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Süße Küsse unterm Herbstbaum

Kurzroman

von Ulrike Ina Schmitz (Autor:in)
75 Seiten
Reihe: Waldwünschelbach, Band 5

Zusammenfassung

Nach einem schweren Schicksalsschlag begibt sich Lydia, wegen ihrer Depression, in die Kurklinik von Waldwünschelbach. Anfangs fällt es ihr noch unglaublich schwer, sich in den Klinikalltag einzugliedern. Jeder der Patienten dort hatte seine eigene Geschichte, mit der er fertig werden musste. Von Tag zu Tag geht es Lydia zum Glück immer besser und dazu trägt der in der Kurklinik praktizierende Arzt nicht unerheblich bei. Diese beiden Menschen verbindet sogar ein ähnliches Schicksal miteinander, wodurch sie sich zueinander hingezogen fühlen. Für den Arzt ist es schwierig, sich zu seiner Zuneigung zu Lydia zu bekennen, da er sich als Arzt niemals mit einer Patientin einlassen darf. Nichtsdestotrotz ist man vor der Liebe niemals gefeit.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Zur Autorin

Ulrike Ina Schmitz wohnt mit ihrem Mann und ihren Hunden im Westerwald.

Zum Inhalt des Buches

Nach einem schweren Schicksalsschlag begibt sich Lydia, wegen ihrer Depression, in die Kurklinik von Waldwünschelbach. Anfangs fällt es ihr noch unglaublich schwer, sich in den Klinikalltag einzugliedern. Jeder der Patienten dort hatte seine eigene Geschichte, mit der er fertig werden musste. Von Tag zu Tag geht es Lydia zum Glück immer besser und dazu trägt der in der Kurklinik praktizierende Arzt nicht unerheblich bei. Diese beiden Menschen verbindet sogar ein ähnliches Schicksal miteinander, wodurch sie sich zueinander hingezogen fühlen. Für den Arzt ist es schwierig, sich zu seiner Zuneigung zu Lydia zu bekennen, da er sich als Arzt niemals mit einer Patientin einlassen darf. Nichtsdestotrotz ist man vor der Liebe niemals gefeit. 

 

 

 

 

Die Handlung des Romans ist reine Fiktion. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind völlig unbeabsichtigt.

Die Ankunft

Erschöpft setzte sich Lydia Fischer auf dem Stuhl vor dem Klinikbett nieder. Sie fühlte sich so unendlich schlapp. So als wäre sie heute bereits stundenlang gelaufen. Sie guckte sich um und ihr Blick fiel aus dem Fenster. Vor ihr lag der wunderschöne Park mit den herbstlich geschmückten Bäumen. Doch all das interessierte sie nicht. Nicht wirklich. Was sollte sie überhaupt hier? Sie hätte auch gut und gerne zu Hause in ihrem Bett liegen bleiben können. Was würde das schon für einen Unterschied machen? Warum hatte sie sich bloß von Sabine dazu überreden lassen? Ihre Freundin Sabine Klein führte einen kleinen Friseursalon in Waldwünschelbach. Sie meinte, Lydia müsse endlich aus ihrem depressiven Umfeld herauskommen, dort wäre sie nämlich schon viel zu lange. Die Freundin legte ihr deshalb nahe, sich in die psychosomatische Kurklinik von Waldwünschelbach zu begeben. Es wäre eine wunderschöne Klinik, hatte sie gehört. Ein herrlicher Altbau, herrlich nostalgisch mit einem uralten Park drumherum. Die Ärzte wären dort alle unglaublich nett. Auch das hatte sie gehört, denn einige der Kurgäste kämen regelmäßig zu Sabine in den Frisörsalon und schwärmten ihr, mit schöner Regelmäßigkeit, von der Kurklinik vor. 

Lydia seufzte lautlos. Warum hatte sie nur auf Sabine gehört? Jetzt saß sie hier, vor ihrem gepackten Koffer und verspürte nicht die geringste Lust ihre Sachen in den Schrank zu hängen. Es war ihr einfach total egal. Es war doch eh alles gleich. Vielleicht würde man sie hier auch in Ruhe lassen und sie könnte sich gleich wieder ins Bett legen, wie zu Hause. Allerdings würde sie hier die grün gestrichene Wand anstarren. Doch, was machte es schon aus, welche Farbe eine Wand hatte? Sie würde sich schnell daran gewöhnen. Das Gute an einer Wand war nämlich, sie sah immer gleich aus. Man konnte sich darauf verlassen, dass sie so aussah, wie sie aussah. Warum sollte man das auch ändern? Lydias früheres Leben könnte ihr sowieso keiner mehr zurückgeben. Es würde also auf ewig kalt, öde und leer bleiben.

Nach einem kurzen Klopfen an der Zimmertür trat eine Frau ein. „Hallo, Frau Fischer!“, grüßte die Frau sie freundlich. „Kommen Sie zurecht oder brauchen Sie Hilfe?“ Mit einem Blick hatte die hilfsbereite Frau erfasst, dass Lydias Koffer noch nicht ausgepackt war. „Ich könnte Ihnen beim Auspacken behilflich sein, wenn sie wollen?“

Lydia schaute müde auf. „Meinen Sie, das lohnt sich? Ich glaube nicht, dass ich lange hier bleiben werde.“

Die Frau lächelte aufmunternd. „Natürlich. Bestimmt bleiben Sie. Es wird Ihnen hier so gut gefallen, dass Sie gar nicht mehr wegwollen. Übrigens habe ich mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt …“, die Frau reichte ihr die Hand. „Ich heiße Angelika Seifert und gehöre zum Hilfspersonal hier. Doch sagen Sie ruhig Geli zu mir. So nennen mich hier alle. Mich können Sie immer ansprechen, wenn Sie irgendwelche Fragen haben, womit die Ärzte und Therapeuten hier nichts am Hut haben“, lachte Geli verschmitzt. „Sie werden sehen, unsere Ärzte hier sind ausgezeichnet. Und erst die Aktivitäten, die hier im Haus angeboten werden … unglaubliche Vielfalt sage ich Ihnen. Sie können sich das Beste herauspicken. Oder, Sie machen einfach alles, woran sie Spaß finden. Und was Ihnen dann nicht gefällt, lassen Sie einfach wieder bleiben.“ 

Und wenn mir hier gar nichts gefällt?“ 

Geli lachte: „Oh, das wird es. Da bin ich ganz sicher. Sie werden schon sehen.“

Lydia antwortete nicht und schaute ergeben auf ihre Füße. Wer, von ihren alten Bekannten, die früher so erfolgreiche und aufstrebende Rechtsanwältin jetzt sehen würde, würde es nicht glauben wollen. Die einst so taffe Frau, nur noch ein schwaches Abziehbild ihrer selbst. 

Nach einem schweren Autounfall hatte Lydia ihren Mann und ihr geliebtes fünfjähriges Kind verloren, ihre kleine Nina. Das Schlimmste jedoch war, Lydia hatte das Fahrzeug selbst gefahren, wenn sie auch schuldlos an dem Unfall war. Sie machte sich trotzdem die heftigsten Vorwürfe. Natürlich hätte sie nichts verhindern können. Der Geisterfahrer war einfach in ihren Wagen hineingeschlittert. Was nutzte es ihr da noch, dass sie so viele Jahre unfallfrei gefahren war? Ihre ganze kleine Familie, einschließlich des Geisterfahrers, waren dabei ums Leben gekommen. Eigenartigerweise war ihr selbst, außer ein paar geringfügigen Kratzern, nichts weiter zugestoßen. Es gab keinen, den man für den Unfall zur Rechenschaft ziehen konnte. Nicht, dass das ihre Lieben jemals zurückbringen würde. Warum nur bin ich dabei nicht gestorben? So ging es Lydia immer und immer wieder durch den Kopf, sobald ihre Gedanken beim Unfallgeschehen waren. 

Geli hatte mittlerweile Lydias Sachen in den Schrank geräumt und erklärte ihr nun wo sie den Speisesaal finden könnte. Sie solle ebenfalls darauf achten, dass es schon in einer halben Stunde Mittagessen gäbe. „Im Flur finden Sie einen Plan an der Wand. Dort sind alle jeweiligen Aktivitäten verzeichnet und auch wann, wo und von wem sie veranstaltet werden.“

Kartoffelpüree

Lydia blickte müde auf ihr Handy, nachdem sie noch einige Zeit vor dem Fenster gesessen hatte. Es war bereits zehn vor zwölf. Nach Gelis Aussage würde um zwölf Uhr zu Mittag gegessen. Demnach müsste sie sich wohl jetzt aufraffen. Sie atmete noch einmal tief ein und aus und stand auf, um sich auf den Weg zu begeben. Sie verschloss die Tür mit dem Schlüssel, den sie bei ihrer Ankunft erhalten hatte. Lydia überprüfte nachdrücklich, ob die Tür sich danach wirklich nicht mehr öffnen ließe. Das war ihr so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie gar nicht mehr drüber nachdachte. Und das war so, seit sie eines Tages vergessen hatte die Tür zu ihrer Eigentumswohnung abzuschließen. Als sie damals von der Arbeit kam, hatte man ihr wertvolle Elektrogeräte gestohlen. Gleichwohl war sie froh, dass weder ihr Mann, noch ihr Kind zu Hause gewesen waren. Doch jetzt war eh alles egal. Die paar Elektrogeräte ließen sich schnell ersetzen, doch ihr Kind und ihren Mann konnte ihr niemand ersetzen. 

Lydia war in der ersten Etage untergebracht, sie ging allerdings davon aus, dass der Speisesaal sich im Erdgeschoss befand. Der Flur in der ersten Etage war herbstlich geschmückt und unübersehbar hing dort ein großer bunter Plan an der Wand. Wie Geli gesagt hatte, waren die Aufteilungen der Räume im Erdgeschoss und im Keller gut aufgezeichnet. Der Speisesaal befand sich also von der Treppe aus links. Im Feld Speisesaal war unter anderem ein Sternchen mit einer 1 gekennzeichnet. In der Legende am unteren Rand stand unter Sternchen 1, dass der Menüzettel, den man bei seiner Ankunft erhalten habe, mitzubringen wäre. Lydia konnte sich indes an keinen Menüzettel erinnern. Da fiel ihr ein, dass sie unten am Empfang eine Mappe erhalten hatte. Sie vermutete, dass der Menüplan darin wäre. So ging sie noch einmal zu ihrem Zimmer zurück und versuchte sich zu erinnern, wo sie die Mappe hingelegt haben könnte. „Meine Güte“, sagte sie laut zu sich. „Wo kann ich diese dumme Mappe nur hingelegt haben?“

Lydia zuckte zusammen, als es hart an die offenstehende Tür klopfte. Mitten in ihrem Zimmer stand urplötzlich ein grauhaariger alter Herr. Lydia sah den Mann entgeistert an. „Wer sind Sie?“

„Oh, ja hallo, ich bin Manfred. Manfred Häusle.“ Der Mann hatte einen schwäbischen Akzent. „Ich sah, dass ihre Tür offen stand und wollte nach dem Rechten sehen. Sie müssen wissen, ich bin von Beruf Nachtwächter und da kommen mir prinzipiell offene Türen verdächtig vor. Sie sind seit heute hier, habe ich gesehen. Ich bin schon seit einer Woche im Haus. Schlecht ist es hier nicht. Ganz gut sogar. Alle Leute sind hier sehr sympathisch bis auf Einen oder Zweien von den Verantwortlichen, ich meine, von den Mitarbeitern hier. Der Ort hier … Waldwünschelbach … waren Sie schon mal hier? Ist ganz nett. Ja, der Ort ist ziemlich beschaulich.“ Mit einem Mal äugte der Mann auf seine Armbanduhr und sagte abrupt: „Ach, ich muss jetzt gehen. Heute gibt es Kartoffelpüree. Die Kartoffeln hier sind im Übrigen ausgezeichnet.“ Manfred drehte sich also auf dem Absatz um und verschwand durch die Zimmertür. Mit offenem Mund sah Lydia ihm hinterher. Da kam ihr abermals in den Sinn, dass sie ja auf der Suche nach ihrer Mappe war. Glücklicherweise fand sie den Hefter in dem kleinen Duschbad am Waschbeckenrand. Sie erinnerte sich schwach daran, dass sie die Mappe mitgenommen hatte als sie auf die Toilette musste. Lydia blätterte behände durch die eingefügten Unterlagen und fand sogleich den Menüzettel. Schnell überflog sie die Zeilen und las: „Für Neuankömmlinge gibt es standardmäßig, Kartoffelpüree, Spinat und Ei, es sei denn es wurde vorab etwas anderes geordert. Für die kommenden Tage gewünschte Speisen bitte ankreuzen!“ Lydia machte sich auf den Weg in den Speisesaal. Als sie den Raum betrat, fiel ihr Blick sogleich auf Manfred. Der Mann war ihr spontan etwas befremdlich vorgekommen. Deshalb begab sie sich lieber zügig in entgegengesetzter Richtung, um dort einen freien Platz zu besetzen. Sie saß bereits, als Geli mit einer jungen Frau im Schlepptau an ihren Tisch kam. 

Hallo Frau Fischer. Schön, dass sie da sind. Ich möchte Ihnen Frau Meuser vorstellen. Sie isst heute erstmals hier unten. Darf sie eventuell mit an ihrem Tisch Platznehmen?“ 

Am liebsten wäre Lydia für sich geblieben, doch sie wusste, dass das hier wohl nicht angehen konnte. Und wie hätte sie dies Anliegen auch ablehnen sollen? So nickte sie nur. Lydia schaute die junge Frau an, die ihr einen recht verschüchterten Eindruck machte. Sie sagte deshalb auffordernd: „Setzen Sie sich ruhig zu mir Frau Meuser!“ 

Danke“, flüsterte die junge Frau ohne aufzusehen. „Bitte, nennen Sie mich doch Nina.“ 

Bei der Nennung dieses Namens zuckte Lydia leicht zurück und konnte ebenfalls nicht verhindern, dass ihr Tränen in die Augen schossen. Nina. So hatte ihre kleine Tochter geheißen. Lydia nahm sich zusammen.Okay Nina. Ich bin Lydia. Haben Sie schon etwas zu essen bestellt?“ 

Ja, Geli war so freundlich, es zu tun. Ich bekomme Kartoffelpüree.“ 

Lydia lächelte wissend. „Ja, das bekomme ich auch. Es ist hier das Standardgericht für Neuankömmlinge.“

Lydia hatte es noch nicht ganz zu Ende gesprochen, als eine weißbekittelte Frau mit zwei dampfenden Tellern auf sie zusteuerte. „Hallo, die Damen! Für Sie heute das Kartoffelpüree. Für ihre morgigen Menüwünsche füllen Sie bitte dann, nach dem Essen, notwendigerweise den Menüplan aus. Guten Appetit die Damen!“ 

Andere Gedanken

Abends saß Lydia in ihrem Zimmer und dachte noch nicht einmal mehr an ihren eigenen Kummer. Ihr war nach langer Zeit mit einem Mal bewusst geworden, dass auch andere Menschen schlimme Schicksalsschläge erlitten hatten. In der Gruppentherapie am Nachmittag hatte sie so manches über die anderen Patienten hier erfahren. Dies löschte zwar ihren eigenen Schmerz nicht aus, ließ ihn jedoch irgendwie entfernter erscheinen. Nina Meusers Geschichte war zum Beispiel ziemlich traurig. Sie war ja noch so jung. Erst sechzehn Jahre alt. Die Jugendliche war schon mit fünfzehn Jahren schwanger geworden und ihre Eltern hatten sie daraufhin aus dem Haus geworfen. Nina befand sich bereits ein paar Tage draußen auf der Straße als sie einem Ehepaar auffiel. Die Leute sagten Nina, dass sie ihr helfen wollten und ließen Nina bei sich wohnen. Leider stellte sich heraus, dass es den Leuten nur um das Baby ging, da sie selbst keine eigenen Kinder bekommen konnten. Sie überredeten Nina schließlich dazu ihr Baby zur Adoption freizugeben. Durch einen guten Draht zum Jugendamt konnten sie den Säugling dann tatsächlich adoptieren. Seitdem war erwartungsgemäß kein bleiben mehr dort für Nina und die frisch gebackenen Adoptiveltern ekelten das Mädchen so nach und nach aus ihrem Haus. Psychisch hatten die Adoptiveltern die leibliche Mutter des Kindes wohl dermaßen in die Enge getrieben, dass Nina prompt, infolgedessen, einen Selbstmordversuch unternommen hatte. Danach war sie in eine geschlossene Anstalt gebracht worden, wo sie bedauerlicherweise von heute auf morgen aufgehört hatte zu essen. Sie wurde daraufhin zwangsernährt und von da ab, hat sie alles verschlungen, was ihr vorgesetzt wurde und es postwendend wieder erbrochen. Da man Nina nicht ewig in dieser Anstalt halten konnte, ist sie in der geschlossenen Abteilung der Waldwünschelbacher Kurklinik gelandet. Später befand man jedoch, dass die junge Frau sich durchaus frei bewegen können sollte. Und sie von da ab nur noch wegen Bulimie behandelt wurde. Lydia hatte sich schon beim Essen darüber gewundert, dass das Mädchen alles in sich hineinschlang und anschließend auf der Toilette verschwunden war. Was waren das bloß für schreckliche Menschen gewesen, die dem armen Mädchen ihr Kind abgeschwatzt hatten? Lydia fand den Gedanken schwer zu ertragen, dass dieses Mädchen, in ihrem zarten Alter, schon so viel durchgemacht hatte. Da erwachte mit einem Mal der alte Kampfgeist in ihr. Sie nahm sich vor, wenn Nina es schaffen würde von ihren Essstörungen loszukommen, ihr zu helfen eine Klage gegen die Adoptiveltern einzureichen. Zum ersten Mal nach Monaten schlief Lydia nicht mit den Gedanken an ihren eigenen Kummer ein. 

Doktor Schiwago

Direkt nach dem Frühstück hatte Lydia einen Termin bei Doktor Schiwago. Jedenfalls hatte sie den Namen so verstanden. Entfernt erinnerte sie sich daran, den Roman von Boris Pasternak vor einigen Jahren gelesen zu haben. Sie erwartete demnach einen Arzt, der halbwegs ein bisschen dem jungen Omar Sharif ähnlich sah. Um so überraschter war sie einen etwa vierzigjährigen Mann mit dunklen Teint und strohblonden Haaren vor sich zu sehen. „Sie sind Doktor Schiwago?“, fragte Lydia überrascht. 

Der Arzt schaute sie im ersten Moment konsterniert an, so, als wenn er sie von irgendwoher kennen würde, doch dann besann er sich und sagte freundlich: „Nicht ganz richtig, aber ja. So nennt man mich hier. Und Sie sind Lydia Fischer?“

„Ja das ist mein Name. Doch, Sie sagten gerade, ihr Name sei nicht Doktor Schiwago? Wie lautet er denn?“

Ganz prosaisch, Rashid-Wagoner. Maurice Rashid-Wagoner. Der Einfachheit halber, Doktor Schiwago. Und ja, falls sie fragen sollten, mein Vater war Ägypter und meine Mutter eine Französin, daher der Name Maurice. Abgesehen davon bin ich in Deutschland aufgewachsen und kann bedauerlicherweise auch kein bisschen arabisch sprechen.“ 

Ja, das ist wirklich prosaisch.“ 

Setzen Sie sich doch, Frau Fischer!“ Der Doktor blätterte die Unterlagen durch, worin Lydias traurige Vergangenheit beschrieben war. Er kniff ein wenig die Lippen zusammen und fragte: „Brauchen Sie irgendwelche Medikamente Frau Fischer? Können Sie schlafen?“ 

Ich möchte keine Medikamente. Ich bin ja nicht krank. Natürlich möchte ich auch keine Schlaftabletten oder ähnliches nehmen. Wenn ich nicht schlafen kann, dann lese ich ein gutes Buch.“ 

Der Doktor hob leicht die Augenbrauen und sein Mund umspielte ein schwaches Lächeln, welches Lydia sich allerdings auch nur eingebildet haben könnte. Bei näherem Hinsehen war sein Gesicht eher ausdruckslos. Er sagte: „In Ordnung, wenn Sie doch irgendetwas brauchen sollten, wenden Sie sich vertrauensvoll an mich. Haben Sie noch irgendwelche Fragen?“ 

Lydia verneinte das und war damit verabschiedet, bevor sie jedoch die Tür öffnete, sagte der Doktor schnell: „Sie können jetzt im Anschluss direkt zu unserem Psychologen Herrn Mischnut gehen, der wird Sie per se erwarten.“

Lydia nickte und verließ den Raum. Sie schaute auf eine Anzeigetafel im Flur, auf der verzeichnet war, welche Ärzte wo ihre Untersuchungszimmer hatten. 

Der Psychologe Mischnut befand sich auf der gleichen Etage wie Doktor Schiwago, Lydia nannte ihn in Gedanken ebenfalls so, obwohl sie sich diesen scheinbar pragmatischen, emotionslosen Arzt gar nicht so heißblütig, wie den wahren Doktor Schiwago vorstellen konnte. Der Psychologe, der seine Praxis in entgegengesetzter Richtung von Dr. Schiwago hatte, war im Gegenzug ein wahrer Quell des Lebens. Er quasselte nahezu an einem Stück, sodass Lydia das Gefühl hatte selbst nicht mehr reden zu müssen. Fast kam es ihr so vor, als wäre er der Patient der redete und sie die Psychologin die zuhörte. „Ich habe ihre Krankenakte studiert, Lydia. Ich darf doch Lydia sagen. Sie teilen das Schicksal vieler, vieler Menschen, was es für sie natürlich allein durch diese Tatsache nicht erträglicher machen wird. Nun, gewiss ist etwas Wahres in dem Satz, geteiltes Leid ist halbes Leid. Doch bitte nehmen Sie Platz, Lydia, es spricht sich so schlecht nach oben. Mein Name ist übrigens Torben. Das Ansprechen mit dem Vornamen könnte so etwas wie ein Vertrauensverhältnis zwischen uns schaffen. Was ja bei einem derart erlittenen Verlust, den Sie erfahren haben, sehr sinnvoll ist. Möchten Sie mir vielleicht etwas Persönliches über sich erzählen? Da kann ich Ihnen nur zu raten. Der Verlust ist also jetzt … mal schauen …“ Torben blätterte erneut in den Unterlagen. „Seit einem Jahr also. Wie fühlen Sie sich gegenwärtig damit?“

Leer. Ich fühle mich leer.“ 

Ja, das ist bekannt. Ein bekanntes Phänomen. Manchmal machen dann auch Medikamente Sinn. Welche Medikamente hat Schiwago Ihnen verschrieben? Ich meine, Doktor Schiwago.“ 

Nichts. Er hat mir nichts verschrieben.“ 

Der Psychologe sah nahezu verwirrt aus, und sprachlos, aber nur etwa fünf Sekunden. „Das ist sehr ungewöhnlich. Aber Sie kommen gerade von ihm, oder?“ 

Ja. Ich nehme keine Medikamente.“ 

Das ist wirklich eher ungewöhnlich. Nun … ich möchte, dass Sie als erste Therapie autogenes Training absolvieren. Das wirkt nahezu wie eine Droge, sie werden sehen.“ 

Damit war Lydia wohl entlassen und erhob sich. Lydia hätte gerne über das Verhalten des Psychologen gelacht, doch dafür war sie noch zu traurig. Ein Blick auf den bunten Plan im Flur, gab ihr Auskunft darüber, dass das autogene Training bei Wilhelma Müller in zehn Minuten in der obersten Etage stattfinden würde. Bequeme Bekleidung erforderlich stand darunter. Am liebsten hätte Lydia sich nun ins Bett gelegt, um zur Ruhe zu kommen, doch sie wusste, dass sie die Sache durchziehen musste, um letztendlich aus ihrer Lethargie herauszukommen. Diese Tatsache, sich selbst etwas bewusst zu machen, war das nicht schon der erste Schritt zur Besserung? 

Therapie und Sahnetorte

Lydia eilte in ihr Zimmer, um ihre Sporthose anzuziehen. Dort warf sie noch wehmütig einen Blick auf das Bett, indem sie sich liebend gerne zurückgezogen hätte.

Die Therapeutin Wilhelma Müller war die reinste Frühlingsfrische. Ihr Gesicht musste einfach froh machen. Ihre Augen strahlten und sie war die Freundlichkeit pur. Und hübsch noch dazu. Lydia kam gerade noch zur rechten Zeit, um sich auf eine der vorbereiteten Matten zu legen, bevor es losging. Wilhelmas satte ruhige Stimme suggerierte sanft: „Ich bin ganz ruhig, nichts kann mich stören. Deine Arme werden schwer. Deine Beine werden schwer und du denkst an nichts. Dein Kopf ist leer und du spürst die Wärme, die deinen Körper durchdringt. Dein Atem fließt ruhig und gleichmäßig. Das Herz schlägt ruhig und regelmäßig und du atmest tief ein. Tief einatmen in den Bauch … und langsam aus.“ 

Lydia fühlte sich total entspannt, so entspannt, dass sie einfach einschlief. Sie wurde erst wieder wach, als Wilhelma sanft ihren Arm berührte. „Hallo, aufwachen, meine liebe.“ 

Lydia wusste zunächst gar nicht, wo sie sich befand, doch als sie Wilhelmas Gesicht sah, dämmerte es ihr. „Bin ich etwa eingeschlafen?“

„Ja, das sind Sie. Doch jetzt müssen Sie leider langsam zu sich kommen und aufstehen.“

Lydia rappelte sich bedächtig hoch und gähnte. „Oje, so gut habe ich schon lange nicht mehr geschlafen.“

Wilhelma lachte: „Ich habe es bemerkt, Sie waren richtig abgedriftet.“

Lydia stand auf und gähnte herzhaft. „Danke. Ich fühle mich durch und durch gut, allerdings immer noch ein wenig müde.“

„Das ist ganz normal. Das gibt sich wieder. Wie ist ihr Name?“

„Lydia Fischer.“

Die Therapeutin nickte. „Sie haben wohl schon lange nicht mehr richtig geschlafen, Lydia?“

Ja, das ist wahr. Wenn die Erinnerungen kommen … dann finde ich einfach keinen Schlaf mehr.“ 

Legen Sie sich ruhig noch etwas in ihrem Zimmer aufs Bett und versuchen Sie erst einmal herunterzukommen mit ihren Gedanken. Und …, falls Sie dann wieder einschlafen, ist das ein angenehmer Nebeneffekt.“ 

Danke, ich werde es beherzigen.“ 

„Apropos, stellen Sie zur Sicherheit, falls Sie einschlafen, lieber vorher den Wecker, angenommen, dass Sie zum Kaffeetrinken hinuntergehen wollen.“

Ach, ich muss nicht unbedingt einen Nachmittagskaffee haben.“ 

Auch keinen Kuchen?“ 

Schon, wenn er gut ist.“ 

„Der ist gut. Da kann keiner widerstehen. Ganz frisch von der Bäckerei Urenbach. Die Bäckermeisterin ist eine Koryphäe auf ihrem Gebiet. In ihre Sahnetorten könnte man sich hineinlegen, ohne jemals wieder aufstehen zu wollen. Oder das Hefegebäck, oder die Cremeschnitten …“ Wilhelma geriet ins Schwärmen. 

Lydia lächelte. „Dann darf ich das Kaffeetrinken wohl nicht verpassen?“

„Lieber nicht, sonst werden Sie es auf ewig bereuen.“

Lydia ging in ihr Zimmer und folgte Wilhelmas Rat. Sie legte sich aufs Bett und stellte die Weckfunktion ihres Smartphones ein. Kurze Zeit später schlief sie bereits.

Der Speisesaal war so voll, dass Lydia um ein Haar zurückgegangen wäre. Ihr Blick fiel auf einen Ecktisch am Fenster, an dem Nina mit teilnahmslosem Gesicht saß. Da gab sich Lydia einen Ruck und ging hinüber zu dem jungen Mädchen. „Hallo, Nina. Darf ich mich zu Ihnen setzen?“ 

Nina nickte träge. Auffordernd sagte Lydia: „Ich habe gehört, der Kuchen wäre hier so gut. Wie ich sehe, haben Sie schon ein Stück Pflaumenkuchen vor sich stehen.“

„Ja. Geli war so nett und hat mir den Kuchen gebracht. Eigentlich habe ich aber gar keinen Hunger. Mögen Sie den vielleicht essen?“

Bestimmt wäre es besser, wenn Sie zumindest einen kleinen Bissen davon äßen.“ 

Nina guckte Lydia müde an. „Aller Voraussicht nach werde ich ihn postwendend wieder ausbrechen. Ich kann einfach jetzt nichts essen. An manchen Tagen stopfe ich nur alles in mich rein und breche es danach aus. Essen macht für mich einfach keinen Sinn.“

Das hörte sich so unglücklich an, dass es Lydia fast das Herz zerriss. „Aber sie müssen doch etwas essen!“

Nina schüttelte den Kopf und stand auf. „Seien Sie nicht böse, aber ich gehe zurück auf mein Zimmer. Ich möchte einfach nur schlafen.“ Schnell war Nina verschwunden. Lydia war ratlos und unendlich traurig darüber. Sie sah sich hilflos um und bemerkte, dass jemand zu ihr hinübersah. Sie erkannte Doktor Schiwago, der sie teilnahmsvoll anblickte. An seinem Tisch saß auch Geli, die schwungvoll einen großen Bissen Kuchen in sich hineinstopfte. Der Doktor sagte etwas zu Geli, was sie veranlasste, zu Lydia hinüberzusehen. Die hilfsbereite Frau stand sogleich auf und kam zu ihr an den Tisch. „Hallo Frau Fischer. Sie haben sich ja noch gar keinen Kuchen geholt. Soll ich etwas für Sie besorgen?“ 

Nein danke. Nina hat ihr Stück Pflaumenkuchen stehenlassen, da sie keinen Appetit hatte. Ich denke, ich werde den Kuchen essen.“ 

Geli setzte sich zu ihr an den Tisch. „Hat Nina Ihnen erzählt, was los ist? Ich meine, kennen Sie ihre Geschichte? Ich darf Ihnen leider nichts darüber sagen.“

„Ja, ich kenne ihre Geschichte. Nina hat sie in der Gruppe erzählt. Armes Mädchen.“

Ja, ein wirklich trauriges Schicksal. Nun, also darf ich Ihnen kein anderes Stück Kuchen mehr bringen?“ 

Nein, aber danke schön.“ 

Okay, dann gehe ich mal wieder zu meinem Hefeteilchen zurück, bevor Doktor Schiwago mir noch alles weggefuttert hat“, sagte Geli lächelnd. Lydia sah zum Tisch hinüber, an dem der Doktor saß. Der nickte ihr lächelnd zu. Lydia zog Ninas Kuchenteller zu sich und schnitt mit der Kuchengabel ein kleines Stück ab, um es sich in den Mund zu schieben. Der Kuchen schmeckte echt so gut, dass Lydia ein fast friedliches Gefühl überkam. 

Stricken, Töpfern oder Bogenschießen?

Lydia hatte sich vorgenommen, so viele Therapien wie nur möglich zu absolvieren. Sie studierte gewissenhaft den Plan im Flur des Treppenhauses. Sie hielt den Atem an, als sie von hinten jemand ansprach. „Haben Sie sich schon entschieden?“ 

Lydia drehte sich um und blickte direkt in das Gesicht Doktor Schiwagos. Sie schüttelte den Kopf. „Es wird viel angeboten. Ich weiß nicht, was für mich das Richtige ist.“

„Versuchen Sie es doch mal mit Bogenschießen. Das ist ein faszinierender Sport.“

„Finden Sie?“, fragte Lydia zweifelnd. Der Doktor nickte und verschwand. 

Na gut. Warum nicht Bogenschießen?“ Lydia studierte den Plan genau und es wurde behauptet, dass es der Entspannung diene. So richtig konnte Lydia sich das beim besten Willen nicht vorstellen. Nun, probieren konnte sie es zumindest. Stricken und töpfern interessierte sie auch nicht gerade sonderlich. Gestrickt hatte sie noch nie und leider auch keinerlei Ambition es jemals zu erlernen. Zum Bogenschießen wurde, wie auch beim autogenen Training bequeme Kleidung erwartet. Da sie sowieso schon die ganze Zeit ihre Gymnastikhose trug, konnte sie diese ja auch während des Bogenschießens anlassen. Am Schießstand befanden sich acht Schießscheiben. Lydia sah sich um. Es standen schon einige Leute herum, die mit ihrem Schießgerät herumwerkelten. Auf einer Karre lagen einige Bogen, die man sich vermeintlich dort wegnehmen musste. Lydia ging zu der Karre und nahm verschiedene Bogen zur Hand und versuchte zu erkennen, ob es irgendwelche Unterschiede zwischen den verschiedenen Bogen gäbe. Sie hielt einen akzeptablen in der Hand, als eine scharfe Frauenstimme sie von hinten anfuhr: „Was soll das werden, wenn es fertig ist?“ Lydia fühlte sich allerdings nicht wirklich angesprochen und verglich weiter die Bogen. „Ja, sagen sie mal, Sie Dekosporthose! Sie haben es wohl nicht nötig darauf zu achten, was andere Ihnen mitteilen, was?“ 

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752119497
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
Küsse Freundschaft Kurklinik Liebe Schicksal Depressionen Herbst

Autor

  • Ulrike Ina Schmitz (Autor:in)

Ulrike Ina Schmitz lebt mit ihrem Mann und zwei Hunden im Westerwald.
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Titel: Süße Küsse unterm Herbstbaum