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Computer-Spiele

Ein München-Krimi

von Sophie Lenz (Autor:in) Klaus Sanders (Autor:in)
400 Seiten
Reihe: Irene Meier ermittelt, Band 2

Zusammenfassung

Ein Diplom-Informatiker auf Abwegen wird besonders gründlich ins Jenseits befördert. War hier ein hasserfüllter Einzeltäter am Werk oder haben tatsächlich fünf verschiedene Personen in derselben Nacht Ludwig Handtke nach dem Leben getrachtet? Ebenso rätselhaft ist der Mordanschlag auf die Fußballspielerin Sandra Meisner. Warum ist gerade eine 16-Jährige im Visier eines professionellen Mörders? Kaum laufen die ersten Ermittlungen an, wird auch schon von höherer Stelle eingegriffen. Doch das Team um Martin Behringer lässt sich nicht so leicht stoppen. Und so ist wieder strategisches Geschick gefragt, das Spezialgebiet der ansonsten nicht sehr selbstbewussten Irene Meier. Aber halten sich die Verbrecher an die vorbereitete Inszenierung? Doch nicht nur die rätselhaften Fälle machen Irene und Martin zu schaffen: Die Geheimniskrämerei um ihre Liebesbeziehung nervt, aber die anzüglichen Kommentare der Kollegen könnten auch ganz schön lästig werden. Diese Alltagsprobleme sind jedoch schnell vergessen, sobald wieder einmal lebensgefährliche Situationen ihr gemeinsames Glück bedrohen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Das Team

Irene Meier, frisch von Passau zur Mordkommission nach München versetzt, findet sich in einem sonderbaren Team wieder. Martin Behringer, ihr neuer Chef, hat die höchste Aufklärungsquote. Aber wodurch? Seine jüngeren Mitarbeiter Hans Baumann und Stefan Burghoff beteiligen sich überhaupt nicht an den Mordermittlungen, und er akzeptiert dies einfach. Gerade diese beiden nerven Irene auch noch mit ihrer primitiven Anmache. Freddie Obermeier ein übergewichtiger Mittfünfziger lässt keine Gelegenheit aus, sich über seinen Chef lustig zu machen. Er ermittelt immerhin, aber mit Methoden aus dem letzten Jahrtausend. Er liest nicht mal E-Mails. Werner Mohr nutzt sein umfangreiches Netzwerk zu anderen Abteilungen, um den Dienstweg deutlich abzukürzen. Durch Freddie kehrt er dem vertrauten Innendienst den Rücken und ermittelt an dessen Seite. Je mehr Irene versucht ihren Platz im Team einzunehmen, desto mehr erkennt sie, wie sehr sie sich auch zu ihrem Chef hingezogen fühlt. Wäre da nur nicht die alte Angst, wieder enttäuscht zu werden. Und gerade jetzt erfährt sie Martins Erfolgsgeheimnis: Er lügt wie gedruckt, um seine Mordfälle aufzuklären. Aber auch Martin befindet sich in einer Zwickmühle: Irene ist die Bereicherung für sein Team, die er sich schon lange gewünscht hat und zugleich bringt sie ihn völlig aus der Fassung. Als die beiden schließlich zueinander finden, beschließen sie ihre Beziehung vor den Kollegen geheim zu halten.

Montag, 07.01.

„Ich kann dir den Fall nicht zuteilen! Du hast das Formblatt 163/3 nicht richtig ausgefüllt.“
„Aber ich überführe den Mörder! Ganz bestimmt!“
„Niemals! Wer zu dumm ist 163/3 auszufüllen, findet auch keinen Mörder!“

Die Stimme von Herbert Reiser verhallte langsam wie in weiter Ferne. Martin öffnete erschrocken die Augen und starrte im Dunkeln an die Zimmerdecke. Schon wieder derselbe Traum, dachte er ärgerlich. Jedes Mal nach einem längeren Urlaub träume ich diesen Quatsch. Aber ab jetzt ist alles anders. Meine Irene ist bei mir! Sie findet ganz sicher einen Trick, wie wir 163/3 ausfüllen. Er drehte sich zur Seite, lauschte Irenes ruhigen Atemzügen. Auch wenn er ihr Gesicht nur schemenhaft erkennen konnte, so hatte er doch ein deutliches Bild vor Augen: ihre auch im Schlaf leicht angespannte Stirn, ihre Stupsnase, die weich geschwungenen Lippen sowie die braunen Locken, die ihr Gesicht umschmeicheln. Eine leise Wehmut beschlich ihn. Ihr erster gemeinsamer Urlaub war nun zu Ende. Zwei herrliche Wochen, die sie noch mehr zusammengeschweißt hatten. Ganz vorsichtig streckte er seinen Arm aus, um Irene sanft zu berühren. Genau in diesem Moment schrillte der Wecker. Wie ein Kind, das man gerade beim Naschen ertappt, zog Martin blitzschnell seine Hand zurück.

Mit sicherem Griff brachte Irene den Störenfried zum Schweigen. Dann räkelte sie sich, gähnte und öffnete schließlich die Augen. „Ach nein, es ist ja noch so dunkel!“ Sie tastete suchend nach Martin. Er ergriff ihre Hand, führte sie zum Mund und küsste sie. Leise sagte er: „Guten Morgen, mein Schatz.“ Nach einer Weile fügte er hinzu: „Die Arbeit ruft, leider.“
„Ich will aber noch nicht aufstehen“, entgegnete Irene fast trotzig. Sie schmiegte sich an ihn, strich zärtlich über seine Brust.
„Wenn du so weiter machst, kommen wir zu spät.“
„Es ist noch viel zu früh, unseren Urlaub zu beenden“, kam es schnurrend von Irene zurück.

Eine halbe Stunde später standen sie gemeinsam unter der Dusche, um Zeit zu sparen. Während Martin Irenes Rücken mit Duschgel einschäumte, meinte sie seufzend: „Warum müssen wir in der Arbeit immer noch so tun, als wären wir nur ein Ermittlungsteam? … War das schön im Urlaub ohne diese Geheimniskrämerei! Wir konnten einfach machen, was wir wollten!“ Um das Gesagte zu verdeutlichen, gab sie Martin einen Klaps, lachte schelmisch und seufzte dann erneut: „Aber so wie ich unsere lieben Kollegen einschätze, haben wir ein ruhigeres Leben, wenn wir weitermachen wie bisher und unsere Beziehung geheim bleibt.“
Martin nickte betrübt.
Wie zum Trost fuhr sie in heiterem Ton fort: „Dann werden wir uns neun Stunden lang im Büro scharf machen. Und danach fahren wir ganz schnell nach Hause.“

Doch erst einmal lenkte Irene den Wagen konzentriert durch die stark befahrenen Straßen, kämpfte aber immer noch mit ihrer Müdigkeit. Vor dem Kommissariat parkte sie extra schräg ein, wie Martin es meist getan hatte, als er noch am Steuer saß. Beide schritten eng umschlungen auf den Eingang zu, weil dieser Bereich von den Bürofenstern her nicht einsehbar war. Vor der massiven Stahltür umarmten sie sich, als wäre dies das letzte Mal vor einem längeren Abschied. Schweren Herzens ließen sie sich schließlich los. Martin stemmte die Tür auf und hielt sie geöffnet, bis Irene vor ihm eintrat.

Werner Mohr saß schon am Schreibtisch und schaute Martin irritiert entgegen. „Was? … Ach so, Irene kommt auch gerade. Ich dachte schon, du trainierst deine Muskeln … Na dann: Gutes neues Jahr! Und wie war der Urlaub?“
Irene antwortete zuerst: „Kurz. Aber auch sehr schön. Dir auch ein gutes neues Jahr!“
Demonstrativ schaute Martin ins grelle Neonlicht und sagte dann zu Werner: „Ich hatte beinahe vergessen, wie hell es hier schon am frühen Morgen ist. Ich gestehe, ich war in den letzten Wochen viel zu faul … Dir auch ein gutes neues Jahr! Und was war hier los? Gab es an Weihnachten Mord und Totschlag oder war Friede auf Erden?“
„Weder noch. Es gab schon ein paar Streitereien, die auf unchristliche Art und Weise entschieden wurden. Aber bei uns sind keine Strafanzeigen eingegangen und so mussten wohl nur die Notärzte aktiv werden.“
„Ein wunderbares neues Jahr!“ schallte es plötzlich gut gelaunt durch das Büro. Mit ungewohnt kräftigen Schritten betrat Freddie das Büro und hängte voller Elan seine Trachtenjacke über einen Bügel.
Martin folgte gebannt jeder seiner Bewegungen. Noch immer bass erstaunt, wie Freddie es geschafft hat, in nur zwei Wochen seine Behäbigkeit abzulegen, fragte er ihn: „Was ist denn mit dir los?“
„Weil ich ja jetzt viel mit Werner unterwegs bin, möchte ich auch wieder in Form kommen. Elisabeth unterstützt mich dabei. Wir gehen viel zu Fuß. Der Nymphenburger Schlosspark ist ja bei uns in der Nähe.“
Irene und Martin tauschten erschrockene Blicke aus. Beide hätten niemals damit gerechnet, bei ihren romantischen Spaziergängen dort auf Freddie zu treffen.
Besorgt prüfte Irene Freddies Gesichtsausdruck.
Doch der erzählte unbeirrt mit geschwellter Brust weiter: „Elisabeth und ich waren im Urlaub ganz eisern. Jeden Vormittag von 8 bis 11 Uhr sind wir in einem ordentlichen Tempo durch den Park gehetzt. Seit meiner Bundeswehrzeit bin ich nicht mehr so viel marschiert.“
Irene und Martin atmeten erleichtert auf. Um diese Zeit saßen sie üblicherweise noch beim Frühstück.
Daraufhin meinte Werner: „Dann hätten wir uns ja gestern fast getroffen. Am Nachmittag wollte Marion unbedingt auch dort spazieren gehen. Das Seltsame war: Ich hab da ein Paar gesehen, das so aussah wie … wie Irene und Martin.“ Werner schüttelte ungläubig den Kopf. „Marion hat mir gleich vorgehalten, dass ich nicht mal an den Feiertagen die Arbeit loslassen kann.“
Freddie lachte schallend. „Da habe ich mir ja ein tolles Vorbild ausgesucht. Hoffentlich bekomme ich nicht auch noch Halluzinationen.“
Irene glaubte nicht richtig zu hören. Was sollte denn an ihrer Beziehung eine Halluzination sein? Sie schaute Martin grimmig an. Der war nun wild entschlossen, den beiden Kollegen auf die Sprünge zu helfen. Er setzte gerade zu sprechen an, als just in diesem Moment sein Telefon klingelte. Martin stutzte, blieb zunächst unentschieden stehen, aber beim nächsten Klingeln lief er dann doch in sein Büro und hob den Hörer ab. Da er die Nummer kannte, stellte er auch gleich den Lautsprecher an.

Herbert Reiser von der Einsatzzentrale meldete sich. „Das Jahr fängt ja gut für euch an! Ein Mord. Dann wird euch wenigstens nicht langweilig. Ich hab euch schon die Adresse übermittelt. Ihr sollt bei Orient-Discount läuten.“
„Ähm? … Um was geht es denn überhaupt?“, fragte Martin überrascht, in Gedanken immer noch woanders.
„Hab ich das noch nicht erwähnt? Der Tote liegt wohl schon seit gestern in einem Büro im Euro-Industriepark. Die Firma heißt Isar Software AG. Die Spurensicherung ist schon dort.“
„Aber was hat das mit Orient-Discount zu tun?“
„Weiß ich auch nicht. Ihr werdet das schon herausfinden.“ Wie es seine Art war, hatte Herbert Reiser bereits aufgelegt.

Martin erkannte sofort die Chance: Der Tag war gerettet!
Im Nachbarbüro verkündete er fröhlich: „Irene und ich fahren hin! Und danach machen wir einen Spaziergang im Nymphenburger Schlosspark. Dann hat Werner mal recht.“ Irene grinste breit und war sofort an Martins Seite.
Noch bevor die Tür zuschlug, hörten sie Freddie, der ihnen feixend nachrief: „Hoffentlich sieht euch Irenes Freund nicht! Ich kann mir vorstellen, dass der sogar auf dich eifersüchtig wäre.“
Irene blieb einen Moment wie angewurzelt stehen. Sie ballte die Fäuste. Dann aber eilte sie hinter Martin her. Auf dem Weg zu seinem Auto redete sie die ganze Zeit aufgebracht auf ihn ein: „Hast du das gehört? Sogar auf dich! Was fällt dem ein! Der traut dir ja wirklich gar nichts zu. Ich will und kann das nicht länger ertragen. Gleich gehe ich noch mal zurück und erzähl ihm, dass du mein Freund bist und wie schön die Nächte mit dir sind … Ach nein, das dauert viel zu lange. Dann fahren wir eben doch erst zum Tatort … Sich so über dich lustig zu machen! Der hat es gerade nötig!“
„Soll ich mich lieber ans Steuer setzen?“, bot Martin an, obwohl ihm die Vorstellung ganz und gar nicht behagte. Irene war nun mal die bessere Autofahrerin.
„Nein, nicht nötig. Es geht schon wieder.“
Doch als Irene die Tür mit voller Wucht zuschlug und den Sicherheitsgurt wie einen Expander über den Körper spannte, war er sich nicht mehr so sicher.
Irene passierte etwas zu flott die Ausfahrt, bremste dann scharf ab und reihte sich schließlich in den fließenden Verkehr ein.

Während sie den Wagen in gemächlichem Tempo durch die Prachtstraße Ludwigs I. schnurgerade nach Norden lenkte, ließ Martin seinen Blick über die breit angelegten, historischen Häuserfronten schweifen, die durch die beiden schlanken Türme der Ludwigskirche aufs Schönste aufgelockert wurden. Es war ein herrlicher Wintertag. Die tiefstehende Sonne tauchte die herrschaftlichen Gebäude in ein ganz besonderes Licht. München ist wirklich eine Reise wert!, kam es Martin spontan in den Sinn. Fährt Irene deswegen so langsam? Nein, sie fixiert ja geradezu die Straße. Hat die Bemerkung von Freddie sie so sehr getroffen? Eigentlich hätte ich Grund, auf ihn sauer sein. Aber ich bin es nicht, weil ich auf diese Weise erfahren habe, dass ihr unsere gemeinsamen Nächte gefallen.
An der nächsten roten Ampel legte er die Hand auf Irenes Arm. Sie lächelte gezwungen. „Ich bin immer noch wütend auf Freddie. Deshalb achte ich heute besonders auf den Verkehr. Ich möchte nicht, dass ich einen Unfall baue. Du hast ja keine Ahnung, wie oft Freddie noch sehnsüchtig zur Strichliste am Schwarzen Brett schaut. Aber seit ich das Steuer übernommen habe, ist nicht ein Strich dazugekommen. Dabei würde er dich so gerne wieder wegen einem Blechschaden in die Mangel nehmen. Aber diese Freude gönne ich ihm nicht. Und heute schon gar nicht.“
„Du bist einzigartig. Wenn ich wütend wäre, würde ich nicht an so was denken.“
Irene wurde verlegen und schaute wieder nach vorn. Bei Grün fuhr sie mustergültig los.

Nach zehn Minuten ertönte aus dem Navi: „Bitte links abbiegen.“ Irene fuhr in den Innenhof eines verschachtelten Gebäudekomplexes. In Front des Parkplatzes stand ein schmuckloser Flachbau, der tatsächlich wie ein Teppichlager wirkte. Sie steuerte den Wagen direkt darauf zu. Wie zur Bestätigung, dass es sich um die richtige Adresse handelte, öffnete sich die Eingangstür und heraus trat das Team der Spurensicherung. Einer nach dem anderen öffnete den Reißverschluss seines weißen Schutzanzuges und steifte die Kapuze ab. Kurz bevor Irene und Martin die Tür erreichten, wurden sie mit einem freudigen „Hallo“ begrüßt. „Wir sind schon durch. Wird Zeit dass ihr kommt, die Maden sind längst da.“
In diesem Moment bewegte sich ein schlanker Mann im anthrazitfarbenen Maßanzug mit Weste langsam auf sie zu. Irene musterte ihn: Ungefähr so groß wie ich, etwas älter als Martin. Aber was hat der denn für eine merkwürdige Haltung? Sieht aus, als würde er eine zentnerschwere Last tragen. Ob ihn der Mord so mitgenommen hat?
Als der Mann ihnen gegenüber stand, streckte er zuerst Irene die Hand entgegen: „Peter Sommerfeld. Hier ist meine Karte.“
„Meier. Sehr erfreut.“ Irene biss sich auf die Lippen.
Er wiederholte dieselbe Geste bei Martin.
„Martin Behringer … Haben Sie den Toten entdeckt?“
„Ich? Nein. Ich bin … die Firma gehört mir …“ Er fügte ein nachdenkliches „irgendwie“ hinzu.
„Wer hat den Toten gefunden?“
„Michael dr… Michael Wohlmuth. Wollen Sie mit ihm sprechen? Er hat aber bereits Ihren Kollegen alles erzählt.“
„Wo wurde der Tote gefunden?“
„Folgen Sie mir bitte!“
Beide lasen im Gehen die Visitenkarten in ihren Händen:
Isar Software AG
Maßgeschneiderte Software-Lösungen
Dr. Peter Sommerfeld, Geschäftsführer

Sie warfen sich einen Blick zu und zuckten mit den Schultern. Irritiert über das Schneckentempo, mit dem sie vorankamen, forschte Martin nach dem Grund: Was hat der denn für einen seltsamen Gang? Als ob er gleichzeitig läuft und dahinschleicht. Er ist doch kaum älter als ich … Unterschlägt einfach seinen Doktortitel. Sonderbarer Typ.

Dr. Sommerfeld blickte ziellos in den Raum, fast so, als wäre er zum ersten Mal hier. Irene und Martin nahmen zunächst die angestaute Wärme wahr, bevor auch sie sich umschauten. Im ehemaligen Teppichlager war ein modernes Großraumbüro eingerichtet. Die Schreibtische, die kreuz und quer im Raum herum standen, waren so gut wie alle besetzt. Hinter großen LCD-Monitoren saßen fast nur Männer, die fleißig auf ihren Tastaturen herum hackten. Auf den ersten Blick wirkte alles wie an einem normalen Arbeitstag. Was jedoch nicht in dieses Bild passte, war der gekrümmte Körper eines Mannes auf dem blutgetränkten Teppichboden. Mit einem flauen Gefühl im Magen näherte sich Irene der Leiche. Obwohl seit neun Jahren bei der Polizei war dies das erste Mordopfer, mit dem sie unmittelbar konfrontiert wurde. Was würde Martin wohl sagen, wenn ich in Ohnmacht falle?, ging es ihr durch den Kopf. Noch mal tief durchatmen … Ich muss mich ablenken, ich werde möglichst nüchtern die Fakten einordnen. Nüchtern? Warum hab ich beim Frühstück nur so zugelangt! Na ja, die Spurensicherung ist schon weg, wenn ich mich übergeben muss, vernichte ich zum Glück kein Beweismaterial. Irene nahm nun all ihren Mut zusammen und machte einen beherzten Schritt auf den Toten zu. Das eingetrocknete Blut auf dem dunklen, ausgewaschenen T-Shirt streifte sie nur mit einem kurzen Blick, um sich dann anderen Auffälligkeiten zuzuwenden: Lange Haare und ein ungepflegter Vollbart. Dazu noch alte Sandalen. Und die Löcher in seiner Jeans stammen ganz sicher nicht vom Designer.

„Ist das der Hausmeister? Oder der Nachtwächter?“, wollte Martin nun wissen.
Dr. Sommerfeld antwortete kopfschüttelnd: „Ach so. Nein, das ist Ludwig Handtke, er ist Diplom-Informatiker.“

Martin blickte von der Leiche zu Dr. Sommerfeld auf und meinte: „Ist schon ein ziemlicher Kontrast zu Ihrer Kleidung. Was hat er denn am Feiertag in der Firma gemacht?“
„Wissen Sie, meine Software-Entwickler können arbeiten, wann immer sie wollen. Er hat am Wochenende meist ganz normal gearbeitet, und ganz normal war für ihn von 19 Uhr bis um 4 Uhr morgens. Ein paar Kollegen haben sich zwar manchmal darüber beschwert, dass sie ihn nur selten zu Gesicht bekommen, aber den meisten genügte das vollkommen.“
Irene wurde hellhörig. „Das klingt ja so, als wäre er nicht besonders beliebt gewesen. Gab es Probleme?“
„Nun, wie Sie sehen, ist er noch ein Software-Entwickler der alten Schule, eine aussterbende Art. Ludwig konnte man jederzeit darauf ansetzen Programmfehler aufzuspüren. Aber er hat den Kollegen noch nach Monaten vorgehalten, was sie alles falsch gemacht haben. Es gibt bei uns einige, die auch lieber bis spät in die Nacht arbeiten. Wenn die dann plötzlich um 9 Uhr morgens anfangen, konnte man sicher sein, dass sie von Ludwig dumm angeredet worden waren und sie ihm für die nächste Zeit aus dem Weg gingen.“
Irene und Martin schauten sich an. Ist das etwa ein mögliches Mordmotiv?, schienen sich beide zu fragen.
Aus den Augenwinkeln beobachtete Irene wie sich von der Seite her ein sehr großer, etwa 50-jähriger Mann näherte. Trotz seiner wohl vorhandenen Körperfülle betonte sein modischer Anzug nur seine breiten Schultern. Seine respekteinflößende Erscheinung und die große Kaffeetasse mit einem bunten Cartoon in seiner linken Hand bildeten den ersten deutlichen Kontrast. Ganz und gar nicht passte jedoch zu ihm das schwarze Isolierband, mit dem sein rechtes Handgelenk umwickelt war. Während sie noch rätselte, was er wohl hier in der Firma macht, zwinkerte er ihr zu und legte den Zeigefinger auf die Lippen. Dann tippte er Martin auf die Schulter. Der fuhr herum und blickte zu ihm auf.
„Hallo Martin! In München gibt es wirklich zu wenige Verbrechen. Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen? Und deine Kollegin kenne ich noch gar nicht!“
„Hallo Hubert!“, begrüßte er leicht irritiert den Rechtsmediziner. „Ich dachte schon, du bist jetzt nur noch an der Uni. Freut mich, dass du auch noch selbst Hand anlegst. Obwohl es im Moment nicht gerade so aussieht.“
„Von wegen! Ich hab heute schon richtig schwer gearbeitet. Denk dir nur: Als ich ankam, saß der Tote auf seinem Stuhl, aufrecht wie eine Reklame der Berufsgenossenschaft für Bildschirmarbeitsplätze. Und als die Spurensicherung dann den Tatort untersucht hat, ist er heruntergerutscht, und ich musste eine Viertelstunde am Boden herumkriechen. Aber es hat sich gelohnt, der Kaffee hier ist wirklich ausgezeichnet. Diese Leute verstehen etwas von Drogen.“
Dr. Sommerfeld zuckte zusammen und wandte sich dann an Irene und Martin: „Sie können sich auch gerne bedienen. Der Kaffee ist frei.“
Beide nickten und sagten fast gleichzeitig: „Danke, vielleicht später.“
„Hast du sonst noch etwas herausgefunden?“, wollte Martin vom Rechtsmediziner wissen.
„Ja, aber das sag ich dir erst, wenn du mir deine Kollegin vorgestellt hast.“
Martin strahlte, als er begann: „Das ist Irene Meier. Sie ist seit November bei uns und hat schon viel zum Erfolg unserer Abteilung beigetragen.“
Irene reichte Professor Dr. Dr. Hubert Reinmüller die Hand, die in seiner verschwand und sagte lächelnd: „Sie kennen sich ja offensichtlich sehr gut. Also glauben Sie ihm bloß nicht. Er übertreibt.“
„Mein Name ist Hubert. Und ich werde dich einfach Irene nennen.“ Sie stutzte kurz und war dann von Huberts Charme so verwirrt, dass sie den Blick senkte.
Mit einem Augenzwinkern sagte er zu Martin: „Na vielleicht haben wir es mit einem Serienmörder zu tun. Wir sehen uns ja wirklich viel zu selten. In diesem Fall hätte die kriminelle Energie durchaus für mehrere Mordopfer gereicht. Der Tote hat drei Schusswunden.“
Irene und Martin schauten Hubert erstaunt an.
„Ja, er wurde durch dieses Fenster von hinten getroffen, durch dieses Fenster von vorn und dann noch mal von dort aus, wo ihr beide jetzt steht. Da war jemand sehr gründlich. Wahrscheinlich wollte er nicht, dass der Tote ihm vorhalten kann, er hätte einen Fehler gemacht. Der Exitus ist gestern zwischen 19:30 und 20:30 eingetreten. Soviel kann ich schon sagen.“
Völlig ungläubig wandte sich Dr. Sommerfeld an Martin: „Ich kann einfach nicht verstehen, warum jemand bei uns einbrechen sollte. Wir haben kein Bargeld hier und die Computer, die wir verwenden, sind handelsüblich. Mittlerweile bekommt man im Supermarkt bessere. Und soweit ich gesehen habe, fehlt nichts. Der Serverraum ist gesondert gesichert. Und da ist niemand eingebrochen.“
„Haben Sie eine Videoüberwachung?“
„Nein. Ich möchte nicht, dass sich meine Mitarbeiter kontrolliert fühlen. Obwohl ich manchmal zu gerne wüsste, was die den ganzen Tag so machen.“ Dr. Sommerfeld blickte zur Eingangstür und sagte nun wieder förmlich: „Da fällt mir ein: Vor ein paar Jahren wurden hin und wieder ein paar herumliegende Gegenstände gestohlen. Aber das hat aufgehört, als wir Schlösser mit Nummerncodes eingeführt haben.“

Als Martin wahrnahm, wie sich Hubert unbemerkt wegschleichen wollte, sagte er in dessen Richtung mit ungewöhnlich strengem Ton: „Dageblieben!“ Der fuhr erschrocken herum. Martin fügte lachend hinzu: „Ruf uns bitte an, wenn du etwas Neues herausgefunden hast. Wir kommen auch gerne persönlich vorbei, um uns die Ergebnisse abzuholen.“
„Aber zuerst mache ich nochmal einen Abstecher in die Küche.“ Zu Dr. Sommerfeld gewandt sagte er: „Ich werde bezüglich Ihrer Kaffeemaschine als Werksspion tätig. So eine möchte ich unbedingt auch im Institut haben.“
„Bei uns ist Kaffee das wichtigste Hilfsmittel. Sie glauben gar nicht, wie entscheidend eine gute Kaffeemaschine für den Erfolg in der Softwareentwicklung ist.“
Nachdem Hubert mit seinem schwarzen Notizbuch in der Küche verschwunden war, fuhr Martin mit der Befragung fort: „Woran hat Herr Handtke zur Zeit gearbeitet?“
„Ludwig war an mehreren Themen dran. Er hat unser Lohnbuchhaltungssystem noch mal durchgecheckt. Ein paar Kunden haben einen Fehler in der Verbuchung gemeldet, und leider ist das durch unsere Tests nicht nachzuvollziehen. Außerdem war er noch immer mit der Aktienmarktanalyse betraut.“
„Sie analysieren den Aktienmarkt?“
„Nicht wir, das Programm. Es wird bei allen notierten Aktien nach systematischen Schwankungen gesucht, und wenn welche zu erkennen sind, kann man daraus die Kursgewinne automatisch abschöpfen. Wir sind übrigens schon weiter als die Politik. Bei unserem Programm kann man auch eingeben, welche Transaktionssteuer zu entrichten wäre.“
„Ist das eine Marktlücke? Könnte Herr Handtke deswegen in Gefahr gewesen sein?“
„In diesem Bereich arbeiten selbstverständlich auch andere Firmen. Aber unsere Firma ist wirklich außergewöhnlich. Meine Leute sind gefragte Spezialisten. Ein ehemaliger Kollege ist sogar beim BND gelandet. Ich werde zweimal im Jahr von ihm kontaktiert und dann plaudern wir über die gute alte Zeit.“
Irene, die das Gespräch wieder auf das Mordopfer zurückbringen wollte, fragte: „Haben Sie in letzter Zeit Veränderungen an Handtke festgestellt?“
„Ja, er pflegte sich sorgfältiger als früher.“
Sie und Martin schauten verdutzt zur Leiche am Boden.
Dr. Sommerfeld meinte nur: „Ach so! Sie hätten ihn vorher sehen sollen. Er kam meist ungekämmt ins Büro. Ehrlich gesagt war ich froh, dass er in der Nacht gearbeitet hat. Manchmal besuchen uns Kunden, und die sind mittlerweile daran gewöhnt, dass auch Software-Entwickler einen ordentlichen Eindruck machen.“
„Und in letzter Zeit war hier ein Wandel festzustellen?“
„Ja, wie gesagt, seit etwa drei Monaten. Mir ist es nur durch Zufall aufgefallen. Er kam herein, zog seine Sandalen an und strich sich die langen Haare aus der Stirn. Erst da hab ich gemerkt, dass sein T-Shirt nicht mehr die vielen Teeflecken aufwies. Und am nächsten Tag trug er ein anderes. Ähnlich schäbig, aber zumindest gewaschen. Er wirkte an beiden Tagen richtig entspannt, irgendwie … glücklich.“
„Hat er sich seitdem auch gegenüber seinen Kollegen anders verhalten?“
„Das kann ich nicht sagen. Seit einiger Zeit arbeiten die meisten so, dass sie ihm möglichst nicht begegnen. Das ist für mich fast schon eine Katastrophe. Die Leute sind am Morgen unausgeschlafen, und niemand macht mehr Überstunden.“
Martin schaute sich um. Was sind das nur für Leute?, fragte er sich. Die meisten sitzen vor ihren Bildschirmen und sind in ihre Arbeit vertieft. Dabei liegt der Tote noch immer mitten im Raum! … Da hinten tuscheln ein paar miteinander … Hier scheint es ja tatsächlich um den Ermordeten zu gehen. Aber sieht so Betroffenheit aus?
Martins Blick landete wieder bei Dr. Sommerfeld. „Gab es jemanden, der ein gutes Verhältnis zum Verstorbenen hatte?“
Dr. Sommerfeld räusperte sich. „Eigentlich haben wir hier ein sehr kollegiales Betriebsklima. Wir sind wie eine große Familie.“
Martin kannte solche Familien zur Genüge. Mit einem besonders kritischem Gesichtsausdruck, der ihm auch diesmal mühelos gelang, fixierte er nun einzelne der sogenannten Familienmitglieder. Fast alle blickten kurz zu ihm auf und versuchten, dann hinter den Monitoren wegzutauchen. Ihm war klar, dass die Befragungen hier sehr vorsichtig durchgeführt werden mussten. Und dazu brauchten sie erst einmal mehr Informationen.
„Können Sie mir bitte eine Liste aller Ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zukommen lassen mit den Berührungspunkten zur Arbeit von Herrn Handtke?“
Man sah Dr. Sommerfeld sogar körperlich an, wie er sich herauswinden wollte. „Wir möchten natürlich alle, dass der Mord an Ludwig aufgeklärt wird. Aber ich will nicht, dass einer meiner Leute zur Konkurrenz geht, weil er durch Ihre ständige Fragerei belästigt wird.“
„Nun, wenn Sie uns diese Liste zukommen lassen, ersparen Sie Ihren Mitarbeitern schon mal eine Menge unnötiger Fragen.“
„Also gut, ich schicke sie Ihnen“, sagte Dr. Sommerfeld, wenn auch noch immer widerstrebend.
Martin reichte ihm seine Visitenkarte, während er dachte: Er möchte uns loswerden. Na schön, den Gefallen tun wir ihm. Bin schon gespannt, was er uns mitteilt.
Dr. Sommerfeld schob Martins Visitenkarte in die Anzugtasche, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. „Sie beide tun ja nur Ihre Pflicht. Aber ich bin immer etwas gereizt, wenn meine Leute bei der Arbeit gestört werden.“
„Der Mord scheint Ihre Leute ja ziemlich kalt zu lassen.“
„Glauben Sie nur das nicht! Sie haben ja nicht die Bestürzung erlebt, als die Leiche entdeckt wurde. Aber die Arbeit bedeutet für viele eine Ablenkung von jeglichen Problemen.“ Er biss sich auf die Unterlippe.
„Ich würde trotzdem gerne auch kurz mit Herrn Wohlmuth reden.“
„Mit wem?“
„Sie haben doch gesagt, dass er den Toten gefunden hat.“
„Ach so ja. Wir nennen uns nur beim Vornamen. Also schön …“

Dr. Sommerfeld musste Michael Wohlmuth mehrmals auf die Schulter tippen, so vertieft war der junge Mann in seine Arbeit.
Er blickte Irene und Martin nur kurz an und sagte dann knapp: „Ich hab schon alles erzählt.“ Er machte sich sofort wieder an seine Arbeit.
Martin fragte Dr. Sommerfeld: „Wo können wir uns mit Herrn Wohlmuth ungestört unterhalten?“
„Ist das wirklich nötig?“
„Es dauert nicht lange.“
„Nun gut. Gehen Sie ins Besprechungszimmer. Im Gang, die erste Tür links.“
Michael wandte sich an Dr. Sommerfeld: „Komm mit! Ich möchte sicher gehen, dass mir nicht das Wort im Mund herumgedreht wird.“
„Du musst doch nur dasselbe sagen, wie vorhin … Also gut, ich komme mit. Ich weiß ja, dass du nicht gerne mit anderen redest.“

Mit den Händen in den Hosentaschen ging Herr Wohlmuth in das Besprechungszimmer.
Als alle vier am Tisch saßen, fragte Martin im Plauderton: „Wann haben Sie Herrn Handtke entdeckt?“
„Kurz vor acht. Ich konnte nicht schlafen und hab früher als sonst angefangen.“ Er blickte zu Boden und fügte hinzu: „Ich wusste sofort, dass er tot ist … Ich meine, er hat sich nicht gerührt.“
„Sie haben ihn nicht sonderlich gemocht?“
„Er war einer der Besten.“
Martin lächelte und fragte: „Und was haben Sie gestern Abend gemacht?“
„Was tut das zur Sache? Ich hab nur den Toten gefunden. Hätte ich das etwa ignorieren sollen?“
Martin blickte ihm geduldig in die Augen.
„Ich … ich war zu Hause.“
Martin schüttelte den Kopf.
Herr Wohlmuth fragte erschrocken: „Haben Sie uns etwa gesehen?“
„Sie wollen diese Beziehung also geheim halten?“
„Ines lebt in Scheidung. Wenn das herauskommt … Sie und ihr Mann haben einen Ehevertrag … Der wartet nur …“
„Danke, das war alles! Sie haben ja ein Alibi.“
Völlig verdattert verließ Herr Wohlmuth das Besprechungszimmer. Dr. Sommerfeld blickte ihm irritiert nach. Dann murmelte er vor sich hin: „Das war also sein gehütetes Geheimnis.“
„Es bleibt auch weiterhin eines. Er hat ja nur den Toten aufgefunden.“
Sie reichten Dr. Sommerfeld die Hand und als er sie hinausbegleiten wollte, sagte Martin: „Nicht nötig. Wir finden den Weg.“

Als sie im Gang waren, flüsterte Irene ihm zu: „Woher wusstest du?“
„Dass er nicht der Mörder ist?“
„Nein, das andere.“
„An seinem Hemdkragen war Blut oder Lippenstift. Und nachdem der Mord ja schon gestern verübt wurde …“
„Und das reicht dir, um ein Geständnis heraus zu pressen?“
Martin zuckte mit den Schultern und sagte dann lächelnd: „Ja.“
Sie öffneten die Eingangstür und sofort schlug ihnen der kalte Wind entgegen.

Zu ihrer Überraschung wartete Hubert auf dem Parkplatz und winkte ihnen zu. Unwillkürlich rückten sie voneinander ab und blickten starr nach vorn.
Als sie vor ihm standen, sagte er lachend: „Ein herrlicher Tag! Die Sonne tut gut, auch wenn sie nicht wärmt. Übrigens wegen mir müsst ihr nicht so viel Abstand halten. Als ihr hier angekommen seid, habe ich euch zufällig beobachtet. Da war mir sofort klar, dass ihr nicht nur Kollegen seid.“
Irene meinte verwundert: „Aber wir haben doch gar nicht …“
„Ich sehe noch sehr gut und ich weiß, was es bedeutet, wenn man sich beim Aussteigen aus dem Auto so anschaut. Ich freue mich für euch.“ Zu Martin gewandt fügte er hinzu: „Ich habe schon erwartet, dass du bald mal eine Frau findest, nachdem du fleißig das Tanzbein schwingst.“
Martins Mund stand offen. „Woher weißt du … ?“
„Meine Frau und ich haben mal einen Auffrischungskurs gemacht. Und rate mal, wer da gerade eine Runde auf dem Parkett gedreht hat? Aber ich bin wirklich froh, dass es nicht die Frau ist, mit der ich dich damals gesehen habe, sondern … diese reizende Dame.“
Irene wurde rot und schaute Hubert dann misstrauisch an.
Hubert überging beides und meinte nur: „Wenn ihr mich ab und zu besuchen kommt, verrate ich niemanden etwas.“
Martin nickte lächelnd. „Wir kommen gerne. Du bist übrigens der Einzige, der aus seinen Beobachtungen die richtigen Schlüsse zieht.“
„Also sind deine Mitarbeiter betriebsblind. Wird auch gut für euch sein … Den Obduktionsbericht schick ich euch per Mail. Ich hab noch keine Ahnung, wann ich ihn mir vornehme. Ich muss noch an die Uni. Aber die weiteren Details können wir auch gerne bei einem gemeinsamen Essen besprechen.“
Irene und Martin schauten deutlich angewidert, bevor sie mit einem zaghaften Nicken ihre Zustimmung signalisierten.

Kaum hatte sich Irene hinter das Lenkrad gesetzt, sagte sie bestimmt: „Deine Tanzkurse sind gestrichen! Das fehlt mir noch, dass sich dort die Konkurrenz an dich presst.“ Erschrocken über sich selbst, fügte sie besorgt hinzu: „Wann … wann hast du denn deinen nächsten Kurs?“
Martin lächelte. „Meine Tanzkurse sind gestrichen.“
Irene wirkte noch immer angespannt. „Ich möchte aber nicht, dass du wegen mir auf etwas verzichtest, was dir Freude macht.“
„Ich hab schon beschlossen mit dem Tanzen aufzuhören, bevor wir beide …“
„Und wieso?“
„Meine Partnerin und ich haben zum ersten Mal ein Turnier gewonnen, und mein Tanzlehrer wollte, dass ich Profitänzer werde.“
Irene blickte Martin verwundert an. Mehrmals setzte sie an, aber immer wieder schüttelte sie den Kopf. Ihre Gedanken überschlugen sich: Profitänzer? Wie passt das zusammen? Er war doch in den letzten Wochen immer mit mir zusammen. Warum frage ich ihn nicht endlich mal? Er hat mich doch immer ermuntert.
Martin zuckte nun selbst ungläubig mit den Schultern. „Ich weiß, wie sonderbar das klingt. Aber mir war damals sofort klar, dass ich mit dem Tanzen aufhören werde. Es war für mich immer nur ein Hobby.“
„Wann…? Wann war das?“
„Am 11. November, letztes Jahr.“
Wieder schwieg Irene. Dann fragte sie leise: „Wie lange hast du trainiert?“
„Sechs Jahre. Mir ist auch schon aufgefallen, dass ich aufgehört habe, als du in mein Leben getreten bist. Allerdings wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, ob du mich jemals wahrnehmen würdest …“
„Und deine Partnerin?“
„Ich gehe davon aus, dass sie weitermacht.“
Martin blickte sich kurz um, sah Hubert wegfahren und drückte Irene dann an sich. „Und du? Sag mir bitte, wenn dir etwas fehlt, wenn du etwas unternehmen möchtest.“
„Da fällt mir schon gleich etwas ein: Bis Mitte Januar müssen wir unseren Jahresurlaub einplanen.“
„Dann werden wir heute Mittag unsere Wunschtermine festlegen!“
Irene atmete hörbar aus und fuhr dann entspannt los.
Ihr Kopf war nun wieder frei und so kam sie wieder auf den Fall zu sprechen. Mit nachdenklicher Miene sagte sie: „Wer erschießt jemanden dreimal? Und dann noch aus unterschiedlichen Richtungen. War da so viel Hass im Spiel? Oder haben wir es tatsächlich mit Gründlichkeit zu tun? Wir sollten mal das Bankkonto von Handtke überprüfen. Würde mich echt interessieren, ob er das Geld für den Friseur und ordentliche Kleidung hatte.“
„Und wir sollten seinen Lebenslauf checken. Vielleicht hatte er auch anderswo Feinde.“
„Dann könnten sich tatsächlich drei verschiedene Täter finden, die ihn aus dem Weg haben wollten. Aber warum am gleichen Tag?“
Martin lachte. „Drei Mörder im heiligen Auftrag!“, sagte er in Anspielung auf den Feiertag Heilige Drei Könige, der in Bayern am 6. Januar gefeiert wird.
Irene freute sich diebisch: „Wie wär's, wenn wir die Nachforschungen wegen Handtke direkt im Präsidium anleiern? Sollen Freddie und Werner nur meinen, dass wir im Park spazieren gehen.“
„Gute Idee. Dann stelle ich dir bei dieser Gelegenheit meine Kontakte vor. Die von Werner sind zwar um einiges schneller, aber einen Einblick in die Vermögensverhältnisse eines Mordopfers, bekomme auch ich problemlos.“

Mit raschen Schritten führte er Irene durch die langen Gänge des Präsidiums. Schließlich standen sie vor einer verschlossenen Tür. Martin las den Zettel, der darauf angebracht war, und murmelte peinlich berührt: „Die sind bereits vor drei Monaten umgezogen. Zu dumm, wir hätten uns den ganzen Weg sparen können. Das neue Büro ist gleich neben den Eingang.“
Plötzlich ertönte von der Seite her eine angenehme, sonore Stimme: „Na so was, Frau Meier! Wollen Sie wieder ein Phantombild anfertigen lassen?“
Irene fuhr herum und blickte Herrn Hofer verdattert an. Der lächelte breit. „Sehr geschickt von Ihnen, dass sie Ihren Mann diesmal gleich mitgebracht haben. Dann ist ein Irrtum ausgeschlossen. Wäre blöd, wenn nach ihm gefahndet wird …“
Martin blickte zwischen Herrn Hofer und Irene hin und her. Dann lächelte er wissend: „Hatte das Phantombild etwa Ähnlichkeit mit mir?“
„Sie waren sehr gut getroffen!“ Zu Irene sagte Hofer: „Ich hätte Ihren Mann unter tausenden herausgefunden. Sie sind bei der Polizei goldrichtig. Aber Sie haben es wohl eilig.“
Irene nickte verlegen. Schweigend gingen sie weiter, bis sie vor der angegebenen Zimmernummer ankamen. Martin sagte gerührt: „Du hast schon damals an mich gedacht? … Mir ging es ja auch nicht anders. Ich hab von dir geträumt.“
Bevor sie sich umarmen konnten, öffnete sich die Tür und ein kauziger Mann trat heraus: „Hat Werner schon wieder Urlaub?“
„Hallo Harry! Nein, aber er ist jetzt meist mit Freddie unterwegs, und da dachte ich …“
„…, dass du mich mal wieder vor eine Aufgabe stellst. Aber ich muss dich enttäuschen. Ich gehe ab morgen in meinen wohlverdienten Ruhestand. Es wird also noch länger dauern als sonst. Möchtest du nun doch lieber Werner hinzuziehen?“
„Nein, ich hab Ire… Frau Meier von euch vorgeschwärmt.“ Er wandte sich Irene zu: „Das ist Harry Bryzinsky.“ Während Harry Irenes Hand schüttelte fügte Martin ganz beiläufig hinzu: „Diesmal warten wir ab, bis wir von euch die gewünschten Ergebnisse bekommen.“
Bryzinsky schluckte und führte die beiden ins Büro. „Du hast vielleicht eine Art, uns unter Druck zu setzen. Um wen geht es?“
„Ludwig Handtke.“
„Mit t oder mit dt?“
„Mit dt.“
Er tippte den Namen und fragte dann: „Welchen?“
Martin deutete auf eines der drei Fotos, das einen jüngeren, aber auch wilderen Ludwig Handtke zeigte.
„Der da? Ist er ein Mörder?“
„Nein, er wurde ziemlich gründlich ermordet.“
„Ermordet? … Aber trotzdem kann ich dir nicht helfen. Das weitere macht mein Lehrmädel. So wie ich den Laden hier kenne, wird sie ab morgen ohne viel Aufhebens meine Nachfolgerin. Viel zu früh, obwohl sie sich reinhängt. Sie hat nun mal nicht meine Connections.“
„Mal sehen, was sie erreicht. Falls sie alte Steuerunterlagen einsehen kann, soll sie uns die früheren Firmen auflisten, bei denen Handtke zuvor gearbeitet hat.“
„Ihr wollt also überprüfen, ob er Feinde hatte.“
„Aber das ist nicht Aufgabe deiner Nachfolgerin. Dazu müsste sie ja eine Detektei beauftragen.“
„Die soll ruhig mal wissen, was ihr alles braucht.“ Er schrieb das Post-it voll und meinte dann: „Sie müsste bald wieder da sein. Sie hat am Vormittag eine EDV-Weiterbildung. Als ob das ausreicht. Na ja, die wird ganz schön rotieren, wenn ich nicht mehr da bin … Möchtest du mitkommen, ich feiere ab 12 meinen Ausstand.“
Martin winkte ab. „Ist gerade erst elf. Wir müssen dann mal wieder. Schickt eure Ergebnisse an Frau Meier.“
„Ist sie dein Lehrmädel?“
„Was …? Nein, Frau Meier ist Kommissarin!“
„Kommissarin? Ach wirklich?“
„Ja, wirklich!“, sagte Martin ärgerlich.
Bryzinsky notierte noch etwas an den Rand des Zettels und verabschiedete sich dann sehr förmlich von Irene, wohingegen er zu Martin sagte: „Ich bin ja mal gespannt, wie es hier weitergeht. Meine Kumpels werden mir schon berichten, wenn hier alles den Bach runter geht.“

Sie verließen das Präsidium. Irene schüttelte den Kopf: „Eine dreiviertel Stunde für ein läppisches Post-it. Wir hätten ebenso gut in den Park gehen können.“

Als sie wieder im Büro eintrafen, taxierte Freddie die beiden neugierig. Doch dann wanderte sein Blick besorgt zur vollen Kaffeetasse auf seinem Schreibtisch. Martin verstand sofort: Nach der Teambesprechung wäre sein Kaffee kalt. Er lächelte und sagte nur: „Wir können uns auch gleich hier unterhalten. Wir sind ja nur zu viert.“
Werner nickte bestätigend. „Und das nun drei Wochen lang. Hans und Stefan sind gemeinsam zum Snowboarden. Ich konnte ja sogar mitansehen, was sie alles mitnehmen. In den letzten Wochen haben sie sich ihre ganzen Utensilien hierher liefern lassen.“
Martin verdrehte die Augen und stieß die Luft aus. Erst dann berichtete er, begleitet von Freddies Schlürfgeräuschen, über den Mord und den bisherigen Erkenntnisstand.
„Was denn, gleich drei Schussverletzungen? Und ich dachte, so ein IT-Job ist eher ungefährlich“, sagte Werner verwundert.
Freddie fühlte sich unbehaglich. IT war für ihn vermintes Gelände. Ohne direkten Blickkontakt zu Martin fragte er zögernd: „Mir ist noch nicht klar, was das für eine Arbeit ist. Du sagst, er findet Fehler? Bedeutet das, er hat die Arbeit seiner Kollegen gegengelesen? Ich kann mir schon vorstellen, dass man so einen umbringen möchte.“
Werner seufzte fast unmerklich, bevor er betont langsam erklärte: „Im Computer laufen Programme ab und wenn die Fehler haben, dann kommen falsche Ergebnisse heraus. Und solche Fehler hat er gefunden.“
Freddie hakte noch mal nach: „Dann hat er alles nachgerechnet? Und die Summe hat nicht übereingestimmt? Aber beim Nachrechnen kann man sich doch auch verrechnen.“
„Nein, der hat nicht nachgerechnet. Der hat die Logik der Programme überprüft, ob die stimmt.“ Werners Stimme klang einen Ton schärfer.
„Aber da gibt es doch unterschiedliche Ansichten. Wenn ich etwas logisch finde, dann sagt meine Frau, es kann ebenso anders sein. Und meistens hat sie recht.“
Genervt gab Werner auf. Um Freddie abzulenken, erzählte er: „Im Präsidium haben sie uns auch mal einen Programmierer vorbeigeschickt. Gekleidet wie für den Laufsteg. Zwei Tage hat er alles Mögliche versucht. Trotzdem ist der Computer danach immer noch abgestürzt, wenn drei Leute zugleich die Enter-Taste gedrückt haben.“
Freddie war ins Gesicht geschrieben, dass er zu gerne mehr verstehen wollte, er schwieg aber dann doch. Als er merkte, dass ihn alle erwartungsvoll anschauten, erhob er sich und sagte: „Ich werde heute mal eine längere Mittagspause machen. Bei diesem Fall kommt ihr ohne mich sowieso viel besser voran.“
Bevor ihm Martin widersprechen konnte, hatte Freddie schon seine Trachtenjacke vom Bügel gezerrt. Energisch steuerte er auf die Tür zu, ließ sie ungebremst ins Schloss fallen und verschwand nach draußen.
Die drei blieben zunächst schweigend sitzen, aber dann hatten es auch Irene und Martin eilig wegzukommen. In alter Gewohnheit bemühten sie sich, so gut es ging, ihre Vorfreude zu verbergen. Ihnen war nicht entgangen, wie Werner ihre betont distanzierte Art aufmerksam beobachtete. Unvermittelt stellte er sich Martin in den Weg. „Ich gehe heute auch mal zum Einkaufen, warte aber noch, bis ihr wieder zurück seid.“
Martin versuchte, Werners Gesichtsausdruck zu deuten, war sich aber nicht sicher. Hatte er bereits mitbekommen, dass sie die Mittagspause gemeinsam verbringen?
Indessen sprach Werner weiter: „Marion hat nächste Woche Geburtstag. Wird schwierig, für sie das passende Geschenk zu finden … Sei froh, dass du dieses Problem nicht hast.“
Irene sagte verschmitzt lächelnd: „Wenn die Warteschlange nicht zu lang ist, bin ich in einer halben Stunde zurück.“
„Nein, lass dir ruhig Zeit. Ich gehe lieber erst nach eins zum Einkaufen, dann ist in den Geschäften weniger los.“
„Dann kann ich ja mal ganz in Ruhe essen.“
Auch Martin nickte. „Wenn du hier aufs Telefon aufpasst, kann ich mir auch eine richtige Mittagspause gönnen. So ein erster Arbeitstag nach dem Urlaub setzt mir ganz schön zu. Ich bin dann gegen eins wieder da.“
„Ich bin ja froh, dass ich danach weg kann. Hat sich nicht so angehört, als ob Freddie so bald wiederkommt. Da hab ich mir fast ein Eigentor geschossen.“
„Mich hat gewundert, dass er sich so viel Mühe gibt, alles noch mal zu hinterfragen. Normalerweise interessiert ihn das Thema Computer überhaupt nicht.“
„Ach so, daran hab ich eine gehörige Portion Schuld. Freddie hat bei Hamlet mitgespielt. Seine Frau hat ihn dazu überredet, in einer Schulvorführung aufzutreten.“
Irene und Martin lachten wissend. Sofort hatten sie wieder ein fiktives Bild vor Augen: Freddie im Scheinwerferlicht … in Strumpfhosen. In Strumpfhosen seiner Konfektionsgröße!
Werner schaute zwischen beiden hin und her. „Dann erzähle ich euch also nichts Neues? Na ja, jemand hat seinen Auftritt auf Youtube veröffentlicht. Ist irre komisch, was er aus dieser Tragödie gemacht hat. Circa 53.000 Aufrufe und gut 1.000 Likes. Wenn ihr mich fragt: Er hätte eine Million Aufrufe verdient. Jedenfalls war er total überrascht, dass ich den Film hier in der Arbeit anschauen kann. Er dachte, der wird nur im Regionalfernsehen gezeigt.“ Werner blickte in besorgte Gesichter. „Wenn ich ihm gesagt hätte, dass man seinen Auftritt überall auf der Welt sieht, wäre er wahrscheinlich vor Scham im Erdboden versunken. Also hab ich ihm weisgemacht, dass ich mir das Video von meinem Computer zu Hause hierher geschickt habe.“
Irene fragte schon jetzt amüsiert: „Zeigst du's uns …?“ Weiter kam sie nicht.
„Nein, auf keinen Fall! Und falls du es dir daheim anschaust, lass dir bloß nichts anmerken.“
„Steht sein Name dabei?“, fragte Martin nun wieder ernst.
„Zum Glück nicht. Elisabeth hat ja ihren Mädchennamen bei der Eheschließung behalten, und er steht jetzt als Freddy Reynolds im Netz. Ihr Vater ist Amerikaner.“
„Ich hab mich schon gewundert. Ich dachte, Elisabeth verwechselt immer meine Nummer im Display mit einer von einem Reynolds.“
„Ich weiß das von Marion. Seit der Weihnachtsfeier trifft sie sich öfter mit Elisabeth.“
„Dann hat sich die gemeinsame Feier ja gelohnt.“
„Das kann man wohl sagen. Die beiden bestärken sich gegenseitig.“ Werner schaute vielsagend zu Irene und schwieg.
Die dachte nur: War meine Schuld. Ich hätte ja damals auch die Gelegenheit nutzen können, die beiden näher kennenzulernen. Wahrscheinlich halten sie mich für eine arrogante Kuh. Mit einem Schulterzucken ging Irene freimütig darüber hinweg und wandte sich stattdessen Martin zu: „Vielleicht sollten wir mal gemeinsam zum Essen gehen. Ich sag dir, was ich hier so alles aufschnappe, und du erzählst mir, warum du davon bisher nichts mitbekommen hast.“
„Du wusstest das mit den unterschiedlichen Namen?“ Martin konnte es nicht glauben.
„Seit meinem zweiten Arbeitstag.“
„Also dann bis später, Werner, falls das dein richtiger Name ist“, sagte Martin lachend und öffnete die Tür.

Erst als sie vom Büro aus nicht mehr zu sehen waren, legte Martin den Arm um Irenes Schulter. Sie schlenderten über den Viktualienmarkt, warfen immer wieder einen Blick auf das sorgfältig geschichtete Obst und Gemüse, das auch zu dieser Jahreszeit mit der ganzen bunten Vielfalt dargeboten wurde. Je näher sie dem Bistro im Biosupermarkt kamen, umso mehr entspannten sie sich.

Mit ihren vollen Tabletts setzten sie sich an einen Tisch am Fenster, der von der Sonne hell beschienen wurde. Martin blinzelte und schloss die Augen, fühlte die wohlige Wärme auf seinem Gesicht. Er geriet ins Träumen. Der Urlaub in Südtirol war wieder ganz nah.
Irene betrachtete sein entspanntes Gesicht und lächelte. Auch sie schwelgte in Erinnerungen: Jeder Tag mit ihm war ein kleines Wunder. Woher weiß er nur immer, was ich mir wünsche? … Am liebsten würde ich sofort wieder mit ihm wegfahren. Etwas zu hastig fragte sie: „Wohin wärst du in Urlaub gefahren, wenn ich nicht …?“
„Zum Glück bist du jetzt bei mir. Ich kann es dir ja ruhig … sagen, ansonsten erfährst du es sowieso von den anderen: Im April hab ich meistens einen Wellnessurlaub gemacht, im Sommer bin ich ans Meer gefahren und den Winterurlaub hab ich neben der Heizung verbracht. Und du?“ Auch Martins Frage kam zu schnell.
Irene griff nach dem Löffel, ohne ihn zu benutzen. Er hat die gleichen Ängste wie ich, stellte sie beruhigt fest. Sie schaute Martin zärtlich an. „Im Sommer war ich oft am Bodensee, im Herbst beim Wandern und an Weihnachten habe ich mich daheim hinterm Ofen verkrochen.“
„Dann haben wir uns ja schon mal diese Weihnachten hinter dem Ofen hervor gelockt. Zeigst du mir den Bodensee?“
„Ja. Aber zuerst machen wir im April einen Wellnessurlaub. Welches Hotel hättest du denn gebucht?“
„Ich kenne da ein schönes Biohotel. Ich war schon ein paar mal dort.“
„Mit wem?“, platzte es aus Irene heraus.
Martin wich erschrocken etwas zurück: Oh je! Ich erzähle ihr besser nichts von Marlene. Mit leicht schlechtem Gewissen sagte er nur: „Du bist meine Einzige!“
Irene schaute nun zerknirscht auf den Teller, der immer noch unberührt vor ihr stand. Sie kämpfte mit sich: Ich kann ihm doch nicht vorhalten, dass er vor mir eine Freundin hatte. „Ich werde dir im Sommer den Bodensee zeigen. Du sollst auch sehen, dass du mein Einziger bist.“
Irene spürte seine Hand auf ihrer Wange und fühlte sich sofort geborgen. Ihr Appetit meldete sich zurück. Während sie sich das mittlerweile lauwarme Essen schmecken ließen, wurden sie sich schnell über die Urlaubsplanung einig. Möglichst unauffällig schaute Irene auf Martins Notizen, als würde sie von ihm die Prüfungsergebnisse abschreiben.

Punkt eins öffnete Martin die Eingangstür. Theatralisch sprang Werner auf und beeilte sich wegzukommen, um seine Einkäufe zu erledigen. Irene lächelte und zog Martin weiter in sein Büro. Sie schloss die Tür und atmete tief durch. „Endlich haben wir hier mal unsere Ruhe. Aber gleichzeitig fehlt uns jeglicher Anhaltspunkt, warum jemand diesen Tramp beseitigen wollte.“
„Was denn? Du glaubst nicht, dass er aus dem Weg geräumt wurde, weil er die Programme der anderen nachgerechnet hat. Ich kann mir gut vorstellen, dass man so einen umbringen möchte“, sagte Martin mit Freddies Tonfall.
„Ach du! Na warte!“ Irene machte einen entschiedenen Schritt auf Martin zu, schmiegte sich dann jedoch an ihn und beide vergaßen die Zeit.

Freddie klopfte an der Tür. Irene und Martin nahmen schnell ihre Plätze am Besprechungstisch ein. Nach einem kräftigen „Herein“, wurde die Tür geöffnet. Von der Küche her drang das Gurgeln der Kaffeemaschine, das sich mit einem weiteren Geräusch mischte.
„Das Faxgerät spukt ein Blatt nach dem anderen aus. Habt ihr beim Einwohnermeldeamt nachgefragt, wer alles in München wohnt?“, fragte Freddie gut gelaunt.
Im Nu standen beide im Türrahmen. Freddie hielt zwei Blätter Papier in Händen. „Mann, hier sind alle mit dem gleichen Vornamen durchnummeriert. Bin schon gespannt, wie viele es mit dem Namen Freddie gibt.“
„Was? Echt?“, meinte Martin irritiert.
„Ja hier steht Alf Brüggel und daneben Fred 1. Die sind schon ganz dicht dran, auch einen Freddie in ihrer Liste zu haben.“
„Was ist das denn überhaupt?“
„Ist jedenfalls für dich.“ Freddie reichte Martin die Seite eins, der begann, den Text laut vorzulesen:

Sehr geehrter Herr Behringer,
anbei übersende ich Ihnen zwei Übersichten über die MitarbeiterInnen der Isar Software AG, getrennt nach Entwicklung und Verwaltung, mit allen mir zugänglichen Informationen. Für weitere Fragen stehe ich gerne zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Peter Sommerfeld

„Ach so, das kommt von der Computerfirma.“ Als der Papierfluss aufhörte, wandte sich Martin an Freddie: „Möchtest du uns helfen, Verdächtige herauszufiltern?“
„Ich glaube, das wäre eher was für Werner. Der kennt sich mit Computern aus. Ich lass besser die Finger davon. Zu dumm, dass er nicht hier ist.“
„Er ist noch zum Einkaufen. Marion hat Geburtstag. Ich denke, wir schaffen das auch ohne ihn. Und wenn nicht, müssen wir halt auf ihn warten.“
Martin holte die restlichen Blätter aus dem Faxgerät und verschwand mit Irene wieder in seinem Büro.
Sie breiteten die zehn Blätter auf dem Besprechungstisch aus. Nach einem langen Blick auf die Namensreihen sagte Irene: „Nur vier Frauen in der Entwicklungsabteilung. Bei der Verwaltung ist das Verhältnis genau umgekehrt: 10 Kolleginnen und ein Kollege. Buchhaltung, Controlling, eine Sekretärin. Wie viele Beschäftigte sind das insgesamt? 10 … 20 … 30 … 41. Fünf davon haben sogar einen Doktortitel. Vielleicht hat dieser Peter Sommerfeld deshalb seinen nicht extra erwähnt.“
„Das ist dir also auch aufgefallen. Er wirkte überhaupt recht locker, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als wir seine Leute befragen wollten.“
„Er behandelt sie wie rohe Eier. Was meinst du, wie er sich aufführt, wenn sich herausstellen sollte, dass drei davon Mörder sind!“
„Drei verschiedene Täter? Aber warum sollten alle am selben Tag auf den Gedanken kommen, ihren Kollegen zu ermorden? Oder kann es eine Gemeinschaftstat sein?“
„Vielleicht finden wir ja einen Hinweis in der Liste.“

Die vielen irrelevanten Informationen ermüdeten sie rasch.
Irene sagte mürrisch: „Nicht ein Hinweis, der uns weiterbringt. Nur Details über Qualifikationen und Abschlüsse. Ob der damit seine Personalakten füllt? … Da sind noch ein paar handschriftliche Anmerkungen. Ich werde aus dem Buchstabensalat nicht schlau … Kannst du die Schrift vom Herrn Doktor lesen?“
Martin drehte das Blatt etwas zur Seite und meinte dann: „Ich würde sagen, das heißt Buchhaltungsprogramm. Ich hab mich nur gewundert, dass sich so wenige damit befassen.“
„Stimmt! Wenn das Buchhaltungsprogramm so wichtig ist, sollte doch die halbe Abteilung daran arbeiten.“
„Und das heißt entweder Serveranwendung oder … vielleicht doch etwas anderes. Hier gibt es immerhin eine Verbindung zu neun Kollegen und einer Kollegin. … Und hier steht Reisekostenabrechnung, Gehaltsnachweise, Bestellungen und Büromaterial.“
„Eine Menge Text.“ Sie vertiefte sich in die Kommentare und schüttelte dann den Kopf: „Liest sich so, als wären einige von den Verwaltungsangestellten vorbestraft. Er will den Verdacht auf sie lenken. Die hält er wohl für entbehrlicher.“
Martin legte diese drei Blätter zur Seite. „Dann konzentrieren wir uns ausschließlich auf seine ach so wertvollen Spezialisten. Handtke wurde ja schließlich nicht mit Büromaterial ermordet.“

Während sie sich noch immer durch die für sie belanglosen Qualifikationen der IT-Fachleute quälten, traf der Zwischenbericht von Professor Reinmüller per E-Mail ein. In dem hauptsächlich in Latein gehaltenen Text fanden sich seltsame Wortungetüme, die Martin keiner ihm bekannten Sprache zuordnen konnte. So sehr er sich auch anstrengte, er kam einfach nicht weiter. „Ich muss passen“, sagte er schließlich. Resigniert ließ er sich in seinen Bürostuhl zurückfallen und fing zu wippen an.
„Wieso? Hier steht doch alles in Klartext.“
Martin beugte sich mit gerunzelter Stirn wieder vor zum Monitor. „Aber wo? Ich hab bislang kein einziges deutsches Wort entdeckt.“
„Du musst nur nach Wörtern suchen, die nicht lateinisch wirken. Und die liest du von hinten nach vorn.“
Martin verzog verärgert das Gesicht. „Irgendwann brauchen wir mehr Zeit, um Huberts Rätsel zu lösen, als für den Fall.“
„Bei diesem aber nicht: Der Tote weist drei Schusswunden auf und … ach nein! Er wurde zudem auch noch vergiftet. Professor … äh Hubert hat in seinem Magen zwei giftige Substanzen gefunden. Wir haben wohl noch einiges zu tun.“
„Da steht doch noch mehr. Hast du das auch schon entziffert?“
Irene deutete auf Martins Bildschirm herum, während sie holprig wie eine Erstklässlerin vorlas: „Ich bin mir noch nicht im Klaren, ob beide Substanzen gleichzeitig verabreicht wurden. Es ist auch noch zu klären, ob die oral verabreichten Toxine den Exitus zur Folge hatten oder ob er schon vorher seinen Schussverletzungen erlegen ist.“
Beide schauten sich ratlos an. Dann meinte Martin: „Das wird ja ein schönes Stück Arbeit! Hubert wollte uns wohl auf seine Weise auf einen komplizierten, rätselhaften Fall einstimmen“, fügte er lachend hinzu. „Wir reden erst mal mit Freddie.“

Gemeinsam gingen sie ins Nachbarbüro. Werner saß mittlerweile auch an seinem Schreibtisch und legte gerade den Hörer auf. Martin berichtete von Huberts vertracktem Rätsel und auch, dass Irene es sofort gelöst hat.
Freddie schüttelte verärgert den Kopf. „Der hat Nerven! Schreibt uns einen offiziellen Bericht in Hieroglyphen. Als ob wir nicht schon genug Arbeit hätten! Na ja, was kann man von einem erwarten, der im Kühlschrank arbeitet und ständig Formaldehyd einatmet.“
Bevor Freddie sich weiter in seine Abneigung gegen den Rechtsmediziner hineinsteigern konnte, fasste Martin schnell den neuesten Kenntnisstand zusammen: „Drei Schüsse aus unterschiedlichen Richtungen und zwei giftige, potenziell tödliche Substanzen. Was bedeutet das für unsere Ermittlungen? Müssen wir von mehreren Tätern ausgehen? Oder war hier ein einzelner Sicherheitsfanatiker am Werk? Oder liegt Mord kombiniert mit Suizid vor? Aber warum trifft das alles zusammen? Was meint ihr?“
Freddie war sofort wieder ganz bei der Sache. Er schien die möglichen Schlüsse abzuwägen und sagte dann nachdenklich: „Ich hatte mal einen Mörder, der zwei Todesarten vorbereitet hatte, aber nur, weil er nicht selbst anwesend war. Und dieser hier soll drei Mal aus verschiedenen Richtungen auf ihn geschossen und dann auch noch Gift verabreicht haben? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Nein, da erscheint es mir noch eher plausibel, dass mehrere Täter fast zeitgleich zuschlagen. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“
Nun blickte Martin Irene aufmunternd an.
„Wir brauchen mehr Informationen über den Ermordeten. So erfahren wir auch mehr zu einem möglichen Motiv.“
Werner nickte. „Irene hat recht. Freddie und ich fahren gleich mal in Handtkes Wohnung und schauen uns dort um.“

***

Knapp 20 Minuten später hielt Freddie am Straßenrand vor einem gepflegten vierstöckigen Wohnhaus im Norden Münchens. Er deutete nach vorne auf den weißen Kleinbus, der vorschriftsmäßig eingeparkt war. „Maria und Erwin sind auch schon hier. So wie es aussieht, ist Maria gefahren. Erwin blockiert gerne auch mal den Bürgersteig.“
„Sind die beiden von der Spurensicherung?“, fragte Werner, nachdem er die Autotür zugeschlagen hatte und mit Freddie die kurze Strecke Richtung Haus ging.
„Stimmt ja, du kennst sie noch nicht. Maria ist etwas sonderbar, und Erwin kennt nur ein Thema …“
„Die Arbeit?“
„Schön wär's. Nein, sein Interesse sind die Weiber, wie er sagen würde.“
„Wenn das so ist, kenne ich die beiden wahrscheinlich doch. Bei einer Weihnachtsfeier ist mir so ein Casanova und eine etwas in sich gekehrte Frau aufgefallen. Die beiden sind gemeinsam gekommen, aber getrennt gegangen.“
„Gut beobachtet, die Beschreibung passt. Dann siehst du jetzt mal, wie die zwei zusammenarbeiten. Oder besser: wie Maria arbeitet. Sie ist die Beste.“
Freddie suchte die Namensschilder ab und wurde im dritten Stock fündig. Er drückte gegen den metallenen Türknopf. Doch die Haustüre ließ sich so nicht öffnen. Auf sein Klingeln hin meldete sich über die Sprechanlage eine tiefe männliche Stimme. „Wer sind Sie? Und was wollen Sie?“
„Freddie und rauf kommen.“
„Ach so.“
Kurz danach ertönte das laute Summen des Türöffners und gleich danach noch zweimal. Freddie verzog verärgert das Gesicht. Er warf einen sehnsüchtigen Blick zum Lift und entschied sich dann doch für die Treppe. Bedächtig setzte er einen Fuß nach dem anderen auf die marmorierten Steinstufen. Werner zügelte seinen Bewegungsdrang und folgte Freddie geduldig, passte sich seinem Rhythmus an. Je näher sie dem Ziel kamen, umso langsamer gestaltete sich dieser Aufstieg. Freddie schnaufte hörbar.
Am Ende der Treppe wartete Erwin und schaute ihn mit großen braunen Augen verwundert an. „Was ist denn mit dir los? Das ist ja das erste Mal, dass du einen funktionierenden Lift übersiehst.“
Freddie blieb stehen, stieß die Luft aus und sagte mühsam: „Lass das mal meine Sache sein.“
„Was denn? Du musst doch nicht gleich den Rambo spielen. Ich werde Maria warnen, dass du heute ganz schön grantig bist. Hat dich deine Frau etwa auf Diät gesetzt?“
„Nicht nötig. Ich weiß selbst, dass ich mich mehr bewegen muss.“
„Verstehe!“, antwortete Erwin lachend.
„Das glaube ich eher nicht … Und wie sieht es bei dem Tramp zu Hause aus?“
„Kommt nur herein! Wir sind schon fast fertig.“

Freddie und Werner staunten nicht schlecht: Handtkes Wohnung war geschmackvoll eingerichtet, wirkte aufgeräumt und sauber. Das Wohnzimmer wurde von einem überdimensionalen Bücherregal dominiert, das die ganze Breitseite einnahm und bis an die Decke reichte. Beide traten wie magisch angezogen heran. Während Freddies Augen die bunten Bücherrücken abtasteten, meinte er: „Das sehe sogar ich, dass alle Bücher penibel nach Themengebieten geordnet sind. Die benachbarten Bücher haben ähnliche Titel.“
Werner nickte beeindruckt und richtete dann seinen Blick auf einen E-Book-Reader, der auf dem Couchtisch lag. Als er jedoch Handtkes silberfarbenen Laptop entdeckte, der wie abgemessen genau in der Mitte des Schreibtisches positioniert war, steuerte er sogleich darauf zu. Aber Erwin winkte ab. „Den habe ich mir schon vorgenommen: keine fremden Fingerabdrücke und mit einem Passwort gesichert. Wir nehmen ihn mit und fahren auf dem Rückweg bei der Computer-Forensik vorbei.“ Werner verzog sich daraufhin ins Schlafzimmer, wo Freddie bereits Maria Zeilinger begrüßte. Sie untersuchte gerade den Lichtschalter, als sie die fremde Gestalt wahrnahm.
„Ist Martin krank?“, fragte sie erstaunt.
„Nein, das ist mein neuer Partner: Werner Mohr.“
„Ich dachte, ihr habt eine neue Kollegin bekommen.“
Werner lächelte. „Ich bin schon seit fünf Jahren in der Abteilung, aber bisher nur im Innendienst. Die neue Kollegin ist mit Martin unterwegs.“
„Na dann wird sie wenigstens nicht dumm angemacht.“
Erwin steckte den Kopf herein: „Eine neue Kollegin. Das klingt ja interessant.“
Freddie wehrte sofort ab. „Die ist schlau. Die merkt sofort, dass du ein Filou bist und ein verheirateter dazu.“
„Aber man kann ja trotzdem eine Menge Spaß haben.“
„Und er hier? Was meint ihr, war Handtke verheiratet?“
Maria öffnete den Kleiderschrank. Die abgetragene Kleidung, die Irene und Martin beschrieben hatten, hing hier ordentlich auf Kleiderbügeln. „Alles nur in einer Größe! … Aber schaut mal!“ Sie öffnete den zweiten Bereich, in dem sauber aufgereiht Markenpullover und -jeans hingen.
Freddie gab sein Handy an Werner weiter: „Bitte ruf du bei Martin an, mir glaubt er das sowieso nicht.“
Während Werner die Nummer wählte, formulierte er bereits im Kopf, was er Martin erzählen würde.
„Und wie sieht es aus, Freddie?“ hörte er Martin zur Begrüßung sagen. „Seid ihr bei einem Messie gelandet?“
„Werner hier … Ach was: Du wirst es nicht glauben! Handtke hat diese Lumpen nur in der Arbeit getragen. Privat hat er sich richtig modisch, ja man kann sagen, edel gekleidet. Keine Krawatten, aber Markenware und nichts davon ausgewaschen. Und noch eine Überraschung: Die Wohnung ist so gut wie staubfrei, viel ordentlicher als bei mir zu Hause.“
„Gibt es Spuren einer Frau?“
Irene lächelte vor sich hin und dachte: Gerade durch mich schaut es in Martins Wohnung wie auf einem Basar aus, und trotzdem verbindet er noch immer eine ordentliche Wohnung mit der Anwesenheit einer Frau.
„Zumindest keine, die bei ihm lebt“, gab Werner zur Antwort. „Alle Klamotten sind nur in seiner Größe. Ähm… Maria hat das schon überprüft. Und was die Sauberkeit der Wohnung anbelangt: Vielleicht hat er sich eine Putzfrau engagiert. Sieht fast so aus. Seinen Laptop muss ich den Kollegen überlassen. Er ist mit einem Passwort gesichert.“
„Danke, dass du uns gleich Bescheid gesagt hast. Falls ihr heute noch etwas Neues erfahrt, …“
„… rufen wir an. Und du hast nichts dagegen, wenn wir heimfahren, sobald wir hier fertig sind?“
„Aber nein!“
„Der Außendienst gefällt mir immer besser!“
„Freut mich. Dann noch einen schönen Abend!“
„Danke, dir auch!“ Werner legte auf. Er ging auf Maria zu und begann: „Entschuldigen Sie …“
Sie winkte sofort ab: „Es hat sich also schon herum gesprochen, dass ich Maria heiße. Mein Nachname ist Zeilinger. Mir ist es ganz recht, wenn ich mir nur deinen Vornamen merken muss.“
„Mir auch“, kam es fast schüchtern von Werner zurück.

***

Irene lauschte in den Nebenraum. „Das ist mein Telefon!“, rief sie Martin zu, während sie los rannte. Sie nahm den Hörer ab, setzte sich an ihren Schreibtisch und meldete sich. Da in diesem Moment das Signal einer eingehenden Mail ertönte, stellte sie den Lautsprecher an und öffnete sogleich die Nachricht. Nebenher vernahm sie die Stimme im Hörer: „Natalie … Natalie Wöhrle hier. Ich hab Ihnen eine Mail geschickt. Sie hatten es ja so eilig, darum wollte ich Ihnen auch gleich noch telefonisch Bescheid sagen.“
„Danke! Ich war tatsächlich nicht an meinem Platz … Ah ja! Die Finanzen von unserem Mordopfer! … Hmm. Sehr detailliert. Damit kommen wir sicher weiter … Ach, Sie haben sich auch um die anderen Fragen gekümmert. Handtke war also schon seit sieben Jahren bei der Isar Software AG und zuvor fünf Jahre bei einer anderen Firma in Göttingen. Ich lese das vor, weil mein Chef auch gerade dazukommt … Das ist ja toll! Sie haben sich ja auch schon in Göttingen umgehört. Er traf sich also immer noch mit den Ex-Kollegen dort … Das letzte Treffen liegt allerdings schon zwei Jahre zurück. Wie haben Sie das denn herausgefunden?“
„Ich hab zunächst nicht gesagt, dass Herr Handtke ermordet wurde, falls Sie das meinen. War überhaupt nicht nötig. Ehe ich mich versah, waren fünf seiner Ex-Kollegen in der Leitung und alle haben bereitwillig über ihn Auskunft erteilt. Männer eben. Harry ist ja auch eine Plaudertasche.“ Sie räusperte sich vernehmbar und sprach dann in sachlichem Ton weiter: „Handtke war dort sehr beliebt. Etwas exzentrisch, aber gerade das schien denen zu gefallen. Die wollten ihn gleich zu einem Treffen einladen, weil sie ihn ja fast zwei Jahre nicht mehr gesehen haben. Als sie hörten, dass Handtke tot ist, waren alle geschockt. Erst dann haben die mich gefragt, wer ich bin und wie das passiert ist.“
„Wenn das so ist, können wir ja schon mal ausschließen, dass er dort Feinde hatte. Super, vielen Dank auch von meinem Chef, Frau Wöhrle!“
Mit Stolz in der Stimme verabschiedete sich Natalie Wöhrle: „Ist mir ein Vergnügen mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Sie können sich jederzeit gerne wieder an mich wenden.“

Martin zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben Irene. Mit dem Zeigefinger fuhr sie auf dem Monitor herum und kommentierte die Zahlen: „Aha! Handtkes Nettoeinkommen betrug 4.322 Euro. Nicht schlecht. Geld für den Friseur wäre also vorhanden gewesen. Seine Ausgaben bewegten sich so zwischen 2.200 und 2.600 Euro. Da kann man sich schon mal Designerkleidung kaufen. Keine Überweisungen an eine Putzfrau, aber vielleicht hat er ja eine schwarz beschäftigt. Und hier: Zwei Einzugsermächtigungen: eine für die Miete seiner Wohnung und was ist das? Noch mal Mietzahlungen! Auf den zwei Sparkonten hat er ca. 132.000 Euro und 43.000 Euro. Wie hat er denn das geschafft? Na so was: Er hat beide Konten vor drei Monaten gekündigt; das Geld ist seit zwei Tagen frei verfügbar.“ Irene schaute Martin verblüfft an.
„Was hatte er denn mit soviel Bargeld vor? Wollte er etwa verschwinden und war deshalb so glücklich?“
„Sieht ganz so aus. Er überrascht uns immer wieder. Dass er daheim so eine penible Ordnung hält, ist schon sonderbar. Hast du seine Tastatur in der Firma gesehen? Da bekommt man ja schon Ausschlag, wenn man auch nur eine Taste drückt.“ Dann fragte sie nachdenklich: „Die zweite Miete beträgt nur 450 Euro. Was bekommt man denn dafür in München? Die Abbuchung erfolgte erstmals vor vier Monaten. Wir müssen herausfinden, was es damit auf sich hat. Freddie und Werner sind doch noch in seiner Wohnung. Sie könnten sich nach den Vertragsunterlagen umsehen und sie morgen mitbringen.“
Martin hob den Daumen, ging sofort zurück in sein Büro und rief Freddies Nummer an. Wieder meldete sich Werner: „Ach so, du bist es! … Das ist ja gar nicht mein Handy“, stellte er erstaunt fest. Unwillkürlich hielt er es vom Ohr weg und schaute es mit Befremden an. Im Hintergrund war Freddies Stimme zu hören: „Hast du mein Telefon beschlagnahmt? Hab ich damit zu viel Unfug angestellt?“
„Du bekommst es gleich wieder. Martin ist dran.“
„Was will er?“
„Hat er noch nicht gesagt.“
„Wir brauchen alle Vertragsunterlagen, die ihr in Handtkes Wohnung findet. Der Typ hat zwei Mieten bezahlt.“
Werner wiederholte dies wörtlich, worauf Freddie nach einem kurzen Gespräch mit Maria antwortete: „Sag ihm: Wir bekommen die Unterlagen von der Spurensicherung, sobald sie die nochmal im Labor gegen das Licht gehalten haben.“
Als sowohl Werner für Martin als auch Martin für Irene das Gesagte wörtlich wiederholten, prustete Freddie los: „Werner hat mein Handy sofort laut gestellt! Endlich kann ich Elisabeth mal wieder was von der Arbeit erzählen. Wir sind hier bald fertig und fahren dann heim.“
Abermals wiederholte Werner den gesamten Text, diesmal jedoch in einer stereotypen Automatenstimme.

Martin legte amüsiert auf und wandte sich dann Irene zu. Die schaute gedankenversunken auf ihren Monitor und strich sich mit dem Zeigefinger über das Kinn. Martin betrachtete sie eine Zeitlang ruhig von der Seite. Er war sich sicher: Bald würde Irene ihm ihre Idee mitteilen. Geduldig wartete er ab.
Plötzlich rief sie aus: „Die Liste mit den Mitarbeitern der Computerfirma! Ich werde mal auf Facebook nach denen suchen. Jetzt sind unsere Erinnerungen noch frisch, und wir haben die Gesichter noch im Kopf.“
„Du bist bei Facebook?“, fragte Martin aufgeregt.
„Eine ehemalige Kollegin hat mich eingeladen. Du kannst gerne mit schauen. Ich … ich hab keine Geheimnisse vor dir.“
Irene rief ihren Account auf. Sie hatte genau einen Kontakt: Irmgard Wenninger, wie Martin sehen konnte, während Irene das Fax aus seinem Büro holte. Wieder an ihrem Schreibtisch las sie den ersten Namen und tippte ein „M“. Schon wurde „Martin Behringer“ vorgeschlagen.
„Du hast nach mir gesucht …“
Zerknirscht gab sie zu: „Ja. Ich wollte wissen, ob du …“
Doch er ließ Irene nicht ausreden. Er legte den Zeigefinger auf ihre Lippen, wie um sie zu verschließen, und streichelte dann über ihr Haar. „Wir beide mit unserer Eifersucht. Wir machen uns das Leben ganz schön schwer. Aber für mich ist unsere Beziehung immer noch wie ein schöner Traum. Und ich möchte nicht, dass er endet.“
Irene lächelte selig und gab ihm einen Kuss. Sie genoss das Glücksgefühl, das sich wohlig in ihr ausbreitete. Nach einer Weile deutete sie auf die vielen Namen der Liste: „Wenn wir uns einen Überblick verschafft haben, fahren wir gleich heim.“
„Dann fangen wir doch mal mit dem Chef an. Gib mal Dr. Peter Sommerfeld ein.“
„Kein Eintrag. Das geht ja gut los.“
„Wie sieht es mit Ludwig Handtke aus?“
„Auch nichts. Wenn es so weitergeht, sind wir gleich fertig.“
„Und Raphael Dornberger?“
„Na endlich mal ein Treffer!“
„Ich kann mich an ihn erinnern. Er hat einfach weitergearbeitet, als ginge ihn das Ganze nichts an.“
Beide überflogen die wenigen Informationen. Irene meinte anerkennend: „Er hat alles andere abgesichert.“
„Versuch' es jetzt mal mit Michael Moser.“
Irene zögerte. „Da gibt es mehrere … Moment mal. Das ist er! Auch an ihn kann ich mich erinnern: Er wirkte ziemlich erledigt. Er hat sich mit einer der Frauen unterhalten, als würde er bei ihr Trost suchen. Nur bei der war er an der falschen Adresse, sie war ziemlich unbeeindruckt … Ha! Wir haben Glück! Jede Menge Einträge.“ Irene las die Nachrichten und die Antworten. Doch bald hatte sie genug davon. „Das ist ja ein Vogel! Er schreibt alles in Rätseln, und die meisten von seinen Kontakten antworten ihm mit neuen Rätseln. Zwecklos, das dauert ewig, bis wir irgend etwas über ihn herausfinden.“
„Dann also weiter! Dr. Brigitte Horten.“
„Kein Eintrag. Die scheint auch zur älteren Generation zu gehören.“
„Was ist mit Viktoria von Herrmsdorff?“ fragte Martin und gönnte seinem gekrümmten Rücken eine Pause, indem er sich nach hinten streckte und anlehnte.
Irene meinte verwundert: „Der Name passt ja eher in einen Operettenstaat … Ein Treffer. Allerdings nur eine Vicky Herrmsdorff. Hmm. Kein Foto! Das sieht nach behüteter Kindheit aus. Als Sprachen gibt sie französisch, englisch und spanisch an. Ihre Hobbys sind Klavierspielen und Sport. Da steht aber nicht welcher. Als Kontakte hat sie nur andere Frauen … Die ist ja doch ganz schön locker drauf. Hier steht: 'Ich komme etwas später. Meine Kollegen flennen sonst. Den Programmfehler finden die niemals alleine.' Der nächste Eintrag ist dann zehn Minuten später: 'Ich hab ihn gefunden. Bin unterwegs. Mal schauen, ob meine Kollegen checken, dass alles wieder läuft.' Und hier, am nächsten Morgen: 'Die sind immer noch da. Soll ich denen nun sagen, dass sie die ganze Nacht umsonst geopfert haben? Gebt mir euer Vote!'“
Martin fragte interessiert: „Und wie ist das ausgegangen?“
„Sie musste beichten. Und wie sie das macht! Hör zu!: 'Ich hab sie gefragt, ob sie noch ein Problem haben. Das eine hab ich doch schon gestern gelöst. Keiner von denen hat zugegeben, dass sie sich umsonst die Nacht um die Ohren geschlagen haben. Helft mir Mädels! Alle schauen mich sauer an und keiner sagt mir den Grund.'“ Irene schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. „Ach nein! Das war vor sechs Monaten. Und seither kein weiterer Eintrag. Komisch. Ach so, hier steht's: 'Ich bin jetzt bei Google+. Sollen die doch mal mitlesen, was ihr albernen Hühner eurem Landei schreibt.' … Mist. Und ich dachte, die Geschichte sei aktuell.“
Irene und Martin schauten sich frustriert an. Dann lachte Irene. Alberne Hühner.
Nach einer weiteren halben Stunde ohne greifbare Ergebnisse gaben sie auf und verließen verwirrt das Büro.

Im Flur von Martins Wohnung entledigte sich Irene ihrer Stiefel und lief in Socken ins Schlafzimmer. Sie zog ihre Jeans und den dicken Wollpullover aus und verteilte sie auf zwei der Esszimmerstühle, die Martin für sie neben dem Kleiderschrank platziert hatte. Vom dritten Stuhl nahm sie ihren bequemen Strickrock. Martin folgte ihr und sagte amüsiert: „Keine Spur von einer Frau, und trotzdem war dieser Handtke glücklich? Ich verstehe diesen Typen nicht.“
„Aber ich bin doch so unordentlich. Deine Wohnung schaut schon aus, wie …“
„Wenn du dich wohl fühlst, ist alles okay.“
In diesem Moment knurrte Irenes Magen. „Wir sollten erst mal was kochen. Machst du den Reis?“
„Ja, gerne.“
Beide gingen in die Küche. Martin öffnete den Vorratsschrank. „Seltsam. Keiner mehr da. Wir haben doch am Samstag eingekauft …“ Er fing an, alle Fächer akribisch zu durchsuchen. Indessen schlich Irene schnurstracks in den Flur zurück und öffnete ihre Handtasche. „Das gibt es doch nicht!“, murmelte sie vor sich hin. Sie konnte es nicht glauben, dass sie am Wochenende stundenlang mit diesem Kilo Reis in der Tasche spazieren gegangen ist. In diesen Moment läutete das Telefon. Irene warf einen Blick auf das Display und erkannte die Handynummer. „Es ist Freddie!“, rief sie in die Küche. „Was will er denn um diese Zeit?“ Wie selbstverständlich hob sie den Hörer ab, gab ihn aber gerade noch rechtzeitig an Martin weiter, der nun neben ihr stand.
„Hallo Martin! Werner und ich sind zufällig bei dir in der Nähe … Da hat eine Weinstube aufgemacht. Möchtest du nicht auf ein Glas vorbeikommen? Der Besitzer schaut uns schon schief an, weil wir immer noch nüchtern sind.“
„Aber Werner wird doch von dir chauffiert. Der kann die Weinkarte durchprobieren.“
„Er hat Angst vor Marion. Wenn er die dann auch noch doppelt sieht …“ Im Hintergrund war Werners kurzer Protest zu hören.
„Ich bin zu sehr erledigt. Ich bin das Arbeiten einfach nicht mehr gewöhnt. Ich muss mich ausruhen, sonst komme ich morgen Früh nicht aus den Federn. Tut mir leid, ein anderes Mal. Dann noch viel Spaß euch beiden!“
Freddie grummelte ein „Bis morgen!“ und legte auf.
Martin schaute zu Irene. Sie lächelte. „So so, der Herr ist müde. Und ich hab mich schon den ganzen Tag auf den Abend gefreut.“
„Dann werde ich aber morgen müde sein …“
„Freddie wird uns wie üblich gut mit Kaffee versorgen“, meinte Irene und schwenkte dabei energisch das Päckchen Reis in ihrer Hand.
„Ach, du hast den Reis gefunden! Dann kann ich ja gleich mal anfangen.“
Irene folgte ihm in die Küche. „Ja, wir sollten nicht noch mehr Zeit vertrödeln.“
Als sie das Tablett mit den zwei Tellern auf den Tisch stellte, bemerkte sie die Kerzen, die Martin angezündet hatte. „Unser schöner Urlaub geht weiter“, sagte sie gerührt vor sich hin, und ihr Herz hüpfte vor Freude.

„Das ist gerade noch eine Vier! Fast wärst du durchgefallen!“ Martin schreckte hoch. Abrupt richtete er sich im Bett auf. Wut stieg in ihm hoch: Was soll denn der Quatsch? Ausgerechnet Marlene bewertet mein Verhalten Irene gegenüber! Das mit ihr ist doch schon elf Jahre her! Er ließ sich ins Bett zurücksinken und begab sich auf eine Zeitreise: Weihnachtsfeier im Präsidium. Schon zum dritten Mal ertönt Driving Home for Christmas! … Marlene stolpert und setzt sich an meinen Tisch. Wir plaudern etwas, sie sagt: „Bring mir doch ein Gläschen Wein.“ Sie sah so jung aus. Also hab ich sie gefragt, ob sie Alkohol trinken darf. „Sehe ich etwa schwanger aus?“ Es hat ganz schön gedauert, bis sie wieder von der Palme runter war. Dann die nächste Überraschung: „Ich bin Diplompsychologin, Marlene Dragen.“ Ich hab natürlich Drachen verstanden und dachte noch, der Name passt zu ihrem Auftreten … Schließlich ging sie selbst an die Bar und kam mit einer Flasche Wein zurück … Ich hätte nicht so viel trinken sollen! Aber sie hat uns ja ständig nach geschenkt. Uns? … Sie hat mich reingelegt! Am Morgen sind wir dann in ihrem Bett aufgewacht, nackt … Sie hat mir vorgeschwärmt, was das für eine tolle Nacht gewesen sei, dass wir wie füreinander geschaffen wären … Martin biss sich auf die Lippen. Unwillkürlich wanderten seine Erinnerungen weiter: Ohne mit mir darüber zu reden, hat sie sich kurz danach in Nürnberg beworben. Und als sie die Zusage bekam, hat sie mir zwei Stellenausschreibungen vorgelegt. Ein simpler Plan, den sie sich da ausgedacht hatte! Wir gehen für ein paar Jahre nach Nürnberg, machen dort Karriere und kehren an leitende Positionen nach München zurück. Sie hat nicht kapiert, dass ich gerade das erreicht hatte, was ich mir gewünscht hatte: Mordermittlungen leiten. Ich schrieb die Bewerbungen, aber ich bekam keine Antwort - weil ich sie nie abgeschickt hab. Schließlich zog sie alleine nach Nürnberg. Sie hat ziemlich schnell herausgefunden, dass ich mich nicht beworben hab. Warum hab ich ihr nicht gleich klipp und klar gesagt, dass ich keine Lust auf einen Verwaltungsposten habe? Na ja das Donnerwetter am Telefon, war leichter zu ertragen. Und mit einfachen psychologischen Tricks hab ich sie dazu gebracht, aufzugeben. Wir haben uns sogar ganz harmonisch getrennt. Und gerade heute wird mir klar, dass unsere erste gemeinsame Nacht nur einer ihrer Pläne war! Na ja, Irene musste auch etwas nachhelfen … Er blickte kurz zu ihr hin. Hat Marlene recht? Ist Irene unzufrieden mit mir? … Sie ist anders, bei ihr muss ich mich nicht verbiegen. Und sie ermittelt genauso gerne wie ich, sucht sogar bei Facebook nach mir. Er lächelte, drehte sich zu Irenes Seite und sonderbarerweise zugleich Marlene in Nürnberg den Rücken zu. Mal sehen: Wodurch verbessere ich mein Verhalten auf eine zwei. Vielleicht so … Mit diesem Gedanken freute er sich auf den neuen Tag und schlief wieder ein.

Dienstag, 08.01.

Schon nach acht! Martin hatte vergessen, den Wecker einzuschalten. Aufgeregt liefen sie in der Wohnung hin und her, um doch noch einigermaßen rechtzeitig ins Büro zu kommen. Aber je mehr sie sich abhetzten, um so aussichtsloser wurde es.
Schließlich setzte sich Irene an den Esszimmertisch. „Komm her!“, sagte sie lächelnd. „Ich hab eine Ausrede für dich. Keine originelle, aber für Freddie und Werner wird sie plausibel klingen.“
„Hast du auch eine für dich?“
„Ich brauche keine, wenn du mich unterwegs aussteigen lässt.“
„Haben wir dann noch etwas Zeit?“
„Ja, durchaus.“ Irene ging gemächlich zum Kühlschrank und tischte großzügig auf.

Als Freddie etwas später als sonst die Eingangstür zum Büro aufdrückte, läutete bereits das Telefon. Hinter ihm sprintete Werner den Gang entlang.
„Du musst nicht so hetzen“, versuchte Freddie mehr morgendliche Ruhe einkehren zu lassen. „Irene oder Martin, einer von beiden wird schon dran gehen, wenn es wichtig ist.“
„Die sind noch nicht da!“, stieß Werner hektisch hervor.
Nun bemerkte auch Freddie, dass noch kein Licht brannte. Dem Druck auf den Lichtschalter folgte ein Flackern der Leuchtstoffröhren an der Decke. Freddie durchquerte rasch den Raum, nahm den Hörer ab und schaltete den Lautsprecher ein.
„Ja?“
Die Stimme von Herbert Reiser klang enttäuscht: „Dreißig mal lasse ich das Telefon läuten und dann sagst du einfach nur 'Ja'.“
„Bin gerade erst gekommen.“
„Weiß ich! Ich hab es auch schon bei Martin probiert. Und normalerweise lande ich ja dann nach ein paar Mal Klingeln bei dir! Ist eh besser, Martin hat schon einen Mordfall zu lösen …“
„Du hast also noch einen übrig?“
„Ja, und was für einen! Der Tatort dürfte dich brennend interessieren. Ich kann mir vorstellen, dass du dort schon oft warst … Wenn du hinfährst, kannst du bei dieser Gelegenheit gleich mal deine Fingerabdrücke abwischen.“
Freddie fragte irritiert: „Jetzt sag schon: Wo ist es passiert?“
„Beim FC Bayern, auf dem Trainingsgelände.“
„Wir sind schon unterwegs“, sagte Freddie, legte auf und lief los.
Werner folgte ihm kopfschüttelnd und verdrehte die Augen, weil Freddie diesmal sogar das Blaulicht aufs Autodach heftete. Der wählte seinen Weg durch die Innenstadt so zielsicher, als würde er tagtäglich von Dienst zum Trainingsgelände fahren. Erst in der Tegernseer Landstraße, die sich durch eher kleinstädtisch anmutende Häuser dahinzog, sagte Freddie mit sorgenvoller Stimme: „Na hoffentlich ist es keiner der Stammspieler. Die Mannschaft ist zwar gut in Form, aber einen weiteren Ausfall auszugleichen, ist kaum mehr möglich. Und wenn dann auch noch ein Spieler der Täter ist, können wir die Meisterschaft sowieso vergessen. Vielleicht war es ja ein Anschlag der Konkurrenz. Fußball ist mittlerweile richtiges Big-Business.“
Werner war froh, als sie endlich das Trainingsgelände an der Säbener Straße erreichten, sein Interesse an Fußball hielt sich in Grenzen. An der Pforte zeigte Freddie bei laufendem Motor seinen Dienstausweis und wurde mit einer Handbewegung auf einen der Trainingsbereiche verwiesen. Sogleich raste er darauf zu. Schon vom weiten sah er die offene Flügeltür und daneben einen Krankenwagen stehen. Er folgte seinem ersten Impuls und parkte mit ausreichendem Abstand dahinter. Aber dann meinte er irritiert: „Na so was, Herbert Reiser hat nur von einem Mordopfer gesprochen. Hoffentlich ist da nicht noch mehr passiert.“ Er legte den Rückwärtsgang ein und ließ so vorsorglich Platz für einen zweiten Krankenwagen. Dann stiegen beide aus und eilten durch die offene Tür ins Gebäude.
Erwin von der Spurensicherung sah Freddie auf sich zustürmen. Er drückte sich flach gegen die Wand und deutete mit angewinkelten Arm: „Da entlang!“ An Fitnessgeräten vorbei gelangten sie in einen der Umkleideräume.
Freddie zögerte, bevor er sich endlich traute, einen Blick auf den am Boden liegenden Körper zu werfen. Zu seiner Verwunderung lag dort ein großes, blondes Mädchen im Sportdress des FC Bayern. Es wurde gerade von einem Arzt versorgt. Zwei Sanitäter standen mit einer Trage bereit und warteten auf den Abtransport. Erst als sich der kniende Mann zu seiner imponierenden Größe aufrichtete, erkannte ihn Freddie. Es war Professor Reinmüller. Gerade dieser unsympathische Mensch musste hier Erste Hilfe leisten! Freddie schaute sich suchend um. Wo war denn nun das Mordopfer? Dann verstand er plötzlich: Wie ihm selbst war auch dem Rechtsmediziner ein Mord gemeldet worden, der sich nun als Mordversuch herausstellte. Freddie nickte dem Professor missmutig zu und blickte dann zur Seite, ohne dessen Reaktion abzuwarten. Werner grüßte höflich, worauf Hubert ihn von oben bis unten musterte, bevor er wie beiläufig den Gruß erwiderte. Auf ein Zeichen des Professors hievten die beiden Sanitäter das Mädchen vorsichtig auf die Trage und verließen den Umkleideraum. Ohne ein Wort zu verlieren, packte Hubert seine Tasche und verabschiedete sich lediglich mit einem angedeuteten Nicken. Erst dann wagte Freddie, sich der Stelle zu nähern, an der das Mädchen gelegen hatte.
Noch bevor er sich Gedanken zum Tathergang machen konnte, kam ein Mann mit Halbglatze auf ihn zu. Noch immer entsetzt und fassungslos sagte der Mann: „Ich … ich verstehe das nicht. Ihr Name ist Sandra Meisner. Sie ist Ersatzstürmerin in meinem U17-Team … Mein Name ist Marcel Frey. Ich bin der Trainer. Ich hab schon mit Ihren Kollegen gesprochen.“ Er deutete auf zwei uniformierte Beamte im langen Gang, die unentwegt mit Stielaugen nach Fußballstars Ausschau hielten.
Freddie stand einfach nur da und hörte scheinbar teilnahmslos zu. Die überraschende Wendung des Falls betrachtete er mit gemischten Gefühlen. U17 und dann auch noch ein Mädchen, das war für ihn das unterste Niveau. Dabei hatte er so gehofft, über seine Ermittlungen mit den Profis in Kontakt zu kommen. Andererseits war er heilfroh, dass sein Team nicht noch mehr geschwächt worden war.
Weil Freddie weiter schwieg, sah sich der Trainer zu einer Erklärung veranlasst: „Sie ist eine meiner besten Spielerinnen. Im vergangenen Jahr war sie längere Zeit verletzt, aber beim letzten Spiel hat sie in einer Halbzeit fünf Tore geschossen.“ Freddie war immer noch nicht beeindruckt.
„Sie interessieren sich nicht für Fußball?“
„Doch, für den richtigen.“
Der Trainer räusperte sich kurz, sein Rücken straffte sich, seine Stimme klang nun bestimmt und sicher. „Dann wissen Sie ja, wie wichtig die Suche nach jungen Talenten ist. Und Sandra hat erst am Samstag bewiesen, dass sie wieder in Topform ist. Sie hat die fünf Tore übrigens gegen die U17-Jungs geschossen.“
Jetzt war Freddie überrascht. „Wir haben damals nie gegen Mädchen verloren.“
„Sie haben also auch mal aktiv gespielt? Und auf welcher Position, wenn ich fragen darf?“
„Ich war Torwart. Und ein guter noch dazu.“
„Wenn ich sie so anschaue, kann ich mir tatsächlich nicht vorstellen, dass ein Ball an Ihnen vorbeikommt.“
Freddie ging über diese Spitze hinweg, weil er sie nicht verstand. „Hat das Mädchen öfter am frühen Morgen trainiert?“
„Ach, das haben Sie ja noch gar nicht mitbekommen: Es ist schon gestern Abend passiert. Sandra hat meist das doppelte Pensum im Kraftraum absolviert. Wie gesagt, sie war lange Zeit verletzt. Um ihren Trainingsrückstand aufzuholen, hat sie viel mehr trainiert als die anderen.“
Freddie sagte zustimmend: „Sie sieht schon sehr dürr aus.“
Werner stieß Freddie in die Seite und deutete auf das rote Gesicht des Trainers. Als Freddie daraufhin verständnislos mit den Schultern zuckte, fragte ihn Marcel Frey mit mühsam unterdrückten Zorn: „Wollen Sie mir einen Gefallen tun?“
„Und welchen?“
„Sie könnten heute bei uns das Elfmetertraining mitmachen. Ich denke, meine Mädels wissen es bestimmt zu schätzen, wenn sie mal von jemand anderem trainiert werden.“ Auch der leicht hämische Unterton entging Freddie.
„Ich weiß nicht, ob das jetzt das Richtige ist. Schließlich schwebt das Mädchen noch in Lebensgefahr.“
„Sehen Sie das ruhig als Gelegenheit für unauffällige Nachforschungen. Das Training beginnt um 18 Uhr.“
„Das wäre tatsächlich eine gute Gelegenheit“, versuchte Werner, Freddie zu ermuntern. „Und deine Kondition ist jetzt ja auch wieder besser.“
„Vielleicht hast Du recht. Wir müssen unbedingt herausfinden, wer hier auf Mädchen schießt.“ Mit Blick auf den Trainer fragte er: „Haben Sie die Eltern schon benachrichtigt?“
„Selbstverständlich. Die Eltern von Sandra haben ein Busunternehmen. Die Mutter ist schon unterwegs hierher. Der Vater ist auch unterwegs, allerdings mit einer Reisegruppe im Ausland.“
Als Freddie daraufhin keine weiteren Fragen stellte, ging der Trainer kopfschüttelnd davon.

Mittlerweile hatte Freddie sein Notizbuch aufgeschlagen und zeichnete eine grobe Skizze des Tatorts. Doch so sehr er sich bemühte, sich den Tatvorgang bildlich vorzustellen, immer wieder wurde er von dem großen Fleck angetrockneten Blutes abgelenkt, der das Licht der Leuchtstoffröhren matt reflektierte. Schließlich sagte er niedergedrückt: „Sie hat hier die ganze Nacht gelegen …“
„Der Blutfleck war vorne am Körper. Meinst du, sie hat den Täter gesehen?“
„Vielleicht hat sie ihn nicht einmal bemerkt. Sie hatte ja beim Abtransport noch immer Stöpsel in den Ohren. Sie hat wohl Musik gehört.“
Freddie nahm sein Handy aus der Tasche und rief im Büro bei Martin an. „Wir haben einen Mordversuch an einem Mädchen, … einer Ersatzstürmerin beim FC Bayern.“
„Äh was? … Ich hab doch verschlafen. Also müsste ich mir eine Geschichte einfallen lassen. Und ich habe mir mittlerweile eine bessere ausgedacht als du.“
„Nein wirklich, der FC Bayern hat auch eine Frauenmannschaft, und aus dem U17-Team wurde ein Mädchen lebensgefährlich verletzt.“
„Du meinst, sie lebt! Weiß man schon, wie schwer sie verletzt ist?“
„Nein, leider noch nicht.“
Freddie blickte noch mal zum Blutfleck am Boden, verzog das Gesicht und sagte dann ins Telefon: „Aber jetzt will ich zur Aufmunterung deine Ausrede hören.“
„Der Mittlere Ring. Nein, ich habe mir lange Zeit überlegt, ob ich doch noch zu euch runterkomme. Und dann war es plötzlich zwei Uhr und am Morgen hab ich den Wecker glatt überhört.“
„Hat Irene auch eine Ausrede? Sie war ja auch nicht da.“
Irene mischte sich ins Gespräch: „Ich bin gleich direkt zur Spurensicherung gefahren und habe die Vertragsunterlagen von Handtke abgeholt. Er hat einen Büroraum angemietet. Wir wollten ihn uns gerade anschauen.“

Kaum hatte Freddie das Gespräch beendet, rief Maria Zeilinger ihn zu sich. Als er sich zu ihr runter beugte, sagte sie: „Wir haben ein Bild von dem Mädchen gefunden. Lag hier am Boden herum. Keine Fingerabdrücke dran.“
Freddie betrachtete das Foto und meinte verwundert: „Im Hintergrund ist eine Schule zu sehen.“ Er zuckte zusammen. „Sie wurde also verfolgt oder sogar beschattet! … Dann hat man es also gezielt auf sie abgesehen. Aber warum … und wieso versucht der Täter gerade hier, sie zu ermorden?“
Statt einer Antwort hörte er, wie draußen ein Auto die Zufahrtsstraße zur Trainingshalle entlangraste. Als er sich schon fragte, ob der Wagen durch die offene Tür bis zum Umkleideraum fahren würde, vernahm er deutlich die quietschenden Reifen der Vollbremsung und kurz danach, wie eine Autotür zugeschlagen wurde. Freddie und Werner eilten in den Gang hinaus und sahen eine circa 40-jährige, etwas untersetzte, große, blonde Frau direkt auf sie zustürmen. Aufgelöst fragte sie Werner: „Wo ist mein Kind? Was ist passiert? Wie geht es Sandra?“
„Ihre Tochter ist auf dem Weg ins Krankenhaus.“
Frau Meisner machte auf dem Absatz kehrt, ohne sich zu erkundigen, in welches Krankenhaus man Sandra gebracht hatte. Doch Freddie verstellte ihr den Weg. Frau Meisner versuchte, links von ihm vorbeizukommen, Freddie machte ebenfalls einen Schritt in diese Richtung. Daraufhin probierte sie es rechts, und wieder stellte er sich ihr in den Weg. Als sie nun stehenblieb und sich mit zitternder Hand über ihr Gesicht strich, sagte Freddie behutsam: „Frau Meisner, könnten Sie uns bitte ein paar Fragen beantworten? Es ist wichtig. Wir müssen den Täter finden.“
Auf ihr Nicken begann Freddie: „Wir müssen in alle Richtungen ermitteln. Gibt es vielleicht jemanden, der Sie mit einem Angriff auf Sandra treffen wollte?“
„Was? … Nein, wir haben zwar Konkurrenten, aber die würden niemals gewalttätig werden.“
„Sie haben ein Busunternehmen?“
„Ja, wir bedienen im Verkehrsverbund ein paar Buslinien, Schulbusse und veranstalten natürlich auch Busreisen. Mein Mann ist gerade in Paris. Ich würde Ihnen einen Prospekt geben … Aber bei Leuten mit Ihrem Umfang sind unsere Reisebusse nicht sonderlich beliebt.“
„Mich würde trotzdem interessieren, welche Reisen sie anbieten.“
„Ich hab immer ein paar Prospekte im Auto. Kommen Sie mit!“ Freddie und Werner folgten ihr nach draußen. Frau Meisner sah als erste, dass ihr Wagen an Freddies hinterer Stoßstange klebte, die auf einer Seite leicht eingedellt war.
Sie riss die Arme nach oben. „Guter Gott, auch das noch! Tut mir leid, ich hab Ihr Auto erwischt. Ich war so aufgeregt.“ Sie öffnete die Beifahrertür und wuselte in gebückter Haltung in ihrer Handtasche herum. Schließlich richtete sie sich auf und sagte gefasst: „Hier ist meine Versicherungskarte und hier der Prospekt.“
Während Werner den Prospekt entgegennahm, fragte Freddie: „Sollen wir Sie ins Krankenhaus zu Sandra bringen?“
„Danke. Nicht nötig. Ich schaffe das schon. Wohin haben sie Sandra gebracht?“
Kaum hatte Werner das Krankenhaus genannt, stieg Frau Meisner ins Auto, legte den Rückwärtsgang ein und wendete dann in einem weitem Bogen. Freddie trottete bereits wieder ins Gebäude, als er sich plötzlich umwandte, ihr hinterher hastete und an ihr Seitenfenster klopfte. „Ihre Versicherungskarte!“
Frau Meisner nahm die Karte gedankenverloren entgegen und schickte sich nun an, rasant loszufahren. Ihr Wagen machte einen Satz auf Freddies Auto zu. Freddie eilte dazwischen und legte die Hände auf ihre Motorhaube. Werner schmunzelte, weil es so aussah, als würde Freddie ihr Auto tatsächlich mit der Kraft seiner bloßen Hände stoppen. Allerdings nur bis Frau Meisner den Rückwärtsgang einlegte und Freddie sich gerade noch auf den Beinen halten konnte. Sie öffnete erneut das Seitenfenster und rief: „Entschuldigen Sie bitte!“
„Ist ja nichts passiert“, meinte Freddie leicht verärgert und winkte sie weiter. Sie umkurvte sein Auto und fuhr nun vorsichtig den Weg entlang.
Freddie blickte ihr nach und sagte dann stolz zu Werner: „Vor ein paar Wochen hätte mich dieser Sprint völlig außer Atem gebracht.“
„Du bist echt gut in Form. So kenne ich dich gar nicht.“
„Tja, früher war ich mal ein ganz passabler Sportler.“
„Dann solltest du heute Abend tatsächlich am Training teilnehmen.“
„Ich finde, das Training sollte ausfallen. Eines der Mädchen schwebt in Lebensgefahr. Ihre Freundinnen machen sich bestimmt Sorgen. Da darf man doch nicht einfach so weitermachen wie bisher. Dieser Herr Frey ist ganz schön kaltschnäuzig.“
Werners Kopfschütteln wertete Freddie als Bestätigung und fügte entschieden hinzu: „Ich werde die Mädchen morgen befragen.“

Während Freddie das Auto Richtung Kommissariat lenkte, blätterte Werner im Prospekt. „Ziemlich viele Fahrten nach Osteuropa. Vielleicht schmuggeln sie Drogen. Ich werde mal bei den Kollegen von der Drogenfahndung nachfragen. Wenn dem so ist, dann hätten wir ein Motiv. In diesem Milieu kommt es immer wieder vor, dass die Eltern über die Kinder unter Druck gesetzt werden.“

Im Büro setzte sich Werner sofort an seinen Computer. Während er die E-Mails an seine befreundeten Kollegen in den anderen Abteilungen schrieb, saß Freddie schwerfällig in seinem Bürostuhl. Werner blickte kurz auf und kam zu dem Schluss: „Du solltest in jedem Fall heute Abend zum Training fahren. Vielleicht hat eines der Mädchen etwas gesehen.“

***

Auch Irene und Martin hatten zwischenzeitlich ihr Fahrziel erreicht. Sie parkten vor einem etwas heruntergekommenen Gebäude, das aus den 50er Jahren stammte. Die Westseite des Hauses war mit den noch lange Zeit üblichen Asbestplatten verkleidet. Über eine Vortreppe gelangten sie zum Eingang. Martin hielt Irene die in Metall gefasste Glastür auf. Sie betraten den wenig einladenden Vorraum. Als sie auf den dunkelbraun gestrichenen Aufzug zusteuerten, schaltete sich automatisch das Licht an und ließ einige selbst gestaltete Firmenschilder sichtbar werden. Martin ging die Namen durch. „Zu dumm! Wir wissen nicht einmal, wie die Firma von Handtke heißt. Wir wissen nur, dass er das Büro Nr. 7 gemietet hat.“
„Das genügt!“ Irene deutete auf die Treppe nach unten. An der Wand war ein dicker roter Pfeil angeklebt, auf dem Nr. 1 – 12 stand.
Im Souterrain fanden sie sich in einem schmalen Gang mit einem alten PVC-Boden wieder. An den nummerierten Türen war schnell absehbar, wo Handtkes Büro lag. Plötzlich wurde mit einem Ruck genau diese Tür aufgerissen. Nach einer Schrecksekunde zogen sie ihre Waffen und brachten sie in Anschlag. „Halt, Polizei!“, riefen Irene und Martin wie im Chor.
Im Nu verschwand der kräftig gebaute Mann wieder hinter der heftig zugeschlagenen Tür. Aber dennoch hatten beide klar erkannt, dass auch er eine Waffe trug. Mit pochendem Herzen schlichen sie die wenigen Meter näher, die Türklinke fest im Blick. Drinnen war es mucksmäuschenstill. Wenige Sekunden angestrengten Lauschens reichten, die Anspannung ins Unerträgliche zu steigern. In Irenes Kopf rotierten die Gedanken: Was hat er vor? Verschanzt er sich dort drinnen? Schießt er durch die geschlossene Tür? Wenn er herausstürmt, können wir ihn wohl kaum überwältigen … Aber vielleicht übertölpeln.
Aufgeregt deutete Irene mit dem Lauf ihrer Pistole auf die Vertragsunterlagen, die sie unter den Arm geklemmt hatte. Martin entschlüpfte ein kleines Lächeln. Aber sofort starrte er wieder auf die Türklinke.
Irene zog ihr Smartphone aus der Tasche und tippte eine Nummer vom Papier ab. Im Raum vor ihnen läutete ein Telefon. Schnell ließ Irene ihr Handy wieder in die Jackentasche gleiten, während Martin die Tür weit aufriss. Beide zielten auf den Mann. Der schaute sie völlig verstört an, während seine Waffe auf das noch immer klingelnde Telefon gerichtet war. Nachdem ihm die Aussichtslosigkeit seiner Lage bewusst wurde, legte er seine Pistole auf dem Schreibtisch ab und hob die Hände. Irene nahm die Waffe an sich. Mit einem Seufzer begann der Mann von sich aus zu reden: „Ich wurde von Handtke erpresst. Als ich erfahren habe, dass er ermordet worden ist, wollte ich in seinem Büro nach den belastenden Unterlagen suchen.“
„Woher wussten Sie, dass er ermordet wurde?“, fragte Martin erstaunt.
„Ich hatte einen Privatdetektiv engagiert. Gestern Vormittag hat er mich angerufen und mir gesagt, dass Handtke tot aufgefunden wurde.“
„Warum haben Sie den Privatdetektiv nicht auch damit beauftragt, nach den Unterlagen zu suchen?“
„Ich hatte Angst, dass er mich dann ebenfalls erpresst.“
„Und haben Sie die Unterlagen gefunden?“
„Nein.“
„Warum die Waffe?“
„Ich befürchtete, dass Handtke nicht allein gearbeitet hat. Es war dumm von mir. Ich kann ohnehin nicht damit umgehen. Aber ich war am Ende.“
„Wie viel haben Sie Handtke gezahlt?“
Der Mann zögerte zunächst und sagte dann mit Panik in der Stimme: „Erst 40.000 und dann noch mal 50.000. Und ich wusste nicht, wann er mit neuen Forderungen kommt.“
„Wann haben Sie gezahlt?“
„Vor drei Monaten und vor drei Wochen.“
„Womit hat er Sie erpresst?“
„Er hat herausgefunden, dass ich Arbeiter schwarz beschäftige.“
„Und was haben Sie über Handtke herausgefunden?“
Der Mann stutzte etwas, sprach dann aber weiter: „Der Privatdetektiv sagte, er wäre Software-Entwickler. Vielleicht hat er ja auf der Baustelle mit meinen Arbeitern geredet, und sie haben ausgeplaudert, dass sie hier nicht angemeldet sind. Dort hängen öfter mal solche Penner herum und lassen sich ein Bier spendieren.“
„Und wie heißt Ihr Privatdetektiv?“
„Oliver Hinterholzer. Er erwartet mich um halb 12 in seinem Büro, Sonnenstraße 35.“
„Gut, wir werden ihm einen Besuch abstatten. Und wie sind Sie hier hereingekommen?“
„Im Baugewerbe kennt man da ein paar Tricks, aber diese Tür war nicht abgesperrt. Als ich vorhin Schritte gehört habe, wollte ich sicherheitshalber das Büro verlassen. Ich wusste ja zunächst nicht, ob Sie vielleicht Komplizen von Handtke sind. Aber auch das war zu spät. Alles geht schief.“ Aus dem Mann schien jegliche Energie zu entweichen.
Martin schaute zu Irene. Sie deutete an, dass auch sie keine weiteren Fragen hat. Daraufhin rief Martin in der Einsatzzentrale an. Herbert Reiser meldete sich. „Kriegst du gar nicht mehr genug? Hast du schon wieder Sehnsucht nach einer frischen Leiche?“
Martin lachte. „Ich scheine ja einen guten Ruf zu haben. Nein, es geht um den Fall Handtke. Kannst du uns ein paar Kollegen und die Spurensicherung vorbeischicken? Wir sind in Obersendling und haben einen Herrn …“ Er blickte den Mann fragend an, bis dieser mit leiser Stimme und gesenktem Kopf antwortete: „Stanglmeier. Franz Stanglmeier.“
„… Herrn Stanglmeier vorläufig festgenommen.“
„Ist er der Täter?“
Martin blickte den Mann durchdringend an. Dann sagte er: „Wahrscheinlich nicht. Aber er hat eine Waffe, die müsste zur ballistischen Untersuchung.“
„Die Kollegen sind schon fast bei dir.“
„Aber wir haben dir doch noch gar nicht die Adresse durchgegeben.“
„Wir erproben gerade ein neues System. Wie heißt es noch gleich? … Gedankenlesen? … Nein, Quatsch! Jetzt fällt es mir wieder ein: Handy-Ortung.“
„Das funktioniert ja super.“
„Gedankenlesen wäre mir lieber. Ich weiß nämlich nicht, wen du mit wir meinst. Freddie und sein Partner Werner sind ja beim Fußballverein.“
„Ich hab auch eine Partnerin: Irene Meier.“ Er blickte sie versonnen an.
„Das passt ja gut. Dann brauche ich kein schlechtes Gewissen zu haben, dass ich euch zwei Mordfälle übertragen habe.“
In diesem Moment hörten sie im Treppenhaus eine Stimme rufen. Martin trat in den Flur und antwortete: „Die Treppe nach unten!“ Zu Herbert Reiser sagte er: „Das wird ja immer besser.“
„Dann bis zum nächsten Mal.“

Stanglmeier wurde zusehends unruhig, als die Schritte sich näherten. Er startete einen letzten Versuch, einer Verhaftung zu entgehen: „Ich wollte Sie beide nicht bedrohen. Ich hab Sie nur kurz für … für Verbrecher gehalten. Wenn Sie mich einsperren … Meine Frau bringt mich um! Sie verstehen das sicher.“ Stanglmeier deutete mit einem kurzen Blick zu Irene.
Die machte große Augen. Was ist denn das für ein Typ?, fragte sie sich erstaunt. Erst traut er uns zu, dass wir mit einem Erpresser gemeinsame Sache machen und dann merkt er sofort, dass wir beide ein Paar sind.
Auch Martin irritierte die Bemerkung von Stanglmeier. Betont sachlich sagte er: „Über Ihre Verhaftung entscheidet das Gericht. Außerdem müssen wir zunächst einmal mit Sicherheit ausschließen können, dass Ihre Waffe die Tatwaffe ist.“
Herr Stanglmeier wirkte nun nicht mehr so geknickt wie zuvor. „Kann ich gut verstehen. Ich hab die Waffe zum Glück auf mich registrieren lassen. Aber es war natürlich sehr dumm von mir, sie mitzunehmen. Ich bin der einzige in unserer Familie, der nicht damit umgehen kann. Diese hier gehörte meinem Vater. Aber auch er hat die Pistole nur zu sogenannten Sportzwecken verwendet. Für einen Mord hätte er andere Kaliber zur Verfügung gehabt.“
Stanglmeier ließ sich nun bereitwillig abführen.

Sie blieben alleine in Handtkes Büro zurück. Irene konnte es immer noch nicht glauben. „Wieso sind wir für Fremde so leicht zu durchschauen?“
„Zum Glück hast du ihn ja auch richtig eingeschätzt.“ Er zog Irene sanft zu sich heran. „Ist mir tausendmal lieber, wenn dieser Stanglmeier auf ein läutendes Telefon anlegt als auf dich.“
Auch Irene wurde sich der überstandenen Gefahr nun wieder bewusst. Sie schüttelte sich, als würde sie frösteln. Dann sagte sie gedankenverloren: „Erpressung also.“
Neugierig blickten sie sich in dem spärlich eingerichteten Raum um. Die beiden Türen des billig wirkenden weißen Schrankes aus Pressspanplatten standen offen. Im Garderobenteil hing an einem Bügel ein unauffälliger dunkelgrauer Anzug mit nach außen umgeklappten Innentaschen. Am Schrankboden lag ein T-Shirt und eine schäbige Jeans wild durcheinander. Offensichtlich hatte jemand die Sachen durchsucht. Am ebenfalls weißen Schreibtisch, passend zum Stil des Schrankes, waren die Schubladen herausgezogen. In den beiden oberen hatte Handtke Telefonbücher und Papier aufbewahrt. Irene lächelte, als sie im untersten Fach einen Rechtschreib-Duden liegen sah. „Er bemühte sich offensichtlich, fehlerfreie Erpresserbriefe zu schreiben.“
„Aber jedes Programm hat doch heutzutage eine Rechtschreibprüfung.“
„Er scheint hier allerdings ohne Computer gearbeitet zu haben. Die Ausgabe des Duden ist einigermaßen aktuell.“

Als vom Gang her Schritte näher kamen, überprüften sie rasch den Abstand zwischen sich. Wenig später trat ein Mann mit einem Metallkoffer zielstrebig in den Raum. Unmittelbar hinter ihm folgte ein zweiter. „Aha, das ist also das Büro. Auf die Idee nach unten zu gehen, wären wir nicht so schnell gekommen.“
Irene und Martin wirkten einigermaßen überrascht. Konnte Herbert Reiser tatsächlich auch das Stockwerk orten?
Der Mann lachte. „Ach so, Sie wundern sich, warum wir so schnell hier sind und Bescheid wissen? Die Polizeiinspektion und die Spurensicherung sind zur Zeit im Gebäude nebenan untergebracht. Und statt uns über das Wetter zu unterhalten, haben wir im Vorbeigehen den Tipp bekommen, dass wir Sie hier unten finden.“ Er schaute sich kurz im Zimmer um. „Im ersten Stock ist eine Kantine. Die machen einen hervorragenden Latte Macchiato. Wenn Sie uns hier eine Viertelstunde unsere Arbeit machen lassen, geben wir Ihnen noch eine erste Einschätzung mit auf den Weg.“
„Gute Idee.“ Martin nickte Irene aufmunternd zu.
Sie verließen das Büro und stiegen die Treppe hoch. Kurz bevor sie die Kantine betraten, verließen die letzten Gäste den mit zahlreichen Tischen ausgestatteten, wohlig warmen Raum. Martin eilte zur Theke und fragte hektisch: „Ist etwa schon geschlossen?“
Die adrette Frau beruhigte ihn sofort: „Aber nein! Wir haben durchgehend geöffnet. In einer Viertelstunde kommen ja schon die ersten zum Mittagessen.“ Sichtlich erleichtert gab er seine Bestellung auf und bedeutete Irene, Platz zu nehmen.
Wenig später stand er mit einem Tablett vor ihr. Mit einer eleganten Bewegung servierte er den Latte Macchiato und das Croissant. Als Irene ihm als Dank einen Klaps auf den Hintern gab, wurde Martin sichtlich verlegen und setzte sich sofort auf einen Stuhl.
Irene meinte beschwichtigend: „War nicht sexistisch gemeint … Oder etwa doch? … Ja, könnte durchaus sein.“
„Du darfst gerne wieder …“
„Und du würdest niemals?“
„Nein, ich käme mir schäbig vor.“
„Diese Einstellung haben leider nur wenige. Ich werde mich wohl bessern müssen.“

Als sie nach 20 Minuten wieder in Handtkes Büro erschienen, sagte der mittlerweile weiß vermummte Mann von der Spurensicherung: „Wir haben ein paar Fingerabdrücke gefunden. Aber weder ein Notizbuch noch sonstige Unterlagen.“
„Schade! Wäre zu schön gewesen.“
„Wir haben auch nach geheimen Verstecken gesucht. Wenn andere so gründlich wühlen, erwacht in uns der Ehrgeiz noch gründlicher zu sein. Leider ergebnislos! Hinter dem Schrank war nur jede Menge Staub. Unter dem Teppichboden ist auch nichts deponiert.“
„Sie sind ja wirklich sehr systematisch vorgegangen. Vielen Dank! Falls Sie die Fingerabdrücke zuordnen können …“
„… bekommen Sie selbstverständlich Bescheid.“
„Dann machen wir uns jetzt aus dem Staub.“ Martin hob zum Gruß lachend die Hand.
Der Mann rief Ihnen nach: „Ab nächster Woche sind wir in der Nähe vom Harras untergebracht. Falls Sie dort mal ein paar Spurensucher brauchen, kommen wir wieder zu Fuß.“

Im Auto meinte Irene voller Hoffnung: „Der Privatdetektiv wusste also schon gestern Vormittag, dass Handtke tot ist. Er hat ganz bestimmt etwas beobachtet. Aber wie bringen wir ihn zum Sprechen?“
Martin lächelte: „Lass das mal meine Sorge sein.“
„Und ich kümmere mich um einen Parkplatz.“
Irene steuerte quer in eine viel zu kleine Parklücke und fuhr dann den Randstein hoch. Martin befestigte indessen das Blaulicht auf dem Autodach: „Vielleicht können wir ja so verhindern, dass das Auto abgeschleppt wird.“
Beschwingt zog Martin Irene mit sich.

Das Büro des Privatdetektivs befand sich im zweiten Stock. Sie erwarteten einen schlampig gekleideten Mann in einem modrig riechenden Raum mit Stapeln leerer Pizzakartons inmitten leergetrunkener Whiskyflaschen. Doch stattdessen begrüßte sie ein modebewusster Mann hinter einem aufgeräumten Schreibtisch, der sie sogleich fragte: „Was kann ich für Sie tun? Nachdem Sie als Paar bei mir erscheinen, scheidet Eifersucht schon mal aus. Also brenne ich darauf, Ihre Geschichte zu hören.“
Martin hielt ihm den Dienstausweis hin: „Kriminalpolizei! Wir haben mit Herrn Stanglmeier gesprochen. Deshalb möchten wir nun von Ihnen wissen, woher Sie wussten, dass Ludwig Handtke tot ist.“ Martin schnippte mit dem Finger.
„Also schön: Sie sind offensichtlich kein Freund von Smalltalk. Ich … ich habe meine Informanten. Und die haben in diesem Fall alles für mich herausgefunden. Die Adresse seines Büros, seinen Beruf … und schließlich auch, dass Handtke tot aufgefunden wurde. Mein Auftraggeber wollte ja ohnehin nicht, dass ich mich im Büro des Erpressers umsehe. Also konnte ich meine Nachforschungen von hier aus erledigen.“
„Und das sollen wir Ihnen glauben? Geben Sie zu, dass Sie mehr über den Tod von Handtke wissen! Haben Sie den Mord beobachtet?“
„Nein, ich schwöre Ihnen! Dass ich es erfahren habe, war auch mehr ein Zufall. Eigentlich hab ich von meinem Informanten keine Hinweise mehr erwartet. Falls es Sie beruhigt, diese Quelle ist nun leider versiegt.“
Martin wiederholte gedankenverloren: „Versiegt …“ Dann fügte er energisch hinzu: „Ihre Quelle ist wohl eher im Ruhestand: Harry Bryzinsky!“
Hinterholzer zuckte zusammen. Verdattert schaute er ins Leere.
„Geben Sie es ruhig zu!“, fügte Martin drängend hinzu.
„Also schön! … Ich war selbst mal bei der Truppe. Damit das klar ist: Ich hab nichts verbrochen, ich bin freiwillig gegangen. Sie können sich gerne meine Personalakte anschauen. Ich hab mich vor sieben Jahren selbständig gemacht. Erst mit Personenschutz und dann diese Detektei. Harry hat mir nur hin und wieder etwas auf die Sprünge geholfen. Er wusste, dass ich nie und nimmer etwas Illegales damit anstelle … Werden Sie ihm jetzt Schwierigkeiten machen?“
„Die hat er sich schon selber gemacht!“
Hinterholzer vergrub sein Gesicht in beide Hände. „Gestern hab ich mir noch Sorgen gemacht, wie ich in Zukunft an Informationen herankomme.“ Er blickte auf und fragte: „Hat diese Natalie etwa ausgeplaudert, dass ich ihr ein Angebot gemacht hab?“ Weil Martin schwieg, sagte er: „War dumm anzunehmen, dass sie genauso gestrickt ist, wie Harry!“
Wieder schwieg Martin.
„Na ja, über kurz oder lang wäre ich jetzt ohnehin gescheitert. Wenn ich alles selbst ermitteln muss, dann bleibt mir am Ende des Monats nicht viel übrig! Da hätte ich ja ebenso gut weiter auf meine Pension hinarbeiten können … Sie werden doch nicht etwa eine interne Ermittlung gegen Harry einleiten? Jetzt, wo er gerade das Ende seiner Laufbahn erreicht hat!“
Martin drehte sich zu Irene um, zwinkerte ihr zu und deutete auf den Ausgang. Beide verließen wortlos den Raum.
„Was werden Sie unternehmen?“, rief Hinterholzer ihnen nach.
Auf der Treppe fragte Irene: „Leitest du eine Ermittlung gegen diesen Bryzinsky ein?“
„Nein. Dabei kommt nichts raus. Aber in ein paar Monaten werde ich Harry nochmal auf die Füße treten … Lässt uns warten und beliefert stattdessen Privatdetektive!“
„Ich bin froh, dass Frau Wöhrle nicht mitmacht.“ Sie gingen gedankenverloren weiter. Dann sagte Irene: „Leider haben wir für unseren Fall keine neuen Erkenntnisse gewonnen. Ich hatte so darauf gehofft, einen Zeugen zu finden.“

Wie üblich öffnete Martin die Eingangstür zum Kommissariat und ließ Irene den Vortritt. Noch bevor sie eine Ahnung hatte, über welches Thema sich Werner und Freddie in der Küche angeregt unterhielten, blieb sie argwöhnisch stehen. Sie hatte schon zweimal Martins Namen gehört, und es klang schon wieder so, als würden sich die beiden über ihn lustig machen. Diesmal können sie was erleben!, nahm sie sich fest vor. Sie drehte sich um und hielt verschwörerisch den Zeigefinger vor ihren Mund. Martin drückte lautlos die schwere Stahltür ins Schloss. Auf Zehenspitzen gingen sie ein paar Schritte in den Raum und lauschten.
Werners Stimme war deutlich zu vernehmen: „Möchtest du nicht mal Martin fragen, wie er es geschafft hat, so viel abzunehmen? Er nimmt noch immer Milch und Zucker.“
„Ja, das würde mich auch interessieren. Denk dir nur, er war im Sport eine ziemliche Niete. Er musste Volleyball spielen. Das sagt schon alles.“
„Ich hab früher auch Volleyball gespielt!“, protestierte Werner sogleich. „Und wir waren sogar eine Saison in der Bundesliga!“ Er klang ziemlich sauer.
„Ja, ja. Aber Martin hat auch dabei nicht gut abgeschnitten.“
„Dann kann er dir wirklich wertvolle Tipps geben. Er ist in Topform. Er bewegt sich mit einer Leichtigkeit, als würde er in seiner Freizeit als Akrobat im Zirkus auftreten und nicht die meiste Zeit in einem Büro herumhocken.“
„Das ist mir auch schon aufgefallen. Aber ich verstehe es einfach nicht. So ganz ohne Sport.“
„Vielleicht hat er doch eine Freundin, die ihn fordert.“
„Ach was. Er hätte sich schon längst verraten.“ Dann fügte Freddie amüsiert hinzu: „Aber bitte, ich kann das ja noch mal abchecken!“
„Und … und wenn er einen Freund hat?“
„Martin? … Niemals. Nicht, dass ich da Vorurteile hätte. Aber er trägt keine kitschigen Klamotten, keinen Ohrring.“
„Von wegen keine Vorurteile! So Äußerlichkeiten sagen doch überhaupt nichts aus.“
Irene machte einen entschlossenen Schritt in Richtung Küche, blieb aber dann wie elektrisiert wieder stehen.
„Einmal hab ich ihn auf der Weihnachtsfeier mit einer Frau gesehen“, fuhr Werner nachdenklich fort.
„Und kanntest du sie?“ Freddie gab sich keine Mühe, seine Neugierde zu verbergen.
„Nein. Sie war schlank, fast dürr. Kurze braune Haare. Mir ist noch ihr Leberfleck an der Wange aufgefallen.“
„Hat er mit ihr geflirtet?“
„Sie haben ein paar Gläser Wein getrunken und sich locker unterhalten.“
„Was denn? Martin trinkt doch maximal ein Glas.“
„Ist schon einige Jahre her. Ich war damals noch im Streifendienst.“
„Und warum beschäftigt dich das heute noch?“
„Ich hab mal gehört, dass Homosexuelle magersüchtige Frauen bewundern. Weil sie so wie Jungs wirken.“
„Stopp! Das geht jetzt aber wirklich zu weit“, sagte Freddie entsetzt.
„Aber machst du dir gar keine Gedanken, wie es so um Martin steht? Er ist über 40 und immer noch Junggeselle.“
„Doch schon. Es ist nur …“ Freddie schnippte mit den Fingern: „Mir ist wieder eingefallen, mit wem du ihn gesehen hast. Diese Frau hab ich auch schon mal getroffen. Aber nicht im Zusammenhang mit Martin.“
„Kennst du ihren Namen? Vielleicht klingelt es dann auch bei mir.“
Freddie schien unschlüssig. „Nicht mehr so ganz genau. Der Vorname war auf jeden Fall Marlene. Marlene Dräger oder so … Sie saß mal in der Kantine neben mir und hatte ein Namensschild angeheftet. Wir haben uns ganz nett unterhalten.“
„Marlene Dragen! Das könnte stimmen, die war hier als Psychologin tätig. Soweit ich mitbekommen habe, ist sie dann nach Nürnberg gegangen.“
„Woher weißt du das?“
„Ein Freund von mir war bei ihr. Beratungsgespräche. Erst hat er von ihr geschwärmt und dann über sie geschimpft. Das muss aber bestimmt schon mehr als zehn Jahre her sein.“
Indessen sog Irene diese Neuigkeiten wie ein Schwamm auf. Martin sah ihr deutlich an, wie sehr ihr das Gehörte zusetzte. Fieberhaft überlegte er, wie er diesem Treiben ein Ende setzen könnte. Und dennoch blieb er wie angewurzelt stehen.
Martins Panik war Irene nicht entgangen. Ihre Gedanken überschlugen sich. Und plötzlich hatte sie alles beisammen: Martins Ex-Freundin in Nürnberg. Marlene Dragen. Psychologin. Nur hieß sie dort Grätz. Sie hat Martin wohl verlassen. Er wurde also genauso wie ich betrogen, der Arme. Und er ist so rücksichtsvoll, weil er nachfühlen kann, wie es mir geht, nachdem Tobi mich verlassen hat. Genauso wie ich hat er lange Zeit niemanden mehr an sich herangelassen … Aber jetzt ist er bei mir.
Irene packte den überraschten Martin am Ärmel und zog ihn in sein Büro. Leise schloss sie die Tür und blickte ihn mitleidsvoll an. Gerade das hätte er am wenigsten erwartet. Dann hatte auch er ein Aha-Erlebnis: Irene war eine Zeitlang in Nürnberg … Aber ja, Sie kennt Marlene!
Irene fragte vorsichtig: „Hast du deshalb so viele Psychologiebücher?“
„Nein, die hatte ich damals schon. Die … Ich war nicht lange mit Marlene zusammen. Ich hatte mich in ihr getäuscht.“
„Ich habe sie in Nürnberg kennengelernt. Allerdings nicht persönlich. Während meiner Ausbildung hat sie ein paar Vorträge gehalten. Damals hatte sie gerade geheiratet.“ Aufgeregt fragte sie nun: „Wusstest du das bereits, oder hab ich dich …?“
„Ich hab es vermutet. Sie hatte ja auch recht schnell ganz konkrete Ziele für uns. Wen?“
„Den stellvertretenden Leiter.“
„Das war auch ihr Karrierewunsch für mich. Sie hat nicht verstanden, dass ich gerne ermittle. Sie wollte, dass ich möglichst bald aufsteige. Aber ich hasse Büroarbeit.“
„Hat sie dich verlassen?“
Martin zögerte kurz. Dann sagte er: „Ja. Sie ist einfach nach Nürnberg gegangen.“
„War es schwer für dich?“
„Nicht sehr. Mir ist schnell klar geworden, dass sie …“
Irene ergänzte: „… nur auf ihren Vorteil bedacht ist. Ich hatte den Eindruck, dass sie ziemlich berechnend war.“
Martin nickte. Irene umarmte ihn. Ihr Blick fiel auf das Urlaubsfoto an der Wand: War er mit ihr dort? … Schluss jetzt! Er wurde einfach verlassen. Genauso wie ich von Tobi. Irene intensivierte ihre Umarmung.
Freddie klopfte an die Tür und fragte irritiert: „Seid ihr wieder zurück? Oder ist die Tür zugefallen?“ Diesmal brauchten sie etwas Zeit, bevor Martin „Komm doch herein!“ rief.
Als er eintrat, sah er die beiden angespannt vor dem Monitor sitzen: „Gibt es was Neues? Oder warum habt ihr es so eilig, euch wieder ins Büro zurückzuziehen? Ihr hättet ja sagen können, dass ihr wieder da seid.“
„Werner und du, ihr habt euch so angeregt unterhalten. Da wollten wir nicht stören.“
Freddie wurde unsicher. „Wann seid ihr gekommen?“
„Gerade rechtzeitig, würde ich sagen.“ Martin ließ alles offen.
Freddie schlug kurz die Augen nieder. Dann sagte er mit gespielter Leichtigkeit: „Ich wollte dich fragen, wie du es damals geschafft hast, so viel abzunehmen.“
„Nun ihr beide habt euch dazu ja schon einige Gedanken gemacht.“
„Tut mir leid. Wir wollten nicht so über dich reden.“
„Hat sich aber nicht so angehört, als ob es euch leid getan hätte.“
„Werner, er ist nun mal so! Wenn einer nicht verheiratet ist, dann meint er immer, dass mit so jemanden was nicht stimmt.“ Freddie wiegte seinen Oberkörper hin und her. „Nein, er ist nicht allein schuld. Ich denke immer, wer keinen Sport macht, muss so aussehen wie ich. Ich war es, der Werner auf das Thema gebracht hat.“
„Schon gut. Es gibt doch was Neues. Irene und ich, wir wissen jetzt, dass Handtke sich Feinde geschaffen hat, weil er als Erpresser aufgetreten ist.“
„Das ist ein gutes Motiv für einen Mordanschlag … Zu blöd! Bei unserem Fall fehlt noch alles: Verdächtige, Zeugen, ein Tatmotiv. Es wäre besser gewesen, uns damit zu beschäftigen.“ Freddie drehte sich um und verließ niedergedrückt das Büro. Martin wollte ihm folgen, aber Irene hielt ihn zurück: „Warte noch, er soll ruhig etwas schmoren. Wegen ihm hab ich dich anfangs für einen Lügner gehalten.“
„Aber ich …“
„Nein, du musst dich nicht rechtfertigen! Ich hab doch gemerkt, wie schwer es dir fiel, über deine gescheiterte Beziehung zu reden. Und trotzdem hast du mir davon erzählt. Du hättest dich mühelos herausreden können. Und ich hätte dir ganz bestimmt jede deiner Ausreden geglaubt … Ich wünschte, wir hätten uns schon viel früher getroffen.“
„Wir haben uns jetzt getroffen. Das zählt! Und das sollten wir uns nicht kaputt machen.“
„Ich bin froh, dass du etwas von Psychologie verstehst.“ Martin drückte sie fest an sich. In Gedanken ergänzte Irene: Diese Marlene hat jedenfalls von der Praxis keinen blassen Schimmer. Ihre Vorträge hörten sich total weltfremd an. Auch mit Grätz hat sie ganz schön daneben gelegen. Nur zwei Jahre nach ihrer Hochzeit wurde er wegen Veruntreuung verurteilt und schließlich sogar entlassen. Da gehört wirklich einiges dazu, als Polizeibeamter ins Gefängnis zu wandern. Aber ich sag Martin lieber nicht, dass diese Marlene wieder frei ist.

Das Signal einer eingegangen E-Mail brachte Irene und Martin wieder in die Gegenwart zurück. Das Untersuchungsergebnis zu den aus Handtkes Körper entnommenen Projektilen lag nun vor. Damit stand fest: Die drei Kugeln wurden aus Waffen mit ganz unterschiedlichem Kaliber abgefeuert.
Martin schüttelte den Kopf. „Drei verschiedene Täter das ist doch absurd, aber ein Täter mit drei Waffen ebenso.“
„In Bayern gibt es zwar viele Jäger mit einem gut gefüllten Waffenschrank, aber dass jemand drei Waffen, davon auch noch zwei Gewehre, zu einem Mord mitnimmt, habe ich noch nie gehört.“

Immer wieder ergänzte Irene ihre Notizen und … strich wenig später ihre Schlussfolgerungen wieder durch. Auch Martins Gedanken drehten sich im Kreis. Seine Fragen standen fest, aber eine passende Erklärung war noch immer nicht in Sicht. Schließlich sagte Irene verärgert: „Egal wie ich es drehe und wende. Ich komme immer wieder zu dem gleichen Schluss: Es ist höchst unwahrscheinlich, dass so viele Mörder, gerade an einem Feiertag Handtke in der Firma auflauern, um ihn zu ermorden. Und ebenso wenig, kann ich glauben, dass ein einzelner Täter, eine ganze Reihe von Waffen auffährt, um ihn aus dem Weg zu räumen. Oder ist das gerade sein Trick: Uns vorzuspielen, dass es eine ganze Reihe von Tätern gibt?“
„Aber auch das birgt zusätzliche Risiken für ihn. Nicht selten wird ein Mörder aufgrund der Waffen überführt. Vielleicht findet Freddie eine plausible Erklärung für uns!“
Sie gingen ins andere Zimmer.
Freddie legte gerade den Hörer auf. Sofort erzählte er begeistert: „Ich hab gerade im Krankenhaus angerufen: Sandra Meisner wird ohne bleibende Schäden davonkommen.“
„Ist das die Fußballspielerin? Dann ist es ja gut, dass sie so schnell entdeckt wurde.“
„Von wegen. Sie lag die ganze Nacht in der Umkleide mit ihrer schweren Schussverletzung. Man hat sie zunächst für tot gehalten, als man sie fand.“ Beim Gedanken daran verzog Freddie das Gesicht. Noch immer bedrückt, sprach er weiter: „Sie wurde erst kurz nach unserem Eintreffen ins Krankenhaus gebracht.“ Man sah Freddie seine Widerwillen deutlich an, als er weitersprach: „Denkt euch nur, dieser Professor Reinmüller hat sich um sie gekümmert. Er hat mich so ablehnend wie immer behandelt. Mir ist eiskalt geworden und das lag nicht an den offenstehenden Türen. Mann, war ich froh, als der endlich weggefahren ist.“
Als Irene schmunzelte, wandte er sich ihr zu. „Du hast gut lachen, du kennst ihn ja zum Glück noch nicht.“
Irene wollte gerade widersprechen. Doch Freddie blickte auf die Uhr und hatte es plötzlich sehr eilig. Er nahm seine Jacke und verabschiedete sich im Gehen.
Martin schaute ihm nach und meinte schulterzuckend: „Unter diesen Umständen werden wir ihn wohl erst morgen nach seiner Einschätzung fragen können.“

Eine Zeitlang saßen sie wortlos in Martins Büro. Irene starrte auf den Boden. Als Martin sie besorgt fragte, woran sie denke, sagte Irene: „Die schwerverletzte Spielerin geht mir nicht aus dem Kopf. Wenn sie im U17-Team spielt, ist sie also noch nicht mal 17 Jahre alt. Warum wurde sie zum Ziel eines Mordanschlags? Oder war es ein Irrtum? … Ob sie bei Bewusstsein war, als sie die ganze Nacht dort lag?“ Wie einen Weckruf aus einem Albtraum nahm sie das Signal wahr, das eine neue E-Mail auf Martins Computer ankündigte.
Zusammen lasen sie die Nachricht. „Der ballistische Abgleich hat zweifelsfrei ergeben, dass es sich bei der Waffe von Franz Stanglmeier um keine der Tatwaffen handelt, die bei Ludwig Handtke verwendet wurden.Martin fügte kopfschüttelnd hinzu: „Wir haben also einen vermeintlichen Täter gefasst und drei tatsächliche laufen noch frei herum.“
„Na vielleicht gibt es auch noch zwei Giftmörder.“
„Stimmt! Wie konnte ich die entkommen lassen! Fünf verschiedenen Täter machen sich daran, einen Mann am selben Abend zu ermorden … Und wenn Stanglmeier auch zu diesem Mittel gegriffen hätte, wären es sogar sechs gewesen. Ein Preisschießen auf den Erpresser. Wir müssen herausfinden, wen er noch erpresst hat.“
„Aber die Unterlagen sind ja leider weg. Wenn die Spurensicherung keine bereits registrierten Fingerabdrücke findet, dann haben wir gar nichts in der Hand.“
„Vielleicht haben sie ja nur deshalb keine Unterlagen im Büro von Handtke gefunden, weil er alles auf seinem Laptop gespeichert hat.“
Martin suchte die Nummer der Computer-Forensik heraus und rief dort an. Er landete zunächst in der Telefonzentrale des Präsidiums und wurde erst dann mit dem zuständigen Leiter verbunden. Der Mann meldete sich mit dem Namen Reinhard Loher. Er klang frustriert. „Ich muss es leider sagen: Handtke war ein Profi, der uns haushoch überlegen ist. Durch das von ihm angewandte Verschlüsselungsschema konnten wir bislang nicht eine einzige Datei auf seinem Laptop rekonstruieren.“
„Wie ist so etwas möglich? Ich dachte, man kann jede Verschlüsselung knacken.“
„Nicht bei einer riesigen Festplatte. So etwas hab ich in all den Jahren noch nie erlebt. Nicht mal der Bruchteil eines bekannten Dateiformats ist zu erkennen. Nur Datenmüll, und alles schön ordentlich auf der Festplatte verteilt!“
Martin lehnte sich zurück, schaukelte mit seiner Rückenlehne und sagte: „Können Sie mir in einfachen Worten erklären, wie ich mir einen ordentlichen Datenmüll vorzustellen habe?“
Etwas verwundert fragte Loher nun: „Kennen Sie das Binärsystem?“
„Ja.“
„Nun, dann wissen Sie ja, dass man 256 verschiedene Werte in einem Byte ablegen kann. Das Merkwürdige ist: Auf Handtkes Festplatte ist jedes dieser 256 verschiedenen Bytes exakt gleich oft vorhanden. Ein solches Verschlüsselungssystem ist doch totaler Irrsinn. Wenn er einen geschriebenen Text speichert, muss ja alles wieder stimmen. Und es gibt in keinem Sektor der Festplatte irgendwelche signifikanten Häufungen.“ Loher atmete kurz durch und fuhr dann noch immer aufgebracht fort. „Das Passwort können wir auch nicht so einfach durchprobieren. Als wir es einmal falsch eingegeben haben, erschien eine Meldung, dass nach zwei weiteren Fehlversuchen der Computer unbrauchbar ist. Auch diesen Mechanismus hat Handtke selbst gebastelt. Der ist zwar recht einfach gestrickt, aber es gibt Millionen Möglichkeiten und auch die kennen wir nicht im Klartext. So ärgerlich es ist: Wir können den Mechanismus nicht aushebeln! Die Kopien der Festplatte, die wir erstellt haben, starten kein Betriebssystem. Wir können zwar überall die gleichen Daten auslesen, aber bislang hat keiner von uns eine Ahnung, wo in diesem Terabyte irgendwelche lesbaren Daten abgelegt sein könnten.“
„Ich kann mir vorstellen, wie frustrierend das für Sie ist. Obwohl Sie ja schon eine Menge herausgefunden haben, kommen Sie trotzdem nicht an die Dateiinhalte heran.“
„Ja. Ich kann es nur wiederholen: Dieser Handtke ist uns mit seinen Tricks maßlos überlegen. Und er zeigt es uns, indem er Spielchen mit uns spielt.“
„Wir haben oftmals dasselbe Problem. Es gibt Verbrecher, die überlegen sich eine Menge solcher Tricks, um uns in die Irre zu führen. Aber selbst Perfektionisten unterlaufen dumme Fehler.“
Loher atmete tief durch und sagte dann: „Ich werde mich noch mal auf die Suche nach einem solchen Fehler machen.“
„Manchmal braucht es einfach etwas Abstand zum beherrschenden Thema. Auch das musste ich lernen.“
„Vielleicht haben Sie recht. Mittlerweile hat jeder meiner Kollegen eine Kopie von Handtkes Festplatte. Sogar der Praktikant ist eingebunden. Wir reagieren wohl etwas zu besessen auf die Herausforderung.“
„Kreative Lösungen brauchen Freiraum.“
„Verstehe, vielleicht sollte ich mich heute doch wieder Zuhause sehen lassen.“
„Schönen Abend, Herr Loher!“
„Ihnen auch, Herr Behringer.“
Irene schaute Martin fasziniert an. Dann stand sie auf und sagte: „Ich hätte auch gerne etwas Freiraum. Lass uns nach Hause fahren!“
„Gute Idee. War ja auch für uns ein aufregender Tag.“ Mit einer eleganten Drehbewegung nahm er seine Winterjacke im Vorübergehen vom Haken und schon stand er an der Tür. „Allzeit zu Diensten!“, sagte er lächelnd mit einer angedeuteten Verbeugung, bevor er sie für Irene öffnete.
„Ach du! Immer musst du übertreiben!“, kam es amüsiert zurück.

Diesmal fuhr Irene auf Schleichwegen nach Hause und umging so den nervtötenden Abendverkehr. Gut gelaunt stiegen sie von der Tiefgarage aus die Kellertreppe hoch, als sich die Eingangstür öffnete. Sie blieben zunächst im schützenden Halbdunkel stehen und sahen Mellie, die zehnjährige Tochter der Nachbarn aus dem dritten Stock. Sie drückte mit der einen Hand, in der sie einen Geigenkasten hielt, die Tür auf, während sie rasch eintrat, damit der schwere Schulranzen nicht in der zufallenden Tür hängenblieb. Umständlich schob sie den Geigenkasten die Stufen hoch. Irene und Martin folgten ihr in einigem Abstand. Sicherheitshalber steckte Irene ihre Hände in die Jackentasche. Als Mellie die beiden durch das Treppengeländer unter sich bemerkte, sagte sie: „Grüß Gott, Herr Behringer. Grüß Gott, Frau …“ Sie zögerte.
„Irene. Irene Meier.“
„Ihr seid ja nicht verheiratet.“
„Nein, sind wir nicht. Woher weißt du …?“
„Mama hat das erzählt.“
„Aber doch nicht dir?“, fragte Irene bestimmt. Sie hatte mittlerweile das Mädchen eingeholt.
„Ich hab gelauscht: Mama hat sich mit Papa unterhalten. Mama sagte, das ist ganz okay. Hauptsache ihr seid glücklich miteinander.“
„Und warum belauscht du deine Eltern, Mellie?“
„Mama und Papa streiten ziemlich oft.“
Hilfesuchend blickte sich Irene zu Martin um.
Er lächelte Mellie aufmunternd zu. „Aber das hat ganz sicher nichts mit dir zu tun. Du bist ein aufgewecktes Mädchen … Vielleicht hilft es deinen Eltern, wenn du dich nicht zu erwachsen benimmst.“
Mellie schaute ihn fragend an. Martin antwortete lachend: „Du bist ein Kind. Albere mit deinen Eltern herum. Zeig ihnen, dass du sie brauchst. Dass du sie beide brauchst!“
„Aber ich bin doch schon groß!“
„Sieh uns zwei an. Wir sind auch schon groß, aber wir genießen es herumzualbern. Das macht doch Spaß!“
Mellie setzte sich wieder in Bewegung und ging pfeifend die Treppe hoch. Von oben rief sie plötzlich: „Buh!“ Sie schaute über das Geländer zu ihnen herunter und freute sich. „Jetzt hab ich euch aber erschreckt!“
Beide starrten mit offenem Mund und übertrieben weit aufgerissenen Augen zu ihr hinauf. Dann sagte Martin scheinbar nur zu Irene, aber ungewöhnlich laut: „Diese Mellie, das ist ja ein richtiger Wirbelwind. Was die wohl den ganzen Tag in der Schule anstellt?“
Irene antwortete ebenso laut: „Das soll sie mal ihren Eltern erzählen. Die werden Augen machen.“
Verschmitzt lächelnd öffnete Martin die Wohnungstür. „Na endlich!“, rief er aus. Weil Irene ihn verwundert ansah, fügte er hinzu: „Ich hab Mellie mal mit ihren Freundinnen gesehen. Sie hat ihnen eine richtig tolle Show geboten. Und wenn ich sie mit ihrer Mutter treffe, frage ich mich jedes mal, wo diese Mellie geblieben ist.“
„Kennst du ihren Vater auch?“
„Ja. Er kann auch etwas frischen Wind gebrauchen. Ist so ein richtiger Beamtentyp … Aber nicht so wie wir … Auch nicht wie Freddie.“ Er lachte: „Du verstehst mich schon.“
„Zu gut.“

***

Pünktlich um 18 Uhr stand Freddie in seinem Sportanzug, mit dem er sonst vor dem Fernseher sitzt, auf dem Platz. Nach und nach trudelten die Spielerinnen ein. Kaum eine nahm Notiz von ihm. Die Mädchen, die ihn bemerkten, beließen es bei einem befremdlichen Blick. Freddie war jedoch sicher, dass sich dies nach ein paar fulminant gehaltenen Bällen schnell ändern würde.
Der Trainer reichte ihm schmunzelnd Handschuhe.
„Die könnten ja noch aus meiner aktiven Zeit stammen … Und was ist das? Ein Kopfschutz?“
„Ist nur zu Ihrer eigenen Sicherheit.“
Weil Freddie herablassend grinste, sagte Marcel Frey: „Muss leider sein. Wegen der Versicherung. Die stellen sich sonst quer.“
„Na gut. Und wo sind die Knieschoner?“
Der Trainer hielt den Zeigefinger an den Mund. „Vorsicht! Bringen Sie die Versicherungsheinis nicht auf dumme Gedanken. Die packen uns sonst noch in eine Ritterrüstung.“
Frey blickte nun wie ein Feldherr zu seinen Spielerinnen und winkte sie heran. „Kommt bitte mal alle her. Die Stürmerinnen zuerst. Wir haben heute einen Gast. Gebt ihm mal eine Kostprobe. Er ist ein Spitzenkeeper. Wir beginnen mit dem Aufwärmtraining!“

Wie so oft in früheren Zeiten nahm Freddie seinen Platz im Tor ein. Er streckte sich zur Querlatte hoch. Aber im Gegensatz zu früher vermied er es hochzuspringen und sich kurz oben zu halten. Die Mädchen stellten sich diszipliniert der Reihe nach auf und so übernahm auch er konzentriert seine Position.
In der Aufwärmphase fing Freddie mühelos jeden Ball und spielte routiniert die nächste wartende Spielerin an. Er erntete anerkennende Blicke und fühlte sich trotz der Schweißperlen auf seinem Gesicht in die Zeit seiner größten Erfolge versetzt. Als lägen keine 30 Jahre dazwischen, spürte er die Energie von damals wie einen belebenden Strom. Selbstbewusst und kampfbereit stand er nun im Tor. Der Pfiff des Trainers katapultierte ihn in die Gegenwart zurück, ohne jedoch die Kraft seiner inneren Bilder zu schmäleren.
Das Elfmeterschießen begann. Das erste Mädchen, das gegen ihn antrat, verdeckte alle hinter ihr aufgereihten Spielerinnen. Freddie versuchte, seine Gegnerin einzuschätzen, betrachtete sein Gegenüber von oben bis unten: Die ist ja mindestens 1,80 groß. Und ganz schön breitschultrig. Sie verzieht keine Miene. Oder doch? … Die Spielerin lief an und setzte den Ball in die linke obere Ecke. Freddie war indessen mit vollem Einsatz nach rechts gehechtet. Er griff ins Leere und landete auf dem Boden. Unbeholfen krabbelte er wieder hoch und erwartete den Spott der Mädchen. Aber stattdessen feierten sie die erfolgreiche Torschützin. Tapfer nahm er seine Grundposition wieder ein.
Die zweite Spielerin machte sich bereit. Sie wirkte schmächtig, war aber genauso groß wie Freddie. Er las in ihrem Gesicht: Sie meint, ich springe nach links, nein nach rechts, ganz sicher links! Freddie verharrte noch immer unschlüssig in der Tormitte, als der Ball haargenau zwischen seinen gespreizten Beinen hindurch schoss. Erst als er im Netz landete, fasste Freddie zu. Und so sah es für die Spielerinnen aus, als würde er für den geglückten Elfmeter Beifall klatschen. Wieder wurde die Spielerin sofort von ihrem Team freudig umringt und mit Schulterklopfen belohnt.
Als er wieder nach vorn blickte, stand schon das nächste Mädchen bereit. Nur mühsam konnte er sich zurückhalten, um nicht loszulachen. Klein und zierlich wie ein Püppchen! Was will denn die hier? Das schien sich seine junge Kontrahentin auch zu fragen. Sie sah sich unsicher um, als wüsste sie nicht, wozu es eine Elfmeterregel gibt. Dann legte sie den Ball auf die Markierung. Zweimal rollte er wieder weg. Schließlich nahm sie Anlauf und gab sich überhaupt keine Mühe zu verbergen, dass sie in die rechte obere Ecke schießen wird. Freddie sprang ab, streckte sich und erreichte das Leder mit der linken Hand. Trotzdem landete der Ball mit voller Wucht im Netz. Sofort spürte er einen heftigen Schmerz. Er schaute die Spielerin erschrocken an: Dieses kleine Luder! Die hat es nicht nötig anzutäuschen. Sie weiß ganz genau, dass sie mit ihrem harten Schuss auch eine Betonwand durchschlägt. Und ich Trottel greife hin! Kopfschüttelnd musste er ansehen, wie die junge Spielerin über ihre zurückgebundenen Haare strich und nun wieder so harmlos wie zuvor wirkte. Sie zeigte ein süßes Lächeln, als sie zu ihm sagte: „Sie haben die Ecke erraten. Ich muss wohl noch mehr üben.“
„Ich habe es sofort bereut. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich in meiner aktiven Zeit jemals so einen Schuss gegen die Hand bekommen habe. Ich sage nie mehr was gegen Frauenfußball.“
Sie lächelte noch süßer und gesellte sich wieder zu ihren Teamkolleginnen, die kaum Notiz von ihr nahmen. Erstaunt blickte Freddie ihr nach: Na so was! Ich hätte erwartet, dass sie auf Händen davongetragen wird! … Ich werde gleich mal abchecken, was mit meiner passiert ist … Vorsichtig begann er, seine Finger zu bewegen. Beinahe hätte er aufgeschrien.
Der Trainer kam nun grinsend auf das Spielfeld, kümmerte sich aber nicht weiter um Freddie, sondern wandte sich an seine Spielerinnen: „Wir machen jetzt die Lockerungsübungen, die eigentlich auf dem Plan stehen.“

Freddie hatte sich mittlerweile scheinbar gelangweilt am Spielfeldrand niedergelassen, um das Ende des Trainings abzuwarten. Aber innerlich arbeitete es in ihm. Viele Fragen schossen ihm durch den Kopf: Wie soll ich mich vorstellen? Bekomme ich unvoreingenommene Aussagen, oder werden sie schon selbst Schlüsse ziehen, wenn sie wissen, dass ich von der Polizei bin? Ich hätte mich mit Frey abstimmen sollen. Behutsam betastete er seine Hand, die bereits angeschwollen war. Als er plötzlich seinen Namen rufen hörte, schreckte er auf. Frey hatte das Training bereits nach fünf Minuten abgebrochen, deutete auf Freddie und beendete das Versteckspiel. „Unser neuer Co-Trainer, Herr Obermeier, ist von der Kriminalpolizei und ermittelt wegen Sandra.“
Alle Blicke richteten sich nun auf Freddie. Er schluckte, damit hatte er nicht gerechnet. Ärger stieg in ihm hoch. Was hat dieser Trainer nur gegen mich?, fragte er sich. Erst setzt er seine beste Spielerin gegen mich an, und jetzt kann ich mir was aus den kaputten Fingern saugen. Mühsam sammelte er seine Worte: „Das Verbrechen wurde gestern Abend verübt. Überlegt euch bitte, ob ihr etwas Verdächtiges bemerkt habt. Ist euch jemand aufgefallen? Wer hat Sandra zuletzt gesehen?“
Das schnell einsetzende Stimmengewirr beruhigte sich langsam wieder. Zu Freddies Überraschung trat danach eine Spielerin aus dem Pulk nach vorne. Er erkannte sie sofort. Es war das Mädchen, deren harten Schuss er immer noch spürte. Mit klarer, fester Stimme begann sie zu sprechen: „Ich war noch bis halb acht im Kraftraum. Sandra hat danach noch weiter trainiert. Wir waren dort allein, aber in den Gängen war einiges los. Gestern Abend haben mehrere Mannschaften trainiert.“
„Danke. Wie heißt du?“
„Monika. Monika Grobowski.“
Freddie nahm sein Notizbuch aus der Jacke. Diese sonst so beiläufige Bewegung bereitete ihm solche Schmerzen, dass er sie doch lieber mit der unversehrten rechten Hand ausführte. Noch während er umständlich in seine Jackentasche griff, sprach Monika weiter: „Sandra führt Tagebuch. Ich hab mal gesehen, wie sie etwas hineingeschrieben hat. Vielleicht hatte sie es gestern dabei.“
Freddie wandte sich wortlos dem Trainer zu.
„Wenn Sie dadurch den Täter schneller aus dem Verkehr ziehen, sollten wir sofort nachschauen. Ich lasse mir den Zweitschlüssel geben.“
Freddie nickte und freute sich über die unerwartete Kooperation. Die Mädchen verfolgten indessen jede seiner Bewegungen, so dass er kaum noch zu einer natürlichen Handlung fähig war. Er vermied es auch, noch mal seine Hand abzutasten, die sich anfühlte, als würde sie von feinen Nadeln traktiert. Als Frey quer über den Platz mit dem Schlüssel auf ihn zulief, atmete Freddie erleichtert auf.
„Ihr hättet Herrn Obermeier doch schon zum Spind führen können“, klang es leicht vorwurfsvoll vom Trainer. Freddie musste schmunzeln, weil die Augenpaare der Mädchen wie auf Kommando zu Frey wanderten und dann sofort wieder zu ihm zurück. Doch diese kurze Zeitspanne hatte ihm genügt, seine Souveränität zurückzugewinnen. Zielstrebig schritt er in die vom Trainer angedeutete Richtung. Fast andächtig folgten die Spielerinnen den beiden in den Umkleideraum, um die Polizeiaktion hautnah mitzuerleben. Frey sperrte die Spindtür auf, zog eine rote Sporttasche heraus und stellte sie auf die Sprossenbank. Freddie stellte sich davor und setzte bewusst seine ganze Körperfülle ein, damit kein unbefugter Blick den Tascheninhalt erhaschen konnte. Mit der unversehrten rechten Hand öffnete er den Reißverschluss und zog vorsichtig ein Handtuch heraus, in das frische Unterwäsche eingewickelt war. Schnell stopfte er alles wieder in die Tasche zurück und griff stattdessen nach einem transparenten Plastikbeutel. Schon von außen waren Duschgel und Shampoo erkennbar. Beim Inspizieren der Innentasche fanden sich lediglich eine angebrochene Tafel Schokolade, Pfefferminzbonbons und Heftpflaster. Enttäuscht ließ Freddie den Reißverschluss offen und wandte sich mit wenig Hoffnung Sandras Kleidung zu, die im Spind hing. Er tastete die zahlreichen Innentaschen des Anoraks ab und griff unter Verrenkungen in eine davon. Ein Reclam Taschenbuch: Shakespeares Hamlet in deutsch und englisch. Freddie schmunzelte kurz und beendete die erfolglose Suche. Unbeholfen notierte er sich, deswegen Frau Meisner anzurufen. Er stellte die Tasche in den Spind und sperrte ihn ab.

Als er sich umdrehte und Frey den Schlüssel gab, hörte das Tuscheln mit einem Schlag auf. Die Mädchen saßen auf den Bänken und blickten ihn mit erwartungsvollen Gesichtern an. Nun meldete sich die Spielerin zu Wort, die den ersten Elfmeter geschossen hatte. Sie stand auf, bevor sie zu sprechen anfing. Freddie ergänzte seine Beobachtungen: Hier drinnen erscheint sie mir noch viel größer, in etwa 1,85. Aber sie wirkt trotzdem nicht maskulin. Indessen fragte sie mit dünner, hoher Stimme: „Weiß man schon, warum jemand auf Sandra geschossen hat?“
„Nein, leider nicht. Wir haben bislang keinen Hinweis auf ein Motiv.“ Freddie schaute die Spielerin fragend an und diese antwortete noch leiser: „Johanna. Johanna Rieder.“
„Wir werden euch natürlich mitteilen, sobald wir mit unseren Ermittlungen weitergekommen sind. Falls euch noch etwas einfällt, ruft mich bitte gleich an. Jede Beobachtung kann wichtig sein.“
Daraufhin schrieb der Trainer Freddies Telefonnummer auf einen Zettel und befestigte ihn mit einem Magnet an Sandras Spind. Ein paar der Mädchen speicherten die Nummer gleich in ihren Smartphones ab. Freddie verabschiedete sich nun schnell. Seine Hand schmerzte höllisch.

Mittwoch, 09.01.

Werner saß bereits an seinem Computer, als Irene und Martin wieder fast gleichzeitig im Büro eintrafen. Missmutig schaute er vor sich hin.
„Was ist denn mit dir los?“ fragte Martin verwundert. „Guten Morgen, übrigens.“
„Morgen“, kam es knapp zurück. „Meine Kontakte haben mir mitgeteilt, dass der Handel mit Drogen über Osteuropa gerade floriert. Sie fanden den Gedanken übrigens originell, in Reisebussen Drogen zu schmuggeln. Schon nach zwei Telefonaten hatte ich den Eindruck, dass wir damit definitiv das Tatmotiv gefunden haben. Deshalb stelle ich gerade die Anträge, um die Finanzen der Meisners zu überprüfen. An solchen Tagen hasse ich meine Arbeit. Das ist doch Irrsinn! Die Tochter hat gestern knapp einen Mordanschlag überlebt und heute ermittle ich gegen die Eltern.“
Irene mischte sich ein. „Verstehe. Aber wir brauchen alle Fakten. Die Meisners könnten auch durch ihre Busfahrer in Drogengeschäfte verwickelt sein. Dann sind die Eltern unschuldig und trotzdem in Gefahr. Vielleicht sogar in größerer Gefahr, als wenn sie sich selbst schuldig gemacht hätten.“
„Irene hat recht“, schloss sich Martin an. „Wir sollten die Finanzen der beschäftigten Busfahrer ebenfalls untersuchen. Und auch, ob einer von ihnen besonders häufig für eine bestimmte Tour bzw. für ein bestimmtes Land eingesetzt ist.“
Werners Gesicht entspannte sich. „So macht das Sinn.“ Sogleich fuhr er fort, die Formulare auszufüllen.
Irene wandte sich Martin zu: „Und wir müssen die Angestellten der Software-Firma überprüfen. Ich habe auf deren Homepage nachgeschaut. Es gibt noch eine Niederlassung in Nürnberg mit weiteren 15 Angestellten. Ein riesiger Kreis von Verdächtigen.“
„Dann haben wir ja auch eine Menge zu tun. Wir sollten gleich in mein Büro gehen.“ Als er dort seine Winterjacke an den Garderobenhaken hängen wollte, stoppte er inmitten der Bewegung. Irene wartete verwundert darauf, was nun folgen würde. Lächelnd beendete Martin den unterbrochenen Handgriff. „Mir ist da gerade etwas eingefallen. Ich verstehe nicht viel vom Programmieren. In meiner Jugend hab ich es auch mal versucht. Aber weil irgendwann jede Änderung unerwartete Seiteneffekte auf den Rest des Programms hatte, habe ich es dann wieder sein lassen. Und so kam mir gerade der Gedanke: Könnte der Fehler im Lohnbuchhaltungsprogramm im Zusammenhang mit den illegal beschäftigten Arbeitern stehen?“
Irene strahlte. „Und unser Fehlerprofi hat das herausgefunden. Und das Skurrile ist: Die Betriebe haben sich durch das Melden des Fehlers selbst angezeigt … Wieder ein paar Tatverdächtige mehr! Na ja, vielleicht findet Hubert auch noch Würgemale.“
Während Martin bereits wieder seine Jacke vom Haken nahm, sagte er: „Wir können ja gleich mal überprüfen, ob wir mit unserer Theorie richtig liegen und bei der Software-Firma vorbeischauen.“
Irene nickte und beeilte sich ebenfalls, ihre Jacke wieder anzuziehen.
Als die beiden an Werner vorbeiliefen, schüttelte er den Kopf. „Ihr seid ja schnell fertig. Oder war bereits der erste Verdächtige der Täter?“
„Wir fahren in den Nymphenburger Schlosspark“, rief Irene lachend.
„Glaub ich euch nicht. Martin würde sich niemals während der Arbeitszeit vergnügen.“
Kaum fiel die Türe hinter ihnen zu, blieb Irene stehen: „Vergnügen? Hat Werner doch etwas gemerkt?“
„Wenn er was weiß, wird er ganz sicher mit Freddie darüber reden. Und dann … Apropos Freddie, wo bleibt er denn heute? Normalerweise ist er doch um diese Zeit schon längst hier. Egal, wir müssen los!“
Mit einer lässigen Bewegung schüttelte Irene den Gedanken an Freddie ab.

Sie bog in Richtung Sendlinger Tor ab und fuhr schließlich am Karlsplatz vorbei. Eine Weile sah es für Martin tatsächlich so aus, als wollte Irene einen Abstecher zum Nymphenburger Schlosspark machen. Sie legte den Kopf in den Nacken und schlug mit dem Zeigefinger einen schnellen Takt auf das Lenkrad, während sie eine fröhliche Melodie summte. Dabei wirkte sie wie ein Schulmädchen, das gerade eine Unterrichtsstunde schwänzt. Aber als sie für eine Fahrt zum Park nach links hätte abbiegen müssen, fuhr sie ohne zu zögern geradeaus weiter. „Ein schöner Traum … Na ja. Unseren Spaziergang holen wir am Wochenende nach.“ Mit einem Schmunzeln beobachtete Martin, dass sie denselben Takt beibehielt.

Als sie über den Parkplatz auf das ehemalige Teppichlager zuschritten, blieb Martin abrupt stehen. Er deutete auf die Glasfassade des Hauptgebäudes. In einem der Büros im Erdgeschoss lief Dr. Sommerfeld unruhig hin und her. Irene und Martin gingen schnurstracks auf den Hauseingang zu. Die Tür stand einladend offen. Der hell erleuchtete Gang mit den geschmackvoll ausgesuchten Kunstdrucken stimmte eher auf den Besuch einer Bildergalerie ein und stand im deutlichen Kontrast zur Einfachheit des ehemaligen Teppichlagers. Dennoch sagte Martin mit Gewissheit in der Stimme: „Den Gang entlang! Sein Büro müsste ganz am Ende sein.“ Ein seitlich angebrachtes Namensschild an der Tür gab ihm recht. Irene klopfte. Eine fröhlich klingende Frauenstimme rief von drinnen: „Hereinspaziert!“
Im Vorzimmer saß eine etwa 30-jährige Frau mit einer eindrucksvollen braunen Lockenpracht, die konzentriert ihre Fingernägel lackierte. Ohne aufzusehen, deutete sie lediglich mit dem Daumen auf die Tür schräg hinter ihrem Schreibtisch: „Ihr habt Glück. Er ist da.“ Irene und Martin blieben jedoch stehen und warteten. Die Sekretärin bestrich den nächsten Nagel und schien danach überrascht zu sein, dass die Besucher sich nicht weiter bewegt hatten. „Traut euch nur!“, sagte sie lachend, während sie die beiden in Richtung Tür winkte. Unmittelbar danach betrachtete sie besorgt ihren Mittelfinger, ob durch die spontane Handbewegung der Nagellack verlaufen ist. Wieder klopfte Irene an der Tür, die wenig später geöffnet wurde. Dr. Sommerfeld war sichtlich überrascht, begrüßte die Ermittler jedoch überaus freundlich und bat sie einzutreten.
Irene und Martin sahen sich interessiert um. Sogleich zog sie eine gut 50 cm hohe Buddha-Figur in ihren Bann. Fasziniert betrachteten sie das schimmernde Gold, den akrobatischen Lotossitz und das geheimnisvolle Lächeln, Attribute, die in diesem ansonsten nüchtern eingerichteten Büro noch fremdartiger wirkten.
Dr. Sommerfeld folgte ihrem Blick und erklärte ruhig: „Ein Geschenk von Vicky. Sie hat den Buddha aus Thailand mitgebracht und mir erklärt, dass das Mudra, also die spezielle Fingerhaltung, mein Gehirn stimulieren soll. Erst hab ich gedacht: So eine Frechheit! Aber es wirkt tatsächlich. Immer wenn ich ihn anschaue, weiß ich, dass ich niemals so gelenkig sein werde und weiterhin mit dem Kopf arbeiten muss. Eine hervorragende Motivation.“
Dr. Sommerfeld bot ihnen Platz am runden Besprechungstisch an. Er fragte sie nach ihren Wünschen und wiederholte: „Also einmal Kaffee mit Milch und zwei Stück Zucker und einmal nur mit einem Tropfen Sahne.“ Er entnahm Tassen aus einem Sideboard, befüllte sie aus einer eleganten Thermoskanne und fügte die gewünschten Zutaten hinzu. Er rührte den Kaffee sogar noch um, bevor er die Tassen auf dem Tisch platzierte.
Irene blickte fragend in Richtung Vorzimmer. Dr. Sommerfeld folgte auch diesmal ihrem Blick und meinte lachend: „Meine Sekretärin hat Besseres zu tun, als für mich die Bedienung zu spielen.“
„Sie hat sich gerade die Nägel lackiert und uns einfach weiter gewunken“, erwiderte Irene irritiert.
„Sag ich ja, sie hat Besseres zu tun.“
Verdutzt schauten Irene und Martin auf die Verbindungstür, durch die man jetzt einen begeisterten Ausruf hörte: „Super, toll! Das ist genau das Richtige!“ Peter Sommerfeld lachte nun ebenfalls. „Sie ist immer gut drauf, und erst recht, wenn sie Urlaubspläne schmiedet. Aber ich hab Sie ja gar noch nicht gefragt, weshalb Sie beide hier sind. Gibt es Neuigkeiten?“
Da sie nicht von Anfang an alle ihre Karten auf den Tisch legen wollten, begann Irene zurückhaltend: „Wir haben noch ein paar Ungereimtheiten gefunden, die uns beschäftigen. Ein Freund von mir hat früher auch mal programmiert. Er hat allerdings damit wieder aufgehört, weil jede Fehlerbeseitigung andere Fehler hervorgebracht hat. Nun zu unserer Frage: Wie wirkt sich das Problem mit dem Lohnbuchhaltungsprogramm aus? Das ist doch ein empfindlicher Bereich. Schließlich möchte ja jeder den richtigen Betrag auf seinem Konto haben.“
„Das ist ja das Seltsame. Auf den Gehaltszetteln fehlt offenbar nichts. Aber die meisten Firmen beschäftigen ja mittlerweile viele Mitarbeiter auf Provisionsbasis, und bei den Sonderzahlungen gibt es leichte Abweichungen, immerhin im Bereich von 10 bis 20 Euro pro Monat. Wir haben viele Tests gemacht, doch die Ursache hierfür konnte nicht einmal Ludwig finden, obwohl er es immer wieder versucht hat. Bislang haben uns fünf Kunden derartige Abweichungen gemeldet. Die Vermutung liegt nahe, dass es noch eine ganze Reihe weiterer Fälle gibt, die nur noch nicht entdeckt wurden. Da kommt wohl noch jede Menge Ärger auf uns zu.“
„Der Freund, von dem ich erzählt habe, ist hier“, sagte Irene schmunzelnd und deutete auf Martin.
Dr. Sommerfeld nickte. „Ich wusste gleich, dass Sie beide ein Paar sind. Sie sind also privat auch Software-Entwickler?“, wandte er sich Richtung Martin.
Irene und Martin schauten erst sich und dann Dr. Sommerfeld an.
„Woher wissen Sie, …?“, kam es nun von beiden wie aus der Pistole geschossen.
„Wir haben zwar zur Zeit nur vier Software-Entwicklerinnen. Aber auch in einem solchen Umfeld ist es wichtig zu wissen, wenn sich zwischen Kolleginnen und Kollegen etwas anbahnt. Und Sie werden lachen, die meisten Paare verhalten sich genau so wie Sie. Für mich hat es meist ganz positive Auswirkungen, solange sie in Harmonie zusammenleben und nicht gleich eine Familie gründen. Dann ist die Frau weg und der Mann übermüdet.“
Beide mussten lachen.
„Hatten Sie bei Handtke den Eindruck, dass er eine Beziehung hat?“, wollte Martin nun wissen.
Dr. Sommerfeld dachte kurz nach. „Ich hab ihn ja wegen seiner Nachtarbeit nicht sehr oft angetroffen.“ Plötzlich hob er den Zeigefinger, stand auf und ging zu seinem Schreibtisch. „Mir ist eingefallen: Ich hab schon lange nicht mehr nachgeschaut, wer sonst noch in der Nacht arbeitet.“ Dr. Sommerfeld klappte sein Notebook auf, wartete, bis es betriebsbereit war und schrieb dann scheinbar nur ein Wort. Während er zum Besprechungstisch zurückkehrte, sagte er: „Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn mir etwas auffällt, was auf eine Beziehung hindeutet.“
Irene und Martin nickten und sahen sich dann bedeutungsvoll an. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, den Mythos vom edlen Fehlersucher zu beenden.
Martin wartete bis Dr. Sommerfeld saß und erklärte dann salopp: „Wir haben Beweise, dass Handtke einen gewissen Franz Stanglmeier erpresst hat, einen Bauunternehmer. Wenn Sie uns sagen, dass er einer Ihrer Problemkunden ist, dann erzähle ich Ihnen, welche Theorie wir haben.“
Dr. Sommerfeld schien zunächst nicht zu begreifen. Doch dann sprudelte es aus ihm heraus: „Was …? Ludwig erpresst einfach so unsere Kunden. Der hat sie doch nicht mehr alle! … Jetzt sind wir erledigt! Wir hatten ohnehin größte Schwierigkeiten uns mit der Lohnbuchhaltungssoftware zu etablieren. Das ist das Ende!“ Er blickte panisch zwischen beiden hin und her. Irritiert bemerkte er, wie ruhig die beiden blieben. „Die Firma Stanglmeier KG mit Sitz in Unterhaching“, fügte er resigniert hinzu. „Mit denen hat der ganze Ärger angefangen. Ich verstehe das nicht. Was hatte Ludwig gegen die in der Hand?“
„Nun, unsere Theorie ist, dass die Unregelmäßigkeiten in der Abrechnung dadurch zustande gekommen sind, weil für illegal Beschäftigte keine Abgaben entrichtet wurden. Handtke hat dies bei der Fehlersuche herausgefunden und daraus ein überaus lukratives Geschäftsmodell entwickelt.“
Dr. Sommerfeld konnte es immer noch nicht fassen. In Gedanken versunken saß er da, wie in Stein gemeißelt. Doch plötzlich kam wieder Leben in seinen Körper. Mit wachsendem Interesse sagte er: „Ich lasse das gleich von Michael 2 überprüfen.“
Martin hielt ihn zurück. „Moment bitte! Wir suchen wahrscheinlich nicht nur einen potenziellen Mörder. Auf Handtke wurde mit drei verschiedenen Waffen geschossen und darüber hinaus wurde ihm auch noch Gift verabreicht. Und zumindest der Giftanschlag deutet auf einen Täter oder eine Täterin in Ihrer Firma hin.“
Dr. Sommerfeld wurde kreidebleich. Nach einer Weile sagte er niedergeschlagen: „Auch das noch. Ich dachte, die Schüsse kämen von draußen. Ich hätte nie einen Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin mit dem Mord in Verbindung gebracht. Gestern war das noch eine ganz norm… eine Firma. Und heute ist es ein Treffpunkt für Outlaws.“ Dann nach einigem Zögern meinte er: „Ich werde die Sache doch lieber von jemand anderem überprüfen lassen. Ein sehr guter Mann. Neu in der Firma. Er arbeitet immer nur von 8 bis 17:30 Uhr.“
Dr. Sommerfeld setzte sich erneut an seinen Schreibtisch, schob die ausgebreiteten Bewerbungsmappen auf einen Stoß zusammen und begann nun, mühsam etwas auf einen Zettel zu schreiben. Dann jedoch klappte er seinen Laptop wieder auf und tippte in rasender Geschwindigkeit auf die Tastatur. Danach ging er mit seinem schlurfenden Gang wie fremdgesteuert ins Vorzimmer. Als er zurückkam, hielt er ein Blatt Papier in Händen.
„Ich habe Ihnen die Namen der Kunden ausgedruckt, die sich über Abweichungen beschwert haben. Bitte überprüfen Sie die Firmen vorsichtig. Es sind ohnehin schon Wackelkandidaten. Wenn die mitbekommen, dass ich ihre Adressen an Sie weitergegeben habe, verklagen die mich noch.“
Martin nickte und fragte dann: „Haben Sie eine Idee, welches Passwort Handtke für seinen privaten Laptop verwendet hat?“
„Nein, leider nicht. Er war nicht verheiratet. Soviel ich weiß, hatte er auch keine Haustiere. Manche nehmen das Autokennzeichen, aber er hatte kein Auto. Ich kann nicht sagen, ob er sich besonders gut mit Verschlüsselungstechniken auskannte. Das ist das Steckenpferd von Michael 4. Bei dem könnten Ihre Experten einpacken.“
„Nun, wie es scheint, reichte Handtkes Können vollauf.“
„Wenn es nötig sein sollte, kann Ihnen ja mein Mitarbeiter behilflich sein.“
„Danke für das Angebot, aber unsere Experten sind ehrgeizig, und ich will sie nicht brüskieren.“
„Verstehe.“
Martins fragender Blick zu Irene wurde von ihr mit einem dezenten Aufbruchsignal beantwortet. Er lächelte, erhob sich und beide verabschiedeten sich von Dr. Sommerfeld. Erstaunt stellte Irene fest, dass er ihnen mit einem Tablett ins Vorzimmer folgte. Dort begann er, das benutzte Kaffeegeschirr geübt in die Spülmaschine einzuräumen. Seine Sekretärin saß derweil am Schreibtisch und telefonierte in aller Ruhe über Kosmetikartikel. Als Dr. Sommerfeld den Geschirrkorb hineinschob, entstand ein ruckelndes Geräusch. Er murmelte „Entschuldigung“ und schlich förmlich in sein Büro zurück. Irene lächelte, weil die Sekretärin gerade unnachgiebig auf einer speziellen Pflegecreme beharrte. Kurz bevor Martin die Tür schloss, winkte sie ihnen noch freundlich zu. Irritiert sagte er draußen zu Irene: „So ein Winken hab ich zum letzten Mal in der vierten Klasse gesehen.“
Irene lächelte. „Ja. Das ist schon etwas ungewöhnlich. Aber sie verwendet ausschließlich Naturkosmetik. Eine der genannten Cremes habe ich auch schon ausprobiert, aber nicht die, die sie besonders gelobt hat. Die besorge ich mir auch! Sie kennt sich offensichtlich gut aus.“
„Ganz bestimmt. Sie hat ja einen lässigen Job.“

Im Kommissariat angekommen, öffneten sie vorsichtig die schwere Eingangstüre. Diesmal war kein Gespräch, sondern nur das gurgelnde Geräusch der Kaffeemaschine zu hören. Die Tür zur Kaffeeküche stand offen und Werner lauerte mit seiner Tasse vor der Maschine, als wäre der Kaffee nur im allerersten Moment genießbar. So zogen sich die beiden unbemerkt in Martins Büro zurück. Irene schloss die Tür hinter sich und meinte: „Na, diesmal lästern sie wenigstens mal nicht über dich.“
„Und wir haben uns wieder still und heimlich rein geschlichen. Ganz schön kindisch!“
„Wir können ja später rausschauen und sie in flagranti erwischen. Aber erst mal würde ich gerne die Creme bestellen, die die Sekretärin so angepriesen hat.“
„Nur zu!“
„Nein, lieber doch nicht … Ich hab ohnehin schon ein schlechtes Gewissen, weil wir uns zu viele Freiräume gönnen.“
„Unser Chef ist da anderer Meinung! Er hat uns gratuliert, dass wir die letzten zwei Fälle noch schneller als sonst gelöst haben. Und das verdanken wir dir.“
In Sekundenschnelle wechselten Irenes Wangen in ein leuchtendes Rot.
„Tut mir leid. Aber ich hab schon lange auf eine Gelegenheit gewartet, dir das zu sagen.“
„Wir haben als Team gearbeitet.“ Irene hatte sich abgewandt.
„Ruf ruhig an wegen der Creme! Vielleicht können wir sie heute noch abholen.“
„Also gut!“ Irene setzte sich nun doch an den Besprechungstisch, wischte und tippte auf ihrem Smartphone herum und telefonierte dann mit gedämpfter Stimme. Schließlich verkündete sie: „Die haben die Creme schon bestellt, eine andere Dame hat heute danach gefragt. Am Freitagvormittag kommt die Lieferung. Dann kann ich nach dem Mittagessen dort vorbeischauen … Und was mache ich, wenn ich die Sekretärin dort treffe?“
„Wink ihr zu!“
Beide prusteten los.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739435053
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (November)
Schlagworte
Mord Münchenkrimi Krimis Deutschland Ermittlerin Krimi Bayernkrimi Cosy-Krimi Humor Regionalkrimi Thriller Spannung

Autoren

  • Sophie Lenz (Autor:in)

  • Klaus Sanders (Autor:in)

Sophie Lenz wuchs in Regensburg auf. Nach dem Abendgymnasium stürzte sie sich in ein Studium der Philosophie und Biologie. Etliche Semester später zog sie, geleitet von praktischer Vernunft, nach München und absolvierte dort eine Ausbildung zur Verwaltungsfachwirtin. Klaus Sanders ist in einer bayerischen Kleinstadt aufgewachsen. Für sein Studium der Nachrichtentechnik zog er in das Millionendorf München. Seit 2013 verbringt das Autorenteam die Freizeit schreibend mit Mord und Totschlag.
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Titel: Computer-Spiele