über die Oranienburger Straße, rempeln Touristen an, die sich unter die Passanten mischen und die berühmt-berüchtigte Straße besichtigen. Sie gilt als Schmelztiegel. Nachts bevölkern sie erlebnishungrige Touristen aus aller Welt, Einheimische, Künstler aus dem Tacheles, Huren und ihre Freier. Tagsüber kommen brave Touristen, sitzen in den Cafés und flanieren über die Bordsteine der nächtlichen Schwalben.

Daddel schaut sich um. Er verlangsamt das Tempo, weil wir offensichtlich nicht verfolgt werden. Dennoch rennen wir, als wäre unser junges Leben in höchster Gefahr.

Vor uns taucht die Neue Synagoge mit ihrem auffälligen Kuppeldach auf. Dort angekommen, ziehen wir die Aufmerksamkeit der Wachleute auf uns. Am Nachmittag ist es hier immer unübersichtlich, laut und turbulent.

An dieser Engstelle drängeln sich viele Berlin-Besucher, die fälschlicherweise davon ausgehen, das Museum wäre nachmittags geöffnet. Lachend rennen wir an ihnen vorbei, danken für die Flüche und pausieren erst, nachdem wir die Geistermauer erreichen. Im geschützten Eingangsbereich verschnaufen wir, knuffen uns gegenseitig und witzeln über vorhin.

»Er wird uns verpfeifen.«

»Wer?«

»Mensch! Er ist zwar neu in der Gemeinde, aber er hat die Münzen gesehen und kennt die Sammlung deines Großvaters.«

»Aber noch niemand hat sie so nah gesehen, wie wir zwei«, kichert Daddel. Er bewegt seine Hand in der Hosentasche, woraufhin es klimpert.

»Schhh! Schrei es noch lauter herum.«

»Niemand hat sie so nah gesehen wie wir …«

Weiter kommt er nicht. Meine flache Hand bedeckt seinen Mund. Ihn gegen die Wand drängend bringe ich ihn zum Schweigen. Zu spät bemerke ich, dass er mich in eine Falle lockt.

In meiner Handinnenfläche spüre ich seine Zunge. Die glasigen Augen sprechen Bände.

Sofort lasse ich von ihm ab, entferne dezent den Speichel an meinem Hosenbein und halte Ausschau nach möglichen Verfolgern. Kalle lässt sich den dicken Fisch garantiert nicht von der Angel klauen, daher heißt es, wachsam zu bleiben.

»Du wischst es ab?«

»Hab eine Zeit lang versucht, schwul zu werden. Klappt aber nicht. Mädchen strengen an, sind aber irgendwie … ich steh halt auf Mädchen«, murmele ich.

Um von diesem Thema abzulenken, hole ich einen Pfennig aus der Hosentasche. Die Leute sagen, an diesem Haus spuken manchmal Geister von Kindern, die für ein paar Pfennige Wünsche erfüllen.

Daddel prustet los und kokettiert, indem er andauernd Alonas Namen säuselt. Bevor ich ihn ergreife und erneut zum Schweigen bringe, türmt er im Zickzack zu mir nach Hause. Wir lachen, biegen in die wie ausgestorbene Sophienstraße ein und rempeln uns einander an.

Bevor wir mein Elternhaus betreten, putzen wir uns die Schuhe ab. Meine Mutter flippt aus, wenn wir den feinen Sand vom Kinderspielplatz in das Haus schleppen. In der geräumigen Wohnküche stibitzen wir uns einen frisch gebackenen Keks vom heißen Kuchenblech und wollen in mein Zimmer hinauf.

Meine Mutter versperrt uns den Weg. »Wie seht ihr Lümmel denn aus?«

Tja, das ist der Haken an der Sache. Daddels zerzauster Haarschopf, der Schmutz an seinem karierten Hemd und das angetrocknete Blut unter seiner Nase, verlangen nach einer Erklärung.

»Tach, Frau Bachman. Ihre frisch gebackenen Kekse sind wieder einmal erstklassig. Leider fehlt mir die Zeit, mit Ihnen zu konservieren, weil ich erwartet werde.«

»Etwa von einem Arzt?«

»Nein, von meiner Geliebten, für die ich mich eben couragiert geprügelt habe.«

»Ach, Michi, du bist so ein süßer Fratz. Rafa, geh doch bitte das Jod und einen frischen Waschlappen holen! Äh, äh, äh, du bleibst schön hier, mein Freund, setzt dich, isst einstweilen den Keks zu Ende und erzählst mir von deiner Freundin. Wie ist sie so? Ist sie hübsch?«

»Stellen Sie sich große, dunkle und kluge Augen vor, in denen ich mich spiegele, wenn ich hineinsehe. Ich sehe das ganze Universum und fühle mich klitzeklein.«

Ich bleibe stehen, höre zu und schlucke schwer. Meine Mutter bemerkt den auffälligen Blick, den Daddel mir zuwirft. Sie wendet sich zu mir und deutet mit einer Geste an, mich endlich zu sputen.

»Erzähl weiter, Michi.«

Statt den Auftrag meiner Mutter zu erledigen, trotte ich in den Keller. Ich setze mich auf die Stufen und starre vor mich her. Es dauert nicht lange, bis ich hinter mir eine Bewegung bemerke.

»Hier soll es spuken«, sagt er, drängelt sich an mir vorbei und späht in den ersten Kellerraum. »Mein Bruder meint, die Leute erzählen sich, dass hier unten ein ruheloser Geist haust.«

»Alles Blödsinn«, unterbreche ich ihn gereizt und gehe zum Beweis hinab. »Ich war schon tausendmal hier unten und habe noch nie was davon gemerkt. Diese Geschichte ist mindestens genauso Käse, wie die Geistermauer. Alles Blödsinn. Es gibt keine Geister.«

»Dann mach das Licht aus!«

»Etwa jetzt?«

»Geh hoch und mache das Licht aus. Ich gehe nach unten. Dann sehen wir, ob es was mit dem ruhelosen Geist auf sich hat.«

»Du spinnst doch«, maule ich, trotte aber folgsam die Treppe hinauf, um das Licht auszuschalten.

Zack, schon ist es stockdunkel. Ich sehe die Hand nicht mehr vor Augen.

Eine Weile ist es mucksmäuschenstill. Dann wackeln Mutters Einmachgläser, die im Regal an der Wand stehen. Daddel keucht und jagt mir einen irrsinnigen Schrecken ein. Was treibt er da unten?

Hektisch suche ich den Lichtschalter und taste mich mühselig vor, weil ich dummerweise einige Treppenstufen hinabgegangen bin.

»Daddel?«

»Ja?«, ertönt es dicht neben mir.

Bevor ich etwas sagen kann, legt sich eine Hand auf meine. Sie führt mich zum Lichtschalter, betätigt ihn jedoch nicht. Kurz vor meiner Nase spüre ich seinen Atem und halte stocksteif inne.

Sanft legt Daddel seine Lippen auf meine.

Ich protestiere nicht, nachdem er mich vorsichtig küsst, obwohl ich diesbezüglich keine Fantasien hege. Versteinert lasse ich es geschehen und strenge mich an, es zu mögen. Das einzige Bild, was er dabei in mir auslöst, dreht sich um ein blondes Mädchen, deren unglaublich weichen Lippen mich sinnlich verführen.

Wann immer ich mir Küssen ausmale, stelle ich es mir mit einem blonden Mädchen vor. Sie sieht so ähnlich aus, wie die kindliche Kaiserin in der unendlichen Geschichte. Seit ich den Film gesehen habe, weiß ich, dass mein Mädchen auch so aussehen wird. Nicht nur das. Sie wird freundlich, gutmütig und liebevoll sein. Wie die kindliche Kaiserin.

»Nur dieses eine Mal und ich sterbe heute als glücklicher Mensch«, haucht er.

Seine Stimme klingt belegt. Er stellt sein Bein zwischen meines und drückt seinen Unterleib an meinen. Seine Hand gleitet in meinen Schritt. Prompt verblasst das Bild von dem hübschen, blonden und blauäugigen Mädchen.

»Du stirbst heute nicht«, antworte ich schroff und drücke ihn fort.

Bei aller Liebe, wenn er das macht, regt sich da unten nichts. Ich rücke ab und schalte das Licht ein.

»Und du kennst meinen Großvater nicht. Ich mache los.«

Eine Weile bleibe ich im Kellergang zurück. Ich höre zu, wie er zum Abschied meine verdutze Mutter grüßt, die ihn unbedingt verarzten möchte. Die Haustür kracht ins Schloss, bevor sie auch nur Protest einlegen kann, was selten genug vorkommt.

Kurz entschlossen, jage ich hinterher. Ich muss mit ihm reden.

Über eben.

»Schön hiergeblieben, Rafa. Was ist mit deinen Hausaufgaben?«, ruft meine ratlose Mutter, doch ich eile Daddel bereits hinterher und beachte sie nicht.

Daddel biegt in die Krausnickstraße ein und erhöht absichtlich das Tempo. Kurz bevor die Straße eine Biegung macht, hole ich ihn ein, stoppe ihn und keuche arg.

»Was?«, schreit er und wendet sich ab, weil er mir seine Tränen nicht zeigen kann.

Erschrocken richte ich mich auf. Ich spüre meinen rasenden Puls und die aufsteigende Verwirrung. »Wir müssen über eben reden. Dringend.«

»Was gibt es da zu bereden?«

»Mann, Daddel. Ich stehe auf Mädchen. Keine Ahnung, warum.«

»Aber du sagst doch immer, du findest sie langweilig.«

»Ja, schon, aber nicht, wenn ich ans Küssen denke. Dann finde ich sie nicht langweilig.«

»Dann probiere doch wenigstens mal, ein Kuss von einem Jungen schön zu finden. Nur einmal. Für mich«, schreit er erneut.

Damit entlässt er all seine Not, die mitten zwischen uns zu Boden kracht und unsere Freundschaft auf eine ungewohnt harte Probe stellt. Was kann ich tun? Ich mag Daddel, aber mehr nicht.

Er ist mir wichtig, mein allerbester Freund. Warum wird jetzt plötzlich alles kompliziert?

»Ich stehe einfach nicht darauf, Jungs zu küssen.«

»Aber ich, verfluchter Scheiß.«

Schweigend und atemlos stehen wir uns gegenüber. Mir fällt nichts ein, was in diesem Moment passend wäre. Oder logisch. Erschwerend kommt hinzu, dass er todunglücklich wirkt.

In den Falschen vernarrt.

»Wir sind Freunde.« Meine Stimme klingt tonlos. Ich fühle mich mindestens genauso unglücklich wie er.

»Ich glaube, ich kann das nicht, Rafa. Wie soll ich dich ansehen können, wenn ich dabei immer nur an das eine denken kann?«

»Höre auf, so zu reden. Ich will das nicht und für unsere Freundschaft ist es Gift. Es gibt haufenweise andere Jungs. Die sehen gut aus, sind klug und können dich lieben. Ich kann das nicht.«

»Verstehst du denn nicht? Du siehst verdammt gut aus. Du bist der klügste Junge, den ich kenne. Alles an dir macht mich verrückt.«

»Ja«, entgegne ich gereizt, weil mich das Gespräch zunehmend überfordert, »ich merke das sehr wohl. Du schnappst über und nimmst mir meinen besten Freund weg. Gib mir Daddel zurück. Sofort!«

Daddel schließt seine Augen. Ich beiße mir auf die Zunge. Die Worte zurückzunehmen ist unmöglich. Unvermittelt türmen sich riesige Steinberge zwischen uns auf. Ich merke es an seinem Blick und fühle mich damit unwohl. Ich möchte nicht, dass sich etwas zwischen uns ändert.

Langsam wendet sich Daddel ab.

»Nein, bleib hier. Rede mit mir.«

»Lass mich in Ruhe. Es ist alles gesagt.«

»Nein, wir reden darüber. Bleibe hier.«

Daddel rennt fort.

»Schau mal, da sind sie, Kalle«, ruft Siggi, der soeben um die Ecke biegt.

Erschrocken fahre ich herum. Die Drillinge sprinten los. Sie sind das Rennen und Verfolgen gewöhnt und stinksauer auf uns. Es ist höchste Zeit, sich zu verfatzen.

»Ich will die Münzen«, weist Kalle seine Brüder an.

»Ich habe sie nicht mehr und würde sie einem Fritz garantiert nicht abtreten«, verkündet Daddel entschlossen.

Danach stürmt er los und sucht für uns ein sicheres Versteck. Im Eiltempo folge ich, denn in dieser Straße kennt er jeden Winkel und jedes Schlupfloch. Hinter uns schäumen die drei Jungen vor Wut, Rachegelüste und Geldgier.

Wir retten uns um die kleine Straßenbiegung und schlüpfen durch einen Bauzaun. Daddel erklimmt als Erster ein Baugerüst, welches mit Planen abgedeckt wurde. Überall auf dem schmalen Gang stehen Mörteleimer herum. Die und die zerfetzten Abdeckplanen behindern mich im Vorankommen. Mein Freund steht inzwischen mindestens drei Stockwerke weiter oben, während ich mit der Höhe kämpfe und Mühe habe, mich emporzuarbeiten.

»Hallo, ihr Fritzchen«, verhöhnt er die drei Brüder und wähnt sich in absoluter Sicherheit.

»Da oben sind sie. Los, ihnen nach.«

Atemlos erklimme ich eine steile Leiter nach der anderen. Ich sehe mich windelweich verprügelt und auf ewig um jeden verdammten Cent ausgequetscht, wenn ich Kalle begegne.

»Los, Heinz! Schnapp dir den Judas. Ich hole mir den anderen.«

»Welchen?«

»Mach schon, du selten dämlicher Idiot! Hol sie mir gefälligst beide runter, damit ich ihnen die gottlosen Fressen polieren kann.«

»Daddel, warte«, rufe ich, erschrecke jedoch sofort.

Ein greller Aufschrei ertönt.

Er fährt durch Mark und Knochen. Nicht nur das. Sämtliche Nackenhaare stehen aufrecht.

In Zeitlupe nehme ich wahr, wie alles Leben, alles, was in dieser Stadt jemals pulsiert hat, den Atem anhält. Selbst das Sonnenlicht verfärbt sich bedrohlich und kündet ein bevorstehendes Unheil an.

Mein Körper erstarrt. Ich bewege mich, aber meine Beine streiken, verweigern den Dienst. Meine Brust ist wie zugeschnürt und mein Atem geht so flach, dass ich denke, ich ersticke. Es ist, als ob die Zeit stehen geblieben ist und sich für einen Moment in einer schrecklichen Unendlichkeit verliert.

Mein Verstand weigert sich strikt zu glauben, was meine Augen mitansehen müssen. Ich bin wie erstarrt. Es ist, als ob die Welt um mich herum plötzlich ohne Farbe ist. Ein Albtraum.

Daddel brüllt.

Nein, er kreischt. Er kreischt in einer Weise, wie ich es noch nie in meinem Leben gehört habe. Und nie wieder hören möchte.

Nie wieder.

 

 

 

Kapitel 3

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Die Therapeutin, die ich seit Kurzem aufsuche, öffnet die Tür. Frau Voss hält sie ein Stück offen, weil jeden Moment die Stunde beginnt. Die dauert knapp fünfzig Minuten. Therapeuten haben offenbar eine andere Zeitrechnung.

»Guten Tag, Herr Bachman.«

»Hallo«, entgegne ich kurz angebunden und trete durch die geöffnete Tür. Ich nicke ihr zu, weil mich mit einer einladenden Handgeste in ihren Behandlungsraum bittet. »Ich hoffe, Ihre Anfahrt war angenehm?«

Mit derlei Geplänkel eröffnet sie meist eine zwanglose Konversation, was mich für die anstehende Therapiestunde auflockern soll. Ich hingegen möchte mir um nichts in der Welt meine Unruhe anmerken lassen und fasse mich für gewöhnlich kurz.

»Passt schon. Auf der Herfahrt ging mir einiges durch den Schädel. Ich bin heute nicht hundertprozentig bei der Sache«, antworte ich eine Spur unfreundlicher, als ich beabsichtige.

Angespannt schaue ich mich in dem kleinen Behandlungsraum um, dessen Fenster sperrangelweit offenstehen, um frische Luft für die kommende Beratungsstunde hereinzulassen. Einmal kräftig Luft holend beobachte ich, wie Frau Voss die Fenster schließt. Zu schade, dass es durch die Lautstärke der Hauptstraße nicht infrage kommt, sie während der Stunde geöffnet zu lassen.

Zwei Stühle stehen an einem runden Tisch, auf dem ein Wecker, eine kleine Blühpflanze und eine Taschentuchbox dekoriert wurden. Das Liegesofa lädt mit seinen farblich abgestimmten Kopfkissen und zwei flauschigen Sofadecken zur Psychoanalyse ein. Am Kopfende steht ein bequemer Sessel für die Therapeutin. Ein moderner Beistelltisch mit einer gläsernen Oberfläche unterstreicht das moderne Ensemble.

»Wollen wir?«, fragt sie, während sie sich vom Fenster abwendet.

Miteinander essen? Hinterher in einem schicken Restaurant gemeinsam einen fantastischen Rotwein aus Frankreich trinken? Kleiner Scherz, denn ich komme nicht für einen Small Talk. Ich lasse mich therapieren.

Lächelnd deutet sie zum Tisch, an dem zwei bequeme Stühle stehen. Ich setze mich. Aus ihrer braunen Ledertasche zieht sie meine Unterlagen und sucht die Seite mit den Notizen des letzten Gesprächs. Auf dem Deckblatt steht leserlich Rafael Bachman geschrieben. Frau Voss sitzt mir gegenüber und ich komme nicht umhin, die günstige Gelegenheit zu nutzen, um die freundliche Therapeutin zu beobachten.

Heute trägt sie eine weiße Bluse aus fließendem Stoff, den ich bei jeder Bewegung rascheln höre. Der unscheinbare Schnitt besticht genau dadurch. Sie mag keinen Schnickschnack, was mir bereits in vergangenen Stunden aufgefallen ist. Mehr Zeit für weitere Betrachtungen bleibt nicht, weil sie mit dem Daumen auf das hintere Ende des Kugelschreibers klickt und folglich gleich zu mir aufschaut.

Sage ich doch.

Ich weiß nicht, seit wann ich Gedanken lesen kann, aber in der Mehrzahl der Fälle ahne ich bei dieser Frau, was sie als Nächstes tut oder sagt.

»Wir sprachen in der letzten Sitzung über Ihren Freund Daddel. Wie ist es Ihnen nach unserem Gespräch ergangen?«, erkundigt sie sich und hebt erwartungsvoll den Blick.

»Prima«, lüge ich.

Ich bin nicht hier, wegen Daddel. Mich treibt Paula her. Nein, nicht Paula. Die Trennung. Mit der komme ich nicht klar, weil Paula sich nach dem letzten Eifersuchtsdrama peu a peu aus meinem Leben gestohlen hat. Seit Jahren ringt sie mit ihren Geistern und Dämonen. Machtlos muss ich zusehen, kann sie nicht ins Leben zurücklocken und komme an meine Grenzen.

Jetzt sitze ich einmal pro Woche bei Frau Voss und lasse mich behandeln. Mir wäre lieber, ein Kraut wäre dagegen gewachsen. Da hätte ich aber Biologie, statt Geologie studieren sollen.

Jetzt ist es zu spät und ich weiß mir keinen Rat mehr.

»Donnerwetter, interessant«, nuschelt sie und notiert etwas in meine Akte.

Vermutlich erhalte ich einen Minuspunkt, weil ich mich absichtlich kontraproduktiv verhalte, statt meine Probleme zu bearbeiten.

»Was anderes beschäftigt mich. Am Mittwoch bin ich kurz ins Atelier von Paula gefahren. Ich habe es dort eine ganze Stunde ausgehalten, bevor mich wieder diese seltsame Enge im Brustkorb überwältigt hat«, verkünde ich vollmundig die Erfolge meines selbst gestellten Wochenziels und zeige mich ab jetzt zugänglicher.

Das ist schließlich Sinn der Übung. Auch, wenn die Themen unangenehm und penetrant schmerzen und seit Jahren an meinem Seelenleben nagen.

»Eine Stunde klingt für mich nach einem Fortschritt.«

»Für mich erst«, schmunzele ich und erröte bei meinem Eigenlob, wie ein dreizehnjähriger Schuljunge, der bei seinem ersten Rendezvous eine wohlduftende Rose überreicht.

Dabei ist das hier keine Verabredung, sondern meine bezahlte, dreiviertel Stunde Zeit pro Woche, um die Vergangenheit zu bewältigen und mein Leben in den Griff zu bekommen.

»Na ja, mich hat eine Freundin der Familie begleitet. Alona. Niemand sonst hatte Zeit. Ich habe länger als sonst dort ausgehalten. Andernfalls wäre ich sofort wieder schreiend rausgelaufen.«

»Warum?«

Über diese Frage nachsinnend zupfe ich ein Blatt von der Blühpflanze ab. Nebenbei durchforste ich sämtliche Schubladen meines Hirns, nach einer halbwegs ehrlichen Antwort. Die muss so ausfallen, dass ich nicht auf der Stelle für verrückt erklärt werde. Schließlich erzähle ich meiner Therapeutin nicht unverblümt, was ich empfinde, wenn ich mich längere Zeit im Atelier meiner Frau aufhalte.

Das würde zu absonderlich und bizarr klingen.

»Ich habe Alona gebeten, mich zu begleiten, weil ich mir vor ihr ungern die Blöße gebe und jemanden für eine eventuelle Notsituation gebraucht habe. Wie gesagt, sie hat sich unauffällig im Hintergrund gehalten. Da konnte ich mich in aller Ruhe umsehen und den aufkommenden Stimmen lauschen. Ich habe nur wenige Stimmen gehört. Ähm, kleiner Scherz, denn ich höre nie Stimmen. Also nicht diese Art von Stimmen. Ich meine, ich höre keine Stimmen, nur die innere Stimme. Also, ich wollte meine innere Stimme hören, habe aber nichts gehört. Egal. Zum Glück habe ich keine Stimmen gehört. Wahrscheinlich auch zum Glück für Alona, da es nie zauberhaft aussieht, wenn ein erwachsener Mann zusammenbricht. Ganz davon abgesehen … egal.«

»Was soll mir egal sein?«

Mit den Achseln zuckend, weil eine Psychologin eine ausweichende Antwort sicher zu simpel findet, antworte ich: »Ich stelle mir bildlich vor, wie ein zartes Persönchen mich auffängt, daher habe ich mich gewaltig zusammengerissen.«

»Sie spielen gerne den Helden?«

»Schon, allerdings eher im Sinne einer tragenden Figur. Weniger als Heißsporn«, antworte ich auf der Stelle und lasse das Blatt mit den zierlichen Adern los. Ich lege den abgerupften Teil der Grünpflanze auf den Tisch und erwarte eine Standpauke dafür, heimlich über die Blühpflanze herzufallen.

Seit ich Paula, kenne, spreche ich Pflanzen keine Gefühle mehr ab.

Unumwunden sehe ich in die schwarzen Augen meiner Therapeutin, die mich aufmerksam beobachten. Genauer gesagt verfolgen sie jede meiner Regungen. Vereinzelt fühle ich mich unter ihrem eindringlichen Blick bis auf die Knochen durchleuchtet.

Das finde ich angenehm, solange ich Fortschritte mache und kleine Veränderungen mein Leben positiv beeinflussen. Stecke ich jedoch fest oder falle zurück, fühle ich mich als komplett verkrachte Existenz, die sich jeden Moment in die Psychiatrie einweisen lässt.

»Möchten Sie davon erzählen? Was ist Ihnen konkret durch den Kopf gegangen?«, erkundigt sie sich mit ihrer sanften Stimme, die immer verdammt vorurteilsfrei klingt.

Wie stellen Psychologen das nur an? Ich meine, wie und wann lernen sie, derart abgeklärt zu sein? Als würde sie rein gar nichts an ihren Patienten schockieren oder sie aus der eigenen Umlaufbahn werfen.

Himmel, ich klinge wie eine verkrachte Existenz.

Meine Therapeutin rückt ihre Brille auf der Nase zurecht und legt den Stift gegen das Kinn. Ihr rundes Gesicht passt nicht zur modernen Brille. Das Designer-Brillengestell besticht durch seine elliptische Machart. Frau Voss wirkt auf eine Art attraktiv, obwohl ich blaue Augen favorisiere.

Schon immer. Ich empfinde es leichter, diese zu ergründen. Ernsthaft, helle Augen finde ich kontaktfreudiger.

Paulas Augen erstrahlen in einem leuchtenden Blaugrau, deren Tiefe mich in einem Strudel mitreißt. Wenn sie ausgeruht ist oder das Licht das Gesicht erhellt, leuchten sie von innen heraus. Und beim Lächeln ziehen sich ihre Augenwinkel leicht in die Höhe.

Unfassbar schön. Wunderhübsch anzusehen.

Derlei Gedanken kreisen in endlosen Bahnen durch meinen Kopf, wenn ich in ihrem Atelier stehe und in eine nicht auszuhaltende Leere starre. Und noch andere Sachen passieren.

Aber soll ich das ernsthaft erzählen? Lieber nicht.

»Paulas Bilder fand nicht mehr so düster, was mir diesmal extrem aufgefallen ist. Inzwischen malt sie farbenfroher. Dennoch hatte ich hinterher Kopfschmerzen. Ach, und eine freigeräumte Ecke ist mir auch noch aufgefallen, in der alles für ein neues Projekt bereitliegt.«

Erstklassig abgelenkt. Frau Voss enttarnt meine kleinen Schummeleien ohnehin und lenkt das Gespräch stoisch in die von ihr gewünschte Bahn.

»Ein neues Projekt?«, fragt sie, nachdem ich lange in diesen Gedanken festhänge und ebendarum schweige.

Sie soll sich für ihr Honorar reinknien, denn ich tendiere mehrheitlich dazu, in Ruhe nachzudenken. Egal, ob im Hintergrund die Uhr tickt. In unserem Fall der alte Wecker, auf den sie gelegentlich schaut. Sie notiert sich eifrig …

Was kritzelt sie eigentlich in meine Akte?

Oh, jetzt sticht mir die anmutige Form ihrer Fingernägel ins Auge. Die fällt mir nicht allein heute auf und stachelt meine Fantasie an, daher beobachte ich sie geistesabwesend und schiebe alle Gedanken an Paula fort.

»Interessant«, murmelt sie undeutlich.

»Ja, sogar unheimlich interessant. Oh, ähm … Ich fand einige Skizzen, die darauf hindeuten, dass ein Kinderbuch entsteht.«

»Das klingt wunderbar.«

Schweigend schaue ich zu meinen Händen, die auf den Oberschenkeln liegen. An der Innenseite des rechten Handgelenks betrachte ich mein Tattoo … eine liegende Acht. Wehmütig erinnert sie mich an bessere Zeiten.

Unbewusst seufze ich.

Nervös tippt mein linker Zeigefinger gegen den rechten Daumen, weil mir seit dem letzten Besuch im Atelier ein weiteres Detail durch den Kopf geht und nicht mehr verschwindet.

»Bei meinem vorvorletzten Besuch haben alle Zeichenstifte farblich in die Einmachgläser sortiert gesteckt. Paula sortiert sie strikt nach Farbtönen, weil sie Durcheinander verabscheut und zügig die passende Nuance finden will. Dabei beschreibt das Wort ›Wirrwarr‹ für mich exakt das, was sie als Ordnung bezeichnet. Verstehen Sie? Sie sieht in ihrem Chaos durch. Ich nicht und nenne es Wirrwarr. Paula nennt es Ordnung. Aber zurück zur Sache. Für gewöhnlich sortiert sie alle Stifte, Tuben und Tiegel nach Farben. Selbst die Kleidung im Schrank darf nicht aus der Farbreihe tanzen. Eine kleine Angewohnheit von ihr. Eine Marotte, die ich immer belächele und mit der ich sie aufziehe. Ähnlich wie die schrullige Grille, dass alle Vornamen der Mädchen in ihrer Familie mit dem Buchstaben ›P‹ anfangen.«

»Aha, ihr Mädchen trägt nach meinen Notizen … Warten Sie kurz. Ah, da habe ich es notiert. Mein Erinnerungsvermögen funktioniert demnach tadellos. Der Name Ihrer Tochter fängt nicht mit ›P‹ an«, sinniert sie geistesabwesend und blättert zu der Seite mit der Übersicht meiner Verwandtschaftsverhältnisse. Zweifelsfrei will sie die Fakten prüfen und runzelt ihre Stirn.

»Nein, Paula und ich haben mit dem ›A‹ angefangen. Ursprünglich wollten wir Buchstabe für Buchstabe das Alphabet durchgehen, sind aber bei ›B‹ ins Stocken geraten«, scherze ich und bereue es sofort.

Meine Therapeutin lacht ebenfalls nicht über diesen Flachs, daher räuspere ich mich unangenehm berührt. Ehrlich gesagt dreht sich mein Magen auf links, wenn ich an die Geschichte mit dem Buchstaben ›B‹ zurückdenke.

Das nenne ich sogar noch gewaltig untertrieben. Mir geht es hundeelend und ich weiß nicht, wohin mit meiner ganzen Wut, dem Kummer und Gram.

»Für Paula muss jedenfalls alles an seinem angestammten Platz liegen. Tatsache, sie sagt dazu: angestammter Platz. Klingt nach einer Stammtischecke für uralte Herren mit Säufernasen, die sich jeden Sonntag in einem miefigen Vereinslokal treffen, oder? Manchmal ziehe ich sie deswegen auf oder lege absichtlich alles woanders hin. Einmal zum Beispiel habe ich zwei Farbstifte in verschiedene Behälter gesteckt. Zwei. Sie hatte stundenlange Zustände und sich tagelang darüber aufgeregt. Sie hat sich nicht ernst genommen gefühlt und eine halbe Ewigkeit betont, wie sehr sie Unordnung verabscheut. Warum verstehe ich nicht genau. Ich meine, ich kam nie dahinter, weil …«

Mitten im Satz unterbreche ich und beende ihn nicht. Zu viele Emotionen steigen auf, die mich allesamt niederzwingen. Auch das ist kein berührungsloses Thema. Im Gegenteil. Nichts, was mit Paula zusammenhängt, erweist sich eines schönen Tages als belanglos.

Wie ginge das?

Hilflos fahren meine Hände durch die Luft, als könnten sie damit die fehlenden Worte ausgleichen und die aufkommende, innere Leere kompensieren.

»Sie dürfen sich gerne ein Taschentuch nehmen, Herr Bachman. Und bitte keine Scheu vor Tränen. Lassen Sie sie es hinaus und spüren Sie hinterher, wie etwas neues Platz findet!«

Für den kleinen Zeitvertreib dankbar, beuge ich mich vor und zupfe zwei Papiertaschentücher aus der hellgrauen Box mit kleinen, weißen Punkten. Mit einem tupfe ich eine Träne fort und hole geräuschvoll Luft. »Bei meinem vorletzten Besuch habe ich gemerkt, dass einige Stifte vertauscht worden sind. Ich habe sie in die dafür vorgesehenen Gläser einsortiert.«

Unermüdlich falte ich das zweite Taschentuch, bis ein zwei Zentimeter großes Stück übrigbleibt. Nach der gelungenen Faltkunst sehe ich auf. Meine Therapeutin legt den Stift ab, weil sie sich bis eben ausgiebig Notizen gemacht hat. Ich wage einen sanften Vorstoß.

»Ich habe im Internet recherchiert. Seit … etwas … Ich wollte sagen … Halten Sie mich für verschroben, wenn ich mit ihr spreche, obwohl sie nicht da ist?«

»Sie sprechen mit Paula? Interessant. In welchen Situationen?«

»Wenn mir der Sinn danach steht. Es gibt keine festen Zeiten. Halten Sie mich für verrückt? Ich meine, ich schleiche mich heimlich in ihr Atelier, stelle mir vor, sie würde direkt neben mir stehen. Dann spreche ich mit ihr und seltsamerweise geht es mir kurz besser. Meine Familie findet das skurril genug, um mich komisch und mitleidig anzusehen, was ich zutiefst verabscheue. Ich meine, sie sehen mich an, als wäre ich nicht zurechnungsfähig. Aber ich finde, es geht mir danach vielbesser, zumal ich diese Sachen nicht mit Paula besprechen kann.«

»Nein, für mich klingt es eher, als wären Sie durcheinander. Sie verarbeiten die Trennung von ihrer Frau. Da kommt es vor, dass vielfältige Gefühle an die Oberfläche sprudeln. Wir arbeiten gemeinsam die für Sie schmerzhafte Trennung auf. Vorübergehend halte ich es für normal. Sogar für richtig. Kein Grund zur Sorge.«

Statt einer Antwort nicke ich und fühle mich erleichtert.

»Ich kann Paula keine Vorwürfe machen. Es ist ohnehin alles kompliziert.«

»Machen Sie sich bitte keine Sorgen, Herr Bachman.«

»Okay«, murmele ich beruhigt und sehe besänftigt auf meine Finger, die das Taschentuch unruhig falten. Diesmal versehe ich es mit exakten Dreiecken, bis ich sie ungenau falte und mich die Arbeit langweilt. »Mein ehemaliger Arbeitgeber sucht einen Vulkanologen für ein neues Forschungsprojekt. Ich habe meine Fühler ausgestreckt. Sie möchten mich als Bürohengst einstelle. Es wäre perfekt, weil ich Verwaltungskenntnisse habe. Für mich wäre das günstig, da ich nicht verreisen muss. In Kürze spreche ich für diese Stelle vor.«

»Sie möchten in der Nähe von Ihrer Frau bleiben?«

»Haargenau. In ihrer Nähe«, gestehe ich meine Beweggründe, Berlin nicht zu verlassen und lege meine gefalteten Taschentücher auf den Tisch.

Mit einem eigentümlichen Schmunzeln notiert sich Frau Voss … Was notiert sie eigentlich? Einen Text für eine Pressekonferenz, die demnächst ansteht und in der Sie Auskunft über meinen Seelenzustand gibt? Fertigt sie ein Gesprächsprotokoll an? Verteilt sie gar Noten für den Schweregrad meiner Depression?

Ich sehe zu, mag die auf dem Kopf stehende Schrift aber nicht entschlüsseln. Für diese unbeobachteten Momente wird mein Augenausdruck nichtssagend. Von der Therapie fühle ich mich ausgelaugt. Jede einzelne Faser meines Körpers weigert sich vehement, die schmerzhafte Trennung von Paula zu verarbeiten und neuen Mut zu fassen.

»Ihre Ehefrau … Wir haben all die Stunden noch nicht sonderlich viel über sie gesprochen. Wie darf ich sie mir vorstellen?«

»Tiefsinnig, überlegt und mit einem Blick, der nicht von dieser Welt stammt. Eine anziehende Aura umgibt sie. Die Luft um sie vibriert. Kommt Paula in einen Raum, verändert sich das Klima spürbar. Aus einer Masse Menschen sticht sie in jeder Hinsicht deutlich heraus. Darum ist sie mir damals auf Maries Geburtstagsparty aufgefallen.«

Übergangslos verliere ich mich in Erinnerungen an jenen Abend, an dem ich Paula begegnet bin.

 

 

 

Kapitel 4

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Damals schlägt mir verbrauchte Luft aus der Wohnung entgegen, in der Studierende eng zusammengequetscht stehen. Angeregt unterhalten sie sich miteinander, wobei sie sich eher anschreien, weil die Musik in voller Lautstärke dröhnt.

Es riecht nach allerlei menschlichen Ausdünstungen, diversen alkoholischen Getränken und Lady Mary Jane. Letzteres wird unverblümt konsumiert und schwängert die Luft für all jene, die damit unfreiwillig high werden.

Ähnlich geht es auf vielen Studentenpartys zu. Diese stellt keine Ausnahme dar. Die Art der Studierenden schon. Laut meinem Kumpel Felix, der mich heute Abend herschleppt, studieren sie an der renommierten Universität der Künste in Berlin.

Kunststudenten eilt der Ruf voraus, allerlei Zeugs zu konsumieren, hemmungslos die freie Liebe zu praktizieren und planlos in den Tag zu leben. Nebenbei malen sie, was sie in ihrem Rausch erleben, nennen sich hochtrabend ›Kunstschaffende‹ und können ellenlang über die gequirlte Kacke schwafeln, die sie auf die Leinwand klatschen.

Großartiges Lebenskonzept.

Ursprünglich wollte ich mich vor meinem morgigen Flug nach Island auszuspannen und mit meinen Mitbewohnern einen netten Fernsehabend verbringen. Keine Ahnung, wann ich wieder dazu komme, denn ich habe einen der wenigen, heiß begehrten Plätze in einem namhaften Forschungsinstitut angeboten bekommen. Ich bleibe ein halbes Jahr dort, um die Vulkane vor Ort zu erforschen.

Zur Probe, versteht sich, denn ich habe möchte mich erst einmal in der Forschung umsehen, bevor ich mich für ein Institut festlege. Ich weiß, normalerweise dürfen Promovierende nicht wählerisch sein, bin ich aber trotzdem. Und drei Angebote von Forschungsinstituten, die auf meinem Schreibtisch liegen, sprechen schließlich für sich, oder?

Erst nach dem unerbittlichen Drängen von Felix habe ich mich breitschlagen lassen, für eine Stunde auf die Party mitzukommen. Er kennt das Geburtstagskind und meint, ich solle ruhig mal etwas Anderes sehen als die angehenden kopflastigen Geologen, mit denen wir normalerweise abhängen.

Wenn ich mich hier so umschaue, stelle ich wieder einmal fest: ich liege weit über dem Altersdurchschnitt. Ebendarum vermeide ich diese Art Kindergeburtstage, auf denen ich mir steinalt vorkomme.

Kunstschaffende finde ich sowieso eigenartig. Wenn ich mit ihnen zu tun habe, kommen sie mir vor, als würden sie auf einem fremden Planeten außerhalb unseres Sonnensystems wohnen. Skeptisch betrete ich daher den Flur, in dem nicht einmal ein Blatt Papier einen Stehplatz findet.

»Eine Vernissage«, kichert Felix, der bestens gelaunt vor mir hergeht und auf einige Kunstgemälde deutet, die an der Wand hängen.

Er bahnt uns einen Weg durch die dicht gedrängte Masse. Entnervt schnaube ich aus. Ich hoffe, er findet rasch das Geburtstagskind in diesem Massenauflauf von Freigeistern, die spätestens mit Mitte vierzig ihre heutige Einstellung zu Grabe tragen. Findet er seine Angebetete, gratuliere ich manierlich, trinke wohlerzogen ein kühles Bier und mach nach ein, zwei Runden Geplauder flott ’nen Abflug.

Das hier ist alles andere als meine Welt. Ich bevorzuge Fakten, von denen, die mir bekannten Künstler ausgehen, es sind enge, starre Formen, die unsere Welt mit aller Gewalt in Schubladen pressen. Naturwissenschaften versus geistige Gefilde und Liberalismus verhalten sich wie Wasser und Öl.

Sie gehen keinerlei Verbindung miteinander ein. Naturbedingt nicht.

»Marie«, ruft Felix und hebt übermäßig in der Luft herumfuchtelnd seine linke Hand.

Er arbeitet sich nun schneller durch die Masse. Notgedrungen folge ich und rempele mürrisch dreinblickend die im Weg stehenden Gäste an. Letztlich verspüre ich keine Lust, irgendwo stehenzubleiben und dümmlich in die Weltgeschichte zu sehen oder den Gesprächen zu lauschen.

Die drehen sich allesamt um Autonomie, Aufbruch zu den Sternen und darum, die Fesseln der Spießergesellschaft zu sprengen. Als wären sie die einzige Generation, der jemals derartige Flausen durch die Rübe geschlichen sind.

»Feli! Mensch, fabelhaft, dass du kommen konntest«, ruft eine zierliche, brünette Frau, die ich rein äußerlich nicht der typischen Klientel der Künstlerakademie zuordne. Dafür trägt sie zu klassische Garderobe und wirkt blass, was ohne Frage an den straff nach hinten gekämmten Haaren liegt.

»Alles Gute zum Geburtstag, Marie. Ein kleines Geschenk, bitte schön. Für dich«, gratuliert er, sobald wir bei ihr ankommen. Er überreicht ihr das notdürftig eingewickelte Buch, das er heute Mittag in der Buchhandlung in der Nähe der Universität gekauft hat.

»Und einen hübschen Freund, hast du auch mitgebracht, wie ich sehe. Klasse. Hi.«

»hallo. Ich bin Rafael«, stelle ich mich trotz der liebenswerten Geste reserviert vor. »Alles Gute zum Geburtstag auch von mir. Viele Leute hier.«

»Ich feiere meinen fünfundzwanzigsten Geburtstag. Ein viertel Jahrhundert auf dieser Welt muss gebührend gefeiert werden oder sehe ich das falsch?«, fragt sie, wobei sich die Wörter überschlagen.

Geschickt befreit sie das Buch vom Geschenkpapier, was die Verkäuferin aus gutem Grund in typischen Frauenfarben ausgewählt hat. Fassungslos auf die Liebesschnulze sehend erfasse ich, dass Felix komplett vom Boden abhebt und im siebten Himmel schwebt. Punktgenau legt er ein Dauergrinsen auf.

Na traumhaft.

Auf der Anzeigetafel rückt mein Abflug um eine halbe Stunde nach vorn, weil ich mich schon jetzt überflüssig fühle wie ein Pickel am Allerwertesten. Warum schleppt mich der verliebte Hund mit, wenn er diese Frau liebeskrank anschmachtet?

»Oh, wie genial«, ruft sie erfreut aus, als sie den allerneuesten Kitschroman aus dem Papier zieht. »Danke, Feli. Volki, komm dir kurz was anschauen. Der Feli schenkt mir den neuen Sander-Roman.«

Ein dunkelhaariger Mann nähert sich. Mit zusammengezogenen Augenbrauen beäugt er Felix und mich. Mein Studienkollege nickt grüßend und sieht überglücklich auf den druckfrischen Liebesroman hinab.

»Schöngeistige Literatur gefällt mir jetzt nicht unbedingt, finde aber unbeschreiblich niedlich, wie doll du dich über das Geschenk freust, mein Schatz.«

Zum Entsetzen meines Freundes senkt dieser Volki sein Gesicht und küsst den Traum seiner feuchten Nächte bühnenreif. Bestürzt schluckend fällt Felix in sich zusammen, womit sich mein Aufenthalt auf der Party um weitere fünfzehn Minuten verkürzt.

Einerseits erfreulich, andererseits jammert er mir nun gewiss tagelang die Ohren voll. Ständig verliebt er sich in Frauen, die, wie drücke ich es milde aus … Typen wie diesen Volki spektakulär finden.

»Wollt ihr ein Bier?«, will Volki nach dem Abstecken seines Reviers um einiges freundlicher wissen. Mit der Wirkung, die das Treiben bei Felix hervorruft, ist er ausnahmslos zufrieden, denn dieser nickt betreten und weiß vor Schreck gar nicht, wohin er schauen soll.

»Steht alles in der Küche«, säuselt die um einen Liebesroman reichere Frau, die mithilfe dieser Gemütsfetzen von einem perfekten Mann träumt, ihn aller Wahrscheinlichkeit aber im wahren Leben übersieht. Wie den treuen, zuverlässigen und hochanständigen, aber schüchternen und zaghaften Feli.

Allesamt Eigenschaften, die bei den Mädels in diesem Alter nicht sonderlich hoch im Kurs stehen. Zumindest nicht bei den Mädels, in die er sich dummerweise verliebt.

Felix dreht sich auf seinen Absätzen um. Mit hängenden Mundwinkeln arbeitet er sich durch das dichte Gedränge. Schweigend trotte ich hinterher.

Ganz sicher wird mein Typ verlangt. Entweder lässt er sich gleich bis zur Oberkante volllaufen oder er trinkt hastig ein Bier und verschwindet schnellstmöglich. Für den ersten Fall möchte ich ihn nicht allein seinem Kummer überlassen und vorsorglich im Auge behalten, damit er keine Dummheiten anstellt.

Und sicher ins Bett kommt. Allein.

»Schöne Scheiße«, murmelt er, öffnet sich in der Küche ein bereitgestelltes Bier und trinkt es in hastigen Zügen. »Die zwanzig Euro spende ich in Zukunft. Erinnere mich bitte daran, falls ich mein Sprachmemo bis dahin vergessen haben sollte.«

»Sieh es einmal so. Für zwanzig Euro lernst du heute dazu. Das ist doch fabelhaft«, muntere ich ihn auf und fische mir ein Radler aus der Getränkekiste.

»Das Buch war wohl nicht der Bringer.«

»Hallo? Ja, offensichtlich nicht nur das Buch. Sie knutscht vor deinen Augen mit diesen Volki rum und du überlegst nächtelang, welches Buch du ihr zum Geburtstag schenkst. Wie kommst du eigentlich auf die blödsinnige Idee, einer Frau ein Buch zu schenken?«

»Soll ich einer Bibliothekarin etwa einen Gutschein aus dem Stoffladen schenken?«

»Ah, so«, grinse ich, »verstehe, sie ist Bibliothekarin. Dann …«

»Jetzt verstehe ich, warum sie ständig bei den Staubsaugern mit Nase2 abhängt. Ihr Volki studiert Kunst«, höhnt er, bevor er für einen erneuten Schluck ansetzt.

»Komisches Völkchen.«

Gemeinsam schmunzeln wir über meine halbseidene Wortakrobatik.

»Ich mache los. Kommst du mit?«

Unweit vor mir lacht jemand gellend auf. Eine korpulente Blondine amüsiert sich über einen Witz ihres Gegenübers und verschüttet dabei Bier aus ihrer Flasche. Sie schaut zu mir, weil sie meinen Blick bemerkt. Kontaktfreudig schmunzelt sie mich an.

Sofort wende ich mich ab und bleibe an einem anderen Augenpaar hängen. Die Lücke, die Felix durch seine Bewegung reißt, lässt mich auf eine Frau sehen, die mich mit ihrem Erscheinungsbild glattweg aus dem Gleichmut bringt, dem ich zuweilen fröne. Etwas Gewaltiges rüttelt mich durch.

Mich trifft buchstäblich ein Blitz.

Ich stehe schätzungsweise fünf Meter von ihr entfernt und sehe zum Glück uneingeschränkt auf das Objekt meiner Begierde. Himmel, ich fühle mich wie ein Würfel in einem Würfelbecher, der die höchste Punktezahl beim Kniffen ausspuckt. Es geht nicht anders, paralysiert glotze ich sie an und fasse minutenlang nicht einen klaren Gedanken.

Außer einen: sie oder keine.

Sie ist sogar noch schöner als die kindliche Kaiserin. Um Längen eleganter und leuchtet von innen.

»Kommst du mit?«, wiederholt Felix seine Frage und stellt die leere Bierflasche auf ein Regal.

»Geht nicht. Muss sie erst noch ansehen«, nuschele ich haargenau in dem Moment, in dem sie ihren Blick abwendet.

Du lieber Himmel, wo kommt dieses plötzliche Vakuum her? Vor allem: wie geht das? Ich meine physikalisch.

»Wen musst du erst noch ansehen?« Felix stellt sich auf die Zehenspitzen, womit er sich in mein Sichtfeld schiebt.

In Sekundenschnelle befördert er mich in die knallharte Wirklichkeit zurück. Um ein Haar schreie ich entsetzt los, da er mir die Sicht auf die attraktive Frau versperrt. Zudem wittere ich Konkurrenz und puffe ihn hart ins Kreuz.

»Aua.«

»Du stehst im Weg.«

»Na, da macht einer aber ganz verliebte Nasenlöcher.«

»Ungewohnt, was? Wo du doch für gewöhnlich bei jeder dritten Frau, die dir über den Weg läuft, von Kindern, einem Haus und einem Familienhund faselst.«

»Manchmal entdecke ich an dir leichte Tendenzen zu einem Oberarsch. Ich gehe nach Hause. Mach dich hier ruhig zum Affen, aber probiere es bloß nicht mit einem Buch«, rät er mir.

Im Gehen schiebt er die Blondine unsanft beiseite, die vorhin auffällig gelacht und sich in der Zwischenzeit genähert hat. Lächelnd wendet sie mir ihr Gesicht zu und sucht Augenkontakt.

Desinteressiert an einer Plauderei wende ich mich ab. Mich fasziniert nur Eine. Die steht nicht mehr an jener Stelle, an der ich sie aus den Augen verloren habe.

Für mich fühlt es sich an, als würde mir jemand mein Lieblingsspielzeug stehlen. Ich drehe jeden Moment durch und suche eilig das Zimmer nach ihr ab. Bedauerlicherweise entdecke ich sie nirgendwo, leide entsetzliche Höllenqualen und arbeite mich Schritt für Schritt weiter in den Flur vor.

Dort, wo sie vorhin gestanden hat, halte ich inne und berechne mit mathematischer Logik alle in Betracht kommenden Richtungen. In meinem Fall zähle ich fünf an der Zahl, daher gehen diese Berechnungen rasch vonstatten. Ich wende mich in die erste und hierdurch lukrativste Richtung.

Marie, die noch immer Felis Buch studiert, taucht überraschenderweise vor mir auf. Mann, die Frau hat es echt drauf, im passenden Moment das Herz aussetzen zu lassen. Es pocht unruhig, fühlt sich komplett auf Entzug und schreit herzzerreißend vor Inbrunst und Fieberwahn.

»Amüsierst du dich prächtig, Robert?«

»Ähm, ich heiße Rafael«, korrigiere ich.

»Nicht Robert?«

»Nein, Rafael wäre mir lieber. An diesen Namen konnte ich mich seit vierundzwanzig Jahren gewöhnen.«

Ich bin so ein dämlicher Nerd und fasele alle nasenlang den unmöglichsten Unfug. Immerhin, Marie stört es nicht. Amüsiert lacht sie. Auf der Stelle verstehe ich Felix, warum ihm das Herz bei ihrem Anblick aufgeht.

Suchend schaut sie sich um. »Wo treibt sich Feli rum?«

»Der ist heim.«

»Wieso denn das? Um diese Uhrzeit?«

Sie wirkt ehrlich bestürzt. Also, auf mich wirkt es ehrlich bestürzt, denn die Ecken der Augen hängen schlagartig nach unten.

»Nun, ich vermute, es liegt an Volki. Er kommt bestimmt drüber weg«, posaune ich brutal die ungeschminkte Wahrheit in ihr niedergeschmettertes Gesicht und könnte mich dafür der Tage nacheinander ohrfeigen.

»Oje«, raunt sie gramerfüllt und schaut betreten zum Bestseller hinab.

»Er hat es mit viel …« Ich stocke, weil mir das entsprechende Wort nicht über die Lippen kommt. »Er hat sich sorgfältig überlegt, was er dir schenkt. Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich dir erzähle, wie ich mir in der Buchhandlung sage und schreibe eine Stunde lang die Beine in den Bauch gestanden habe, weil er sich ausgiebig beraten lassen hat. Gewissermaßen von einer Berufskollegin von dir.«

»Wie süß von ihm. Ach, herrjeh, der arme Kerl. Ich spreche wohl besser mit ihm. Sorry, ich muss kurz für kleine Mädchen«, entschuldigt sie sich und deutet zu einer Tür hinter mir. »Amüsiere dich anständig, Robert. Und schau bei Gelegenheit im Wohnzimmer vorbei. Meine Freundin malt und stellt heute einige ihrer Werke aus. Bitte nur anschauen, nicht anfassen, sonst reagiert sie schrullig und kratzt dir hinterrücks die hübschen Leuchtkugeln aus.«

Auf Augenhöhe vollführt sie eine unmissverständlich derbe Geste und zwinkert mir vielsagend zu. Gehorsam nicke ich und werde einen Teufel tun, hier irgendetwas anzufassen. Vor der besagten Tür angekommen, legt sie die Liebesschnulze auf ein Bücherbord und verschwindet anschließend im Badezimmer.

In Ordnung, dann amüsiere ich mich noch eine Weile auf ihrer Geburtstagsparty. Auf der Suche nach der schönen Frau durchforste ich ohnehin gleich jeden Winkel der Wohnung und schau mir bei dieser Gelegenheit gerne die Gemälde von Maries Freundin an.

Geht bestimmt ratzfatz. Treffe ich Marie erneut, lobe ich die Bilder in den Himmel. Mit Sicherheit sind zufällig drei grellbunte Kleckse auf eine Leinwand getropft. Mancherorts steigen für derart abartige Kunstwerke die Preise auf direktem Weg in die Sterne, lösen bei mir allerdings ungläubiges Kopfschütteln aus.

Ich trinke den letzten Schluck meines Radlers und betrete das erste der vier möglichen Zimmer. Die aufregende Suche nach meiner Märchenprinzessin startet. Mein Herz holpert unruhig, bangt, hofft und fleht inständig, ihr binnen weniger Minuten endlich gegenüberzustehen.

In dem Zimmer dröhnt die Musik lauter und schmerzt entsetzlich in meinen empfindsamen Ohren. Ich stehe nicht im Wohnzimmer, sondern in einer privaten Bibliothek. Wow!

Links und rechts an der Wand reihen sich vollgestopfte, düstere und bedrückend hohe Regale. Dazwischen quetscht sich ein kleines Sofa. Merkwürdig kichernde Gestalten belagern es, teilen sich kameradschaftlich einen Joint und lachen über jeden Schwachsinn.

Ich drehe eine kleine Ehrenrunde und trete frustriert zurück in den Flur. Bislang verläuft meine Suche erfolglos. Keine zwei Sekunden später bleibe ich wie angewurzelt stehen, weil ich die lebende Venus entdecke, die neben dem Regal an der Toilettentür steht und sich den Liebesroman anschaut.

Um sie in aller Ruhe zu betrachten, lehne ich mich gegen den Türrahmen. Ich verstecke mich hinter einigen Leuten, die sich völlig vertieft über den derzeitigen Kultusminister unterhalten.

Auf ihrem Gesicht zeichnet sich ein Lächeln ab, was mich geradewegs in den siebten Himmel katapultiert. Nachdem sie die Rückseite des Buchumschlags gelesen hat, wendet sie es und schaut auf.

Unsere Blicke treffen sich.

Tief in mir drin flüstert eine geheimnisvolle Stimme, dass sie die schönste und reizvollste Frau auf der ganzen Welt ist. Eigens für mich erschaffen. Warum mir die Stimme das einflüstert, entzieht sich jeder Logik. Sich dennoch ebendiesem abstrusen Zauber unterordnend schlägt mein Herz in einem viel zu schnellen Rhythmus. Andererseits erahnt es Dinge, die ich mir bisher nicht einmal in Träumen auszumalen gewagt habe.

Ein Haus, eine Handvoll Kinder, einen Familienhund, einen Garten und pure Glückseligkeit. Sie ist zu vollkommen, um mir nicht in lebhafter Fantasie auszumalen, wie ich sie küsse, ausziehe und …

Prompt lächelt sie, als ahne sie meine unkultivierten, glühenden Fantasien. Nach meinem Geschmack viel zu schnell senkt sie jedoch den Blick auf das Buch. Zumindest für wenige Augenblicke.

Erneut schaut sie auf.

Nochmals tobt ein wilder Sturm in meinem Herzen, zerreißt es buchstäblich und rüttelt mich von Grund auf durch. Ich bin noch nie schnurstracks auf Frauen zugegangen. Selbst unaufdringliche Komplimente stinken mich an und kommen schwerlich über meine Lippen.

Hier und heute schmunzele ich unaufdringlich, weil mir unser unsicheres Spiel zusagt. Ihr ergeht es ebenso, denn sie schaut mit einem breiten Schmunzeln in das Buch, wobei sie sich verschämt eine blonde Haarsträhne aus dem ovalen Gesicht streift.

Zaghaft nähere ich mich. Erfreut erkenne ich, dass sich ein zartrosa Schimmer über ihre Wangen legt, was an dieser Stelle viel über ihren aufgewühlten Gemütszustand aussagt. Dadurch bestärkt, nähere ich mich noch einen weiteren Schritt, weil sich jemand an mir vorbeidrängt. Daneben entgehe ich dem sterbenslangweiligen Geschwafel, das sich um die hirnrissige Kulturpolitik Deutschlands dreht.

Erneut schaut die schöne Frau auf und gibt mir den Blick in tiefgründige, blaue Aquamarine frei, die den Eindruck erwecken alles vom Leben zu kennen. Selbst mich.

Hölzern erlebe ich in den nächsten drei Sekunden allerlei befremdliche Gefühle. Endlos lange gleitet ihr Blick an mir hinab. Mir wird klar, dass vor mir alles andere als eine durchschnittliche Frau steht, sondern ein ganz besonderes Wesen.

Meine Großmutter hat immerzu gesagt, dass die Gottbegnadeten sich nie zu erkennen geben und ein tristes, vergleichsweise graues Leben führen. Lange Zeit wusste ich nicht, was sie damit meint, und habe den Aphorismus mit einer abfälligen Handgeste abgetan.

Heute pflichte ich ihr anstandslos bei.

Zu meinem Grausen eilt ein sportlich gebauter Bursche auf sie zu und begrüßt sie. Beide unterhalten sich lebhaft, was ich eifersüchtig hinnehmen muss. Der ekelerregend, schleimige Möchtegern-Romeo wird Satz für Satz mutiger und streift irgendwann zufällig über ihren Unterarm.

Neiderfüllt sehe ich zu und wage nicht, mich dazwischenzuschieben und das Gespräch mit einer witzigen Bemerkung an mich zu reißen. Tja, mein Leben verläuft nicht sonderlich mitreißend, daher taugt der großartige Plan nur für den stinkenden Mülleimer.

Mein stilles Leben verläuft eher wegen einer Sache nervenaufreibend. Des Nachts plagen mich Albträume, aus denen ich schweißgebadet, wild um mich schlagend und panisch schreiend wach werde, obwohl ich nur unter einer Dusche gestanden habe.

Nach etwa einer halben Stunde poesieloser Plänkelei flüstert er ihr etwas ins Ohr und führt sie zur Wohnungstür. Unauffällig hefte ich mich an ihre Fersen. Ich komme gerade rechtzeitig, um mit ansehen zu müssen, wie der Chauvinist in Persona meine Venus die Treppenstufen des Hauses hinabführt.

Zeitgleich sieht sie zu mir auf.

Für eine Sekunde lächelt sie. Davon beflügelt und es als Einladungsschreiben deutend folge ich ihr. Heimlich dackele ich hinterher, wie ein treudoofer Köter. In nicht zu großem Abstand folge ich beiden diskret über die unbeleuchtete Straße und schiebe lässig meine Hände in die Hosentasche, als würde ich beschaulich durch einen prächtigen Park flanieren.

Die Dunkelheit senkt sich bereits in die langen Schatten, die die Bäume auf die Pflastersteine werfen. In meinem Herzen sieht es ähnlich düster aus. Niedergeschmettert und mit einem aggressiven, penetranten Stechen in meiner Brust höre ich neidisch zu, wie sie einander aufziehen.

Nach einigen hundert Metern bleibt der geistlose Prolet stehen und schließt eine dunkle, schwere Haustür auf. Will er über sie herfallen, ihre Gefühle missachten und brutale, rohe Gewalt anwenden?

Ähnliche, verworrene und beängstigende Geistesblitze regen sich in meiner leidenden Brust. Jederzeit bereit, zur Tat zu schreiten und sie todesmutig aus den Klauen dieses Scheusals zu befreien, beobachte ich das Paar heimlich.

Sie sieht sich um und entdeckt mich im dunklen Schatten eines Kastanienbaumes. Sie lächelt derart betörend, dass ich zu einem Entschluss komme.

Ich warte an Ort und Stelle, bis sie das Haus verlässt. Unerschrocken stehe ich mir die Beine in den Bauch, bis ich die Gelegenheit bekomme und ein Wort mit ihr wechseln darf.

Selbst wenn es Wochen oder Monate dauert.

Selbst wenn ich zum Deppen des Jahrhunderts lanciere.

 

 

 

Kapitel 5

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»Oh Mann, Paula. Du bist echt geil«, ächzt Denis, bettet sich keuchend neben mich und wischt sich über die schweißnasse Brust. Dadurch bleibt mir die uneingeschränkte Sicht an die Zimmerdecke, wo keine bunten Kreisel oder Sternchen tanzen.

Das sollten sie aber. Also im Normalfall. Desillusioniert sammele ich mich und verstehe seinen Rausch nicht.

Wie auch? Das würde voraussetzten, dass ich oben angekommen wäre. Bin ich aber nicht. Ich hänge unten herum und verstehe die Welt nicht mehr.

Der Pariser dehnt sich, rutscht schnalzend ab und fliegt im hohen Bogen neben das Bett. Sieht für mich auf jeden Fall nicht danach aus, als könnte er sich in der nächsten Zeit für mehr, als für seinen Taumel erwärmen. Buchstäblich macht er nach der Ouvertüre schlapp und lässt mich doch tatsächlich in die Röhre gucken.

Ach, was rede ich. Schon nach einer halben Minute hängt er durch und lässt mein Vergnügen völlig außer Acht. Mit einem derartigen Turbo büßt jede Frau ein und erreicht nie die einundfünfzig Prozenthürde. Da bekommt sogar das halbseidene Kompliment einen schalen Beigeschmack. Es klingt abgestanden, abgedroschen, als wäre ich austauschbar wie ein billiges Flittchen.

Bei einer Tombola tröstet sich niemand gerne mit Nieten. Und beim Liebesakt erst recht nicht. Alle wollen den Hauptgewinn. Ich mache keine Ausnahme.

Anstatt hier mit ihm den ohnehin langweiligen Abend zu toppen, unterhalte ich mich besser mit den einfallslosen, reizlosen Kunstkollegen, die sich zuhauf auf Maries Geburtstagsparty tummeln. Oder ich dröhne mich bis zur Oberkante mit einem fetten Joint zu, kotze mir hinterher die verdammte Seele aus dem Leib, finde tausend Gründe, mein Leben katastrophal zu finden und male im Delirium ein Bild mit meinem tiefroten Blut.

Das, was er mir anbietet, zieht mich derart runter, dass ich gar keine Zeit finde, Satan in der Hölle guten Abend zu wünschen. Absolut unterirdisch. Da bekomme ich mehr Lust bei einem Weihnachtskalender.

Genau.

Zum Beispiel mit dem Adventskalender eines gewissen Online-Versandhändlers. In einem Werbespot habe ich gesehen, es gibt ihn im neuen Jahr noch im Angebot.

Das wäre es. Vierundzwanzig Tage ungetrübtes Vergnügen. Gleich morgen kaufe ich mir einen. Quatsch, ich kaufe zwölf. Da bekomme ich jeden Monat vierundzwanzig Tage Hauptgewinne und verzichte zukünftig auf derartige, geschmacklose und substanzlose Experimente.

Okay, okay. Blah, blah, blub. Ich bin schon still. Bin selbst schuld, solange ich nicht beanstande, dass ich vom Kellner, statt Tagliatelle, eine Quattro Formaggi Pizza serviert bekomme.

»Ähm, Hallo?«, rege ich mich gebührend und trotzdem nicht zu aggressiv.

Der frisch gekürte Weltmeister im Liebemachen hält inne und schaut mich von einem weit entfernten Ort an. Echt spitze. Ich wäre auch zu gerne dort, aber du wirfst mich aus dem fahrenden, ach, was rede ich, aus dem rasenden Zug.

»Ich, ähm … will auch nach oben.«

»Warum fährst du dann nicht hinauf, Paula?«

Zum Totlachen. Bei seiner Antwort bekomme ich direkt einen dicken Hals und lästige, juckende Pickel. Insgeheim stelle ich mir vor, wie sich meine Venen deutlich sichtbar verfärben und der Groll sich seinen unaufhaltsamen Weg durch meinen Körper bahnt. Nur, um zu explodieren.

Wofür hält er sich eigentlich?

»Du redest, als wäre es dir egal, ob ich oben ankomme.«

»Nö, aber du bist megageil und ich konnte nicht länger warten, bis dein lahmarschiger Fahrstuhl aus dem Titt kommt. Sorry.«

»Das hört sich im ersten Moment nach einem Kompliment an.«

»Wieso nur im ersten Moment?«

»Ich mach dir einen Vorschlag. Du räumst hier auf und ich gehe für kleine Mädchen«, verdeutliche ich unterkühlt meinen Unmut und erhebe mich.

Unentschlossen schaut er drein und wägt seine nächsten Worte ab. »Du klingst gereizt.«

In Windeseile und, ohne ihn mit einem Blick zu bedenken, fliege ich aus dem Bett und stürme ins Badezimmer. Ich verdünnisiere mich nicht von Maries Geburtstagsparty, damit er zufrieden einnickt und ich dumm-doof in die Röhre gucke.

»Habe ich was angestellt?«

»Habe ich das etwa behauptet?«, erkundige ich mich gedehnt. Ungeniert lasse ich laufen, was laufen will, obwohl er im Türrahmen steht und mich argwöhnisch beobachtet.

»Ähm, nein. Das merke ich an deiner Körpersprache.«

»Oh, du verstehst meine Körpersprache? Ist mir bis eben gar nicht aufgefallen.«

»Warum so zynisch? Willst du mich veräppeln? Noch nie hat sich ein Mädel über eine angeblich miese Darbietung bei mir beschwert.«

Tatsächlich? Ja, dann ist es heute wohl das erste Mal. C’est la vie.

»Du sprichst männisch und ich weibisch«, erkläre ich und zupfe ein Papier von der Rolle. »Ich gehe zurück zur Party und wir sprechen irgendwann darüber.«

»Du tickst doch nicht vorschriftsmäßig. Wenn du gehst, gibst es gibt kein irgendwann. Vergiss es.«

Fein, denn da spare ich mir endlos lange Diskussionen.

»Okay«, umreiße ich zeitgleich zum Rauschen der Toilettenspülung meine weitere Vorgehensweise.

Nach dem Händewaschen dränge ich mich an ihm vorbei. In Sekundenschnelle sammele ich meine Siebensachen zusammen, schlüpfe hastig in den Slip und ärgere mich grünblau, dass ich meine wertvolle Zeit mit so einem Deppen verplempere.

Geht das? Ich meine, sich grünblau zu ärgern?

Wie auch immer. Grünblau sieht auf Bildern manchmal zwielichtig, manchmal spektakulär aus und genauso fühle ich mich im Moment. Obendrein beschmutzt und unanständig, weil ich auf einen Typen reingefallen bin, der nicht nur hohl in der Birne ist, sondern auch reizlosen Sex praktiziert. Jetzt klebt seine scheußliche Energie an mir, die meine Aura verschmutzt. Im nächsten Leben bearbeite ich den gleichen Mist noch einmal.

Blöde Hormone.

Klar, ich wollte ihn nicht gleich heiraten. Nur schönen Sex haben. Das geht mit Denis nicht. Besser ich verschwinde.

»Okay? Mehr sagst du nicht?«

Fehler meinerseits. Fälschlicherweise bin ich davon ausgegangen, dass ausschließlich Frauen ein Riesentheater veranstalten, wenn die Liebesnacht überraschend flott endet.

»Streiten wir etwa, Denis?«

Gemessenen Schrittes kommt er auf mich zu, worauf ich vorsichtshalber mehrere Schritte zurückweiche. Der bedrohliche Blick behagt mir gar nicht, gruselt mich sogar dermaßen, als ob ich plötzlich vor einem Irren stehe.

»Nein, ich finde dich anstrengend, wie ich alle Künstler anstrengend finde. Fand dich sowieso zu spleenig mit deinem … ach, vergiss es, Hexe«, faucht er mir ins Gesicht und schubst mich rüde zur Wohnungstür.

Ehe ich mich versehe, was hier vor sich geht, stehe ich davor und sehe sie direkt vor meiner Nase ins Schloss krachen.

»Gehts noch? Du kennst meine anstrengende Künstlerseite rein gar null, niente oder anders ausgedrückt: Zero. Kapiert? Im Übrigen bin ich keine Hexe und verwandle dich ausnahmsweise nicht in eine ekelerregende Stubenfliege. Weiter hasse ich Intoleranz gegenüber Minderheiten.«

Vor Geschrei aus der Puste ziehe ich mich zügig an und poltere wetternd über die doppelte Unverschämtheit zwei Treppenstufen gleichzeitig nehmend nach unten. Kennt er meinem Ex-Freund oder warum plappert er diese gequirlte Hühnerkacke nach, als wolle er bei ihm Bonuspunkte sammeln?

Marie, meine beste Freundin und Mitbewohnerin, sagt nicht umsonst: Je besser die Typen aussehen, desto armseliger ist der Sex mit ihnen.

Auf dem Bürgersteig schlüpfe ich schniefend in meine Schuhe. Präzise vor meinen Füßen landet meine Jacke. Entgeistert schaue ich zum Fenster hinauf, aus dem Denis schaut und höhnisch grinst. »Von wegen Streit. Ich lass mich scheiden und du bekommst die Kinder.«

Punktgenau klatscht das benutzte Kondom auf meine Lieblingsjacke. Noch in drei Meter Entfernung verursacht das eine Riesenschweinerei. Angewidert von der Sauerei packe ich meine Lieblingsklamotte nicht einmal an.

Das letzte Bier bahnt sich seinen Weg hinauf. Tapfer unterdrücke ich den Würgereiz.

Wegen dieser Schmach und meiner grenzenlosen Einfältigkeit, mit ihm herzukommen und einen schönen Abend zu erwarten, heule ich stumm in mich hinein. Angesichts der vor mir liegenden Schweinerei flammt der Zorn von eben erneut auf, kocht über die Hemmschwelle und lässt mich auf der Stelle das Bier doch noch übergeben.

Keuchend und empört setze ich anschließend an, um einen Konter zu geben, als ich unweit von mir eine Bewegung wahrnehme. Auf einer Sitzbank vor dem Szenecafé des Nachbarhauses verschüttet jemand vor Schreck seinen Kaffee.

Der, der uns vorhin gefolgt ist.

Ich korrigiere: Der, der mir gefolgt ist.

»Du Vollidiot hast sie ermordet, aber ich habe einen Zeugen«, kreische ich fuchsteufelswild, sehe zu Denis hinauf und fuchtele blindwütig mit meinen Händen in der Luft herum.

Nebenbei deute ich auf den sprachlos dreinblickenden Mann, dem vor Entsetzen der Kaffeebecher aus der Hand rutscht und dessen Kinnlade geschockt nach unten klappt. Er ist wie ein Oberstufenlehrer gekleidet und mir auf der Geburtstagsparty aus genau diesem Grund aufgefallen.

Meine Jacke lasse ich links liegen und stapfe ich fluchend die Straße entlang. Der Weg nach Hause dauert zum Glück nicht lange. Ich bemühe mich, meine Tränen und Wut gewaltsam zu kontrollieren. Die Theorie klingt plausibel, die Praxis gestaltet sich schwierig bis unmöglich.

Der Giftstachel sitzt zu tief unter der Haut.

Keine fünf Minuten später stehe ich heulend vor Marie und versinke beschämt im Erdboden. Ich wimmere unverständliches Zeug, leide unter akuten Denkaussetzern und bekomme ungenügend Luft, um klare und deutliche Sätze zu formulieren.

Marie bleibt nichts anderes übrig, als mich in ein weniger belebtes Zimmer zu schieben. Das gestaltet sich verzwickt auf einer Party. Erst recht auf einer Geburtstagsparty von Marie. Da treffe ich den Kaiser von Japan eher beim Shopping von Handtaschen an.

»Atme ordentlich durch, Paula. Und fein der Reihe nach erzählen«, rät sie.

Ich schätze ihre bedachte, vernünftige und schlaue Art und kaufe ihr sogar einen chinesisch sprechenden Kühlschrank ab. Vorausgesetzt es gäbe ihn in meiner Lieblingsfarbe und sie wäre Verkäuferin, nicht Bibliothekarin.

»Der Hokkaido Massenmörder«, schluchze ich mich überschlagend.

Denis hat aus unserem Freundeskreis den Beinamen verliehen bekommen, weil er bei einer Wette über zwanzig Kürbisse innerhalb einer halben Stunde mit seinen Füßen zu Brei zertrampelt hat. Warum? Tja, manche Dinge hinterfrage ich ungern.

»Du und der Hokkaido Massenmörder?«

»Schrei es noch lauter herum.«

»Komm schon, der steht doch auf Pia.«

»Mag angehen. Aber, um es einmal präzise auszudrücken, hat er auf mir gelegen.«

Erfreut ziehen sich Maries Mundwinkel nach oben. Erst vorhin hat sie mir einen gut gemeinten Ratschlag erteilt, wie ich schnellstmöglich meine Hormone ins Gleichgewicht bekomme. Bedeutungsvoll hat sie dabei in seine Richtung geschielt.

An dieser Stelle des Geschehens muss ich ihren aufsteigenden Freudentaumel unwesentlich dämpfen. »Zumindest ganze sechzig Sekunden. Dann ist ihm die Puste ausgegangen wie die Kinobeleuchtung vor einem Film. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich brauche jetzt dringend ein Bier. Eine Zigarette kommt nicht infrage, weil … ach, vergiss es.«

Enttäuscht fällt ihre Kinnlade nach unten. »Soweit ich mich auskenne, wären sechzig Sekunden rekordverdächtig. Der Wahnsinn. Läuft das noch unter Quickie?«

»Zum Totlachen. Selbstverständlich habe ich sofort die sportlich unfairen Regeln reklamiert. Da kam es zum Streit und letzten Endes zu einem Mord.«

»Ein Mord? Damit ist es ein Fall für Miss Marple«, lächelt sie süffisant und nippt an ihrem Weizenbier.

»Lustig, lustig, trallalala. Stell dir vor, er schmeißt meine Jacke auf den Bürgersteig. Genau vor meine Füße. Hinterher pfeffert der treffsichere Sportschütze den randvollen Überzieher darauf, statt ihn im Müll zu entsorgen. Das gab fette Spritzer, da wäre sogar Thilo Heinzmann neidisch. Spermien erfassen gewiss ihren Tod, nicht wahr?«

»Keine Ahnung. Frag ihn«, murmelt sie kichernd. Mit ihrem Kopf deutet sie an einen Punkt hinter mir und versteckt ihren Mund hinter dem Flaschenhals ihres Weizenbiers.

Rasch drehe ich mich um und erblicke den Mann, der vor dem Café gesessen hat. Zwischen den Fingerspitzen hält er meine Jacke in die Höhe. Es tropft und kleckert munter.

Schrecklich und ich muss nun neben dem schlechten Sex auch noch dieses Bild verdrängen. Danke auch.

»Wenn du willst, erkundige ich mich bei Gelegenheit gerne für dich«, verspricht er.

Wäre das jetzt ein Film, würde ich ihn zweifelnd anschauen. Ich würde meine Stirn in Falten legen und eindeutig zweiflerisch dreinschauen. Nur ist das hier kein Film.

Das ist mein Leben, in dem ich wütend auf mich, die Welt und diesem eiligen, egoistischen Denis bin. Kein Problem, ich wollte ihn ja nicht ehelichen, sondern einen Tick Spaß erleben, um den ich mich jedoch betrogen fühle.

»Er hat alles beobachtet.«

»Was hat er?«, will Marie wissen und hebt erstaunt eine Augenbraue.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752119930
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Dezember)
Schlagworte
übersinnlich contemporary Drama Romantik paranormal Romance Romance Liebe Romantic Thriller Urlaubslektüre

Autoren

  • Adelina Zwaan (Autor:in)

  • Anna Conradi (Autor:in)

Adelina Zwaan (Pseudonym) lebt und arbeitet nach unzähligen Stationen im In- und Ausland heute in Leipzig. Neben dem Beruf ist das Schreiben ihre Berufung. Am liebsten über das Suchen und Finden, das Herzklopfen und Überwinden von Hindernissen. Ihre emotionale Ich-Erzählstimme ermöglicht einen intimen Blick auf die innere Zerrissenheit ihrer Protagonisten.
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Titel: Limitless Love Die Unsterblichkeit der Liebe