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Kopf-Prämie

Ein München-Krimi

von Sophie Lenz (Autor:in) Klaus Sanders (Autor:in)
400 Seiten
Reihe: Irene Meier ermittelt, Band 1

Zusammenfassung

Auf einer Wanderung in Südtirol entdecken Marianne und Gerhard Berger einen abgetrennten Kopf in einem idyllischen Gebirgsbach. Nur wenige Wochen später finden die beiden bei einem Waldspaziergang in Münchens Süden einen weiteren Toten. Kann das Zufall sein? Hauptkommissar Martin Behringer und sein Team nehmen die Ermittlungen auf. Warum wurde das Mordopfer über eine Woche lang nicht vermisst? Und warum sind alle Familienangehörigen nicht erreichbar? Als wäre dies noch nicht genug, wird auch noch ein Ermordeter in der Isar gefunden, ohne Kopf. Zum Glück erhält das Team Unterstützung: Die neue Mitarbeiterin Irene Meier ist eine ambitionierte Ermittlerin. Obwohl Martins trickreiches Verhalten sie verstört, ist sie dennoch von ihm fasziniert. So sehr, dass sie ihren Spürsinn auch hier einsetzt. Mit einem sonderbaren Ergebnis: Er könnte tatsächlich ihr Traummann sein. Aber was für ein Traum wird das?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Das Team

Irene Meier, frisch aus Passau zur Mordkommission nach München versetzt, findet sich in einem sonderbaren Team wieder. Martin Behringer, ihr neuer Chef, hat die höchste Aufklärungsquote. Aber wodurch? Ganz sicher nicht durch seine Qualitäten als Chef. Seine jüngeren Mitarbeiter Hans Baumann und Stefan Burghoff beteiligen sich überhaupt nicht an den Mordermittlungen und er akzeptiert dies.
Auch Freddie Obermeier, ein übergewichtiger Mittfünfziger, lässt keine Gelegenheit aus, sich über seinen Chef lustig zu machen. Er ermittelt zwar, aber noch immer mit Methoden aus dem letzten Jahrtausend. Seinen Computer hat er noch kein einziges Mal eingeschaltet. Für ihn übernimmt Werner Mohr alle Nachforschungen in den Polizeidatenbanken. Der langjährige Innendienstmitarbeiter unterhält ein umfangreiches Netzwerk zum Austausch von Informationen auf dem ganz kurzen Dienstweg.

Weitere Personen, die an den Ermittlungen beteiligt sind oder sie behindern:

Ulrich Weinziertl: Behringers Chef
Prof. Dr. Dr. Hubert Reinmüller: Rechtsmediziner
Maria Zeilinger: Spurensicherung
Erwin Lehmann: Spurensicherung
Herbert Reiser: Mitarbeiter der Einsatzzentrale

Daniel Ott: Leiter der Organisationsabteilung
Roland Schuster: Kriminalrat
Eberhard Krawinkl: Einsatzleiter

Andi Larcher: Kriminalpolizei Brixen
Achim Wagner: Kriminalpolizei Frankfurt a. M.

Dienstag, 16.10.

„Nicht schon wieder!“, schimpfte Marianne Berger leise vor sich hin. Ihr Mann Gerhard stand auf einem schmalen Waldweg etliche Meter hinter ihr und fotografierte „schon wieder“. Sie richtete den Blick zum blauen Himmel über den hohen Baumwipfeln. Eigentlich ideales Wanderwetter hier in Südtirol, dachte sie frustriert. Wut stieg in ihr hoch: Ständig kommen neue Kameras auf den Markt. Aber nicht eine davon verhindert, dass andauernd dasselbe Motiv abfotografiert wird. Würde zur Abschreckung ein lauter Signalton reichen? Bei Gerhard bestimmt nicht! Also doch eher ein Stromschlag? Ja, und zwar einer, der ihn wie ein Peitschenhieb vorantreibt!

Der, dem diese Rachephantasien galten, wollte nur noch schnell ein paar Fotos machen. Er nahm den Gebirgsbach ins Visier und geriet dabei ins Schwärmen: Wasser, diese elementare Urkraft, die sich über jedes Hindernis hinweg sein eigenes Bett gräbt, wer kann daran achtlos vorübergehen? Ein kurzer, kritischer Blick streifte seine Frau. Doch wenig später fingerte er bereits euphorisch an seinem Fotoapparat herum. Die ersten schnell geschossenen Bilder waren leicht verwackelt. Gerhard versuchte es mit einem lichtstärkeren Modus. Nun waren die Bilder zwar scharf, aber Gerhard war immer noch nicht zufrieden. Und so zoomte er einige glatt geschliffenen Steine samt der sie umspülenden Wirbel heran. Die automatische Gesichtserkennung wurde aktiviert. Gebannt schaute er auf das Display.

Ein durchdringender Schrei ließ Marianne überrascht aufhorchen: Na so was, gibt es etwa den Starkstrom-Modus schon? Nun dann muss Gerhard jetzt büßen! Lachend ging sie auf ihn zu. Ihr Mann zeigte aufgeregt zum Bach und dann auf das Display: „Der Stein da, das ist ein Kopf!“
Marianne schaute ihren Mann irritiert an. Was hat er denn? Ein Stein kann doch wie ein Kopf aussehen. Oder … Nein, das darf nicht wahr sein!
Zitternd nahm Marianne ihr Handy aus der Tasche. „Wir müssen die Polizei rufen!“
Gerhard nickte nur, setzte sich auf einen Baumstumpf und schlug die Hände vors Gesicht.
Marianne wählte die Notrufnummer und war froh, dass sie mit dem Beamten in Brixen Deutsch sprechen konnte.
„Hier Berger. Bitte kommen Sie sofort! Wir haben in einem Gebirgsbach einen abgetrennten Kopf gefunden.“
„Was haben Sie gefunden?“
„Einen Kopf. Den Kopf eines Mannes.“
„Einen Toten?“
„Ja.“ Marianne schenkte sich eine sarkastische Bemerkung und fragte nur: „Sollen wir an der Fundstelle auf Sie warten?“
„Unbedingt. Wo sind Sie genau?“
Als Marianne den Weg beschrieben und das Gespräch beendet hatte, schaute sie auf die Uhr.

Nach etwa zwanzig Minuten ertönte oberhalb von der Straße her die Sirene eines Polizeiautos. Kurze Zeit später näherten sich zwei junge Polizisten über einen abschüssigen, schmalen Weg. Auf den letzten Metern gerieten sie ins Rutschen.
Den Carabinieri war der spöttische Blick der Frau nicht entgangen. Mit durchgestrecktem Rücken und mürrisch-autoritärem Gesichtsausdruck bauten sich die Männer vor ihr auf. Weil Marianne ebenso wie ihr Mann die beiden jungen Polizisten um einen Kopf überragte, verfehlte auch das die gewünschte Wirkung.
Sprechen die Polizisten nun aus Trotz nur Italienisch mit uns, oder können die wirklich kein Deutsch?, fragte sie sich, während Gerhard unermüdlich auf die beiden Polizisten einredete. Mehrmals wiederholte er ein paar lateinische Vokabeln. Doch nach wie vor blickte er in verständnislose Gesichter.
Schließlich wandte er sich resigniert seiner Frau zu: „Ich glaube, die verstehen mich tatsächlich nicht. Dann machen wir das eben anders.“ Gerhard deutete nun einfach mit der Hand auf den Stein im Bach.
Endlich zeigten die Polizisten eine deutliche Reaktion. Der etwas ältere schrie mit sich überschlagender Stimme und wild gestikulierend in sein Handy. Marianne schüttelte müde den Kopf: „Die nehmen uns erst jetzt ernst! Und ich dachte, ich habe überzeugend geklungen.“
„Ich hätte dir geglaubt“, sagte Gerhard und strich Marianne sanft über ihre langen blonden Haare.

Und so dauerte es noch einmal vierzig Minuten, bis das Team der Spurensicherung anrückte. Die Carabinieri, die sich mittlerweile entspannt miteinander unterhielten, wandten sich nun wieder den Touristen zu. Der ältere deutete zur Straße hinauf. Marianne flüsterte entsetzt: „Jetzt sollen wir auch noch mitfahren, und nicht mal das kann er uns sagen. Wie lange wird es dann erst dauern, bis sie unsere Aussage protokolliert haben?“
„Was meinst du, werden sie uns in den Rücken schießen, wenn wir einfach weglaufen?“
„Dass sie uns nur Unverständliches hinterherrufen werden, wissen wir ja bereits. Wir sollten es besser nicht riskieren.“
Widerwillig stiegen Marianne und Gerhard Berger zur Straße hoch.

In der Dienststelle in Brixen wurden sie zu einem Polizisten geführt, der sie auf Deutsch ansprach. Nebenher packte er hastig seine Brotzeit zusammen und ließ sie schnell in der Schreibtischschublade verschwinden. Dann strich er bedächtig über sein schütteres Haar. Dabei richtete sich sein Blick auf die sportliche Figur der Frau.
Marianne setzte sich und las das Namensschild auf dem Schreibtisch: Andreas Larcher, Ispettore.
Der Polizist verfolgte aufmerksam jede ihrer Bewegungen, was Marianne nicht entging. In wenigen Worten schilderte sie Larcher, was sich ereignet hatte. Die Fragen des Polizisten waren umständlich, aber bereits nach der dritten wusste Marianne warum: Er versucht, uns in die Enge zu treiben, weil er uns für die Mörder hält! Marianne begann daraufhin, bei ihren Antworten naiv zu lächeln und eine sanfte Unbedarftheit in ihre Stimme zu legen.

Die Rolle von Gerhard beschränkte sich darauf, hin und wieder bestätigend zu nicken. Doch seine Gedanken gingen in eine andere Richtung: Dieses Biest! Gleich beugt sie sich nach vorn und streicht sich aus Verlegenheit über die Wade. Den Mann möchte ich sehen, der ihr dann nicht in den Ausschnitt schaut. Ich mache das jedes Mal … Na also, er auch!

Gerade als Larcher die unterschriebene Aussage von Marianne entgegennahm und sich freundlich von ihr verabschiedete, klingelte sein Telefon. Er schaute die beiden wohlwollend an und wiederholte dabei bereitwillig die Auskünfte, die er über sie erhielt: „Die Angaben stimmen also: Der Mann ist 45 Jahre alt und die Frau 42, Wohnort München. Dann ist also kein Irrtum möglich? ... Beide sind nicht vorbestraft ... Und sie arbeiten an der Universität ... Was? Die Frau ist Physikerin und der Mann Bibliothekar? Nicht umgekehrt? … Ah ja … Nein, es haben sich keine Verdachtsmomente ergeben.“
Beim letzten Satz blickte Larcher misstrauisch zu Frau Berger. Sie lächelte, aber diesmal verzichtete sie auf den naiven Gesichtsausdruck. Schnell verließ sie mit ihrem Mann das Büro.
Larcher schaute zweifelnd zur Tür, während er mechanisch das Protokoll abheftete. Doch dann schloss er mit einem verklärten Lächeln die Augen. „Bellissima“ murmelnd, zeichnete er runde Formen in die Luft. Mit einem leisen Seufzer öffnete er die Augen, griff in die Schublade, packte sein Speckbrot wieder aus und biss kräftig hinein.

***

Als der Vermieter einer Ferienwohnung wie vereinbart zur Abrechnung erschien, fand er zu seinem Ärger niemanden vor. Auf dem benutzten Bett lag ein Schlafanzug. Auch das Bad und der Kleiderschrank waren nicht ausgeräumt. Sicherheitshalber faxte der Vermieter eine Kopie des Personalausweises an die Polizeidienststelle. Dort stellte sich heraus, dass das Passfoto genau den Teil des Mannes zeigte, der im Gebirgsbach gefunden worden war. Somit stand fest: Der abgetrennte Kopf gehörte zu Frank-Werner Saalweg, einem Vermögensberater aus Frankfurt am Main.

Sonntag, 04.11.

Marianne und Gerhard Berger mussten nur eine der wenig befahrenen Seitenstraßen bis zum Ende gehen, und schon waren sie im Perlacher Forst, einem Naherholungsgebiet, das sich von hier aus fünf Kilometer in den Süden von München erstreckt. Die schnurgeraden Wege und das eintönige Bild des lichten Fichtenwaldes ließen beide bald in ihrer eigenen Gedankenwelt versinken …

Als Marianne mit dem Fuß einen Kieselstein über den asphaltierten Weg meterweit wegkickte, wurde sie durch das Geräusch wieder in die Realität zurückgeholt.
„Wo sind wir denn überhaupt? Das sieht ja noch immer genauso aus, wie vorhin … Oh, es ist ja schon nach drei! Müssen wir nun den weiten Weg wieder zurück?“ Marianne wandte sich hilfesuchend an ihren Mann.
Sofort kramte Gerhard im Rucksack nach seinem GPS-Navigationsgerät und zeigte dann nach links: „Wenn wir einen Kilometer in diese Richtung gehen, kommen wir zur S-Bahn-Station.“
Marianne deutete ein paar Meter geradeaus auf einen schmalen Pfad: „Na wenigstens müssen wir nicht durchs Unterholz latschen.“

Nachdem sie ungefähr die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten, fiel ihnen ein dicker, älterer Mann auf, der an einem Baumstamm angebunden war.
„Wieder mal ein Großvater, der sich für seine Enkel zum Affen macht“, lautete Mariannes Kommentar.
Als sie näher kamen und der Mann sich immer noch nicht regte, sagte Gerhard leise: „Nicht schon wieder!“
Ohne viel Hoffnung auf eine Antwort rief Marianne: „Hallo! … Also schön, Sie haben uns einen Schreck eingejagt. Aber jetzt sollten Sie ganz schnell mit dem Blödsinn aufhören!“
Mit zitterndem Finger deutete Gerhard auf einen dunklen Fleck am Pullover des Mannes: „Wenn er noch atmen würde, könnte man sicherlich auch dafür eine harmlose Erklärung finden. Aber so würde ich sagen, er wurde ermordet.“
Nach einer Weile meinte Marianne: „Und wenn wir diesmal einfach weiter gehen?“
„Außer uns kommt hier heute niemand mehr vorbei. Wir sind ja auch auf den Hauptwegen kaum jemanden begegnet.“
„Aber wir können doch nicht schon wieder einen Ermordeten melden.“
„Na ja, vielleicht wissen sie hier nicht, dass wir in Südtirol einen Kopf gefunden haben.“
„Also gut! Aber nur noch diesen hier! Den nächsten lassen wir einfach liegen, hängen oder was auch immer.“
Marianne nahm ihr Handy aus dem Rucksack, aber Gerhard hielt sie zurück: „Diesmal bin ich dran.“ Statt umständlich den Weg zu beschreiben, gab er einfach die per GPS ermittelten Koordinaten durch.
In einiger Entfernung von der Leiche warteten sie auf das Eintreffen der Polizei. Die Sonne war mittlerweile hinter den Bäumen verschwunden. Schnell wurde es kühl, und die beiden begannen, in ihrer leichten Kleidung zu frösteln.
In die Stille hinein fragte Gerhard zögerlich: „Sollen wir den Vorfall in Südtirol ansprechen? Wir können ja schließlich nichts dafür, dass Leute mittlerweile nicht nur ihren Müll, sondern auch Leichen neben Wanderwegen ablegen.“
Marianne schien erst unentschlossen, schüttelte dann aber vehement den Kopf: „Nein, lieber nicht! Ich hab noch nichts davon gehört, dass Morden im Grünen der neue Trend ist. Ich fürchte, wir sind die Einzigen, die so oft fündig werden. Ganz sicher würde die Polizei uns wieder eine Menge dummer Fangfragen stellen.“
Gerhard nickte. „Das kann dann locker bis Mitternacht dauern.“
„Und wenn wir uns dabei verdächtig machen, müssen wir die Nacht im Gefängnis verbringen“, fügte Marianne mit einem hörbaren Schaudern in ihrer Stimme hinzu.
„Nein, kommt gar nicht infrage! Ich meine, wir helfen ihnen bei ihrer Arbeit. Und als Dank dafür halten sie uns für die Mörder.“

Bald danach näherte sich aus der anderen Richtung eine Gruppe Menschen, allen voran zwei Polizisten in Uniform. Sie trugen schwere Metallkoffer. Hinter ihnen folgte ein Team der Spurensicherung, das weitere Koffer heranschleppte. Marianne betrachtete die beiden Polizisten skeptisch. Sie waren in etwa gleich alt und komischerweise auch gleich groß wie die in Südtirol.
Der jüngere begrüßte sie mit den Worten: „Vielen Dank, dass Sie uns angerufen haben. Soll ich Ihnen Decken bringen?“
Marianne war so angenehm überrascht, dass sie nur dankbar lächelte. Der Polizist ging zum Auto zurück und brachte zwei Polyester-Decken, die sich Marianne und Gerhard sofort umhängten.
„Wir haben immer Decken dabei, falls wir mal einen Exhibitionisten einsammeln müssen.“ Als er sah, wie Marianne angewidert das Gesicht verzog, fügte er hinzu: „Diese Decken sind neu.“
Eine Frau von der Spurensicherung kam hinzu und fragte in sachlichem Ton: „Wie nahe sind Sie an den Toten herangetreten?“
Als Gerhard sie vorsichtig dorthin führte, sagte sie zufrieden: „Sie sollten öfter Leichen auffinden. Sie erleichtern mir meine Arbeit.“
Marianne verzog erneut das Gesicht, und auch Gerhard zeigte sich verunsichert.

Nachdem die ersten Untersuchungen des Tatortes abgeschlossen waren, sagte der etwas ältere Polizist freundlich: „Sie können jetzt heimgehen. Wir haben ja Ihre Personalien, falls es noch Fragen gibt. Wenn Sie allerdings mit uns in die Stadt fahren wollen, müssten Sie sich leider noch etwas gedulden.“
Marianne und Gerhard überlegten nicht lange. Sie gaben die Decken zurück und verließen den mittlerweile grell ausgeleuchteten Tatort. Aber schon nach wenigen Schritten blieben sie stehen.
Gerhard blickte zurück und meinte: „Die waren ja überaus freundlich und dankbar. Sollen wir ihnen doch noch erzählen, dass uns in Südtirol etwas Ähnliches passiert ist?“
„Nein, auf gar keinen Fall! Diese Frau von der Spurensicherung hatte ja ohnehin den Verdacht, dass wir professionelle Leichensucher sind.“
„Dann fahren wir jetzt doch lieber heim.“
„Und überhaupt, wir machen uns so viele Gedanken, und dabei hat sich die Brixener Polizei gar nicht mehr bei uns gemeldet.“
„Dein Busenfreund dort hätte dich bestimmt angerufen, wenn es neue Erkenntnisse gäbe.“
„Na, wenigstens hat er mir geglaubt.“
„Wundert mich schon, dass er sich von deinem Ausschnitt losreißen konnte.“
„Was blieb ihm anderes übrig. Ich war doch unschuldig.“
„Meine Mutter hat mich immer vor dir gewarnt.“
„Und meine Mutter fand Bibliothekare langweilig.“
Ein Rascheln im Unterholz schreckte beide auf. Schnell liefen sie weiter. Dabei zogen beide den Kopf ein, bemerkten dies und lachten. Und so übersahen sie den großen, breitschultrigen, korpulenten Mann, der geradewegs auf sie zumarschierte.
Marianne zuckte zusammen, als eine autoritär klingende Stimme fragte: „Wer sind Sie? Und warum haben Sie es so eilig?“
Gebannt schaute Marianne auf den etwa 50-jährigen Mann im dunklen Mantel, der eine bauchige Ledertasche trug: „Wir … wir haben den Toten gefunden. Berger Marianne und mein Mann Gerhard.“
„Sein Tod scheint Ihnen ja nicht sehr nahe zu gehen.“
In Mariannes Gehirn klingelten die Alarmglocken. Sie schaute kurz, ob sich Gerhard zu einer Äußerung hinreißen ließ. Als er ansetzte, etwas zu sagen, erzählte sie lieber, was ihr spontan einfiel: „Nein, wir haben nur so gefroren, und deshalb sind wir gelaufen. Dabei ist mein Mann gestolpert und hätte sich fast das Genick gebrochen. Und so mussten wir lachen bei dem Gedanken, dass Ihre Kollegen gleich zwei Leute abtransportieren müssen. Sie sind doch von der Polizei?“
„Nicht ganz. Ich bin Rechtsmediziner. Hubert Reinmüller. Und deshalb kann ich Ihnen glaubhaft versichern, dass es nicht leicht ist, sich auf einem Waldboden das Genick zu brechen.“
Marianne lächelte nun wieder naiv: „Oh, daher die große Tasche. Ich konnte mir nicht erklären, was Sie damit im Wald suchen.“
Der Rechtsmediziner wandte sich kopfschüttelnd ihrem Mann zu: „Ich bin ebenfalls verheiratet. Meine Frau hat sich diese naive Tour ganz schnell abgewöhnt, weil sie bei mir damit nichts erreicht hat. Nun, was wollen Sie verbergen?“
Gerhard Berger lachte. „Ich falle leider noch manchmal auf diese Masche rein. Aber hin und wieder macht es mir auch Spaß, wenn meine Frau sich so viel Mühe gibt, mich von etwas zu überzeugen, was ich ja sowieso machen wollte.“
Marianne warf ihrem Mann einen verächtlichen Blick zu und sagte nun in resolutem Ton: „Also gut, wenn alle Welt mich durchschaut, dann erzähle ich Ihnen jetzt die Wahrheit. Wir haben in Südtirol einen Toten gefunden. Aber glauben Sie mir, wir haben damals und auch heute den Toten wirklich nur gefunden. Nur weil man uns damals in Südtirol verdächtigt hat, haben wir heute der Polizei den ersten Fund verschwiegen. Deswegen waren wir diesmal schon kurz davor, dem nächsten Spaziergänger die Leiche zu überlassen.“
Ohne zu zögern, antwortete der Rechtsmediziner: „Ich glaube Ihnen! Und wann war damals?“
Marianne starrte ihn an: „Vor nicht ganz drei Wochen. Woher wussten Sie …?“
„Sie haben zweimal damals gesagt und es besonders betont. Aber das macht für mich keinen Unterschied. Ich glaube Ihnen, dass Sie keine Mörder sind, und ich bin echt froh, wenn die Leichen in einem guten Zustand in meine Hände gelangen. Vielen Dank und noch schönen Abend!“
„Sie lassen uns einfach gehen?“, fragte Marianne nun zu ihrer eigenen Verwunderung.
„Aber natürlich. Warum sollte ich meinem Urteilsvermögen nicht trauen? Wenn es nichts taugen würde, wären Sie schon mit Ihrer gespielten Naivität durchgekommen.“
Marianne und Gerhard gingen eine Weile schweigend nebeneinanderher. Doch dann zischte Marianne ärgerlich: „Du … du hast mich so oft betteln lassen und hast es auch noch genossen! Es ist so entwürdigend …“
„... wenn man die Dumme spielt.“

Montag, 05.11.

Dichter Nebel lag über dem morgendlichen München. Die Stadt war wie in Watte gehüllt. Der Verkehr, der sich sonst hektisch durch die Straßen drängte, glich heute eher einer meditativen Prozession.
Hauptkommissar Martin Behringer mochte diese gemächliche Fahrt. Er reihte sich in die Autoschlange ein. Seine Aufmerksamkeit beschränkte sich im Wesentlichen auf die Rücklichter, die sich im Schritttempo vorwärts bewegten. Und so konnte er in Ruhe seine Gedanken schweifen lassen.

Je näher er dem Kommissariat kam, desto mehr rückte der bevorstehende Arbeitstag in seinen Fokus. Eigentlich sollte heute die neue Kommissarin ihren Dienst bei uns antreten, fiel ihm ein. Dummerweise ist von Anfang an wirklich alles schiefgegangen. Wochenlang lagen ihre Bewerbungsunterlagen auf dem chaotisch überfüllten Schreibtisch des Abteilungsleiters für Organisierte Kriminalität herum. Und ausgerechnet dann, als Frau Meier bei mir telefonisch nachfragen wollte, war ich im Urlaub. Erst zwei Tage danach haben sie das Kuvert gefunden. Und um den Fehler auszubügeln, hat die Leitung sofort ein Vorstellungsgespräch angesetzt … Frau Meier muss die Chefs ja ganz schön beeindruckt haben, wenn sie ihr gleich eine Stelle in der Organisationsabteilung anbieten. Und Frau Meier hat abgelehnt! Nicht einmal dankend. Sie wollte unbedingt zur Mordkommission. War das nur ein geschickter Schachzug von ihr, um ein besseres Angebot zu erhalten? Immerhin hat man ihr daraufhin eine Beförderung innerhalb von zwei Jahren in Aussicht gestellt. Da kann unsere Abteilung nicht mithalten. Leider. Dabei hätte Frau Meier bei uns ideale Bedingungen: Mordfälle lösen ohne Bürokratie. Wir haben nicht einmal mehr einen Dienstplan! Und das verdanken wir ausgerechnet dieser Organisationsabteilung. Sie wollte ja unbedingt unsere renovierten Räume im Präsidium für ihren aufgeblähten Apparat selber nutzen.

Im Vorbeifahren warf Behringer einen flüchtigen Blick zum Viktualienmarkt hinüber, auf dem die meisten Stände noch geschlossen waren. Gerade wollte er durch die schmale Toreinfahrt zu seiner provisorischen Dienststelle einbiegen, als ihm von der anderen Seite ein Auto entgegenkam. Er traute seinen Augen nicht: Was für ein Zufall! Dasselbe Modell, dieselbe Farbe. Aber im Gegensatz zu seinem Wagen sah er nagelneu aus. Er schaute die junge Frau am Steuer neugierig an. Sie wollte soeben zurücksetzen, um ihm die Vorfahrt zu lassen. Mit einem Lächeln winkte Behringer sie weiter. Daraufhin fuhr sie flott durch die Einfahrt und parkte vor dem Kommissariat. Beim Aussteigen winkte sie ihm zum Dank zu.
Das ist ja eine Überraschung!, freute sich Behringer. Frau Meier hat also doch noch durchgesetzt, dass sie in mein Team kommt. Wie schwungvoll sie die Tür öffnet. So lässig und locker hätte ich sie mir gar nicht vorgestellt. Ihre Mails wirkten so nüchtern und entschlossen.
Ein Hupen schreckte Behringer auf, und so hielt er schnell nach einem freien Parkplatz Ausschau. Jedoch vergeblich. Mit einem unguten Gefühl lenkte er seinen Wagen in die Tiefgarage und danach direkt auf den breiteren der beiden Stellplätze, die für seine Dienststelle reserviert waren. Sein Auto stand nun schräg über beide Parkplätze. Also setzte er zurück und fuhr geradlinig auf den Stellplatz zu. So würde er bequem aussteigen können.
Ein kratzendes Geräusch auf der anderen Seite ließ Behringer zusammenzucken. Er stieg aus und besah sich den Schaden: Die hintere Tür und das Seitenblech über dem Rad waren angeschrammt. Am Betonpfeiler waren lediglich ein paar Lackspuren sichtbar. Dennoch rief er gleich den Parkhauswächter an. Dieser fragte nur: „Guten Morgen, Herr Behringer, war es wieder die Wand?“
„Nein, der Betonpfeiler.“
„Nun, das Parkhaus schwankt nicht. Es wird also auch diesmal nichts passiert sein.“
„Könnten Sie vielleicht doch vorbeischauen? Ich möchte nicht, dass jemand anders verdächtigt wird.“
„Keine Gefahr. Trotzdem danke.“
Behringer beendete das Telefonat. Das ist also erledigt, und Freddie hat davon nichts mitbekommen. Zufrieden lächelnd stieg er die Treppe hinauf.

Als er das Büro betrat, war Irene Meier bereits in ein Gespräch mit Freddie Obermeier, seinem langjährigen Kollegen, vertieft. Der blickte erfreut auf und machte eine ausholende Geste: „Das ist unser Chef, Hauptkommissar Martin Behringer.“
Die junge Frau stand daraufhin betont langsam auf, strich dezent ihren schwarzen Wollrock übers Knie und schritt anmutig um den Schreibtisch herum auf Behringer zu.
Das ist ja ein Kontrast zu meinem früheren Chef!, stellte sie positiv überrascht fest: Sportlich, groß, schlank. Dabei bewegt er sich so geschmeidig, elegant. Nicht eitel, sonst würde er nicht so legere Sportschuhe zu seinem Anzug tragen. Er ist bestimmt nicht älter als 35. Blonde Haare, blaue Augen ... Er wirkt irgendwie unerschütterlich. Aber warum schaut er mich auf einmal so kühl und distanziert an?
Auch Behringer nutzte die Zeit, um routiniert seine Beobachtungen anzustellen: Circa 1,70 Meter groß. Braune Augen, dann sind vermutlich auch die dunklen Haare nicht gefärbt. Sportlich, aber nicht übertrieben. Sie hat eine tolle Fig… Schnell konzentrierte er seine Aufmerksamkeit nun auf ihren Gesichtsausdruck. Was mag sie für ein Mensch sein? Ihr Blick wirkt ja auf einmal so kritisch … Sie hat wohl bemerkt, dass ich versuche, sie einzuordnen. Er lächelte und streckte ihr die Hand entgegen.
„Willkommen, Frau Meier! Wir freuen uns sehr, dass Sie sich doch noch für unsere Abteilung entschieden haben.“
„Vielen Dank, Herr Behringer! Wir haben uns ja schon gesehen. Sie haben mir netterweise die Vorfahrt gelassen.“
Sofort schaltete sich Freddie in strengem Tonfall ein, als ginge es darum, einen Verdächtigen zu überführen: „Und wo warst du dann so lange? … Hast du etwa in der Tiefgarage geparkt?“
Behringer nickte stumm. Freddie ging behäbig zum schwarzen Brett und machte einen Strich auf einem Zettel in der unteren Ecke: „Schon der siebte.“
Behringer wollte gerade etwas erwidern, hielt es dann aber doch für besser, jetzt nichts zu sagen.
Irritiert fragte Irene Meier: „Was bedeutet das? Muss man etwas bezahlen, wenn man in der Tiefgarage parkt?“
„Martins Fahrkunst kostet den Steuerzahler schon einiges“, erwiderte Freddie mit einem Augenzwinkern zu Frau Meier.
Von wegen unerschütterlich!, dachte diese. Herr Obermeier hat ihn ganz schön aus der Fassung gebracht. Nur zögerlich schaute sie zu ihrem Chef, der noch immer regungslos im Raum stand. Jetzt wirkt er ja doch wieder unerschütterlich. Und wozu dann das Theater? Ach so! Er lässt diesem Herrn Obermeier seinen Spaß, und dann ist es gut.

Die Tür öffnete sich erneut. Hans Baumann und Stefan Burghoff betraten das Büro. Behringer hatte sie schon draußen beim Rauchen gesehen. Die beiden gingen freudestrahlend auf Irene Meier zu und stellten sich vor. Behringer beobachtete, wie sie dabei die Luft anhielt und schnell einen Schritt zurückwich: So geht es mir auch immer. Sie ist wohl ebenfalls Nichtraucherin.
Gerade als er Frau Meier zu einem Gespräch in sein Büro bitten wollte, läutete Freddies Telefon.
„Herbert Reiser, es gibt also etwas zu tun!“, rief Freddie für alle hörbar und stellte laut. Zur Begrüßung fragte er lässig: „Wer war der Mörder?“
„Hey, das ist mein Text! Du kannst nicht einfach meine Rolle übernehmen!“
„Schon gut. Dann sag uns wenigstens, wer ermordet wurde.“
„Das steht noch nicht fest. Gestern wurde im Perlacher Forst ein Mann an einen Baum gefesselt und erschossen. Er ist 1,65 Meter groß.“
Die Stille, die nun folgte, ließ genug Zeit für Spekulationen. Schließlich fragte Freddie mit Anspannung in der Stimme: „Haben wir es jetzt auch schon mit der Mafia zu tun?“
Herbert Reiser lachte. „Hab ich noch nicht erwähnt, dass er ziemlich bayrisch aussieht?“
„Nein. Hast du nicht.“
„Also dann: Er sieht wie ein Bilderbuch-Bayer aus.“
„Müssen wir noch zum Tatort fahren?“
„Nicht nötig. Unser Professor Reinmüller und die Leute von der Spurensicherung waren gestern Abend dort; sie haben den Toten beseitigt. Ich nehme an, dass er in einem dieser Kühlfächer verschwunden ist.“
„Ein super Versteck, da findet ihn so schnell niemand mehr.“
„Aber wie wär's, wenn ihr euch mal umhören würdet, ob jemand den Toten vermisst. Und wenn ihr dabei den Mörder findet, könnt ihr ihn von mir aus einsperren.“
„Machen wir.“
Freddie legte schmunzelnd auf. Dann jedoch schaute er hilfesuchend zum verwaisten Schreibtisch von Werner Mohr.
Behringer folgte seinem Blick. Ihm war klar, was dies bedeutete: Computer kamen in Freddies Welt nicht vor. Normalerweise erledigte Werner solche Arbeiten für ihn.
„Ich schau gleich mal nach, ob wir schon eine Mail mit Fotos des Toten erhalten haben“, sagte Behringer in Richtung Freddie und machte sich auf den Weg in sein Büro. Dabei fiel ihm auf, dass Irene Meier verständnislos zwischen Hans und Stefan hin und her blickte, die völlig teilnahmslos an ihren Schreibtischen saßen.
Er blieb stehen und sagte: „Frau Meier, wir können auch an Ihrem Computer nachschauen. Vorher richte ich Ihnen noch Ihre Zugänge ein.“
Behringer griff sich einen Stuhl und setzte sich zu ihr. Nachdem er geprüft hatte, welche Berechtigungen bereits eingetragen waren, startete er ein paar Programme. Anschließend ordnete er Frau Meier seiner Abteilung zu.
In diesem Moment kündigten dezente Signaltöne neue E-Mails an. Behringer loggte sich aus und schob die Tastatur wieder der neuen Mitarbeiterin hin. Die klickte sofort die Nachricht der Spurensicherung an und scrollte dann zu den beigefügten Fotos.
„Der sieht ja wirklich aus wie eine Werbung fürs Oktoberfest“, sagte sie lachend.
„Wie alt mag er wohl sein?“
„Sechzig oder so. Aber vielleicht steht im Bericht der Rechtsmedizin etwas darüber.“
Behringer war angenehm überrascht. Er hatte auf die Schnelle die E-Mail mit dem Bericht gar nicht wahrgenommen. Und schon erschien auf dem Bildschirm ein langer Text, den Irene Meier in einem beeindruckenden Tempo überflog, bis sie schließlich auf die gesuchte Stelle deutete: „Alter ungefähr sechzig Jahre.“
Er nickte anerkennend. „Gut geschätzt … Dann schauen wir gleich noch nach, ob wir ihn unter den vermissten Personen finden.“
Irene Meier wurde unruhig: Wie geht das denn? Hoffentlich merkt dieser Behringer nicht, dass ich noch nie selbst ermitteln durfte. Warum bin ich nur ganze drei Jahre in Passau geblieben? Mir war doch sofort klar, dass ich dort als Frau nichts erreichen kann. Und jetzt verbaue ich mir schon am ersten Tag meine Chancen!
Ihre plötzliche Nervosität blieb Behringer nicht verborgen: Ist doch völlig egal, ob sie bereits weiß, wie man auf diese Datenbank zugreift. Er setzte ein nachdenkliches Gesicht auf und fragte dann verhalten: „Darf ich das übernehmen? Üblicherweise kümmert sich Werner Mohr darum. Ich bin also etwas aus der Übung. Korrigieren Sie mich bitte, wenn ich mich nicht mehr zurechtfinde.“
Irene Meier rückte erleichtert zur Seite.
Behringer startete das Programm. Als die unübersichtliche Eingabemaske erschien, nahm er aus den Augenwinkeln die Unsicherheit von Frau Meier wahr. Er hob beschwichtigend die Hand, als müsste er ihren Eifer bremsen: „Bitte nichts sagen! Ich erinnere mich noch ganz genau … Diese drei Auswahlfelder sind wichtig. Und hier muss ich unbedingt ankreuzen.“ Bei den nächsten zwei Eingabemasken kommentierte Behringer die notwendigen Schritte mit den Worten: „Das ist schon etwas schwieriger. Oder eher verwirrend, weil die Eingaben nicht unbedingt logisch sind.“ Er tippte sehr langsam, um Frau Meier zusätzlich Zeit zu geben.
Bevor er die eigentliche Abfrage mit OK bestätigte, linste er noch mal zu ihr hinüber. Vielleicht möchte sie sich ja ein paar Notizen machen? Er lächelte unmerklich und sagte, während er sich zurücklehnte: „Die Ergebnissuche kann länger dauern, unsere Netzwerkanbindung ist manchmal etwas langsam.“ Stefan blickte kurz auf, konzentrierte sich dann aber wieder auf seinen Monitor.
Sofort nahm Irene Meier ihr Notizbuch zur Hand und tat so, als wäre ihr gerade etwas eingefallen, was sie sich aufschreiben müsste. Gut, dass er so lange gebraucht hat, dachte sie erleichtert. Sonst hätte ich die Hälfte der Schritte nicht mitbekommen. Oder hat er sich extra für mich so angestellt?

Behringer grenzte die Suche auf „männlich, älter als fünfzig“ ein. Gemeinsam durchsuchten sie die zwölf Ergebnisse. Schließlich meinte er: „Alle Vermissten sind über siebzig oder knapp über fünfzig. Hm, Fehlanzeige.“
Irene Meier blätterte noch einmal durch die Suchergebnisse: „Wenn jemand unseren Toten vermisst, hätte er doch wohl den gezwirbelten Bart, die dunklen buschigen Augenbrauen und das Muttermal am Kinn erwähnt.“

Freddie wurde nun auch neugierig und ließ sich die Fotos des Ermordeten zeigen. Nachdenklich sagte er zu Martin: „Stimmt, das sind doch markante Kennzeichen. Ich kann mir gut vorstellen, dass eine Suchmeldung im Radio einen Hinweis auf seine Identität bringt.“
„Ja, du hast Recht. Wir sollten aber vorerst mitteilen, dass der Tote in einen Unfall verwickelt war.“
„Dann rufe ich gleich mal beim Bayerischen Rundfunk an.“

Weil sich Irene Meier mittlerweile ihren Mails widmete, stand Behringer auf und schob den zusätzlichen Bürostuhl zurück. Dabei blieb sein Blick an ihren wohlgeformten Beinen hängen, die sie übereinandergeschlagen hatte. Aber statt sie weiter anzustarren, drehte er sich entschieden um und murmelte: „Ich sollte jetzt auch meine Mails lesen.“
Sie schaute ihm nach: So hätten sich die Ex-Kollegen in Passau auch mal verhalten sollen …
Auf dem Weg in sein Büro dachte er: Ich werde einfach ignorieren, dass sie … eine schöne Frau ist. Wenn sie weiterhin alles so schnell erfasst, haben wir Glück mit ihr gehabt.
„Stopp“, rief Freddie. „Du hast noch gar nicht erzählt, was du letzte Woche auf Kosten des Steuerzahlers getrieben hast.“
Behringer blieb abrupt stehen und wandte sich um. „Na ja, die Leitung hat ja vorher ein ziemliches Geheimnis um unseren Ausflug gemacht. War schon eine sonderbare Idee, fünf Hauptkommissare aus verschiedene Abteilungen auf eine mehrtägige Bergtour zu schicken. Alle Handys wurden kassiert. Outdoor Teambuilding nennt man das heutzutage. Ich war der Einzige, der noch einigermaßen in Form war, die anderen wollten ständig Pausen einlegen. Und statt sich auszuruhen, haben sie dann damit geprahlt, wie effektiv sie delegieren, sodass sie in der Arbeit eigentlich nur noch Zeitung lesen. Da ist mir wieder klar geworden, wie gerne ich selbst ermittle.“
Freddie schüttelte angewidert den Kopf. „Ständig Zeitung lesen … Auf so einen Chef können wir getrost verzichten.“
Irene Meier schaute Behringer verwundert nach: Er ermittelt also am liebsten selbst. Lässt er deshalb diese zwei hier außen vor? Aber wie schafft er alleine eine so gute Aufklärungsquote?

In seinem Büro schaltete Behringer seinen Computer ein und lehnte sich dann im Bürostuhl zurück, um sanft mit der Rückenlehne zu wippen. Die schaukelnde Bewegung half ihm bei vielerlei, sei es nun, sich zu beruhigen oder auch seine Gedanken zu fokussieren. Schließlich gab er sein Passwort ein und öffnete die E-Mail des Rechtsmediziners. Wie üblich enthielt der Bericht von Professor Dr. Dr. Hubert Reinmüller lange Passagen mit unverständlichen Fachausdrücken. Doch darunter hatte er in wesentlich kleinerer Schrift vermerkt: „Wenn ich gleich geschrieben hätte, dass das Mordopfer zwischen neun und halb zehn am Vormittag an der Schussverletzung gestorben ist, hätte sich niemand die Mühe gemacht, meine exzellenten Ausführungen zu lesen. Die Analyse des Mageninhalts hat ein typisches Fast-Food-Menü zu Tage gefördert. Ich kann euch gerne den Behälter mitgeben, falls ihr bei den infrage kommenden Ketten nachforschen wollt.“
Hubert hat schon eine spezielle Art, dachte Behringer amüsiert.

Als nächstes las er den Bericht der Spurensicherung: „Um den Baum herum und ein ganzes Stück bis zum Weg wurde der Waldboden aufgeraut.“ In Klammern hatte Maria Zeilinger dazugeschrieben: „Diese viele Mühe hätte er sich sparen können. Auf einer Schicht Fichtennadeln lassen sich Fußspuren nicht nachweisen.“
Schon im nächsten Absatz stand, was Behringer suchte: „Eine ganze Menge DNA an der Kleidung des Toten. Pullover und Hose stammen wohl aus einem Secondhandshop. Kein Match in der DNA-Datenbank.
Der verwendete Strick ist Massenware aus dem Baumarkt. Der Mann wurde mit einem ganz speziellen Seemannsknoten an den Baum gefesselt. Der Knoten ist eindeutig über dem Niveau vom Sportbootführerschein. Im Internet gibt es selbstverständlich mehrere Anleitungen, wie der Knoten ausgeführt wird. Also kann sich jeder dieses Wissen aneignen.“
Na super!, dachte Behringer. Keine Fußspuren und eine Menge DNA. Der Mörder hat sich enorm viel Mühe gegeben. Aber warum? Machte es ihm Spaß, den Waldboden zu fegen oder ist er ein überdrehter Pedant? Beides macht es uns nicht gerade leicht, ihn zu überführen. Ich werde das Ganze nochmal gründlich durchdenken. Aber erst muss ich mich um die vielen Mails kümmern.

Behringer scrollte nun durch die lange Liste der E-Mails, die während seiner dienstlichen Bergtour bei ihm eingegangen waren. Dabei stach ihm ein Betreff förmlich ins Auge: „Bewerbung Irene Meier“. Er rief die Mail sofort auf und erfuhr nun offiziell, dass Frau Meier seiner Abteilung zugeteilt worden war.
Echt toll, dass sie sich für uns entschieden hat, freute sich Behringer und lehnte sich voller Genugtuung zurück. Jetzt erst fand er die Muße, den Sieg über die von ihm verachtete Organisationsabteilung genüsslich auszukosten.
Dann las er weiter: „Um ihre Einarbeitung zu gewährleisten wird Frau Meier das verbindliche Schulungsprogramm durchlaufen.“ Er folgte dem Link und landete auf einer Intranet-Seite mit der Überschrift „Einarbeitung Tag 1“.
Behringer vertiefte sich in die Lerninhalte mit rasch abnehmendem Interesse und war nun neugierig, wie viele Tage noch folgten: Volle zwei Wochen waren dafür angesetzt, und am Ende jedes Tages wurde der Stoff durch einen Test abgeprüft. Wie wird Frau Meier damit zurecht kommen? Kann ich ihr helfen, falls es nötig sein sollte? Er nahm er sich Tag 1 vor. Aus drei Antworten konnte im Multiple-Choice-Verfahren ausgewählt werden. Behringer musste nicht lange überlegen: B ist bestimmt die richtige. Die anderen sind geradezu absurd. Bei der zweiten Frage gibt es ja wieder nur eine plausible Antwort. Wer hat sich denn so einen Blödsinn ausgedacht? Hier steht es: Das Programm wurde von der Organisationsabteilung erstellt. Von wem auch sonst!

Behringer leitete die E-Mail an die neue Mitarbeiterin weiter, erhob sich und öffnete die Tür.
Frau Meier blickte bereits in seine Richtung. „Danke. Ich hab sogar ein richtiges Schreiben mit der Hauspost erhalten. An dem Test bin ich schon dran. Der für den ersten Tag ist ja nicht besonders schwer.“
Behringer nickte und schloss die Tür.

Wenig später schrieb er in Stichpunkten die wenigen Fakten zum neuen Mordfall zusammen und ließ dann seinen Gedanken freien Lauf: Das Opfer trug gebrauchte Klamotten. Ist heutzutage eigentlich nichts Besonderes. Kann ja auch eine Art Konsumverweigerung sein. Wenn er auf dem Ökotrip war, warum ernährt er sich dann von Fast Food? Hm. Aber die viele fremde DNA an der Kleidung? Hat der Mörder ihn etwa extra anders angezogen, bevor er ihn getötet hat? Wo liegt das Motiv? Eine Abrechnung unter Gaunern? Na ja, wir stehen noch ganz am Anfang.
Seine Gedanken wanderten zur neuen Kollegin weiter: Kein Vergleich zu Hans und Stefan! Mit einem strengen Blick, der ihm selbst galt, zügelte er seine Begeisterung: Ich darf nicht zu viel von Frau Meier erwarten.
Dann jedoch entspannte er sich wieder: Ich werde einfach mal wie üblich meine Plauderstunde mit ihr abhalten. Bei Hans wurde mir dadurch gleich klar, dass er keine große Hilfe sein wird. Schade, dass ich ihn nicht ablehnen konnte. Während unserem lockeren Gespräch hat er gar nicht gemerkt, dass ich dabei seine besonderen Fähigkeiten abprüfen wollte. Seine Vorlieben? Erzählt er mir doch rotzfrech, dass er nur zur Mordkommission wollte, um die Kolleginnen zu beeindrucken. Und dabei zwinkert er mir noch kumpelhaft zu. Behringer schüttelte angewidert den Kopf. Und Stefan? Er hat recht schnell begriffen, worauf meine eher beiläufigen Fragen abzielten. Schon deshalb hatte ich große Erwartungen in ihn gesetzt. Und dann verhält er sich genauso wie Hans. Bei den Teambesprechungen werden sie erst wieder lebendig, wenn ich sie gehen lasse ... Ich wüsste zu gerne, warum Frau Meier zur Polizei gegangen ist.
Er wandte sich seinem PC zu, rief die digitalisierte Personalakte auf und begann zu lesen: Frau Meier ist also 28 Jahre alt, 13 Jahre jünger als ich … Seit neun Jahren ist sie bei der Polizei … Das Studium für den gehobenen Polizeidienst hat sie in Nürnberg absolviert mit einem ausgezeichneten Ergebnis. Das wundert mich nicht! … Auf eigenen Wunsch wurde sie von Passau hierher versetzt. Er blätterte die eingescannten Beurteilungen aus Passau durch. Sonderbar. Alle sind mit der Hand geschrieben. Gab es dort irgendwelche Probleme? Ach was, das soll sie mir selbst erzählen oder weglassen.
Der Signalton einer eingegangenen E-Mail riss ihn aus seinen Überlegungen. Das Protokoll der Polizisten, die den Tatort im Perlacher Forst gesichert haben, war eingegangen: Nichts, was wir nicht schon wissen … Der Tote wurde von dem Ehepaar Marianne und Gerhard Berger gefunden.
Ich schaue gleich mal, ob es über sie Einträge gibt … Das ist ja seltsam: Eine Anfrage der Polizei in Südtirol wegen eines Mordfalls bei Brixen. Die beiden haben dort am 16. Oktober den Fund einer Leiche gemeldet!
Behringer zog die Augenbrauen zusammen, sprang auf und wollte so schnell wie möglich mit Freddie darüber sprechen. Doch im Büro nebenan saß nur die neue Kollegin, die auf seinen suchenden Blick gleich reagierte: „Die beiden sind vor der Tür. Und Herr Obermeier ist beim Mittagessen.“
„Es gibt etwas Neues zu unserem Fall. Das Ehepaar, das die Leiche im Perlacher Forst gefunden hat: Vor nicht mal drei Wochen hat es in Südtirol ebenfalls einen Toten entdeckt.“
Irene Meier räusperte sich und sagte mit Anspannung in der Stimme: „Interessant. Ob das nur Zufall war?“
„Wir reden gleich noch mal darüber, wenn Herr Obermeier ... ähm … die anderen zurück sind.“

Behringer ging wieder in sein Büro. Gewohnheitsmäßig lief er zwischen seiner Garderobe und dem mit alten Akten gefüllten Schrank auf und ab. Dabei wich er mit einer eleganten Drehung dem hell furnierten Schreibtisch aus und schlängelte sich mit einer weiteren Drehung in die andere Richtung zwischen seinem Stuhl am Besprechungstisch und der Zimmerpalme durch. Er stoppte kurz und wiederholte dann das Ritual in umgekehrter Reihenfolge.
Und schon kamen ihm die ersten Fragen in den Sinn: Können diese beiden Fälle irgendwie zusammenhängen? Wie wahrscheinlich ist es, dass dieses Ehepaar so kurz hintereinander zwei Ermordete findet? Aber wie krank wäre es, zwei Morde zu begehen und jedes Mal die Polizei zu rufen … Ich sollte jetzt gleich zum Mittagessen gehen, dann bin ich zurück, wenn Freddie wieder da ist. Der wird schauen! Ob Frau Meier mitkommen möchte? Das wäre ja die Gelegenheit, ganz ungezwungen mit ihr zu reden.
Mit einer schnellen Bewegung nahm er seine Winterjacke vom Haken und öffnete die Tür zum Nachbarbüro. Alle waren ausgeflogen. „Schade“, murmelte er vor sich hin und ging alleine los.

Als er nach dem Mittagessen das Kommissariat betrat, traute er seinen Augen nicht: Hans und Stefan sprachen lebhaft auf Frau Meier ein, während sie sich zu ihrem Bildschirm hinunter beugten. Im Vorbeigehen schnappte Behringer Internet und Firewall auf. Unbemerkt verschwand er in seinem Büro und schloss die Tür hinter sich.
Unruhig wippte er mit seinem Bürostuhl hin und her. Doch schon bald kreisten seine Gedanken um den neuen Mordfall. Schließlich kam ihm eine Idee: Ich könnte bei den Kollegen in Brixen nachfragen, wie weit sie mit ihren Ermittlungen sind. Vielleicht gibt es ja doch einen Zusammenhang.
Im Internet fand er die Telefonnummer und rief auch gleich an, während sein Blick starr auf die Tür zum Nachbarzimmer gerichtet blieb. Seit wann ist Hans unser IT-Experte?, fragte er sich verärgert.
Plötzlich meldete sich ein Mann mit schriller Stimme am anderen Ende der Leitung in unverständlichem Italienisch. Irritiert nannte Behringer seinen Namen und seine Dienststelle. Daraufhin ertönte schlagartig eine Opernarie, bevor er unvermittelt auf Deutsch angesprochen wurde: „Polizei Brixen. Mein Name ist Larcher.“
Schnell sagte Behringer: „Ich habe gerade gelesen, dass Marianne und Gerhard Berger bei Ihnen eine Leiche gefunden haben.“
Und schon ärgerte er sich, dass er sich nicht auf das Gespräch vorbereitet hatte.
Aber der Kollege in Südtirol antwortete bereits: „Ja. Bei uns werden nicht allzu viele derartige Verbrechen verübt. Wir konnten den Fall bislang noch nicht aufklären. Aber es war keine Leiche, sondern nur ein Kopf.“
Behringer schluckte und fragte rasch: „Was hatten Sie für einen Eindruck von den Bergers?“
„Ich habe eigentlich nur mit Frau Berger gesprochen. Sie hat alle Fragen korrekt beantwortet.“
„Könnten Sie mir den Bericht der Spurensicherung zuschicken?“
„Gerne. Aber der Kopf lag in einem Gebirgsbach in der Nähe von Brixen, und das Institut in Bozen versucht noch immer herauszufinden, womit er abgetrennt wurde.“
Behringer teilte seine Kontaktdaten mit und wollte sich gerade verabschieden, als Larcher fragte: „Warum interessiert Sie der Fall?“
„Die Bergers haben gestern hier in München einen Toten gefunden.“
„Handelt es sich um ein Verbrechen?“
„Ja, der Mann wurde erschossen.“
„Das ist ja interessant. Ich werde mit meinem Chef darüber reden. Ciao!“
Während Behringer den Hörer noch immer in der Hand hielt, blickte er gebannt auf seinen Bildschirm. Wo kommt das denn her? Er scrollte nach oben. Stimmt ja! Die Polizei in Südtirol hat Erkundigungen über die Bergers eingeholt. Und dies hier ist die Antwort. Sehr detailliert. Sogar mit Passbildern. Vielleicht sind sie ja doch nicht nur harmlose Passanten, die ganz zufällig zwei Leichen gefunden haben. Er schluckte erneut und korrigierte sich sogleich: einen Kopf!

Behringer betrachtete zunächst das Passbild von Marianne Berger in der Vergrößerung: Der starre Blick, damit würde sie gut in eine Verbrecherkartei passen. Typisch Passfotoautomat! Meine Schwestern haben sich für den Gang zum Fotografen sogar extra fein angezogen, auch wenn davon später so gut wie nichts zu sehen war. Was steht da noch? Frau Berger betreut als Diplom-Physikerin an der TU München Forschungsprojekte und kümmert sich um die erforderlichen Computersimulationen. Das ist nicht unbedingt ein Hinweis auf Mordpläne. Oder ist ihr Mann ein potenzieller Täter? Sein Passfoto wirkt so ganz anders, als ob er sich nur um den Weltfrieden sorgen würde … Auch hier keine Auffälligkeiten im Lebenslauf. Er ist Bibliothekar an der TU. Die beiden arbeiten also sozusagen zusammen. Ob sie auch gemeinsam Mordpläne schmieden? Perfekte Verbrechen ausgeführt von einem Krimi affinen Bibliothekar und einer genialen Physikerin? Der Fall könnte sehr interessant werden.

In den nächsten eineinhalb Stunden spielte Behringer gedanklich mögliche Motive und Mordvariationen durch. Schließlich betrachtete er wieder nüchtern die wenigen Fakten: Im Grunde macht die Bergers nur verdächtig, dass sie sich zweimal nachweislich an einem Tatort aufgehalten haben. Auch wenn es höchst unwahrscheinlich ist, dass jemand innerhalb von drei Wochen zwei Ermordete findet, kann es ja doch solche Zufälle geben. Bislang deutet kein Indiz darauf hin, dass sie mit den Morden in Verbindung stehen.
Plötzlich schreckte er hoch: Jetzt sollte ich aber doch endlich mit Freddie reden! Ich muss ja heute pünktlich weg.
Er öffnete die Bürotür etwas zu hastig. Als sie krachend gegen den Besprechungstisch knallte, waren alle Blicke auf ihn gerichtet. Das ist ja mal ein gelungener Auftritt!, freute er sich. Aber im nächsten Moment fiel ihm ein, dass er ganz vergessen hatte zu fragen, ob das Mordopfer identifiziert werden konnte. Behringer holte tief Luft: „Ich habe gerade in Südtirol angerufen.“
Irene Meier schaute ihn verwundert an. Das war nicht ganz dasselbe, was er ihr erzählt hatte.
Auch Freddie warf ihm einen verständnislosen Blick zu. „Hast du deinen nächsten Urlaub gebucht?“
„Urlaub? Nein, wieso? Das Ehepaar Berger …“
Freddie unterbrach ihn rasch: „Frau Meier hat uns das mit der zweiten Leiche schon berichtet.“
„Es war nur ein Kopf. In einem Bach in der Nähe von Brixen.“
„Dann besteht zumindest ein Anfangsverdacht gegen die Bergers. Und ich dachte schon, ich hab die beste Neuigkeit zu verkünden.“
Freddie beobachtete Martin, als hätte er alle Zeit der Welt, und wartete genüsslich auf dessen Reaktion.
Weil der ihm tatsächlich alle Zeit der Welt ließ und nicht nachfragte, sagte er schließlich deutlich gedämpft: „Der Tote vom Perlacher Forst ist höchstwahrscheinlich identifiziert. Der Rundfunksender hat einen vielversprechenden Hinweis erhalten. Unsere uniformierten Kollegen sind schon unterwegs.“
Begeistert blickte Behringer in die Runde. Hans und Stefan zeigten keinerlei Reaktion. Und Frau Meier? Sie freut sich ja richtig über den unerwarteten Fortschritt!
„Das mit der Durchsage war deine Idee, Freddie. Dann kannst du jetzt auch die weiteren Ermittlungen übernehmen.“
„Ich warte noch ab, was die Kollegen melden, und suche die Angehörigen morgen auf, falls sie tatsächlich unseren Toten identifiziert haben.“

Erst als Behringer wieder in seinem Büro saß, erkannte er seinen Irrtum: Eigentlich haben wir diesen Fortschritt ja Frau Meier zu verdanken. Sie hat auf die besonderen Merkmale des Toten hingewiesen und nur deshalb ist Freddie neugierig geworden. Fast so als hätte sie die Suchmeldung diktiert. Sehr gut, Frau Meier!
Ein Blick auf seine Uhr ließ Behringer vom Stuhl hochschnellen: Höchste Zeit für das Abschlusstraining! Eilig packte er seine Jacke. Als er das Büro verließ, sah er, wie sich Irene Meier und Freddie angeregt unterhielten und er anerkennend nickte.

Wie üblich, wenn er von der Arbeit mit dem Auto zur Tanzschule fuhr, parkte er in einer entfernten Seitenstraße und ging die letzten 400 Meter zu Fuß. Erst als er sicher war, dass ihn niemand beobachtete, wagte er es, die Eingangstüre mit den Fotos glücklicher Kursteilnehmer zu öffnen.
Zu seiner Verwunderung wartete Elke nicht bereits auf ihn. Bisher war sie bei den Generalproben vor Turnieren immer überpünktlich. Behringer begrüßte die anderen Tanzpaare und zog sich schnell um. Als er sich wieder zur Tanzfläche begab, kam Elke gerade im Businessdress abgehetzt durch die Tür. „Ein wichtiger Kunde. Bin gleich soweit!“ Und schon verschwand sie in der Umkleide.
Erstaunt blickte er ihr nach.

Nach drei Minuten stürmte Elke in der gewohnten Sportkleidung auf ihn zu und sagte augenzwinkernd: „Wenn dieser Immobiliendeal klappt, kann ich mich zur Ruhe setzen.“
Behringer kannte dieses Gerede nur zu gut. Seit er mit ihr trainierte, sprach sie von ihrem baldigen Ruhestand, obwohl sie noch nicht mal dreißig war. Ihr Job muss wirklich die Hölle sein, dachte Martin. Zum Glück hab ich einen Beruf, der mir Spaß macht.
„Dann muss ich mir ja eine neue Partnerin suchen“, meinte er scherzhaft.
„Was? Nein! Ich geh doch nicht weg!“ Elke wirkte ziemlich erschrocken.

In diesem Moment stolzierte der Tanzlehrer Señor Montez in den Raum. Seine schwarzen Haare hatte er zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden. Bereits im Vorübergehen wies er die vier anderen Paare mit spanischem Akzent an, bestimmte Schrittfolgen zu üben. Martin beobachtete seinen theatralischen Auftritt: Er schaut wie ein typischer Spanier aus, obwohl er den gleichen Bart wie unser ermordeter Bilderbuchbayer trägt. Er hat auch ungefähr die gleiche Größe, aber wohl nur ein Drittel des Gewichts.

Mit hektischen Gesten teilte Señor Montez Elke und Martin einen Teil der Tanzfläche zu. Die beiden probten zunächst selbstständig die schwierigen Passagen mit den Hebefiguren. Zwischendurch erlebten sie die lautstarken Wutausbrüche von Montez, der jeden Fehler der Anfänger als eine persönliche Beleidigung empfand. Er fluchte auf Spanisch und sagte dann in kindlichem Deutsch: „Du musst halten die Dame wie eine Blume, nicht wie eine Besenstiel.“
Normalerweise lachte Elke über solche Stilblüten. Aber diesmal war sie angespannt und patzte selbst des Öfteren. Auch Martin hatte seine Probleme. Als er sich wieder besann, stand er mit dem Rücken zu Elke und musste sich mit ungelenken Schritten zu ihr umdrehen.

Kurz vor 21 Uhr verabschiedeten sich die anderen Paare, die wegen ihrer schmerzenden Füße kaum noch gehen konnten. Martin schaute sich nach Señor Montez um: Da lauert er ja schon! Wenn Elke und ich jetzt nicht bei der Sache sind, lässt er uns die ganze Nacht durchtrainieren.
Sie wiederholten die gesamte Choreografie, und diesmal gelang sie ihnen fast fehlerlos. Zum Abschluss gab ihnen Señor Montez, nun in einwandfreiem Deutsch, ein paar Übungen für die Woche mit und betonte noch mal: „Am Sonntag um 14 Uhr.“
Martin zog verwundert die Augenbrauen hoch. Der verwendet seinen Akzent tatsächlich nur für die Anfängerkurse.

Elke verabschiedete sich mit einer ungewohnt langen Umarmung. Sie ist ganz schön erledigt, dachte Martin und blickte auf die Uhr. Schon nach elf. Mir reicht es auch.

Dienstag, 06.11.

Behringer passierte die Einfahrt zum Kommissariat. Schon von hier aus konnte er sehen, dass nur noch ein Parkplatz frei war, der Wagen von Frau Meier jedoch fehlte. Kurz entschlossen fuhr er in die Tiefgarage: Für eine junge Frau ist es sicherlich angenehmer, hier oben zu parken.
Im Untergeschoss steuerte er wie üblich den breiteren Stellplatz an und bremste dann abrupt ab. Auf dem schmaleren daneben stand der Wagen von Irene Meier. Sie hatte ihm also den Parkplatz oben überlassen. Langsam setzte Behringer zurück, lenkte dagegen, bremste weit vor der Wand und fuhr dann wieder nach vorn. „Das war knapp“, seufzte Behringer, als er erneut fast frontal gegen die Autotür von Irene Meier gefahren wäre.
Beim dritten Versuch klopfte der Parkhauswächter lachend an sein Seitenfenster: „Ich dachte heute Morgen, ich träume noch. Aber dann sah ich das Passauer Kennzeichen. Ich habe der jungen Frau beim Einparken zugeschaut. Sie hat es auf Anhieb geschafft. Aber ich sehe schon, diese Geschichte wollen Sie jetzt nicht hören. Wenn Sie mir versprechen, dass Sie Bremse und Gaspedal nicht verwechseln, dann weise ich Sie ein.“
„Ich werde mir Mühe geben“, sagte Behringer und atmete tief durch.

Von seinem Schreibtisch aus hatte Freddie Martins Ankunft auf dem Parkplatz zunächst ohne viel Interesse verfolgt. Aber dann eilte er, so schnell es ihm möglich war, zum Fenster und sagte zu Frau Meier: „Das gibt es doch nicht! Martin fährt in die Tiefgarage.“
Sofort sprangen Irene Meiers Gedanken hin und her: Ich hab ihm doch extra den Parkplatz vor der Tür überlassen. Baut er jetzt unten den nächsten Unfall? Oder wollte er mir als Frau ersparen, in der schlecht beleuchteten Tiefgarage zu parken? Seine Frau hat es bestimmt gut bei ihm … Einen Ehering trägt er allerdings nicht.

Freddie blickte indessen pausenlos auf seine Uhr, als könnte er am Lauf der Zeiger die Höhe des entstandenen Sachschadens ablesen. Als sich endlich die Tür öffnete, näherte sich Freddie lachend dem schwarzen Brett: „Du warst zehn Minuten im Parkhaus. Wie sieht der Wagen von Frau Meier aus? Ich werde zwei Striche machen.“
„Es ist nichts passiert.“
Freddie fiel der Stift aus der Hand. Er hob ihn mühsam wieder auf und sagte dann zu Irene Meier: „Schade! Sie hätten sich ein neues Auto aussuchen können.“
„Ich habe mir dieses Auto ausgesucht und bin sehr zufrieden damit.“
Behringer nickte: „Ich auch. Es ist sehr sparsam im Verbrauch und auch zuverlässig.“
Freddie wollte einen Kommentar abgeben, aber Irene Meier kam ihm zuvor: „Genau! Das ist mir auch wichtig.“
Irritiert setzte Freddie gerade erneut an, als sie betont sachlich zu ihm sagte: „Ich hab gestern gar nicht mehr mitbekommen, ob der Tote vom Perlacher Forst identifiziert werden konnte.“
Sogleich fing Freddies Gesicht zu strahlen an. „Sein Name ist Max Willinger“, verkündete er stolz. „Aber die Kollegen haben nicht schlecht gestaunt. Es war nicht die Familie, die sich gemeldet hat, sondern das Personal. Ein Butler und ein Hausmädchen.“
Irene Meier und Behringer schauten Freddie verwundert an.
„Ich wäre ja schon losgefahren, um die Dienstboten zu befragen. Aber erst musste ich noch wissen, was du in der Tiefgarage angestellt hast. Möchtest du jetzt mitkommen?“
„Ja, aber fahr vorsichtig!“
Irene Meier lachte und setzte sich an ihren Schreibtisch.

Behringer schwang sich lässig auf den Beifahrersitz. Doch sofort bremste ihn sein Muskelkater, der sich nach dem Tanztraining schmerzhaft bemerkbar machte. Auch beim Angurten hatte er Mühe, mit der Hand nach hinten zu greifen.
Freddie schaute ihn spöttisch an. „Du solltest etwas Sport treiben. Wenn ich deine Figur hätte, würde ich meinen Körper auch mehr bewegen.“
Martin verbarg ein Schmunzeln, indem er zum Seitenfenster hinausschaute: Ausgerechnet Freddie muss mich zum Sport animieren! Dabei war es sein Einfall, mir zum 35. Geburtstag einen symbolischen Gutschein für einen Tanzkurs zu schenken. Gesellschaftstanz war rot unterstrichen. Sogar die Anmeldekarte hatte Freddie bereits ausgefüllt. Aber bis heute weiß er nicht, dass ich die noch am selben Tag in der Tanzschule abgegeben habe.
„Und was kannst du mir empfehlen?“, wandte er sich nun wieder Freddie zu.
„Ich hab früher Fußball gespielt.“
„Solche Sportarten sind nichts für mich.“
„Stimmt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dich freiwillig auf einen matschigen Boden fallen lässt, um einen Elfmeter zu bekommen.“
„Hast du etwa?“
„Ich war Torwart.“
„Und das heißt?“
„Mann, du weißt ja überhaupt nichts vom Fußball. Ich stand im Tor.“
„Ich hab bei den Weltmeisterschaften auch Spiele angeschaut, aber dabei den Ton stumm geschaltet und Musik dazu gehört.“
„Das sieht dir ähnlich. Und hat das Spiel zur Musik gepasst?“
„Meistens schon. Nur bei den Wiederholungen ist die Musik einfach weitergelaufen.“
Irritiert hakte Freddie nach: „Wie kann man in Bayern aufwachsen, ohne Fußball zu spielen?“
„Ich war nie besonders gut bei Ballspielen. Ich wurde meist als Letzter in die Mannschaft gewählt, und so hat mir mein Sportlehrer Volleyball empfohlen.“
„Aber da gibt es ja keine Fouls, keine gelben und roten Karten! Du wirst nicht mal nass dabei. Das ist doch total langweilig.“
„Mir hat es trotzdem gereicht.“
„Sag bloß! Da warst du also auch nicht der Bringer?“
„Jetzt sollten wir uns mal wieder mit unserem Fall beschäftigen.“
„Es eilt noch nicht. Wir haben noch eine schöne Strecke bis Gräfelfing vor uns. Und ich kann auch noch einen Umweg fahren, falls du mit mir ausführlicher über deine sportlichen Erfolge reden möchtest.“
„War das die Paulskirche?“
„Du möchtest also wirklich das Thema wechseln?“
Behringer schwieg. Warum hab ich plötzlich ein Problem damit? Kann mir doch egal sein, was Freddie über mich erzählt.
„Na gut. Ja, das war die Paulskirche. Erzähl mal, wie hat dir Volleyball gefallen?“
„Es sieht nach Regen aus. Diese Gegend hier hat auch bei schönem Wetter nichts zu bieten. Die breiten Straßen, überall nur Werkshallen und dazwischen riesige Parkplätze.“
„Ja doch, aber wir waren gerade bei einem anderen Thema.“
„Wissen wir schon mehr über diesen Max Willinger?“
„Nein, die Kollegen haben nur brav das Foto vorgezeigt. Und als der Butler ihn erkannt hat, haben sie ihn in die Rechtsmedizin gefahren. Dort hat er Max Willinger eindeutig identifiziert.“
„Schade, dass Werner im Urlaub ist. Und das noch fast sechs Wochen. Er hätte unsere Datenbanken nach ihm durchforstet.“
Diese Bemerkung traf ins Schwarze. Freddie blieb nun seinerseits in sich gekehrt, bis sie Gräfelfing erreichten. Er hielt an einer Mauer und meinte knapp: „Wir sind da!“

Sie stiegen aus und gingen auf das breite, schmiedeeiserne Flügeltor zu. Freddie läutete und sagte über die Sprechanlage: „Mein Name ist Obermeier. Wir haben telefoniert.“
Das Tor öffnete sich. Beide näherten sich der geschwungenen Vortreppe und warteten dort erst mal geduldig.
Behringer war schon mental darauf eingestellt, dass der Butler die Türe öffnet. Als er jedoch den gepflegten älteren Herrn mit den weißen Handschuhen wie eine Erscheinung aus einem vergangenen Jahrhundert vor sich stehen sah, konnte er sich nur mühsam ein Lachen verkneifen.
Freddie jedoch sagte mit ernster Miene: „Grüß Gott! Wir möchten uns bei Ihnen bedanken, dass Sie Herrn Willinger eindeutig identifiziert haben. Wir sind von der Mordkommission und versuchen, dieses Verbrechen aufzuklären.“
Der Butler schien über Freddies laute Stimme erschrocken und wich einen Schritt zurück. Schließlich bat er die beiden Besucher mit einer einladenden Geste ins Foyer, das mit Marmorboden und Kübelpalmen an Hollywoodfilme erinnerte.
„Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“
„Indem Sie unsere Fragen beantworten. Wann haben Sie Herrn Willinger zuletzt gesehen?“
„Bei der Identifizierung der Leiche.“
„Ist klar“, sagte Freddie unwillig.
„Ich erwähne das deshalb, weil ich tatsächlich Mühe hatte, Herrn Willinger aufgrund der Fotos zu identifizieren. Er war so seltsam gekleidet, was so gar nicht seinem Stil entsprach.“
„Können Sie sich das erklären?“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Herr Willinger von sich aus so billiges Zeug angezogen hätte. Er war in puncto Kleidung immer sehr penibel.“
„Interessant.“
„Und wann haben Sie Herrn Willinger zuletzt lebend gesehen?“
„Am Samstag beim Abendessen.“
„Dann wurde er ja am darauffolgenden Tag ermordet.“
„Nein. Am Samstag, dem 27. Oktober, habe ich Herrn Willinger zuletzt gesehen.“
„War es ungewöhnlich, dass er so lange nicht nach Hause kam?“
„Nein. Er besitzt noch eine Wohnung in der Nähe seiner Firma.“
„Was ist das für eine Firma?“
„Herr Willinger ist … war Tabakgroßhändler. Seine Firma beliefert Fachgeschäfte in ganz Deutschland, und wenn Sie …“
„Nein. Wir sind Nichtraucher“, wehrte Freddie sogleich ab. „Wer sind die nächsten Angehörigen?“
„Seine Gattin, die Tochter Maria, sein Sohn Josef sowie sein Bruder Moritz.“
„Max und Moritz. Maria und Josef,“ murmelte Freddie vergnügt und vergaß dabei, die Befragung weiterzuführen.
Und so fragte stattdessen Behringer: „Können wir jetzt mit den Angehörigen sprechen?“
„Ich bedaure. Alle sind seit Freitag gemeinsam verreist.“
„Gemeinsam?“
„Ja, das ist außergewöhnlich, insbesondere weil Frau Willinger schon seit zwei Jahren nicht mehr verreist ist.“
Behringer verzog das Gesicht. „Können wir die Familie telefonisch erreichen?“
„Auch das ist zurzeit nicht möglich. Frau Willingers Handy liegt auf ihrem Schreibtisch. Die jungen Leute scheinen wohl wieder neue Telefonnummern zu haben. Und Herr Moritz Willinger besitzt kein Handy.“
Freddie schüttelte verständnislos den Kopf. Dann fragte er: „Ist die Familie spontan verreist?“
„Am letzten Mittwoch gegen zehn Uhr haben sich alle hier versammelt und sind dann am Freitagmittag losgefahren.“
„Wie war die Stimmung innerhalb der Familie?“
„Darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben.“
„Können Sie uns wenigstens sagen, für wann die Rückreise geplant ist?“
„Darüber habe ich noch keine Mitteilung erhalten.“
„Rufen Sie uns bitte an, wenn wir mit einem Angehörigen sprechen können.“ Etwas mürrisch reichte Freddie dem Butler seine Karte und wandte sich zum Gehen.
Behringer blieb jedoch stehen und machte einen weiteren Vorstoß: „Hatte Herr Willinger Feinde?“
„Darüber kann ich Ihnen keine Auskunft erteilen.“
„Diskretion ist schon etwas Schönes. Wenn dadurch allerdings ein Mörder geschützt wird …“ Behringer ließ den Satz unvollendet.
Der Butler schluckte. „Nun denn, Herr Willinger hatte einen erbitterten Konkurrenten. Vor fünf Jahren trafen wöchentlich anonyme Drohbriefe hier ein. Ihm war jedoch sofort klar, dass ein bestimmter Konkurrent der Verfasser war. Herr Willinger hatte ihn durch seinen eigenen Geschäftserfolg fast in den Ruin getrieben. Nun, die beiden haben sich getroffen und schließlich ein Arrangement gefunden, sodass jeder sein Auskommen hatte. Seither ist Herr ...“ Der Butler unterbrach sich. „Seither ist er hier im Hause ein gern gesehener Gast.“
„Kann es zu einem erneuten Zerwürfnis gekommen sein?“
„Das schließe ich aus. Einen Moment bitte!“ Nach einer angedeuteten Verbeugung schritt der Butler würdevoll davon und kam mit einem gerahmten Foto zurück. „Hier sehen Sie die beiden heuer beim Oktoberfest. Das Bild hängt im Arbeitszimmer von Herrn Willinger.“
Die Fotografie zeigte zwei angetrunkene ältere Herren, die sich umarmten und bierselig in die Kamera lachten.
„Käme sonst noch jemand in Betracht?“
„Das war der letzte Familienunternehmer, mit dem Herr Willinger zu tun hatte. Die anderen Konkurrenten sind deutschlandweit agierende Firmen. Und im Preiskampf mit ihnen ist Herr Willinger auch nicht immer erfolgreich.“
„Und private Feinde?“
Der Butler antwortete bedächtig: „Auch das kann ich ausschließen. Nur im Geschäftsleben hat … hatte Herr Willinger … eine gewisse Durchsetzungskraft. Sind damit Ihre Fragen beantwortet?“
„Nicht ganz. Mich interessiert noch diese Wohnung in der Nähe seiner Firma.“
„Ich notiere Ihnen selbstverständlich die Adresse. Ich möchte ja auch, dass der Mörder gefasst wird.“
„Danke! Haben Sie einen Schlüssel?“
Der Butler rümpfte diskret die Nase, bevor er sich artig verbeugte und nach oben entschwand.
Wenig später kam er mit Stift und Papier sowie einem Schlüssel zurück, um sich von Behringer den Empfang quittieren zu lassen.

Auf der Rückfahrt regnete es in Strömen. Mit angestrengtem Blick nach vorn achtete Freddie auf den dichten Straßenverkehr, während die Scheibenwischer das auftreffende Wasser im Sekundentakt zur Seite drückten. Vor dem Präsidium hielt Freddie an und Martin gab den Schlüssel für die Spurensicherung ab.

Kurz vor der Dienststelle hörte der Regen ebenso plötzlich wieder auf, wie er begonnen hatte. Freddie hielt an der Einfahrt zum Parkplatz und blickte unschlüssig zu Martin: „Vielleicht haben ja unsere Leichenfinder doch etwas mit dem Mord zu tun.“
Behringer hatte die Bergers schon fast vergessen. „Ganz ausschließen können wir es nicht. Aber ich hab bislang weder ein Tatmotiv noch sonst etwas Verdächtiges gefunden. Ich kann Ihnen ja mal einen Besuch abstatten.“
Freddie deutete auf Hans und Stefan, die rauchend vor der Tür standen: „Vielleicht solltest du sie die Befragung durchführen lassen. Unsere neue Kollegin wundert sich schon sehr darüber, dass du von den beiden nichts forderst.“
„Anfangs habe ich ja immer wieder versucht, sie in unsere Fälle einzubinden. Aber du hast ja selbst erlebt, wie sie darauf reagiert haben.“
„War schon dreist, morgens um fünf Uhr den Dienst anzufangen, wenn sie wussten, dass du erst mittags ins Büro kommst. Und auch sonst sind sie dir möglichst aus dem Weg gegangen. Aber ich bin ja auch noch da. Sind die hochgeschreckt, als ich um sechs Uhr die Tür aufgerissen hab. Die Gesichter hättest du sehen sollen!“
Behringer lächelte und wurde dann wieder ernst. „Wenn Hans und Stefan insgesamt so viel Einsatz gezeigt hätten wie Frau Meier gestern, wäre ich schon zufrieden gewesen.“
„Vielleicht färbt das positive Beispiel der neuen Kollegin ja auf sie ab.“
„Also gut. Ich starte noch einen Versuch.“

Freddie fuhr wie üblich nach Hause, während Martin sich zu Fuß auf den Weg ins Bistro des Bio-Supermarktes machte. Keiner seiner Kollegen teilte seine Vorliebe für Bio-Produkte. Daher konnte er sicher sein, dass er hier niemanden aus seinem Team treffen würde.
Martin schloss sich der Schlange vor der Essensausgabe an. Wie üblich wurde er von einer Vietnamesin mit einem Lächeln begrüßt und nach seinen Wünschen gefragt. Diesmal entschied er sich für die Gemüselasagne und nahm ein Stück Kuchen gleich mit dazu. Dann setzte er sich an den einzigen freien Tisch neben der Treppe, auf der ein stetes Kommen und Gehen herrschte.
Ist das nicht Frau Meier?, fragte sich Martin überrascht, plötzlich aus seinen Gedanken gerissen. Doch die junge Frau war bereits nach unten verschwunden und so widmete er sich wieder seinem Essen.
Freddie hat völlig Recht!, sagte er sich. Ich muss von Hans und Stefan mehr fordern! Ich werde jetzt gleich mal mit den beiden reden.

Mit weit ausholenden Schritten eilte Martin zurück ins Büro, als könnte er es kaum erwarten, endlich durchzugreifen. Energisch öffnete er die Tür, murmelte ein knappes „Mahlzeit“ und baute sich vor Hans und Stefan auf, die an ihren Schreibtischen saßen und ihn überrascht anglotzten.
„Nachdem ja die Familie Willinger verreist ist, sollten wir zwischenzeitlich abklären, ob die Bergers etwas mit dem Mordfall zu tun haben.“ Mit autoritärer Stimme fügte er hinzu: „Ich nehme mir morgen Vormittag frei. Hans, du überprüfst die Lebensläufe unserer hoffentlich ehrlichen Finder der Toten. Und du, Stefan, bestellst sie für morgen früh hier ein. Überlegt euch vorher gründlich, welche Fragen ihr stellen wollt.“
Danach ging Behringer sofort in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Kaum saß er in seinem Bürostuhl, plagten ihn Zweifel: Bringt es überhaupt etwas, wenn wir die Bergers verhören? Na ja, wenn Freddie das für sinnvoll hält, dann machen wir das eben. Hans und Stefan sollen ruhig auch mal einen Beitrag leisten. Vielleicht finden sie sogar etwas Verwertbares heraus. Gerade Ehepaare widersprechen sich schnell mal. Ich hätte da schon ein paar Ideen, wie ich die Bergers zum Reden bringe … Andererseits: Wäre es nicht eher angebracht, mich bei ihnen zu bedanken, statt sie verhören zu lassen? Und dann auch noch von Hans und Stefan. Wie werden die sich dabei anstellen? Hm. Am besten fange ich morgen doch zur üblichen Zeit an und setze mich einfach dazu, dann kann ich ja notfalls selber eingreifen. Außerdem muss ich mir unbedingt für Frau Meier ein paar Aufgaben einfallen lassen. Sie braucht sicher nicht den ganzen Tag für dieses blödsinnige Schulungsprogramm. Was hat sie für Erwartungen? Ich könnte ja ein paar meiner Tricks anwenden … Ach was, Frau Meier ist meine Mitarbeiterin und keine Verdächtige!
Behringer notierte sich zunächst nur ein paar Stichpunkte, aber nach langem Hin und Her hatte er sieben Fragen formuliert, die er seiner neuen Mitarbeiterin bei der nächsten passenden Gelegenheit stellen würde …
Eine eingehende Mail der Spurensicherung weckte Hoffnung, fiel dann aber denkbar knapp aus:

Die Durchsuchung der Wohnung von Max Willinger ergab keine Kampfspuren und auch keinerlei Hinweise, dass das Opfer sich in den letzten Wochen dort aufgehalten hat. Die parallel durchgeführte Befragung der Nachbarn bestätigt dies: Eine Nachbarin hat sich bei den Polizisten beschwert, weil Herr Willinger regelmäßig viel zu laut Musik gehört hat. Er war ein Fan der Stones. Am 7. Oktober hat er sich das letzte Mal I can't get no satisfaction angehört. Die Nachbarin konnte sich deshalb so gut daran erinnern, weil sie Geburtstag hatte.

Behringer starrte auf den Bildschirm. Sonderbar: Unser Bilderbuch-Bayer mit Butler ist Fan der Rolling Stones. Und wenn er sich in seiner Wohnung aufhält, lässt er die Sau raus. Die unstandesgemäße Kleidung war ebenfalls untypisch für ihn. Hat Willinger ein geheimes Doppelleben geführt? Hat er sich in zwielichtigen Kreisen bewegt und ist dort das Mordmotiv zu suchen? Wenn er vom 27. Oktober bis zum 4. November nicht in seiner Wohnung war, wo hat er sich dann herumgetrieben? Und warum ist keiner seiner Angehörigen erreichbar? Wofür haben die einen Butler, wenn sie seine Dienste nicht in Anspruch nehmen … Was denn, schon so spät!
Martin fuhr den Rechner herunter und ging ins Nachbarbüro. Lediglich Irene Meier saß noch vor dem Computer. Sie schaute auf und lächelte, als sie ihren Chef wahrnahm.
„Herr Obermeier ist vor einer halben Stunde gegangen. Er hat für Sie eine Nachricht hinterlassen.“
Martin bedankte sich und las Freddies akkurate Handschrift:

Wenn die Bergers Humor haben, werden sie über die Fragen von Hans und Stefan herzhaft lachen. Ich vermute, du willst das Gespräch nach den ersten Fragen übernehmen. Ich hab die beiden belauscht. Sie haben die Bergers um zehn Uhr herbeordert. Wenn du mitlachen möchtest, solltest du nicht zu spät kommen.

Martin schmunzelte: Auf Freddie ist Verlass! Dann werde ich morgen rechtzeitig da sein.
Er wandte sich an Frau Meier: „Es gibt noch eine Neuigkeit: Die Wohnung in der Nähe der Firma wurde von Herrn Willinger zuletzt Anfang Oktober genutzt. Es ist also noch immer ungeklärt, wo er vom 27. Oktober bis zu seiner Ermordung war ... Sie sollten auch für heute Schluss machen. Schönen Abend noch!“
„Danke ebenfalls.“ Sie schaltete ihren Rechner aus und erhob sich.
Martin wartete, bis sie ihre Jacke angezogen hatte und hielt ihr galant die Tür auf. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke, versanken ineinander.

***

Es war kurz vor Mitternacht. Irene erwachte, raffte die Bettdecke in ihren Armen zusammen und lächelte dem schönen Traum hinterher. Sie hatte von Martin geträumt, wie er sie umsorgt und … Abrupt richtete sie sich auf. „Was soll das?“, schimpfte sie vor sich hin. „Du bist keine zehn mehr. Damals hab ich von Märchenprinzen geträumt. Jetzt träume ich nur noch von Männern, die mir Märchen erzählen.“ Starr blickte sie in die Dunkelheit. Erinnerungen wurden wach: Tobi … Betrügt mich mit meiner besten Freundin und streitet alles ab! … Auf so einen verlogenen Typen falle ich nie mehr herein!
Sie ließ sich aufs Bett zurückfallen. Ein verträumtes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Martin … ist anders. Er ist etwas Besonderes … Und wenn doch nicht? … Ich werde es herausfinden. Gleich Morgen. Und dieser Freddie wird mir dabei helfen! Ich weiß schon genau, wie ich es anstelle.
Irene schüttelte ihr Kissen auf, legte sich wieder hin und schlief zufrieden ein.

Mittwoch, 07.11.

Nach einem ausgedehnten Frühstück eilte Behringer gut gelaunt die Treppe zur Tiefgarage hinunter. Spätestens um zehn Uhr würde er im Büro sein.
Mit einer lässigen Bewegung schwang er sich hinter das Lenkrad und legte den Gurt an. Der Muskelkater ist wieder weg, freute sich Martin und drehte den Starter. Der Motor sprang nicht an. „So ein Mist! Ich hab wieder mal vergessen, das Licht auszuschalten.“ Seine gute Laune war dahin.

Notgedrungen ließ er das Auto stehen, sprintete los und sah gerade noch, wie der Bus mit gleichbleibendem Tempo an der Haltestelle vorbeifuhr. Statt auf den nächsten zu warten, lief er gleich weiter zur U-Bahn-Station.
Da kein Zug angekündigt war, setzte er sich hin und wartete. Ungeduldig verfolgte er, wie die Zeit verstrich. Endlich wurde mittels Durchsage mitgeteilt, dass die nächste U-Bahn wegen einer Betriebsstörung voraussichtlich erst in zwanzig Minuten eintreffen wird.

Als Martin schließlich erst nach elf Uhr bei seiner Dienststelle ankam, standen Hans und Stefan lachend vor der Tür.
Immer noch angespannt, fragte er: „Sind die Bergers schon weg?“
Hans antwortete ihm: „Wir haben keinen Grund gefunden, sie in Gewahrsam zu nehmen. Sie sind vor zehn Minuten gegangen.“
„Hattet ihr etwa den Verdacht, dass sie an den Morden beteiligt sind?“
„Am Anfang sah es schon so aus. Aber dann haben sie auf alle Fragen plausible Antworten gegeben.“
Behringer bedankte sich und ging den Gang entlang, vorbei an dem kleinen zusätzlichen Raum, den sie bei solchen Anlässen für Befragungen verwendeten.
Im Büro saß Irene Meier vor ihrem Computer und lächelte ihn an. Sein Gesicht hellte sich kurz auf. Als er sich suchend nach Freddie umblickte, sagte sie: „Herr Obermeier hat den Notar ausfindig gemacht, bei dem das Testament von Herrn Willinger hinterlegt ist. Er ist zu ihm gefahren.“

Beruhigt setzte sich Martin an seinen Schreibtisch: Also keine Verdachtsmomente gegen die Bergers, sogar Hans und Stefan sind dieser Meinung. Auch wenn Letzteres nichts zu bedeuten hatte. Er las und beantwortete seine E-Mails.

Ein fülliger Körper, der sich der offenen Tür näherte, ließ Martin in diese Richtung blicken. Wie üblich blieb Freddie stehen, klopfte an den Türrahmen und wartete mit gesenktem Kopf. Ein Ritual, das er schon seit Jahren so praktizierte. Wie lange würde er wohl vor der offenen Tür stehen bleiben, wenn ich ihn nicht hereinbitte?, überlegte Martin kurz, bevor er „Komm doch rein!“ rief.
Verschmitzt lächelnd kam Freddie auf ihn zu, schloss sofort die Tür hinter sich und fragte neugierig: „Und bei welcher Frage hast du in das Verhör eingegriffen?“
„Überhaupt nicht. Mein Auto ist nicht angesprungen.“
„Hast du wieder vergessen, das Licht auszuschalten?“
Martin überging diese Bemerkung. „Hans hat gesagt, dass die Bergers auf alle seine Fragen plausible Antworten gegeben haben.“
„Das kann nicht sein! Niemand kann auf diese Fragen plausible Antworten finden. Niemals!“
„Und das bedeutet?“
„Entweder sind die Bergers Seelenverwandte von Hans und Stefan, oder sie haben unsere beiden Chefermittler ganz schön auf den Arm genommen.“
„Gibt es noch eine dritte Erklärung?“
„Spontan fällt mir keine ein.“
Noch in Gedanken, lehnte Martin sich bequem nach hinten und fing an, mit der Rückenlehne zu wippen. Freddies Grinsen ließ ihn abrupt innehalten. Schnell fragte er: „Und wie war dein Vormittag?“
„Der Notar hat mir das Testament von Max Willinger vorgelesen.“
„Und?“
„Die Ehefrau und seine erwachsenen Kinder erben den größten Teil des Vermögens, der Bruder erhält aber auch noch einen stattlichen Anteil.“
„Also profitieren alle von seinem Tod.“
„Na ja, und das Vermögen ist schon beachtlich. Der genaue Wert der Firma ist allerdings noch nicht bekannt. Daher hat sich der Notar etwas vage ausgedrückt, und das hat dann ziemlich gedauert. Übrigens, die Zeitungen haben heute über die Ermordung von Max Willinger berichtet. Vielleicht melden sich ja noch Zeugen, die uns weiterhelfen.“
„Diese gemeinsame Reise ist schon sehr merkwürdig. Sobald die trauernde Familie zurück ist, werden wir ihr mal auf den Zahn fühlen. Ich bin schon gespannt, was wir für eine Geschichte zu hören bekommen.“
„Vielleicht tischen uns die vier sogar unterschiedliche Erklärungen auf. Wäre mir egal, solange eine plausible dabei ist.“ Freddie grinste übers ganze Gesicht.
Dann jedoch blickte er fast erschrocken auf die Uhr: „Ist ja schon nach zwölf!“ Und schon war er Richtung Ausgang verschwunden.

Während Martin die Mittagspause im Bistro verbrachte und danach noch seine Einkäufe erledigte, nutzte Irene die Zeit für ihren Plan. Sie stand vor dem Spiegel in der Damentoilette und übte noch mal einen ganz bestimmten Gesichtsausdruck ein. Mann, sehe ich traurig aus … Vielleicht noch etwas mehr Betroffenheit … So passt es wunderbar. Wenn mir Freddie jetzt nicht die Wahrheit über Martin erzählt, hat er einfach kein Herz.

Endlich öffnete sich die Eingangstür. Freddie betrat gut gelaunt das Büro und nahm sofort Witterung nach Kaffeeduft auf.
„Mahlzeit“ rief er fröhlich in Richtung von Frau Meier.
„Mahlzeit“, kam es mit gebrochener Stimme und einem kurzen, herzerweichenden Blick zurück.
Irritiert blieb Freddie zunächst stehen und ging dann langsam auf die neue Kollegin zu.
„Frau Meier“, begann er zaghaft mit einem besorgten Unterton. „Ich hab Sie noch gar nicht gefragt, wie es Ihnen bei uns gefällt.“
„Sehr gut“, kam es wenig überzeugend aus ihrem Mund.
Aufs Schlimmste gefasst, ließ Freddie nun nicht mehr locker: „Wirklich! Oder gibt es etwas …?“
Irene Meier hob den Kopf und schaute ihn mit traurigen Augen an: „Es ist nur ... ich mache mir Sorgen, weil ich … Nun, Sie wissen ja, dass ich mich von Passau hierher versetzen ließ. Ich … ich gebe es nur ungern zu, aber ich hatte Probleme mit meinem Chef.“
„Nun, da brauchen Sie sich hier keine Sorgen machen, Martin ist ein überaus fairer Chef“, antwortete Freddie beschwichtigend.
„Nein, ich hatte andere Probleme …“, erwiderte Irene mit einer Pause, die Zeit für jegliche Spekulationen ließ.
„Auch in dieser Hinsicht brauchen Sie nichts befürchten. Martin behandelt Frauen sehr rücksichtsvoll … Oder hat er etwa …? Nein, das würde er nie tun. Das war bestimmt ein Missverständnis.“
Irene schüttelte entkräftend den Kopf: „Oh nein! In dieser Hinsicht hab ich auch keinerlei Befürchtungen! Er ist wirklich ein sehr guter Chef. Aber gerade deshalb habe ich Angst, dass es einen wunden Punkt bei ihm gibt, und es nur eine Frage der Zeit ist, bis ich ihn durch eine unbedachte Äußerung gegen mich aufbringe.“
„Das versuche ich schon seit Jahren. Martin nimmt mir einfach nichts übel! Manchmal bringe ich ihn ganz schön in Bedrängnis, aber er vergisst alles sofort wieder.“
„Hat er vielleicht Probleme mit seiner Familie?“
„Welche Familie? Martin lebt allein. Das glaubt man zwar nicht, wenn man ihn besucht. Er hat sich eingerichtet, nun ja, als wäre er ein geselliger Mensch. Aber er lebt dort wirklich allein.“
„Ist er … homosexuell? Ich meine, da sind manche ja noch empfindlich.“
„Nein. Oder vielmehr, ich denke nicht … Nein, das hätte ich bestimmt mitgekriegt.“
„Hat er sich vielleicht mal die Finger verbrannt?“ Als Freddie nun etwas unwirsch schaute, fügte Irene mit unschuldiger Miene hinzu: „Mein früherer Chef war ungerecht zu mir, weil ihn seine Frau verlassen hat. Ich hab erst zu spät erkannt, dass es daran lag.“
„Eine Enttäuschung …? Nein, er war eine Zeit lang übergewichtig, nicht ganz so wie ich, aber doch so, dass Frauen nicht gerade von ihm träumen. Und vielleicht hat er sich dadurch Chancen entgehen lassen.“
„Aber er wirkt sehr sportlich …“
„Erst in den letzten drei Jahren hat er sich am Riemen gerissen. Tja, seither ist er wieder ganz gut in Form.“
„Aber da muss doch irgendeine Schwachstelle sein!“ Sogleich ärgerte sich Irene über ihre unbeherrschte Äußerung.
Doch Freddie antwortete lediglich amüsiert: „Martin ist etwas schwach als Chef, und das nutzen hier ein Paar aus. Aber davon abgesehen, ist er einzigartig.“
„Ich … ich dachte, jeder hat einen Punkt …“

In diesem Moment wurde die Tür aufgestoßen, und Martin kam herein. Er trug eine prall gefüllte Stofftasche und hielt die Tür mit der anderen Hand auf. Schlagartig verstummte Irene.
Mit einem knappen Gruß und etwas betreten ging Martin weiter in sein Büro.
Freddie blickte ihm nach und sagte dann lachend zu Frau Meier: „Oh je! Jetzt haben wir uns verdächtig gemacht.“
„Ist er nun wütend auf uns?“
„Martin? Nein. Er ist höchstens etwas verunsichert, wenn man über ihn tuschelt. Aber ich konnte doch nicht zulassen, dass Sie sich seinetwegen unnötige Sorgen machen.“
„Vielen Dank, Herr Obermeier. Ich bin so froh, dass ich mit Ihnen so offen reden konnte.“

Währenddessen saß Martin grübelnd in seinem Bürostuhl. Wie üblich wippte er dabei mit der Rückenlehne. Warum unterbrechen die beiden ihr Gespräch? Und warum schaut mich Frau Meier so entgeistert an?
Ein Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. Aufgeregt kam Freddie in sein Büro und schloss mechanisch die Tür hinter sich: „Martin, der Butler hat soeben angerufen. Die Familie Willinger ist von ihrer Reise zurück. Möchtest du bei der Befragung dabei sein?“
„Nicht nötig. Ich glaube es ist besser, wenn du diesmal alleine hinfährst.“
Freddie schaute ihn erst verwundert an, nickte dann aber zustimmend: „Hm … Wenn wir für eine Routinebefragung zu zweit anrücken, könnten die auf den Trichter kommen, dass wir ihre gemeinsame Reise verdächtig finden?“
Martin nickte stumm.
„Ich stelle mich wohl besser erst mal ahnungslos. Vielleicht werden sie unvorsichtig und plaudern die Wahrheit aus.“
„Du glaubst also nun auch, dass sie mit dieser Reise etwas vertuschen wollen?“
„Ja, aber ich hab noch keine Ahnung, was.“
„Hör dir ruhig mal an, was sie zu erzählen haben.“
Mit einem Blick auf seine Uhr meinte Freddie: „Wenn ich kein Geständnis bekomme, fahre ich danach direkt nach Hause.“
„So einfach werden sie es dir nicht machen. Dann bis morgen!“

Kaum hatte Freddie sein Büro verlassen, wippte Martin erneut mit der Rückenlehne. Die Vertrautheit zwischen Freddie und Frau Meier ließ ihm keine Ruhe. Eigentlich wollte er mit ihr heute Nachmittag über die vorbereiteten Fragen reden. Aber war es der richtige Zeitpunkt? Ich werde vorsichtig das Terrain sondieren, entschied er und stand auf.
Als er das Büro betrat, lächelte Irene nur kurz und blickte dann zur Seite.
Martin dachte nur: Freddie! Was hat er ihr über mich erzählt? Sie wirkt auf einmal so verunsichert … Ich verschiebe das Gespräch doch lieber auf einen günstigeren Zeitpunkt. Als hätte er genau dies vorgehabt, ging er geradewegs in die Küche und nahm sich noch eine Tasse Kaffee mit.

***

Am Abend saß Gerhard Berger voller Vorfreude an seinem Computer, um die Fotos vom Urlaub in Südtirol zu sortieren.
„Das war ja ein sonderbares Verhör!“, hörte er seine Frau sagen, die sich hinter ihn gestellt hatte.
„Meinst du, wir bekommen Ärger, wenn die beiden herausfinden, dass du doch nicht so naiv bist?“
„Nein, diesmal nicht! Ganz bestimmt nicht!“
„Warum bist du dir da so sicher? Dieser Rechtsmediziner hat deine Tour sofort durchschaut.“ Gerhard stockte und fügte etwas enttäuscht hinzu: „Ich hatte eigentlich gehofft, dass du diese Masche jetzt aufgegeben hast. Du hattest doch in den letzten Tagen schon so viel Erfolg mit deinem bestimmten Auftreten als kluge Physikerin.“
„Heute war es noch mal nötig, das Dummerchen zu spielen!“
„Bedeutet das, dass all diese nutzlosen Fragen ernst gemeint waren? Das kann doch nicht sein, oder?“
„Ich hab das ja erst auch für einen Witz gehalten.“ Marianne ahmte die Stimme von Hans nach: „Haben Sie Max Willinger vorher schon mal im Perlacher Forst getroffen? Wo waren Sie beispielsweise um neun Uhr am letzten Sonntag?“
„Deine Antwort fand ich super: ‚Ich nehme an, zu Hause im Bett. Da war ich zumindest um halb elf, als ich aufgewacht bin. Wenn ich geahnt hätte, dass Sie mich das fragen, hätte ich mich um neun Uhr aufwecken lassen und das überprüft.‘“
Dann wurde Gerhard nachdenklich: „Die Antworten, bei denen du dich ganz besonders dumm gestellt hast, haben sie dir sofort geglaubt. Ich hätte dich sofort wegen Polizistenverarsche eingelocht.“
Marianne lächelte zunächst, antwortete dann allerdings ebenso nachdenklich: „Ich war nur etwas unsicher, weil der zweite Polizist, dieser Burghoff, nichts gesagt hat. Aber er hat diesem Baumann immer zugestimmt.“
„Wie kommst du darauf?“
„Ich weiß es eben …“, sagte Marianne und deutete auf seinen Computer: „Deine Fotos kannst du irgendwann anders sortieren. Ich würde vorschlagen, wir feiern meine Beförderung.“
„Du hast es endlich geschafft?“
„Ja, ich bin doch die Beste. Und ab Januar leitete ich das Labor!“

Donnerstag, 08.11.

Gegen zehn Uhr klopfte es an Behringers Bürotür, obwohl sie einen Spaltbreit geöffnet war. Martin wusste natürlich, wer da vor der Tür stand. Warum benimmt sich Freddie nach all den Jahren immer noch so förmlich? Meint er etwa, dass ich in meinem Büro halb nackt herumlaufe? Soll ich mal ausnahmsweise ‚Moment, ich muss mich erst noch anziehen!‘ rufen …? Lieber nicht, was würde Frau Meier von mir halten.
„Komm nur herein!“, tönte er eine Spur lauter als sonst.
Freddie schloss die Tür hinter sich, zog sich einen Stuhl vom Besprechungstisch heran und setzte sich Martin gegenüber.
„Du wirst es nicht für möglich halten, aber ich durfte mir viermal anhören, dass der Ermordete privat nach Zürich verreisen wollte und keiner eine Nachricht von ihm erwartete. Sie selbst haben keine Telefonnummer hinterlassen, weil sie mal gemeinsam ausspannen wollten. Und außerdem managt der Butler den Haushalt ja schon seit mehr als 20 Jahren selbstständig. Sie haben da volles Vertrauen zu ihm. Fast wortgleich haben mir dann alle ihren Familienausflug nach Wien vom letzten Freitag bis gestern geschildert. Und hilfsbereit, wie sie nun mal sind, nannten sie mir auch gleich noch Zeugen, die dies bestätigen können.“
Freddie rieb sich die Hände und schmunzelte. „Im Hinausgehen hab ich den Butler auf die Reise nach Zürich angesprochen. Das hat den Pinguin ein klein wenig aus der Fassung gebracht. Er wusste ganz offensichtlich nichts davon!“ Freddie musste lachen. „Ich konnte nicht anders: Ich hab ihm großzügig zugebilligt, dass ja jeder mal einen Fehler machen kann. Der Butler hat zwar die Fassung schnell wiedererlangt, aber dennoch vehement darauf bestanden, dass er in seiner zwanzigjährigen Dienstzeit niemals irgendeine angekündigte Reise vergessen habe. Und über diese angebliche Reise nach Zürich habe Herr Willinger nicht ein einziges Mal mit ihm gesprochen. Und das, obwohl er ihm üblicherweise mehrmals vorab mitteilte, was er mitzunehmen gedenke.“
„Und warum haben die eine völlig unglaubwürdige Reise nach Zürich erfunden?“
„Herr Willinger war tatsächlich häufig in Zürich. Er wollte seinen Wohnsitz aus steuerlichen Gründen dorthin verlegen und hat sich jede infrage kommende Immobilie angeschaut.“
„Kann er spontan einen Besichtigungstermin wahrgenommen haben, ohne dass er dem Butler Bescheid gesagt hat?“
„Nein, der Butler wollte ja ebenfalls liebend gerne in der Schweiz dienen. Es hat ja jeder so seine Träume.“
„Aber wenn Willinger bislang nie was Geeignetes gefunden hat, dann ist es doch eher demotivierend über jeden Besichtigungstermin zu reden.“
„Der Butler kennt die Nobelviertel von Zürich in und auswendig. Willinger hätte ihn vor einer Besichtigung befragt.“
„Und wenn er sich einfach so in Zürich umsehen wollte?“
„Hab ich ihn auch gefragt. Fehlanzeige. Willinger war nicht gerade ein lässiger Globetrotter. Alles musste für ihn vorbereitet werden. Der Butler hätte ihn zumindest pünktlich mit einer gepackten Reisetasche zum Bahnhof bringen müssen und ihm das Ticket besorgen. Ich bin also nochmal zurück und fragte naiv, wann und wie Willinger abgereist ist.“
„Und?“, fragte Martin gespannt.
„Ohne mit der Wimper zu zucken, hat die Tochter behauptet, sie hätte ihren Vater zum Bahnhof gefahren und die Fahrkarte für den Nachtzug besorgt. Ich könnte mich ohrfeigen, dass ich nicht gleich nach Details gefragt habe. Vielleicht hätte mir einer von denen zuvor eine etwas andere Geschichte aufgetischt.“
„Glaub ich nicht.“
„Wenn ich ehrlich bin, ich auch nicht. Die ganze Geschichte war durch und durch plausibel. Und alle vier Erzähler haben sie genauestens einstudiert.“
„Aber was zum Teufel hat die Familie davon, dass sie diese Reise nach Zürich erfindet? Willinger wurde hier in München ermordet.“

Das Klingeln des Telefons unterbrach das Gespräch.
„Behringer hier.“
„Achim Wagner, Mordkommission Frankfurt.“
Martin zuckte mit den Schultern.
Freddie verließ sofort diskret den Raum und schloss die Tür hinter sich.
Etwas verärgert blickte Martin ihm nach: Frankfurt? Bestimmt nur falsch verbunden! Freddie immer mit seiner übertriebenen Rücksichtnahme. Und hinterrücks erzählt er Schauergeschichten über mich.
In seine Gedanken hinein hörte er den Anrufer sagen: „Wir untersuchen den Mord an Frank-Werner Saalweg.“
Behringer fühlte sich noch immer nicht angesprochen.
„Sein Kopf wurde bei Brixen gefunden.“
„Ach so!“
„Ich möchte Ihnen den Stand unserer Ermittlungen mitteilen.“
Behringer wollte gerade erwidern, dass dafür keine Veranlassung bestehe, als Wagner auch schon mit seinem Bericht anfing: „Frank-Werner Saalweg war zunächst Kundenbetreuer in einer Filiale der Commerzbank und wurde dann ein recht erfolgreicher Vermögensberater. Er war ledig. Sein Vater ist vor zwölf Jahren an einem Herzinfarkt gestorben. Seine Mutter lebt in der Nähe von Frankfurt, seine Schwester in Hamburg.“
Verwundert verzog Behringer das Gesicht. Weshalb quasselt er pausenlos über solche Belanglosigkeiten wie Lebensläufe und Familiengeschichten?
„Seine Mutter wollte nicht mit mir sprechen“, fuhr Wagner in rasantem Tempo fort. „Sie hielt mich für einen Trickbetrüger. Aber ich habe gestern Abend Saalwegs Schwester in Hamburg erreicht. Ihr Name ist Christina Hinterhuber. Ich werde Ihnen einfach das Telefonat, das ich mit ihr geführt habe, vorspielen. Sie hat zugestimmt, dass ich ihre Aussage aufzeichne.“
Na gut, dachte Behringer. Ob er weiter wie ein Wasserfall redet oder mir ein Telefongespräch vorspielt, macht keinen Unterschied.
„Frau Hinterhuber, könnte ich nun bitte mit der Befragung beginnen?“
„Gerne.“
„Es geht wie gesagt um Ihren Bruder.“
„Haben Sie ihn endlich eingesperrt?“
„Nein, er ist ermordet worden.“
„Ermordet? … Wer war es denn? Ein Kunde, der durch ihn all sein Geld verloren hat?“
„Nun, das wissen wir noch nicht. Vielleicht können Sie uns da weiterhelfen.“
„Wenn es nach mir geht, brauchen Sie den Täter überhaupt nicht zu suchen. Und wenn, dann nur, um ihn öffentlich zu ehren.“
„Sie hatten kein gutes Verhältnis zu ihrem Bruder?“
„Er hat unsere Mutter mit seinen Anlagepapieren um sehr viel Geld gebracht. Und das nur, damit er am Jahresende seine Prämien erhält.“
„Verstehe! … Ihr Bruder wurde in der Nähe von Brixen aufgefunden.“
„Fährt er also doch wieder nach Südtirol? Das ist ja interessant.“
„Wieso?“
„Ach, es ist nur ... Ich hab ihn auf Südtirol gebracht. Das war natürlich, bevor er unsere Mutter betrogen hat. Wir wollten die zwei Urlaubswochen ursprünglich in der Nähe von Innsbruck verbringen. Aber da hat es den ganzen Tag in Strömen geregnet, und die Wetterprognose für die nächsten Tage war genauso schlecht. Also hat mein damaliger Freund vorgeschlagen, dass wir nach Italien weiterfahren. Sie hätten meinen Bruder mal sehen sollen! Er bekam panische Angst. Wir fanden sein Verhalten ziemlich übertrieben, so dass wir beschlossen haben, ihn zu überlisten. Ich kannte ein entlegenes Dorf in der Nähe von Brixen. Kurz und gut, ich hab dort heimlich Zimmer gebucht. Während der Fahrt dorthin startete ich eine Diskussion über das ungerechte neoliberale Wirtschaftssystem. Ich wusste ja, womit ich ihn reizen und somit ablenken kann. Wir waren schon drei Tage in diesem idyllischen Bergdorf, bis Frankie Boy gemerkt hat, dass er in Italien gelandet war. Er wollte sofort zurückfahren. Aber dann hat er mit dem Vermieter geredet und festgestellt, dass sich die Südtiroler gar nicht als Italiener fühlen. Das hat ihm gefallen. So sind wir bis zum Ende des Urlaubs dort geblieben und hatten die ganze Zeit schönes Wetter.“
„Können Sie sich seine Panik erklären?“
„Wahrscheinlich hatte er Angst, dass der nette ältere Herr, den er in Frankfurt mit seinen Geschäften übers Ohr gehauen hat, in Italien ein Mafiaboss ist und ihm dann ein Ohr abschneiden lässt.“
„Wann war das?“
„Im September vor fünf Jahren.“
„Die Antwort kam aber schnell.“
„Im folgenden Jahr hätte ich ihm am liebsten beide Ohren abgeschnitten. Meine Mutter traut seither niemanden mehr.“
„Das erklärt einiges. Ihre Mutter wollte nicht mit mir sprechen. Ich dachte erst, meine Mitarbeiter haben die falschen Angehörigen ermittelt. Sie und Ihre Mutter heißen mit Nachnamen Hinterhuber.“
„Ja, und mein Bruder heißt eigentlich Franz-Josef Hinterhuber. Unser Vater wurde von Passau nach Frankfurt versetzt, als wir noch die Grundschule besuchten. Wenn man mit diesem Namen auch noch niederbayrischen Dialekt spricht, ist man in Frankfurt schnell ein Außenseiter. Als mein Bruder volljährig war, hat er seinen Namen geändert.“
Als Behringer die Worte „von Passau versetzt“ hörte, hatte er plötzlich Frau Meier vor Augen, wie sie ihn anlächelt. Wie von Ferne nahm er weiter die Stimmen im Hörer wahr: „Wie kam Ihr Bruder auf Saalweg?“
„Ein Tante aus Norddeutschland heißt so. Und Frank-Werner war der Vorname eines ehemaligen Schulfreundes. Er hat wohl solange auf dem Amt herum geflennt, bis sie ihn auch seinen Vornamen ändern ließen. Mein Bruder war schon immer eine penetrante Nervensäge.“
„Würden Sie Ihren Bruder identifizieren?“, fragte Wagner routiniert, bevor er sich räusperte. Behringer nickte wissend: Jetzt ist ihm bewusst geworden, dass er ja nur einen Kopf vorzuzeigen hat.
„Nein, ich möchte ihn nie wiedersehen, weder tot noch lebendig. Außerdem kann ich seinetwegen nicht die Praxis schließen.“
„Was sind Sie denn von Beruf?“
„Ich bin Diplom-Psychologin.“
Behringer zog die Augenbrauen zusammen. Eigentlich müsste sie sich doch mit Konfliktbewältigung auskennen, wunderte er sich.
Er erschrak, als Wagner ihn nun wieder direkt ansprach: „Heute haben wir noch mal in Brixen angerufen. Leider war diesmal kein Italiener am Telefon. Eine Kollegin hätte uns sonst das Gespräch mühelos übersetzt. Aber so haben wir kein Wort verstanden.“
Schlagartig war Behringer klar: Dieser Wagner möchte, dass wir den Fall übernehmen.
„Wir haben selbst einen Mordfall zu lösen“, erwiderte er abwehrend.
„Ich weiß. Und diese Leiche wurde ebenfalls vom Ehepaar Berger gefunden. Wir werden hier in Frankfurt weiter ermitteln, aber wir halten die Bergers für dringend tatverdächtig.“
„Ich nicht!“, wollte Behringer gerade protestieren, als Wagner einfach weitersprach: „Ich melde mich wieder, sobald wir Neuigkeiten haben. Sie können uns gerne mailen, was die Kollegen aus Brixen herausgefunden haben. Aber bitte spielen Sie mir keine Aufnahme von einem Telefongespräch vor.“

Wagner buchstabierte noch seine E-Mail-Adresse und sagte dabei zum At-Symbol „Kringel“. Dann beendete er das Gespräch einfach mit: „Bis demnächst!“
Behringer lauschte dem Tuten aus dem Hörer: Na so was! Lässt mich einfach nicht zu Wort kommen und will mir seinen Fall aufschwatzen ... Ein guter Trick! Genauso hat Frau Meier verhindert, dass Freddie mir wieder meine Blechschäden in der Tiefgarage vorhalten konnte ... Bei mir kommt dieser Wagner damit nicht durch. Da hat er sich getäuscht.

Um die Angelegenheit möglichst schnell vom Tisch zu bringen, rief Behringer gleich in Brixen an. Wieder wurde er zu Herrn Larcher durchgestellt.
„Das hätte der Wagner doch sagen können, dass er mich nicht versteht“, reagierte der Ispettore leicht verschnupft. „Dabei hab ich alles extra dreimal wiederholt. Das Institut in Bozen konnte immer noch nicht herausfinden, womit der Mörder den Kopf abgetrennt hat. Am Bachrand haben wir keine Spuren gefunden. Also ist der Fundort nicht der Tatort. Das war's dann schon.“
„Ich werde Herrn Wagner sicherheitshalber per Mail informieren. Am Ende versteht er mich auch nicht.“
„Das kann gut sein, Bayern und unser Südtirol haben ja viel gemeinsam“, sagte Larcher lachend. „Und haben Sie Frau Berger verhaftet?“
„Nein, warum? Ich halte sie für unschuldig.“
„Das sieht Herr Wagner anders. Hat sie bei Ihnen auch so getan, als wäre sie nur eine harmlose Touristin?“
„Gut möglich!“ Sein bohrender Blick, der eigentlich Hans und Stefan galt, traf die Verbindungstür.
„Werden Sie Frau Berger noch mal vorladen?“ Larchers Stimme vibrierte leicht.
Behringer stutzte. Das klingt ja so, als ob es ein Vergnügen wäre, sie zu verhören. Ah ja, die langen blonden Haare!
„Wenn es noch mal nötig sein sollte, werde ich meine Mitarbeiterin damit beauftragen.“
„Eine Frau? Aber das ist doch …“
In die plötzliche Stille hinein sagte Behringer: „Frau Berger ist wahrscheinlich wirklich unschuldig. Eine solche Frau kann doch niemals eine Mörderin sein.“
„Madonna mia! … Ehrlich gesagt: Ich kann mir das ja auch nicht recht vorstellen.“
Behringer beendete schmunzelnd das Gespräch.
Anschließend schrieb er eine kurze E-Mail an Wagner und nahm sich vor, persönlich mit den Bergers zu sprechen, um sich endlich Klarheit zu verschaffen.

Noch immer amüsiert über das Verhalten von Larcher nahm er seine Jacke und öffnete die Tür.
Freddie telefonierte gerade und Martin hörte eine Weile mit, ohne von ihm bemerkt zu werden.
„Und wen haben Sie am Samstag, den 3., gesehen? … Die ganze Familie. Hm. Und wie lange dauerte der Besuch in Ihrem Café? … Mehr als drei Stunden? … So, so, die haben Zeitung gelesen. Sie haben doch sicher mehr Gäste. Wieso können Sie sich so genau daran erinnern? … 20 Euro Trinkgeld! Danke, das reicht mir.“
Freddie verdrehte die Augen und sagte zu Frau Meier: „Dann haben wir jetzt auch ein Alibi für den Samstagnachmittag. Der Samstag ist damit auch schon fast komplett. Ich rufe in jedem Fall auch noch die restlichen fünf Zeugen an. Wenn sich die Willingers schon so viel Mühe gegeben haben, uns ein lückenloses Alibi zu liefern, sollte ich ihnen doch den Gefallen tun und wenigstens mal kurz nachfragen.“
Weil Irene Meier nun zu Behringer schaute, wurde auch Freddie auf ihn aufmerksam.
„Ah Martin! Ich überprüfe gerade die Zeugen in Wien, die mir die Willingers genannt haben. Bisher passt alles: Am Sonntag wurden alle von neun bis 22 Uhr gemeinsam gesehen. Und für die Nachtzeit haben sie ebenfalls vorgesorgt. Selbstverständlich würde uns das Hotel die Aufzeichnungen des Zugangsbereichs zur Suite der Familie kopieren, falls dies nötig sein sollte.“
„Was soll das Ganze?“, warf Martin mit gerunzelter Stirn ein und fuhr dann fort: „Also, was haben wir bis jetzt? Max Willinger wurde am 4. November ermordet. Die Familie war zur Tatzeit nachweislich in Wien. Der Butler hat Max Willinger am 27. Oktober zuletzt gesehen. Laut seiner glaubhaften Aussage ist sein Chef nicht verreist, was aber die Angehörigen behaupten. Wo war Max Willinger in der Zeit vom 27. Oktober bis zur Abreise der Familie am 2. November? Was geschah in dieser Zeit?“ Er überlegte kurz und warf dann einen forschenden Blick zu Frau Meier. Doch diese drehte den Kopf weg.
„Ich hab keine Ahnung“, beantwortete er seine Frage selbst und wandte sich wieder Freddie zu.
Der zuckte mit den Schultern. „Ganz offensichtlich war es dieser ehrenwerten Familie sehr wichtig aufzufallen, um gemeinsam gesehen zu werden.“
„Was hältst du davon, wenn wir uns die Aufzeichnungen aus dem Hotel trotzdem zuschicken lassen? Ich bin mir aber absolut sicher, dass wir es uns sparen können, sie auch anzuschauen.“
„Ja, das hört sich gut an. Falls das Hotel die Familie benachrichtigt, dass wir uns tatsächlich für die Kopien interessieren, haben wir etwas Druck aufgebaut. Vielleicht zeigen sie Nerven und verraten uns, was das Schmierentheater soll.“
Martin zog seine Jacke an. „Ich muss heute Nachmittag zu einem Meeting ins Präsidium und fahre danach direkt nach Hause.“
Irene blickte ihm verwundert nach. Wollte er etwa meine Meinung hören? Dann habe ich das vermasselt … Hoffentlich hat er mich noch nicht abgeschrieben.

Freitag, 09.11.

Schwungvoll stieß Martin die Tür auf. Sein Blick fiel sofort auf Irene Meier und blieb wie gebannt an ihr hängen: Sie sieht aus wie eine Skulptur. Wie anmutig sie mir ihr Gesicht zuwendet. Er lächelte sie an und sagte wie benommen: „Guten Morgen, Frau Meier!“
Sie erwiderte seinen Gruß mit einem entrückten Lächeln und senkte dann schnell den Blick. Wie peinlich ist das denn! Gut, dass ich sitze. Meine Knie sind weich wie Butter. Ich … bin am Wegschmelzen. Fehlt nur noch, dass ich mir eine Blumenwiese und eine Alpenlandschaft als Kulisse vorstelle ... Martin hat sich ja richtig gefreut, mich zu sehen ... Und ich schaue auf den abgenutzten Bodenbelag. Der ist ja wirklich schon seit Jahren nicht mehr erneuert worden. Das hab ich ja echt super hin bekommen: Nach dem 7. Himmel eine glatte Bruchlandung!
Martin ging indessen in sein Büro, setzte sich irritiert an seinen Schreibtisch und wippte mit dem Stuhl. Frau Meier hat wieder weggeschaut. Mit einem seltsamen Lächeln. Was hat Freddie ihr nur für einen Blödsinn über mich erzählt?
Das Telefon klingelte. Er erkannte die Nummer sofort und dachte nur: Der kommt mir gerade recht!
„Hier Freddie. Ich habe vergessen, dir zu sagen, dass ich heute und am Montag bei Bertholds Leuten aushelfe. Wir sehen uns dann nächste Woche wieder.“
Und schon hatte Freddie aufgelegt.
„Na warte!“, murmelte Martin grimmig.
Weil der Vormittag keine neuen Erkenntnisse brachte, packte er mittags zusammen, verabschiedete sich ins Wochenende und verließ frustriert das Büro.

Samstag, 10.11.

Die Leselampe warf einen hellen Lichtkegel auf Martins Gesicht und seinen bequemen, ausgeleierten Trainingsanzug. Ein Arm hing von der Couch wie leblos nach unten. Das Buch, das Martin eben noch gelesen hatte, war lautlos auf dem Teppich gelandet.
Das Telefon klingelte. Martin schreckte hoch. Er eilte in den Flur und schaute auf das Display des Telefons: 21:52 Uhr. Er nahm den Hörer, der ihm fast aus der noch gefühllosen Hand rutschte.
Es war Elke. Sie erinnerte ihn auf ihre Weise noch mal an das bevorstehende Tanzturnier, obwohl sie es mit keinem Wort erwähnte. Doch bei jedem Satz spürte er ihren Appell, sie ja nicht im Stich zu lassen.
„Ich komme morgen spätestens um halb zwei“, sagte er schließlich.
Abrupt beendete sie danach mit einem erleichterten Bis morgen! das Gespräch.
Martin legte den Hörer verwundert auf: Elke ist diesmal ganz schön aufgeregt. Ihr scheint ja viel an einem Sieg zu liegen. Bin ich froh, wenn der Zirkus morgen vorbei ist.
Er hob sein Buch auf, stellte es in den Bücherschrank zurück und suchte nach einer spannenderen Lektüre.

Sonntag, 11.11.

Mit einem Blick auf die Uhr vergewisserte sich Martin, dass genug Zeit blieb, die schwierigsten Passagen der drei Tänze noch mal zu üben. Er nahm die Tanzhaltung ein und rief sich die Schrittkombinationen in Erinnerung.
Es geht ja um nichts, beruhigte er sich, als er mitten im Wohnzimmer stand und nicht weiter wusste. Schließlich verstaute er seine Tanzschuhe in die Sporttasche und machte sich auf den Weg zur U-Bahn. Während der Fahrt achtete er darauf, dass sein Wollschal die rote Fliege überdeckte. Die letzten 200 Meter legte er zu Fuß zurück.

Als er die schwere Stahltür aufzog und die Veranstaltungshalle durch den Nebeneingang betrat, drang ihm aufgeregtes Stimmengewirr entgegen. Das grelle Licht blendete ihn so sehr, dass er meinte, Frauen in Abendkleidern schwebten ihm entgegen. Erst nach und nach gewöhnten sich seine Augen an die Helligkeit und so sah er Tanzpaare, die hier im Nebenraum die letzte Gelegenheit zum Proben nutzten. Martin musste lachen: Ja, so ging es mir vorhin auch! Zum Glück hat Elke davon keine Ahnung. Sie würde mich auf der Stelle umbringen. Ein typisches Verbrechen aus Leidenschaft, das sogar Hans und Stefan aufklären könnten.

Durch den schweren Bühnenvorhang gelangte Martin in den Tanzsaal. Dort hielt er Ausschau nach seiner Partnerin. Schließlich entdeckte er sie und musste schmunzeln. Elke stand am Rand des auf Hochglanz polierten Parketts, als wäre es eine Eisfläche und sie ein kleines Mädchen, das fürchtet, auszurutschen und hinzufallen.
In diesem Moment bemerkte auch Elke Martin. Sie winkte ihn herbei, überlegte es sich dann aber anders und bewegte sich anmutig auf ihn zu. Fasziniert starrte er auf ihr nagelneues langes, glitzerndes Kleid. Bei jedem Schritt entblößte der hohe seitliche Schlitz eines ihrer makellos schlanken Beine.
Weil ihm plötzlich heiß wurde, nahm Martin den Schal ab und öffnete den Mantel.
Als Elke nun vor ihm stand, schaute sie ihn mit großen Rehaugen hilfesuchend an. Dabei wirkte ihr Gang eben noch so aufreizend und selbstsicher. Martin lächelte zuversichtlich und schon entspannten sich ihre Züge. Behutsam strich sie sich eine Locke aus der Stirn. Ihre oftmals nur mit einem Gummi zum Pferdeschwanz zusammengebundenen kastanienbraunen Haare waren kunstvoll hochgesteckt, und auch sie glitzerten im Licht.
„Dann kann es ja losgehen“, sagte sie und begrüßte ihn mit einer angedeuteten Umarmung. Norbert, ihr Ehemann, filmte bereits geschäftig auch diese Szene. Mit der freien Hand gab er ihnen stumm Regieanweisungen.
Martin zog die Augenbrauen zusammen: Wenn er uns anweist, die Begrüßung noch mal zu wiederholen, fahre ich sofort nach Hause!

Um 14 Uhr begann endlich das Turnier. Nach drei fehlerfreien Tänzen stand fest: Elke und Martin hatten den 1. Preis gewonnen. Feierlich und mit viel Applaus wurden ihnen die Goldmedaillen umgehängt. Martin wunderte sich, dass sogar ihre Namen in das nicht ganz so edle Metall eingeprägt waren.
Mit einem Winken forderte Norbert ihn auf, seine Medaille in Richtung der Kamera zu halten und dabei ein breites Lächeln zu zeigen. Als Elke ihn dann mit Freudentränen in den Augen leidenschaftlich umarmte, drängte ihr Mann die beiden, sich vor laufender Kamera zu küssen. Martin tat so, als würde er die eindeutigen Gesten nicht verstehen. Er dachte nur: Ehemänner gibt es …

Zum Abschluss des Turniers durfte das Siegerpaar nochmals aufs Parkett. Elke drückte sich dabei besonders eng an ihn. Verdutzt stellte er fest: Zwei Jahre lang war alles okay. Kaum schaffen wir bei einem bedeutungslosen Turnier den 1. Platz und schon verhalten sich alle sonderbar. Wie um seinen Eindruck zu bestätigen, drängte nun auch Señor Montez mit schier grenzenloser Begeisterung heran und übergab beiden die Liste der nächsten Turniere.
Martin begriff sofort, dass diese zwei Ebenen über seinem jetzigen Niveau angesetzt waren. Seine Partnerin zwinkerte ihm aufmunternd zu.
„Ich kann nicht mehr als bisher trainieren. Elke, du musst dir leider einen neuen Partner suchen.“
„Soll ich die Scheidung einreichen?“, antwortete sie zweideutig mit einem eindeutigen Augenaufschlag.
„Nein. So war das nicht gemeint. Du hast mich schon verstanden.“
„Ja, leider. Aber wir haben doch so viel gemeinsam. Mich wundert schon, dass du nie versucht hast, bei mir zu landen.“
Martin zuckte lächelnd mit den Schultern.
Elke ging frustriert zu ihrem Mann. „Ich muss mir einen neuen suchen. Martin macht schlapp. Er will nicht mit mir zur Olympiade.“
Sie hat gerade noch die Kurve gekriegt, dachte Martin.

Señor Montez, der eben noch voller Stolz in Norberts Kamera gestrahlt hatte, lief nun quirlig auf das Siegerpaar zu.
Aufgeregt begann der Tanzlehrer in akzentfreiem Deutsch auf Martin einzureden: „Du musst unbedingt weitermachen! Dein Talent ist einzigartig.“ Dabei tänzelte der Trainer um ihn herum, als wäre er das Symbol der aufgehenden Sonne.
Martins Gesicht hingegen verdüsterte sich, als wären dunkle Gewitterwolken aufgezogen.
Doch Señor Montez ließ nicht locker: „Wie viel verdienst du in deinem Beruf? Vielleicht würde es dir sogar mehr einbringen, wenn du auf die richtigen Turniere trainierst und nebenbei Tanzunterricht gibst.“
„Ich werde darüber nachdenken, aber rechne nicht mit mir.“
„Ich bin diesen Weg gegangen und habe es nicht bereut.“
„Damals warst du 22. Ich bin jetzt 41.“
Einundvierzig, son cuarenta y uno“, wiederholte Señor Montez ungläubig. Er legte kumpelhaft eine Hand auf Martins Schulter und raunte mit verheißungsvoller Stimme: „Du kannst auf Kreuzfahrten mitfahren und die ganze Welt kennenlernen. Es gibt so viele Möglichkeiten.“
Martin schaute auf die Uhr, verabschiedete sich daraufhin etwas überstürzt und eilte zur U-Bahn.

Montag, 12.11.

An diesem Morgen ließ sich Martin Zeit. Er war heute ohnehin den ganzen Tag allein und so traf er erst um halb neun in der Dienststelle ein. Ohne die Deckenbeleuchtung einzuschalten, schlängelte er sich an den Schreibtischen vorbei, die sich nur schemenhaft abzeichneten. In seinem Büro knipste er lediglich die Schreibtischlampe an. Sein Blick fiel sofort auf den Stapel Videobänder, die das Hotel in Wien geschickt hatte. Soll ich die wirklich durchschauen?, überlegte Martin, während er seine Jacke aufhing. Es ist eh klar, dass die Willingers darauf zu finden sind, wenn sie uns das Beweismaterial schon andienen. Die Frage ist doch: Wieso sorgt die Familie für ein Alibi an dem Wochenende an dem Max Willinger ermordet wurde? Ganz so, als hätten sie im Voraus gewusst, was passieren wird. Aber auch wieder nicht ganz genau, wann es passiert, weil sie sich ja auch am kompletten Samstag in der Öffentlichkeit aufgehalten haben. Und nach dem Mord kommen sie mit einer einstudierten Geschichte zurück … Wann wird ein Mord angekündigt oder ist absehbar? … Keine Ahnung! Vielleicht eine Drohung und Max Willinger ist daraufhin untergetaucht … Aber er ist jetzt tot und seine Familie in keiner Weise beunruhigt, sonst würden sie sich von der Polizei schützen lassen, statt uns auf eine falsche Fährte zu führen. So einen Fall hatte ich noch nie!

Martins Hand berührte die Yucca-Palme und fühlte eine feine Staubschicht, die er mit den Fingern wegwischte. Er nahm die kleine Gießkanne vom Fensterbrett und füllte sie in der Küche.
Vor der Yucca stehend beobachtete er, wie der bogenförmige, klare Wasserstrahl langsam die Pflanzenerde befeuchtete und sie sich mehr und mehr dunkel färbte. Ganz in Gedanken hob er den Kopf. Ein leichtes Plätschern schreckte Martin auf: Dicht neben dem Blumentopf hatte sich auf dem Boden eine kleine Lache gebildet.
Nachdem er das Malheur beseitigt hatte, ging er aufgewühlt im Büro auf und ab. Dabei streifte sein Blick immer wieder den verwaisten Schreibtisch von Irene Meier. Wie kann ich sie stärker einbinden? Mit unserem aktuellen Fall kommen wir einfach nicht weiter.
Schnell entschlossen nahm Martin den Telefonhörer.
Herbert Reiser meldete sich: „Habt ihr den Fall schon gelöst?“
„Nein, noch nicht. Kannst du uns einen weiteren Fall zuteilen, dann schauen wir mal so richtig wie Loser aus.“
„Da muss ich dich enttäuschen, ihr seid auch in diesem Jahr die Besten. So viele Geständnisse wie ihr bekommen höchstens katholische Priester im Beichtstuhl zu hören. Und die haben uns im Gegensatz zu euch noch nie ein gerichtlich verwertbares Protokoll zugeschickt.“
„Und hast du nun eine Leiche im Keller?“
„Nein, leider nicht. Im Herbst bringen sich die Leute eher selber um und hinterlassen ganz vorbildlich einen handgeschriebenen Abschiedsbrief.“
„Ist mir noch gar nicht aufgefallen, dass Morde aufklären, Saisonarbeit ist. Wer hat jetzt gerade Hochkonjunktur?“
„Steuerbetrug ist ein endloses Thema. Aber ich fürchte, da bekommt nicht einmal ihr ein Geständnis. Die sind alle überzeugt, dass der Staat sie viel zu viel schröpft und sie das Recht haben, sich von der Steuerlast zu befreien.“
„Dann warten wir eben auf den nächsten Mord“, sagte Martin frustriert.
„In der Adventszeit habt ihr bessere Chancen. Wenn Friede auf Erden herrschen soll, liegen die Nerven blank, und da kann es leicht zu Mord und Totschlag kommen.“
„Dann bleibt mir nur noch autogenes Training übrig.“
„Freddie hat mal erzählt, dass zwei von deinem Team da schon ziemlich weit sind. Kann ich mir nicht recht vorstellen bei eurer Aufklärungsquote.“
„Du kennst ja Freddie, er übertreibt gern.“
„Ja, das hatte ich schon vermutet … Also dann: Entspann dich einfach ... Lass los …“
Herbert Reiser hatte ganz sanft aufgelegt.
Martin stützte die Ellbogen auf, legte die Handflächen auf die Augen und atmete ruhig ein und aus.
Aber schon nach wenigen Atemzügen sprang er auf. Mit weit ausgreifenden Schritten lief er nun durch beide Büros. Verträumt wanderten seine Augen zum Schreibtisch von Irene Meier. Martin hielt inne: Was ist nur los mit mir? Er seufzte und kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Dort notierte er die wenigen Fakten zum Fall Willinger in chronologischer Abfolge.

***

Die Einführungsveranstaltung im Präsidium für neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zog sich scheinbar endlos hin. Zumindest Hans und Stefan empfanden es so.
Ein schadenfrohes Lächeln huschte über Irenes Gesicht, als sie ihre Kollegen musterte: Die beiden sind ja ganz schön auf Entzug. Besonders dieser Hans. Dabei bemüht er sich doch immer, möglichst lässig zu wirken. Und jetzt rutscht er so uncool auf dem Stuhl herum. Auch Stefan kommt ganz schön ins Schwitzen. Er versucht wenigstens noch, sich auf den Vortrag zu konzentrieren. Das sollte ich jetzt auch wieder tun!

Als die Veranstaltung zehn nach eins endete, sprangen Hans und Stefan auf. Sie stürzten förmlich nach vorne, um sich als Erste beim Dozenten die Teilnahmebestätigung abzuholen.
„Diesmal ist es Ihnen ja wenigstens gelungen, bis zum Ende körperlich anwesend zu sein“, murmelte der.
Eilig verschwanden die beiden nach draußen.

Irene betrat die Kantine, die um diese Zeit nur noch spärlich besucht war. Trotzdem war das übliche Geklapper von Geschirr dominant. Nachdem sie an der Theke ihre Wahl getroffen hatte, trug sie ihr Tablett zu einem möglichst weit entfernten Tisch am Fenster. Während sie die Kartoffelsuppe löffelte, beobachtete sie die Amseln im Innenhof, die sich gegenseitig das Futter streitig machten.
Irene schreckte auf, als Hans und Stefan plötzlich vor ihr standen. Beide kauten noch an Kaugummis herum und setzten sich ungefragt und wie selbstverständlich zu ihr an den Tisch. Kaum hatten sie Platz genommen, überboten sich beide darin, Irene ziemlich plump über ihr Privatleben auszufragen.
Nach zwanzig Minuten Verhör brachte sie ihr Tablett zurück und machte noch einen kurzen Abstecher zur Toilette. Dort betrachtete sie sich aufmerksam im Spiegel. Diesen Gesichtsausdruck muss ich unbedingt mal bei Martin anwenden, nahm sie sich vor. Fast hätten die beiden mir gestanden, dass sie nur schmierige Aufreißer sind, die keinerlei Interesse an den Gefühlen der Frauen haben. Und Martin? Was würde er über sich erzählen?
Sie nahm ihre Tasche und öffnete die Glastür zur Kantine, von wo aus die Führung durch die Abteilungen starten sollte. Um einen Mann von Mitte vierzig hatten sich bereits etliche Personen geschart. Was ist denn das für ein bunter Vogel?, fragte sich Irene. Sein Anzug mit weiß-anthrazitfarbenen Streifen erinnerte sie an einen Barcode. Das Jackett hing lässig über die rechte Schulter. Dazu trug er breite, gemusterte Hosenträger über einem knallroten Hemd.
Als der Mann den Kopf in ihre Richtung wendete, erkannte ihn Irene. Auch der bunte Vogel reagierte deutlich auf das unerwartete Wiedersehen. Wie ein schmollendes Kleinkind, drehte er sich rasch weg. Er trat vor die Essensausgabe und warf sein Jackett locker nach hinten auf das Metallgestänge, von wo aus es langsam zu Boden glitt.
„Meine Damen und Herren, ich darf um Ruhe bitten!“, ertönte seine Stimme mit einem Händeklatschen.
„Mein Name ist Daniel Ott. Ich bin Leiter der Organisationsabteilung. Sie werden sich nun fragen, womit wir uns beschäftigen. Eine komplexe Organisation wie unser Präsidium funktioniert nur, wenn alle Abteilungen wie ein Orchester zusammenspielen. Sie alle sind noch nicht lange bei uns. Deshalb baue ich gerade auf Sie. Sie haben noch ein gutes Gespür dafür, wenn Abläufe nicht effizient funktionieren. Wann immer Ihnen ein solcher Wildwuchs auffällt, wenden Sie sich vertrauensvoll an uns. Wir sorgen dafür, dass die Prozessabläufe beschrieben und für alle beteiligten Abteilungen verbindlich vorgegeben werden. Auf diese Weise wurde der Qualitätsstandard unserer Verwaltung bereits deutlich angehoben. Dennoch gibt es noch viel zu tun. Der Prozess geht weiter. Ich zähle auf Sie!“ Herr Ott deutete ein Lächeln an. Höflicher Applaus setzte ein.
„Und jetzt übergebe ich an Herrn Reiss. Er wird Sie durch das Präsidium führen. Von ihm erhalten Sie auch eine aktuelle, detaillierte Aufstellung über die Kompetenzen der einzelnen Abteilungen.“
Ott nickte kurz in die Runde und wollte sich einen raschen Abgang verschaffen. Ohne sich umzusehen, langte er nach hinten zu seinem Jackett. Weil er jedoch ins Leere griff, blieb er tölpelhaft stehen. Er drehte sich um und bückte sich. Beim Aufrichten knallte er mit dem Kopf deutlich hörbar gegen die Querstange. Sein Gesicht lief rot an und plötzlich hatte es Herr Ott sehr eilig, die Kantine zu verlassen. Dabei rempelte er Herrn Reiss versehentlich an. Ohne sich zu entschuldigen, setzte er seine überstürzte Flucht Richtung Ausgang fort.
Herr Reiss unterdrückte mühsam seine Schadenfreude und sagte in die Runde: „Ich bin übrigens Leiter des Einbruchsdezernats. Für Ausbruch bin ich allerdings nicht zuständig.“ Grinsend schaute er zur Tür, die sich gerade hinter Ott schloss. Lachen erfüllte die Kantine. „Ihre neuen Kolleginnen und Kollegen erwarten uns, wenn auch nicht so früh. Dort drüben auf dem Tisch liegen Unterlagen für Sie bereit. Die Organisationsabteilung hat dieses grandiose Werk für Sie erstellt. Sie merken schon am Gewicht, wie viel Bedeutung dieser Abteilung hier eingeräumt wird. Aber jetzt lernen Sie die netten Leute kennen, die sich hinter den Tätigkeitsbeschreibungen verbergen. Sie werden kaum glauben, wie unkompliziert und hilfsbereit die in natura sind.“ Erneut lachten die Anwesenden.

Herr Reiss führte sie durch alle Abteilungen und begrüßte jede und jeden erst mit Vornamen, bevor er den Nachnamen und die korrekte Amtsbezeichnung nannte.
Irene hielt sich absichtlich im Hintergrund und machte dabei ihre Beobachtungen. Immer wieder war sie kurz davor, laut loszulachen, weil Hans den Kopf hoch streckte und sorgsam über seine gegelten Haare strich, sobald eine junge Frau vom Schreibtisch aus zu ihnen herschaute. Stefan hingegen zupfte verlegen an seinem Pullover herum, sobald ein interessierter Blick ihn traf, dem er sich nicht gewachsen fühlte.

Als die Führung um 17 Uhr endete, war aus mehreren Richtungen der gleiche Grundtenor zu hören: „Wo gehen wir noch hin?“ … „Kennt jemand ein Lokal in der Nähe?“ … „Eine Kneipe wäre auch okay.“
Hastig drängelte sich Irene durch die Teilnehmerschar nach draußen: Nichts wie weg! Ich hab keine Lust mir auch noch am Abend das Geschwafel von Hans und Stefan anzuhören … Ob Martin in seinem Büro mitbekommt, dass die beiden fast pausenlos quasseln?
Im Freien atmete sie begierig die frostige Abendluft ein. Als sich hinter ihr die Tür öffnete, lief sie, ohne sich noch mal umzuschauen, zur U-Bahn-Station.

Zu Hause zog Irene ihre Schuhe im Flur aus und schlüpfte rasch aus ihrer Winterjacke, die achtlos auf der Kommode neben der Garderobe landete. Die Tasche mit den Unterlagen fand ihren Platz auf einem der Klappstühle im Wohnzimmer. Verflixt! Wo ist denn nur der zweite Hausschuh? Die Zeit, die ich brauche, um meine Sachen wiederzufinden, reicht aus, um die ganze Wohnung aufzuräumen.
Weil ihr kalt war, drehte sie die Heizung im Wohnzimmer auf die höchste Stufe und setzte Wasser für einen Ingwertee auf.

Einige Minuten später saß Irene warm eingepackt mit einem dicken Wollpullover und einer Decke in ihrem Sessel. Mit beiden Händen hielt sie die Teetasse fest umklammert und ließ den Tag Revue passieren: War schon interessant, was Herr Reiss so alles an Interna ausgeplaudert hat. Mal sehen, wie mir das bei der Arbeit nützt. Ich muss unbedingt meinen schwachen Start wieder ausbügeln. Die Befragung der Bergers hätte ich ganz anders geführt als diese zwei Volltrottel. Und wie könnte ich im Fall Willinger meinen Beitrag leisten? Der ist ja ziemlich absurd: Wien, Zürich und der Mord wird in München im Perlacher Forst verübt. Ich finde keine plausible Erklärung! … Warum ist Martin eigentlich nicht verheiratet? … Mein Gott, ist das warm hier!

Dienstag, 13.11.

Martin schlug die Augen auf und versuchte, sich in der Dunkelheit zu orientieren. Das schrille Geräusch aus seinem Traum dröhnte weiter in seinen Ohren. Instinktiv griff er nach dem Wecker. 1:37. Immer noch dieser Ton … aus dem Flur …? Das Telefon! Martin schaltete das Licht an.
Barfuß trottete er durch den halbdunklen Flur und schaute missmutig auf das Display seines Telefons: Eine Handynummer. Gibt es etwa einen neuen Mordfall?
Also meldete er sich mit Hauptkommissar Behringer.
Eine Männerstimme antwortete auf Spanisch: „Hier ist Manuel ... Du bist bei der Polizei? Warum hast du das nie erzählt?“
Welcher Manuel?, fragte sich Martin noch schlaftrunken. Und warum spricht er Spanisch mit mir? Der hört sich ja ziemlich betrunken an.
„Du möchtest also nur deine Pension nicht aufgeben.“
Endlich verstand Martin: „Señor Montez“, murmelte er und antwortete nun ebenfalls auf Spanisch: „Nein. Das ist es nicht, ich liebe meinen Beruf.“
„Mit Tanzen hättest du ein lebenslanges Abenteuer. Alle Frauen liegen dir zu Füßen. Nicht nur Elke! Sie … sie betet dich an. Du könntest alles von ihr haben.“
„Sie ist verheiratet.“
„Sie würde sich mit dir ins Abenteuer stürzen.“
„Mein Beruf ist spannend genug.“
„Wenn du nicht weitermachst, dann muss ich einen Ersatz für dich finden.“
„Du kannst ja in der Zwischenzeit mit Elke trainieren.“
„Warum sagst du so was? Warum du auch?“, fragte Manuel mit weinerlicher Stimme. „Als du nicht gekommen bist, hat Elke mit mir trainiert. Sie ist einen halben Kopf größer als ich. Neben ihr wirke ich wie ein Schuljunge! Aber sie möchte unbedingt beim nächsten Turnier mit mir antreten. In Regensburg … wie sagt man das auf Spanisch?“ Manuel machte eine Pause. Dann fragte er verdutzt: „Hab ich die ganze Zeit Spanisch mit dir geredet?“
„Ja“, antwortete Martin nun auf Deutsch.
„Aber … dann hast du ja alles verstanden. Auch wenn ich … wütend war.“
„Dazu muss man nicht Spanisch können.“
„Ach so. Stimmt … Aber warum redest du nicht ständig Spanisch? Das ist doch die Sprache des Temperaments und der Leidenschaft! Und wenn sie dann noch sehen, was du für ein talentierter Tänzer bist, wirst du alle Frauenherzen brechen.“
„Ich will keine Herzen brechen, und Tanzen war für mich nur ein Hobby.“
„War? Du willst dein Talent in den Mülleimer werfen? Und all die Jahre sollen umsonst gewesen sein?“
„Ich bin 41. In diesem Alter wird man nicht mehr Profitänzer.“
„Du lügst mich an!“
„Nein. Leider nicht.“
Endlich versteht er mich, dachte Martin erleichtert und wollte das Gespräch beenden.
Aber Manuel gab noch nicht auf. Verzweifelt fragte er: „Kannst du nicht doch mit Elke weiter trainieren, wenigstens so lange, bis ich einen neuen Tanzpartner für sie gefunden habe? Am Mittwoch ist der nächste Termin.“
„Am Mittwoch?“
„Ja. Elke will jetzt dreimal pro Woche trainieren.“
„Ich nicht.“
„Dann komm wenigstens wieder am Montag.“
„Nein. Das bringt doch nichts.“
„Ich finde eine feurige Frau für dich.“
„Nicht nötig, die habe ich schon gefunden.“ Martin war selbst erstaunt, wie locker diese Lüge über seine Lippen kam. Sehnsüchtig blickte er sich in seiner Wohnung um.
„Du bist verheiratet? Das hättest du doch sagen können!“ Manuel klang wütend und verabschiedete sich nun schnell.
Martin steuerte wieder auf sein Bett zu. Er legte sich hin, schaltete das Licht aus und zog sich die Decke über die Schultern. Und schon war er hellwach. Das Telefonat rumorte noch in seinem Kopf: Was habe ich da so leichthin gesagt? Seit langem hab ich wieder diese Sehnsucht gespürt. Ausgerechnet wegen Montez. Schon spaßig, dass er den gleichen gezwirbelten Bart wie unser Muster-Bayer trägt. Willinger und seine ominöse Reise nach Zürich. Was soll der Quatsch? Er wurde hier ermordet! Aber erst eine Woche später. Im Magen hatte er Fastfood. Spielt das eine Rolle? Wenn er sonst immer ein Gourmet war, vielleicht. Und was noch? Hab ich am Ende etwas übersehen? Irgendeinen nützlichen Hinweis? …

***

Übermüdet hielt Martin seine Chipkarte in das Lesegerät an der Eingangstür. Sogar das Summen des Öffners empfand er als störend. Er blickte zu Irene Meiers Schreibtisch, grüßte sie im Vorbeigehen und eilte in sein Büro.
Auf seinem Schreibtisch lag der Zettel mit den wenigen Fakten, die er am Vortag notiert hatte. Schließlich setzte sich er sich in seinen Bürostuhl und lehnte sich ruhig zurück. Und was mache ich jetzt? Ich weiß nicht mal, wie die Hinterbliebenen aussehen. Ich werde gleich mal im Internet nach Familienfotos suchen.

Im Büro nebenan war Irene immer noch aufgeregt: Jetzt hab ich es geschafft! So schaut er auch Hans und Stefan an, wenn er mal aus Versehen einen Blick in ihre Richtung wirft. Ich bin jetzt also in die gleiche Kategorie gerutscht wie diese Schlafmützen, die sich hier eine schöne Zeit machen.
Bekümmert widmete sie sich wieder den Papieren der Organisationsabteilung. Na so was! Martin hat die wenigsten Mitarbeiter und selbst davon kann die Hälfte den ganzen Tag Däumchen drehen. Und ich jetzt auch …

Am späten Vormittag erschien Freddie in der Dienststelle. Er trug ein weißes Hemd und strahlte übers ganze Gesicht. Nach einem knappen Gruß in die Runde klopfte er sogleich an Martins Bürotür. Diesmal blieb er jedoch in der offenen Tür stehen und fing bereits dort zu erzählen an: „Elisabeth war heute Morgen ziemlich enttäuscht. Sie dachte wohl, ich habe unseren Hochzeitstag vergessen. Frauen eben! Ich war gerade in Starnberg und hab ihr Geschenk abgeholt. Wir gehen dann auch noch gemeinsam zum Essen. Ich komme also erst später zurück!“
Martin erwiderte nur: „Mach das! Aber wenn ich dir noch einen Tipp geben darf: Dein Hemd ist falsch geknöpft.“
„Kann schon passieren, wenn man sich im Auto umzieht. Elisabeth sollte ja nicht merken, was ich vorhabe.“
Er schloss Martins Tür von außen und wandte sich von Irene verschämt ab, während er an seinem Hemdknopf herumfingerte.
„So, dann bis später!“ Freddie war schon auf dem Weg zum Ausgang, als sein Telefon läutete. Er eilte zurück und lächelte breit, als er die Nummer erkannte.
„Ach du bist es, Elisabeth“, sagte er abgehetzt und blinzelte Irene zu. „Im Moment ist es ganz schlecht. Unser Fall nimmt endlich Fahrt auf. Ich hoffe nur, dass ich rechtzeitig hier rauskomme. Was kochst du heute? … Wenn du keine Lust hast, gehen wir halt zum Italiener. Eine Pizza reicht mir. … Ich muss jetzt auflegen, ich hole dich dann ab … Ja, bis gleich!“

Als die Tür hinter ihm zufiel, blickte ihm Irene Meier verärgert nach. Hält er das für witzig? Seine Frau kocht bestimmt schon den ganzen Vormittag. Aber bestimmt nicht in der Küche!
In diesem Moment klingelte Freddies Telefon erneut. Irene sprang auf: Bestimmt noch mal seine Frau! Und wenn ich ihr sage, dass er sie überraschen will?
Sie nahm den Hörer ab: „Irene Meier.“
Eine Stimme fragte verwundert: „Hab ich mich etwa verwählt? Herbert Reiser hier. Ich wollte mit Freddie sprechen.“
„Er ist gerade weggefahren. Moment bitte!“
Irene Meier klopfte an Behringers Bürotür, und als er öffnete, sagte sie hektisch: „Ein Anruf von der Einsatzzentrale. Am Apparat von Herrn Obermeier.“
Martin erreichte mit wenigen langen Schritten den Schreibtisch und schaltete von der anderen Seite aus den Lautsprecher an: „Behringer.“
„Soll ich mich jetzt mit Reiser melden?“
„Ich wusste ja nicht, dass du am Telefon bist.“
„Stimmt. Ich sitze ja nicht rund um die Uhr hier. Obwohl es mir manchmal so vorkommt.“
„Und wo liegt die Leiche herum?“
„Diesmal hab ich etwas ganz Besonderes für euch. Eine Entführung.“
„Aber dafür gibt es doch Spezialabteilungen, die sich um solche Fälle reißen.“
„Es gibt nur noch eine, die Abteilungen wurden zusammengelegt. Und die sind gerade gemeinsam im Urlaub.“
„Ich habe gehört, dass man so einen gemeinsamen Urlaub Betriebsausflug nennt, und an diesem Tag ist man trotzdem für Notfälle erreichbar.“
„Irgendwie haben sie es geschafft, dass sie drei Wochen freibekommen, und wir erwarten sie erst in zwei Wochen zurück.“
„Wie stellt man so einen Urlaubsantrag?“
„Sie hatten seit einigen Monaten keinen einzigen Fall zu bearbeiten und haben wohl den Chef überzeugt, dass es in München keine Entführungen mehr gibt.“
„Und jetzt?“
„Die Entführer haben einen Brief geschrieben. Die Spurensicherung wirft schon einen Blick drauf. Ich hab auch ein paar Techniker hingeschickt, die das Telefon anzapfen. Aber es fehlt noch jemand, der Zuversicht verbreitet und Fragen stellt.“
„Und da habt ihr an uns gedacht?“
„Freddie kann das sehr gut.“
„Er ist aber gerade nicht da, wegen Hochzeitstag und so …“
„Sag bloß, du heiratest!“
„Nein, nicht ich. Er hat an diesem Tag vor ein paar Jahren geheiratet.“
„War nur ein Witz. Ich weiß ja, dass du allein lebst.“
Martin überging diese Bemerkung und fragte: „Kannst du noch etwas Gesprächsstoff schicken? Wer wurde entführt? Was wissen wir bereits?“
„Mach ich.“ Herbert Reiser wollte auflegen.
Martin fragte schnell noch: „Wohin hast du die Spurensicherung geschickt?“
„Habe ich jemals die Adresse für mich behalten?“
„Nein, es ist nur etwas ungewohnt für mich, dass die Adresse mal nicht mit Absperrband markiert ist.“
Herbert Reiser verabschiedete sich lachend.
Martin legte den Hörer verkehrt herum auf. Dabei wickelte sich das Kabel zu einem Knäuel zusammen. Er hob noch einmal ab, entwirrte die Schnur und legte den Hörer erneut ab, allerdings wieder verkehrt herum. Mit einer hastigen Bewegung brachte er ihn in die richtige Position und sagte dann etwas verlegen zu Irene Meier: „Ich lese mir die Informationen durch und fahre dann zum Tatort ... zur Adresse.“
Hat Frau Meier gelächelt?, fragte er sich auf dem Weg zu seinem Büro. Dann hat sich meine Slapstick-Einlage schon mal gelohnt. Soll ich sie gleich noch fragen, ob sie zur Adresse mitkommen möchte? … Später, erst muss ich die E-Mail durchlesen.

Martin überflog die darin enthaltenen Informationen: Der Entführte heißt Ralph Steineisen, Firmeninhaber. Er ist 39 Jahre alt. Die Entführung fand am Freitag, dem 09.11., statt, wahrscheinlich gegen 22 Uhr. Seine Frau hat bereits am selben Tag um 23.30 Uhr gegenüber der Polizei einen entsprechenden Verdacht geäußert, als sie ihn vermisst melden wollte.
Behringer lehnte sich zurück. Warum ging sie so früh von einer Entführung aus? Gab es etwa Drohungen oder macht sie sich generell Sorgen um ihren Mann? … Wie gehen wir vor? Sein Blick wanderte zur geschlossenen Tür und verharrte dort. Er schüttelte den Kopf. Nein, ich muss allein hinfahren! Frau Meier soll nicht den Eindruck bekommen, ich nehme sie nur mit, um Frau Steineisen zu trösten … Und wenn ich sie bitte, an meiner Stelle hinzufahren …? Das ist ein Entführungsfall. Dann meint sie vielleicht, dass ich ihr nur die Aufgaben zuteile, die ich selbst nicht machen möchte.

Im Auto gab er die Adresse in sein Navi ein. Trotzdem brauchte er ziemlich lange, bis er im Villenviertel die richtige Hausnummer fand. Er fuhr an der hohen Hecke, die das Grundstück einfasste, vorbei, parkte in einer Seitenstraße und ging zu Fuß zurück. Bevor er läutete, überprüfte er noch mal die Hausnummer.

Frau Steineisen begrüßte ihn an der Tür mit von Tränen verschleierten Augen und einem kraftlosen Händedruck. Sie schien ihn kaum wahrzunehmen.
Behringer sagte betont langsam seinen Namen und Dienstgrad. „Sind meine Kollegen bereits eingetroffen?“
„Ja“, kam es leise zurück.
Unterdessen musterte er rasch die Frau, die vor ihm stand: Sie wirkt schon sehr mitgenommen. Das Make-up soll wohl die dunklen Augenringe kaschieren. Ich schätze sie auf 35. Ihre Haare sind blond gefärbt. Trotz ihrem Kummer strahlt sie eine gewisse Eleganz aus.
Frau Steineisen drehte sich wortlos um und ging ins Haus zurück. Behringer schloss die Tür und folgte ihr.

Im Wohnzimmer kam die noch immer vermummte Kollegin Maria Zeilinger von der Spurensicherung auf ihn zu.
„Hallo Martin!, Frau Steineisen hat zum Glück nur das Kuvert geöffnet, die Nachricht der Entführer aber nicht angefasst. Allerdings auch sonst niemand. Ich werde im Labor noch mal das volle Programm durchlaufen, aber viel Hoffnung hab ich nicht.“
Maria Zeilinger hielt ihm den Brief der Entführer in einer Klarsichtfolie entgegen. Martin warf einen flüchtigen Blick auf den zusammengeklebten Text, ohne ihn bereits zu lesen.
Verwundert fragte er: „Was ist denn das für ein altmodischer Schriftsatz?“
„Leider ist nur der Schriftsatz altmodisch. Die Entführer haben wirklich gründlich vermieden, ihre DNA zu hinterlassen. Auch auf den beiden Fotos.“
Frau Steineisen hob den Kopf.
„Na, mach schon!“, schnauzte Maria ihren Kollegen Erwin Lehmann an, der beide Fotos in Klarsichtfolien hinter seinem Rücken versteckt hielt, als handele es sich um ein Ratespiel für Kinder.
„Also schön“, sagte Erwin widerwillig, der sich um seinen Spaß betrogen sah. Als hätte sich Martin für diese Seite entschieden, streckte er ihm die rechte Hand entgegen, der mit einem Kopfschütteln zugriff.
Das Foto zeigte einen Mann, der benommen wirkte, als wäre er betäubt worden. Seine Augen waren halb geschlossen. Er schien unverletzt zu sein. Mehr als sein Konterfei war allerdings nicht abgebildet, ein verräterischer Hintergrund nicht erkennbar.
Plötzlich stieß Frau Steineisen nahe an Behringers Ohr einen spitzen Schrei aus. Von ihm unbemerkt war sie herangetreten und hatte einen Blick auf das Foto geworfen. Leise wimmernd hielt sie sich die Hände vors Gesicht.
Behringer war zusammengezuckt und schnaufte nun tief durch. Mit fester Stimme sagte er eindringlich und dennoch einfühlsam: „Ihr Mann wird ganz bestimmt freigelassen! Sie können uns vertrauen. Wir gehen kein unnötiges Risiko ein.“
Frau Steineisen schenkte ihm tatsächlich Gehör. Sie nahm die Hände vom Gesicht und schaute ihn aus hoffnungsvollen, hilfesuchenden Augen an. Selbst überrascht über seine beruhigende Wirkung, begleitete er Frau Steineisen zum Sofa.
Nun war Behringer vorsichtiger. Mit genügend Abstand ließ er sich von Erwin das zweite Foto geben. Das ist ja Max Willinger!, durchfuhr es ihn. Wie ist das denn möglich?
In Behringers Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander, bis sich folgendes Mosaik zeigte: Max Willinger wurde also entführt und dann ermordet. Und die Kollegen, die sich jetzt gerade im Ausland amüsieren, haben die Aufklärung der Entführung gründlich vermasselt.
Er reichte das Foto an Erwin zurück und las aufgeregt den Brief:

Wenn Sie die Polizei einschalten, ergeht es Ihrem Mann ebenso. Halten Sie sich an unsere Anweisungen, dann lassen wir ihn wieder frei. Wir melden uns wegen der Lösegeldübergabe bei Ihnen.

Während Behringer in Gedanken versank, hörte er die Stimme von Erwin, der leise auf Frau Steineisen einsprach: „Keine Angst! Das ist nicht Ihr Mann. Aber vielleicht kennen Sie den ja. Mir kommt er irgendwie bekannt vor.“
„Dieser Mann … ist tot“, stammelte sie.
„Scheiße ja! Tut mir echt leid!“, murmelte Erwin. Hektisch packte er zusammen und trottete mit zwei Metallkoffern davon.
„Die Entführer werden auch meinen Mann ermorden!“ Die Stimme von Frau Steineisen überschlug sich. In ihrer wilden Verzweiflung begann sie, im Wohnzimmer ziellos umher zulaufen, um dann vor Behringer abrupt stehen zu bleiben.
„Sie müssen sofort gehen!“, forderte sie mit einer Vehemenz, die er ihr nicht zugetraut hätte.
„Wie Sie meinen. Wenn sie doch noch unsere Hilfe annehmen möchten. Hier ist meine Karte.“
„Wieso Mordkommission?“, fragte Frau Steineisen irritiert.
Behringer überlegte fieberhaft: Die glaubt mir nie und nimmer, dass wir nur die Urlaubsvertretung übernommen haben. Schade, dass Frau Meier nicht mitgekommen ist. Und Maria gilt nicht gerade als einfühlsam. Aber wenigstens ist sie weiß gekleidet …
Er winkte Maria Zeilinger herbei. Maria verstand sofort und handelte ebenso schnell, auf ihre Weise: „Frau Steineisen, Ihr Mann hat sehr gute Überlebenschancen. Entführte werden laut aktueller Kriminalstatistik zu 100% unversehrt freigelassen.“
Verdutzt beobachtete Behringer, dass Frau Steineisen tatsächlich zu weinen aufhörte und sich von Maria ins Schlafzimmer führen ließ. Dennoch blickte er den beiden besorgt nach: Zum Glück weiß Maria nicht, dass Willinger entführt und ermordet wurde. Sie würde die Statistik sofort gnadenlos herunterrechnen.

Behringer blieb allein im Wohnzimmer zurück. Er war immer noch aufgewühlt: Nun wissen wir, wo Max Willinger sich vor seiner Ermordung aufgehalten hat. Und die Familie wusste von der Entführung! Um sich zu beruhigen, ging er zum Kaminsims, wo Fotos, wie kostbare Perlen der Erinnerung in Silber gefasst aneinander gereiht waren. Im Zentrum befand sich ein Hochzeitsbild mit einem glücklich lächelndem Paar, umgeben von Fotos mit den typischen Wahrzeichen verschiedener Urlaubsorte: Paris, Venedig, Rom. Herr Steineisen war nicht gerade fotogen, wie Martin fand: der spärliche Haarwuchs, die leicht abstehenden Ohren, die Stirn mit den tiefen Falten und der etwas apathische Gesichtsausdruck. Auch auf einigen dieser Fotos sah er so aus, als wäre er gerade betäubt worden. Ganz anders wirkte er auf den Bildern, auf denen seine Frau ihn bewundernd anschaute: richtig sympathisch. Schließlich hielt Behringer eines in Händen, das beide in knapper Badekleidung an einem Sandstrand zeigte. Er stellte es rasch zurück und verließ den Raum.
Als er gerade die Eingangstüre zuziehen wollte, hörte er, wie sich Maria Zeillinger mit lauter Stimme von Frau Steineisen verabschiedete: „Herr Behringer ist schon gegangen. Aber wenn jemand die Entführer Ihres Mannes findet, dann er. Seine Abteilung hat die beste Aufklärungsquote. Wahrscheinlich wurde ihm deswegen diese läppische Entführung zugeteilt. Sie können beruhigt sein. Er unternimmt nichts, solange Ihr Mann in der Hand der Entführer ist.“

Mit zwiespältigen Gefühlen ging Behringer zu seinem Auto. Eine läppische Entführung wiederholte er in Gedanken. Nein, sogar zwei. Die Familie Willinger hat uns die Entführung verschwiegen. Nicht nur verschwiegen. Alle vier behaupteten, dass Max Willinger nach Zürich verreist sei. Also wurden wir vorsätzlich getäuscht! Warum? Wollten sie die Polizei heraushalten, wie es der Entführer vermutlich auch von ihnen verlangt hat? Nein, als Freddie mit ihnen gesprochen hat, war Max Willinger bereits tot. Oder stecken da am Ende unsere eigenen Experten dahinter? Das wäre ja ein starkes Stück, wenn die eine Entführung unter den Tisch kehren, nur weil sie in Urlaubsstimmung sind! Ich brauche Gewissheit, und zwar sofort!
Er schaltete sein Handy ein und rief Herbert Reiser an: „Ich hab da noch eine generelle Frage: Wann genau war die letzte Entführung?“
„Übst du jetzt für eine Quizsendung?“
„Nein, im Ernst.“
„Also gut, ich schaue nach: In München war am 15. Februar die vorletzte Entführung. Die bislang letzte hab ich dir heute zugeteilt. Und wenn du dich für Oberbayern interessierst: Am 25. Mai wurde in Tutzing ein Kind entführt. Der Fall ist ebenfalls aufgeklärt. Der Vater wollte sich das Besuchsrecht nicht wegnehmen lassen.“
„Werden wirklich alle Fälle erfasst?“
„Ja. Sobald jemand am Telefon Entführung sagt, gibt es einen Eintrag.“
„Und seit mehr als einem halben Jahr hat niemand dieses Wort gebraucht?“
„Doch, zuletzt am 17. Juli in Erding. Aber das war ein Betrunkener, der sich nicht mehr nach Hause getraut hat. Das wird bei einer Quizsendung wohl kaum als Entführung durchgehen. Der Mann wurde trotzdem seiner Frau übergeben.“
„Du siehst ja wirklich alles.“
„Durchaus. Unsere Spezialabteilung für erpresserischen Menschenraub ist zum Glück noch für andere Delikte zuständig. Ansonsten würde ich sagen, die Kollegen verdienen ihr Geld im Schlaf. Dein neues Arbeitsgebiet scheint dich ja brennend zu interessieren …“
„Wie sich nun herausgestellt hat, wurde Max Willinger erst entführt und dann ermordet.“
„Dann habt ihr ja wieder nur einen Fall zu lösen! Ist gar nicht so leicht, euch mit Arbeit einzudecken. Habt ihr schon eine Spur zum Entführer?“
„Noch nicht. Auf dem Brief war kein Absender angegeben. Wir sind also noch eine Zeit lang damit beschäftigt, ihn ausfindig zu machen.“
„Das ist schon mal gut. Teilt euch den Fall noch etwas ein. Ich werde mir in der Zwischenzeit überlegen, ob es sich um eine Entführung und einen Mordfall oder gar um zwei Entführungen und einen Mordfall handelt … Oh Mann, das ist ja eine ganze Verbrechensserie! Wenn ihr euren Fall nicht bis zum Jahresende löst, schaut die bayrische Sicherheitsbilanz diesmal schlecht aus.“
„Dann lass ich dich jetzt mit deinen Problemen alleine.“

Voller Elan stieß Martin die schwere Eingangstür auf und sprach in Freddies Richtung: „Es gibt Neuigkeiten“, verkündete er sogleich. „Max Willinger wurde vor seiner Ermordung entführt. Von denselben Entführern wie Steineisen. Als Zeichen, dass sie es ernst meinen, haben sie ein Bild vom toten Max Willinger mitgeschickt.“
„Das ist ja ein Ding! Dass die Familie mir einen Bären aufbinden wollte, war mir vorher schon klar. Aber mit so viel Hinterfotzigkeit hätte ich nicht gerechnet. Kehrt diese Bagage einfach eine Entführung unter den Tisch!“, ereiferte sich Freddie.
„Das kannst du laut sagen: Meines Erachtens haben sie sogar darauf spekuliert, dass Max Willinger von den Entführern ermordet wird.“
Freddie rümpfte die Nase, als wäre Martin zu weit voran galoppiert, schwieg aber.
An alle gewandt fügte Behringer hinzu: „Es gibt einiges zu besprechen.“ Er schaute auf die Uhr: „Um halb fünf in meinem Büro.“
Freddie machte ein Gesicht, als hätte man ihm Prügel angedroht: „Du weißt ja, ich hab heute Hochzeitstag; wenn ich da später nach Hause komme, kann ich im Treppenhaus übernachten. Tut mir leid.“
„Dann halten wir die Besprechung heute mal ohne dich ab. Übrigens: Frau Steineisen will nicht mit uns zusammenarbeiten. Sie hat Angst um ihren Mann. Wahrscheinlich wird sie uns erst wieder mitmischen lassen, wenn er in Sicherheit ist.“
„Tja, ich könnte mich ja mal in seiner Firma umhören. Vielleicht finden wir dadurch einen Hinweis auf die Entführer.“
„Mach das! Also dann, schönen Abend!“
Freddie lächelte und bewegte sich nun ungewöhnlich locker zum Ausgang. Hans und Stefan folgten ihm. Bevor die Tür ins Schloss fiel, unterhielten sich die beiden bereits über die 3-D-Effekte in einem der neu gestarteten Kinofilme. Lediglich Frau Meier blieb an ihrem Schreibtisch sitzen. Sie blickte starr auf ihren Monitor, während sie hin und wieder schnell auf der Tastatur herumtippte.
Und schon bereute Behringer seine Entscheidung: Die Besprechung hätte ich mir sparen können. Ich sollte auch nach Hause fahren … Soll ich ...? Hans und Stefan hätten ganz sicher nichts dagegen. Und Frau Meier? Sie scheint sich ja ganz gut selbst zu beschäftigen.
Er lächelte kurz bei dem Gedanken, sich einfach davonzustehlen, entschied sich dann aber doch, in sein Zimmer zurückzukehren. Dort setzte er sich in seinen Bürostuhl, begann mit der Rückenlehne zu schaukeln und dabei seine Gedanken zu ordnen: Immerhin haben wir nun den Beweis, dass Max Willinger entführt wurde. Das kann die Familie nicht mehr leugnen. Aber wie gelingt es uns nachzuweisen, dass sie den Mord provoziert hat? Oder liege ich damit falsch? Wenn wir die Entführer fassen … Bisher haben sie allerdings keine Spuren hinterlassen. Vielleicht werden sie nie gefasst. Von uns bestimmt nicht!

Pünktlich um 16:30 Uhr betrat Irene Meier sein Büro, gefolgt von Hans und Stefan.
Interessiert schaute sie sich in Behringers Büro um: Er hat dieselben Möbel wie wir, aber sein Raum wirkt irgendwie wohnlich. Die Zimmerpalme mittendrin, das hat was. Und hier das Erinnerungsfoto von einem tropischen Strand. Mit wem ...? Das geht mich nichts an!
Behringer hatte sich mittlerweile erhoben und begab sich zum Besprechungstisch. Hans und Stefan hatten bereits ihre Plätze eingenommen. Erst jetzt fiel Irene Meier der Tisch hinter der Tür auf. Unschlüssig blickte sie sich um. Weil Behringer auf sie zuging, setzte sie sich auf den Stuhl, der üblicherweise für ihn reserviert war. Ohne lange zu überlegen, entschied Martin sich für Freddies Platz und schaute in die Runde. Hans und Stefan grinsten. Aber als er sie direkt ansah, wichen sie seinem Blick aus.
Also wandte sich Behringer Frau Meier zu. Ihr waches Interesse ließ ihn sagen: „Sie wissen ja bereits, was ich mir zusammen gesponnen habe. Liege ich damit falsch?“
„Ihre Theorie passt genau zu den Aussagen des Hauspersonals. Die Familie versammelt sich und berät, wie sie aus der Entführung Nutzen ziehen kann. Wahrscheinlich hat sie bei der Lösegeldübergabe absichtlich Fehler begangen oder gar nicht gezahlt. Zwei Tage vor der Ermordung verschwinden alle gemeinsam und sind so für die Entführer nicht erreichbar. In Wien werden sie von Zeugen, die sie uns so ganz nebenbei selbst nennen, nachweislich gesehen. Und sie bleiben dort, bis die Leiche gefunden wird. Ich habe Statistiken gefunden, wonach bei einer missglückten Lösegeldübergabe die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass das Entführungsopfer getötet wird. Vielleicht wurde auch zu wenig Geld beschafft. Wir sollten überprüfen, ob von Willingers Konten eine größere Summe abgehoben wurde.“
„Das ist es! Wenn jemand aus der Familie das Lösegeld beschafft hat, liefert das den Beweis für die Entführung. Dass sie uns mit dieser angeblichen Reise nach Zürich belogen haben, wissen wir ja schon längst.“ Behringer dachte scheinbar laut nach: „Wie können wir beweisen, dass die Familie Willinger den Mord provoziert hat?“
„Wir könnten zusätzlich die Telefonverbindungsdaten anfordern. Vielleicht erfahren wir dadurch, wie die Familie auf die Entführung reagiert hat. Ein Beweis ist das zwar nicht, aber es könnte zumindest aufschlussreich sein …“
„Dann machen wir das so. Stefan, Hans, ihr übernehmt das!“
Als sich alle erhoben, sagte Behringer: „Danke, Frau Meier! Ihre Ideen bringen uns sicher ein ganzes Stück voran.“
Völlig überrascht beobachtete er ihre Reaktion: Kann es sein, dass jemand so schnell rot wird? Er wollte gerade noch etwas Aufmunterndes sagen. Doch als er sah, wie Irene Meier beinahe über die Türschwelle gestolpert wäre, ließ er es lieber bleiben.

Behringer nahm seine Jacke vom Garderobenhaken und schaltete das Licht in seinem Büro aus. Stefan und Hans saßen an ihren Schreibtischen und blickten gebannt auf ihre Bildschirme. Na hoffentlich füllen sie die Formulare aus, dachte er noch, während er nach Irene Meier Ausschau hielt. Sie war nicht im Büro.
Schade!, dachte Martin, als er das Gebäude verließ.

Am Waschbecken in der Toilette versuchte Irene, ihre roten Wangen mit kaltem Wasser zu kühlen. Wie konnte er nur? Lobt mich einfach vor den anderen ... Meine Vorschläge haben ihm gefallen. Vielleicht kann ich jetzt an den Fällen mitarbeiten. Aber musste er mich dabei so ansehen? Ich gehe jetzt besser nach Hause.

Mittwoch, 14.11.

Frau Meier saß an ihrem Schreibtisch und schien Behringer nicht bemerkt zu haben. Der blieb vor Freddies verwaistem Schreibtisch stehen und geriet ins Grübeln: Vielleicht war es ja ein besonderer Hochzeitstag. Als ich bei der Mordkommission angefangen habe, war er ja schon verheiratet. Und das ist jetzt auch schon wieder 18 Jahre her.
Irene Meier blickte nun doch zu Behringer hinüber, der gedankenverloren mitten im Raum stand. Was ist denn los mit ihm? Aber ja! Er wundert sich, dass Herr Obermeier noch nicht da ist.
Behringer zuckte kurz mit den Schultern und wandte sich dann Frau Meier zu. Mit belegter Stimme flüsterte er: „Guten Morgen!“
„Guten Morgen!“, brachte Irene gerade noch heraus.
Behringer ging verlegen in sein Büro, während sie aufgewühlt zurück blieb: Er bringt mich schon wieder aus der Fassung. Wie konnte ich nur so unvorsichtig sein und ihn direkt anschauen!

Indessen lehnte Martin an der geschlossenen Bürotür und seufzte: Wenn Frau Meier den Kopf zur Seite neigt, fange ich an zu träumen. Ich hab es gerade noch in mein Zimmer geschafft. Er schüttelte sich und holte tief Luft.
Das Telefon klingelte. Es war Freddie: „Ich bin noch unterwegs. Ich fahre jetzt gleich mal bei der Firma von Herrn Steineisen vorbei und befrage seine Angestellten.“
„Prima.“
Freddie beendete rasch das Gespräch. Doch im Hintergrund schnurrte verführerisch eine Frauenstimme: „Kommst du heute trotzdem pünktlich zum Mittagessen, mein Bärchen?“
„Aber ja, mein Kätzchen“, brummelte sanft das Bärchen, gefolgt von einem Schmatzen, das nur ein Kuss sein konnte. Offensichtlich hatte Freddie die Beenden-Taste nicht richtig gedrückt. Schnell legte Martin den Hörer auf. So genau wollte er gar nicht wissen, was sich in Freddies Liebesleben abspielt.

Eine Stunde später klopfte es an seiner Bürotür. Das ging ja schnell, dachte Martin. Das Brummbärchen ist wohl nur bis zur Firma und zurück gefahren. Zu seinem Erstaunen stand plötzlich Stefan vor ihm: „Ich hab die Liste der Telefongespräche erhalten und die Mail bereits an uns alle weitergeleitet, wollte dir aber trotzdem gleich Bescheid sagen.“
Martin blieb gerade noch Zeit für ein kurzes Danke und schon war Stefan wieder verschwunden. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er seinen Computer noch nicht eingeschaltet hatte. Ungeduldig wartete er, bis er endlich einen Blick in die Mail werfen konnte, in der die Telefonnummern, Sprechzeiten und Gesprächsteilnehmer aufgeführt waren. Nachdem er die wichtigen Verbindungen markiert hatte, druckte er die Liste aus und lehnte sich entspannt zurück: Sehr gut, Irene …

Gegen elf Uhr hörte er nebenan die Stimme von Freddie, nun wieder in der gewohnten Stimmlage. Martin schmunzelte: Dann machen wir unsere Teambesprechung lieber gleich, sonst kommt das Bärchen nicht rechtzeitig zum Honigschlecken nach Hause. Doch dann verzog er ärgerlich das Gesicht: Gerade ich hab es nötig, mich über Freddie lustig zu machen! Wenn Frau Meier mich auch nur ansieht, bin ich zu nichts mehr zu gebrauchen.
Martin ging zur Tür und öffnete sie. „Am besten wir machen gleich mal eine kurze Besprechung. Hier gibt es auch Neuigkeiten.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752130461
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Januar)
Schlagworte
Mord Deutsche Krimis Bayern-Krimi Ermittlerin München-Krimi Liebe Cosy-Krimi Humor Cosy Crime Whodunnit Krimi Thriller Spannung

Autoren

  • Sophie Lenz (Autor:in)

  • Klaus Sanders (Autor:in)

Sophie Lenz wuchs in Regensburg auf. Nach dem Abendgymnasium stürzte sie sich in ein Studium der Philosophie und Biologie. Etliche Semester später zog sie, geleitet von praktischer Vernunft, nach München und absolvierte dort eine Ausbildung zur Verwaltungsfachwirtin. Klaus Sanders ist in einer bayerischen Kleinstadt aufgewachsen. Für sein Studium der Nachrichtentechnik zog er in das Millionendorf München. Seit 2013 verbringt das Autorenteam die Freizeit schreibend mit Mord und Totschlag.
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Titel: Kopf-Prämie