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Doppel-Moral

Ein München-Krimi

von Sophie Lenz (Autor:in) Klaus Sanders (Autor:in)
350 Seiten
Reihe: Irene Meier ermittelt, Band 3

Zusammenfassung

Manfred Raabe, ein eigenbrötlerischer Stubenhocker, wird in seiner Wohnung in München erschossen. Nur wenig später meldet die spanische Polizei einen Mord, der zur selben Zeit an einem Geschäftsmann in Malaga verübt wurde, der ebenfalls Manfred Raabe hieß. Was hat dies zu bedeuten? Auch der Mord an Richard Bernhardt gibt Rätsel auf: Warum wurde der Kommunikationsfachmann erstochen? Aber schon bald wird klar, er war ein Mann fürs Grobe. Und so wundert es nicht, dass bereits zahlreiche Morddrohungen gegen ihn vorlagen. Gerade erst hatte eine Umweltschutzgruppe im Internet damit gedroht, ihn abzustechen. Ist sie bei der Rettung der Natur zu rigoros vorgegangen? Irene Meier und Martin Behringer müssen sich mit diesen drängenden Fragen beschäftigen und geraten an der Schwelle zwischen Recht und Unrecht in arge Gewissenskonflikte.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Das Team

Irene Meier, vor drei Monaten von Passau zur Mordkommission nach München versetzt, findet sich in einem sonderbaren Team wieder:
Ihr Chef, Martin Behringer, hat die höchste Aufklärungsquote und erreicht dies mit allerhand Tricksereien.
Freddie Obermeier, ein übergewichtiger Mittfünfziger, ermittelt auf seine sehr spezielle Weise, wobei er auf moderne Technik gänzlich verzichtet.
Die jüngeren Mitarbeiter, Stefan Burghoff und Hans Baumann zeigen an den Mordermittlungen wenig bis gar kein Interesse, und Martin nimmt dies hin.
Werner Mohr leistet mit seinem ganz eigenen, etwas dubiosen Kontaktnetzwerk einen wichtigen Beitrag und umgeht so den beschwerlichen Dienstweg.

Irene hat sich mittlerweile mit ihrem Ideenreichtum und Scharfsinn einen festen Platz im Team erobert. Aber nicht nur das: Sie und Martin sind schon längst ein Liebespaar. Ausgerechnet Freddie weiß über ihr Geheimnis Bescheid und hütet es wie sein eigenes.

Weitere Personen


Ulrich Weinziertl: Behringers Chef
Prof. Dr. Dr. Hubert Reinmüller: Rechtsmediziner
Maria Zeilinger: Spurensicherung
Erwin Lehmann: Spurensicherung
Herbert Reiser: Mitarbeiter der Einsatzzentrale
Reinhard Loher: Computer-Forensiker

Ana Maria Garcia Seco: Drogenfahnderin in Malaga
Carlos Montes: Comisario in Malaga

Monika Grobowski: U-17-Fußballspielerin
Sandra Meisner: U-17-Fußballspielerin
Regine Müller: Sozialpädagogin und ehemalige Tatverdächtige
Marianne Berger: Physikerin und ehemalige Tatverdächtige
Elke Flemming: Ehemalige Tanzpartnerin von Martin
Manuel: Ehemaliger Tanzlehrer von Martin

Dr. Peter Sommerfeld: Firmenchef der Isar Software AG
Victoria von Herrmsdorff (Vicky): Software-Entwicklerin
Dr. Brigitte Horten: Software-Entwicklerin
Evelyn Schäfer: Sekretärin
Robert Merl: ehemaliger Mitarbeiter der Isar Software AG

Ludwig Handtke: ermordeter Ex-Mitarbeiter der Isar Software AG

Montag, 28.01.

„Die beiden hab ich ja völlig vergessen!“ Martin seufzte und deutete auf die Kleinwagen von Hans und Stefan, die vor der Dienststelle parkten.
„Ist doch nur gut, dass wir diese Nervensägen aus dem Gedächtnis gestrichen haben“, sagte Irene, während sie den Motor abstellte. „Kannst du sie nicht in Dauerurlaub schicken, dann hätten wir endgültig Ruhe vor ihnen.“
„Jetzt werden sie dich wieder anbaggern …“
Irene schaute Martin liebevoll an. „Das sollen die mal bleiben lassen, sonst erzähle ich ihnen, wie glücklich ich mit dir bin … Wie schön die Nächte mit dir sind“, fügte sie mit zärtlicher Stimme hinzu. Martins Gesicht hellte sich schlagartig auf.
Sie zwinkerte ihm zu. „Eine gute Gelegenheit, unser Versteckspiel zu beenden, findest du nicht? Warum schenken wir denen nicht endlich reinen Wein ein?“
„Der einzige Wermutstropfen ist, dass Werner ebenfalls die Wahrheit erfährt.“
„Stimmt schon, Werner kann ganz schön austeilen. Aber so spät, wie wir heute dran sind, erregen wir auch Verdacht, wenn wir zeitversetzt hineingehen.“
„Du meinst die Indizien sprechen gegen uns?“
„Ziemlich deutlich sogar. Oder findest du eine glaubwürdige Ausrede?“
„Na ja, ich werde einfach sagen: Ich musste dich ganz besonders verwöhnen, damit du es mit Hans und Stefan im Büro aushältst.“
„Hm … interessant. Und ich werde bestätigen, wenn nötig unter Eid, dass du weder Zeit noch Mühe gescheut hast.“
Übermütig scherzend stiegen sie aus. Vor der schweren Eingangstür küssten sie sich noch schnell.
„Bühne frei!“, verkündete Martin feierlich, während er die Chipkarte mit einer bedeutungsvollen Geste in das Lesegerät führte. Die Sperre löste sich. Sogleich öffnete er kraftvoll die Tür und hielt sie auf galante Weise weit auf, um Irene den Vortritt zu lassen. Nach einem fröhlichen „Guten Morgen!“ blickten beide gespannt in den Raum.
Alle vier Kollegen wandten sich ihnen überrascht zu. Freddie verdrehte die Augen. Warum trägt er sie nicht gleich über die Schwelle?, dachte er verärgert, bevor er fieberhaft überlegte, wie er ihr Geheimnis retten könnte. Mit einem theatralischen Wink zur Wanduhr sagte er in spöttischem Ton: „Das mit eurer Fahrgemeinschaft klappt ja wirklich super! Statt dass einer von euch zu spät kommt, trudelt ihr jetzt beide zu vorgerückter Stunde ein. Ich hab euch ja letzte Woche schon prophezeit, dass das nicht funktionieren wird. Und dann nehmt ihr auch noch das Auto von Martin! Die Karre ist doch so gut wie schrottreif. Wie oft warst du in der Tiefgarage?“
Irene und Martin wechselten einen vielsagenden Blick. Zum einen irritierte sie die überraschende Wendung, fanden es aber zugleich rührend, wie Freddie sich für sie ins Zeug legte. Schnell waren sie sich einig: Dann eben nicht!
„Du übertreibst mal wieder!“, entgegnete Martin schließlich. „Der Wagen ist nur nicht gleich angesprungen.“
Freddie eilte zum Schwarzen Brett und zählte demonstrativ, wie viele Blechschäden er auf seiner Strichliste bereits dokumentiert hatte. „Hier hab ich schon mal sieben Gründe festgehalten, warum dein Auto nicht mehr anspringt.“
„Vielleicht hätte die Werkstatt einfach mal die Batterie überprüfen sollen, statt ständig nur den rechten Kotflügel auszutauschen!“
Freddie schüttelte grinsend den Kopf. „Du hast auch immer eine Ausrede.“ Zufrieden setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch und nahm einen kräftigen Schluck Kaffee.
Martin schaute nun in die braun gebrannten Gesichter von Hans und Stefan. „Und wie war euer Urlaub?“, fragte er ohne echtes Interesse.
Begeistert antwortete Stefan: „Zum Snowboarden muss man schon ziemlich hoch ins Gebirge fahren, aber es hat sich gelohnt.“
„Wir haben dort sehr angenehme Frauen kennen gelernt …“, äußerte Hans mit einem abschätzigen Blick auf Irene.
„Hier war es auch sehr angenehm“, entgegnete diese. Dabei strahlte ihr Gesicht geheimnisvoll.
Stefan lächelte und fragte Martin: „Und ihr habt in dieser angenehmen Atmosphäre gleich ein paar Fälle gelöst?“
Bereitwillig berichtete Martin über die zurückliegende Ermittlungsarbeit. Kaum war er damit fertig, meinte Hans abfällig: „Also nur ein Ermordeter. Werner hat behauptet, es waren vier Morde und ebenso viele Mordversuche.“
Stefan widersprach ihm sofort: „Wieso, das stimmt doch! Dieser Ludwig Handtke hat sich eine Menge Feinde gemacht. Und die zwei Fußballspielerinnen können sich glücklich schätzen, dass sie noch leben. Auch der Kollege von Handtke war ja dicht davor, vergiftet zu werden.“
Als daraufhin eine längere Pause entstand, in der niemand etwas sagte, ging Martin lustlos weiter in sein Büro.
Irene hatte sich mittlerweile an ihren Schreibtisch gesetzt und den Computer hochgefahren. Es dauerte nicht lange und sie spürte, wie Hans sie ständig von der Seite her angaffte. Sie schüttelte mehr amüsiert als verärgert den Kopf. Wie dumm muss eine Frau sein, um auf diesen Trottel abzufahren … Was soll's! Durch die offene Tür suchte sie Martins Blick. Ihre Augen trafen sich, tauchten tief ineinander ein. Irene lächelte und schätzte die Distanz ab: Nur knapp fünf Meter. Die hab ich in der Schule sogar mal im Weitsprung geschafft. Warum nehme ich nicht Anlauf und springe? Ach was! Mein Herz fliegt ihm auch zu, wenn ich hier sitzen bleibe.
Martins Gedanken bewegten sich auf ähnlichem Niveau, während er mit seinem Bürostuhl wippte: Sie sieht einfach hinreißend aus! Wie soll ich das nur bis Mittag aushalten? Ich werde Herbert Reiser bitten, dass er uns irgendeinen Fall zuweist. Sogar ein Taschendiebstahl würde mir reichen. Hauptsache ich kann wieder mit Irene zusammen ermitteln … Schade, dass wir den Bericht schon verschickt haben, sonst könnte ich sie jetzt zu mir rufen. Sie schaut zu mir her … Martin geriet sofort ins Träumen.

Gegen zehn Uhr klingelte Freddies Telefon. Er erkannte die Nummer und sagte, während er den Hörer abhob und den Lautsprecher anstellte: „Herbert Reiser!“
Der fragte verwirrt: „Soll ich mich etwa mit Freddie melden?“
„Nein, nicht nötig. Ich wollte die anderen schonend darauf vorbereiten, dass die ruhige Zeit vorbei ist.“
„Ihr habt doch erst am Donnerstag den Abschlussbericht abgeschickt. So viel ruhige Zeit liegt da nicht dazwischen. Ich hab extra noch mal nachgefragt, ob ich euch anrufen darf. Der neue Fall führt ohnehin in ungewohnte Höhen.“
„Mir wird gleich schwindlig.“
„Also dann bringen wir es hinter uns: Ihr kennt ja vielleicht diese Hochhäuser in Feldmoching. Und im 10. Stockwerk ist es passiert …“ Herbert Reiser legte eine bedeutsame Pause ein.
Freddie zählte langsam mit den Fingern bis fünf. „Mord oder Selbstmord?“
„Ganz eindeutig Mord. Der Mann landete nicht etwa auf der Straße, weil er sich aus Verzweiflung über die vielen Rechtschreibfehler in seinem Abschiedsbrief aus dem Fenster gestürzt hat. Nein, er wartet tatsächlich noch im 10. Stock auf euch. Er liegt dort mit einer Schusswunde und wahrscheinlich mit einem Blutfleck auf dem Teppich.“
„Und warum passt dieser Fall nicht zu uns?“
„Nun, ihr habt ja selten in solchen Gegenden zu tun.“
„Wir nehmen auch arme Ermordete an. Eigentlich sind alle Ermordeten irgendwie arm dran.“
„Das ist die richtige Einstellung! Ich hab euch schon die Adresse übermittelt. Vorsichtshalber an euch alle, weil ich nicht wusste, wer von euch den Fall bearbeitet. Also dann, teilt ihn euch ein, aber lasst dabei die Leiche ganz!“ Herbert Reiser legte lachend auf.
Irene hatte die E-Mail bereits geöffnet und las begierig die Nachricht.
Mit einem Augenzwinkern wandte sich Freddie Werner zu: „Martin gebührt der Vortritt. Wenn sein Wagen allerdings wieder nicht anspringt, fahren wir.“
„Ich habe schon Name und Adresse notiert“, sagte Irene und zwang sich, nicht zu euphorisch zu klingen.
Beide griffen sich sofort ihre Winterjacken und verließen fast fluchtartig das Büro. Im Flur steckte Irene Martin den Notizzettel zu. Aufgeregt setzte sie sich auf den Fahrersitz und betätigte den Anlasser. Der Motor stotterte kurz … und sprang an. Irene wischte sich erleichtert über die Stirn und fuhr etwas zu schnell durch die Ausfahrt. „Also los! Schauen wir uns das arme Opfer mal an!“
Martin gab das Ziel ins Navi ein. „Stand noch mehr in der E-Mail von Herbert?“
„Nichts, was er nicht bereits telefonisch mitgeteilt hat. Also verschaffen wir uns vor Ort einen ersten Eindruck.“ Sie fügte schmunzelnd hinzu: „Der Ermordete heißt Raabe. Langsam komme ich mir wie ein Aasgeier vor, der froh ist, wenn irgendwo ein Kadaver herumliegt. Ist schon makaber, dass immer jemand sterben muss, damit wir zusammenarbeiten dürfen.“
„Ich hab die ganze Zeit überlegt, wie ich dich in mein Büro locken könnte. Und ein neuer Fall ist … das einfachste.“
Als sie an der nächsten Ampel anhielten, zog Martin am Sicherheitsgurt, um sich Bewegungsfreiheit zu schaffen. Er beugte sich zu Irene hinüber und sie kam ihm mit ihren Lippen ein Stück entgegen. Auf ein drängendes Hupen hin lösten sie sich ganz sanft voneinander.
„Schon wieder so ein Aufpasser“, sagte Irene lachend, schaute kurz in den Rückspiegel, winkte lässig nach hinten und startete durch. „Ob wir Hubert auch dort treffen? Das wäre schön.“ Sie verzog die Mundwinkel. „Wir sind wirklich wie Geier. Aber immerhin gesellige Geier.“

Der Fernsehturm des Olympiaparks lag schon eine Zeitlang hinter ihnen, als Irene nachdenklich sagte: „Es ist wie verhext: Jedes mal wenn wir zu unserer Beziehung stehen wollen, werden wir daran gehindert. Dank Freddie dürfen wir die anderen weiterhin anlügen. Was meinst du? Hat er die Erklärung für unser Zuspätkommen spontan erfunden?“
„Er ist schon ziemlich schlagfertig. Aber es kann genauso gut sein, dass er sich auf Vorrat passende Ausreden für uns ausdenkt.“
„Einerseits bin ich gerührt, wie sehr er auf unser Geheimnis bedacht ist, andererseits kommt es mir dann so vor, als sei unsere Liebesbeziehung etwas Anrüchiges. Bei nächster Gelegenheit werde ich ihm verklickern, dass ich das nicht länger mag!“
„Na ja, bei dieser Gelegenheit hat er die alten Geschichten von meinen Streifzügen in der Tiefgarage wieder aufgewärmt. Und es hat ihm offensichtlich Spaß gemacht.“
„Er rettet unseren Ruf und ruiniert so ganz nebenbei deinen.“
„Sieben Blechschäden in einem knappen Jahr. Ich bin so froh, dass du das Lenkrad übernommen hast. Ich neige nun mal zum Träumen. Und jetzt, wo es so schön mit dir ist, wie ich es mir nie erträumt habe, würde ich wohl noch viel öfter eine Wand übersehen.“
Ein glückliches Lächeln breitete sich in Irenes Gesicht aus. Sie fuhr nun etwas langsamer. Auch sie wollte ein wenig vor sich hinträumen.

Das zwölfstöckige Hochhaus stammte aus den 80er Jahren. Eine Fassadenrenovierung wäre längst fällig. Vor diesem Hintergrund wirkte der auf dem Gehsteig parkende Kleinbus der Spurensicherung strahlend weiß. Unter der geöffneten Eingangstür steckte ein Holzkeil.
„Das macht es uns um einiges leichter“, sagte Martin. „Dann fahren wir erst mal in den 10. Stock und suchen die Wohnung von Manfred Raabe.“
Oben angekommen stach ihnen am Ende des Ganges ein glänzender Metallkoffer ins Auge, der sie wie ein Wegweiser zum Tatort führte. Aus der Wohnungstür trat eine zierliche Frau im weißen Overall und begann, im Koffer zu kramen. Sie richtete sich auf, als die beiden näher kamen. Durch den Mundschutz klang ihre Stimme gedämpft: „Ach du bist es, Martin! Unsere uniformierten Kollegen machen wohl noch immer Frühstückspause.“ Maria Zeilinger begrüßte Irene mit einem abwesenden Nicken und sagte entschieden: „Wartet hier, bis ich euch reinlasse!“ Und schon war sie wieder in der Wohnung verschwunden.
Etwas verloren schauten sich die zwei im Gang um, dessen dunkelbrauner Anstrich etliche Abschürfungen aufwies.
„Diese Tür ist nur angelehnt“, meinte Irene und zeigte nach links.
„Mal sehen, was das zu bedeuten hat“, murmelte Martin.
Sie legten die wenigen Schritte zurück. Martin klopfte gegen den Türrahmen und las gleichzeitig das Namensschild.
Ein drahtiger Herr mit schlohweißem Haar und frischer Gesichtsfarbe öffnete sogleich mit einem breiten Lächeln die Tür. „Grüß Gott! Nur hereinspaziert, drinnen ist es gemütlicher.“
„Hallo, Herr Freundorfer!“, begrüßte Martin ihn und fingerte nach seinem Ausweis.
Doch der jung gebliebene Alte winkte ab. „Lassen Sie nur! Ich sehe Ihnen an, dass Sie Gesetz und Ordnung vertreten.“

Das Wohnzimmer wirkte mit den massiven Möbeln reichlich überladen. Sie nahmen auf dem mächtigen, grün-weiß-beige kariertem Sofa Platz und sanken weich darin ein.
„Möchten Sie etwas trinken? Vielleicht einen heißen Tee?“ Auf dem Couchtisch mit beigen Kacheln stand eine volle Glaskanne auf einem Stövchen.
„Nein danke, Herr Freundorfer“, sagte Irene lächelnd. „Würden Sie uns bitte erzählen, …“
„Nun, Sie wissen ja bereits“, wurde sie eilfertig unterbrochen, „dass ich Herrn Raabe gefunden habe.“ Er setzte sich kerzengerade in den Sessel gegenüber, dessen Sitzfläche durch ein Kissen erhöht war. Ein tiefer Atemzug und schon sprudelte es aus ihm heraus: „Also, ich wollte um halb Neun zum Einkaufen gehen. Dabei fiel mir auf, dass bei Herrn Raabe die Wohnungstür weit offen stand. Tja, so was kommt hier durchaus hin und wieder vor, wenn jemand sturzbetrunken heim torkelt. Es ist auch schon passiert, dass einer im Flur herumliegt und seinen Rausch ausschläft, weil er das Schlüsselloch nicht gefunden hat.“ Herr Freundorfer ließ ein leises Kichern hören. „Aber Herrn Raabe hab ich noch nie betrunken gesehen. Also rief ich mehrmals laut seinen Namen und klopfte an der Tür. Keine Reaktion. Eine Zeitlang stand ich unschlüssig herum. Doch dann gab ich mir einen Ruck. Vielleicht braucht er ja Hilfe, sagte ich mir. Nur deshalb hab ich seine Wohnung betreten! Ich dachte noch, wie kann man sich nur einen hellen Teppichboden ins Wohnzimmer verlegen lassen … Genau dort fand ich ihn. So viel Blut! Furchtbar … die schreckgeweiteten, gebrochenen Augen … Den Blick werde ich nie vergessen.“ Herr Freundorfer schüttelte sich, als würde er frieren. „Ich bin dann schnell in meine Wohnung zurückgelaufen und hab sofort den Notarzt gerufen. Aber ich hab denen gleich durchgegeben, dass Herr Raabe wahrscheinlich tot ist.“
„Sie haben sich genau richtig verhalten“, sagte Martin verständnisvoll. „Möchten Sie nicht eine Tasse Tee trinken?“, fügte er hinzu.
„Danke, es geht schon.“
„Wir können gerne ein andermal kommen, wenn Sie sich jetzt ausruhen wollen.“
Herr Freundorfer winkte rasch ab. „Aber nein. Fragen Sie nur! Ich hab viel Schlimmeres durchgemacht: als Kind den Bombenhagel, die brennende Stadt, die Toten.“
Irene und Martin schauten sich betroffen an.
„Ach was soll's, lassen wir die alten Zeiten! Meine Eltern und ich hatten großes Glück. Im Gegensatz zu Millionen anderen haben wir überlebt. Nur das zählt. Also, was möchte die Kriminalpolizei von mir wissen?“ Seine Aufmerksamkeit war nun wieder ganz auf die beiden gerichtet.
„Wie Sie meinen. Ist Ihnen am Sonntag irgendetwas aufgefallen?“, fragte Irene.
„Am Sonntag? Nein. Ich hab tagsüber meine Enkelin und meine zwei Urenkel in Rosenheim besucht. Die sind zehn und sieben Jahre alt. Hanna ist jetzt auf dem Gymnasium und der kleine Max ist schon in der zweiten Klasse. Das sind sie!“ Voller Stolz zeigte er auf ein Foto, das in der Nähe der Couch auf einer Kommode stand. Nachdem sowohl Irene als auch Martin anerkennende Worte gefunden hatten, erzählte Herr Freundorfer weiter: „Ich kam um 19 Uhr heim, und da war die Tür von Herrn Raabe geschlossen. Ich erinnere mich genau!“
„Haben Sie später noch etwas bemerkt?“
„Leider nicht. Herr Raabe schaute zwar viel fern, aber sein Fernseher war stets auf Zimmerlautstärke eingestellt. Da gibt es hier schon ganz andere Nachbarn. Die …“
„Kannten Sie Herrn Raabe näher?“, unterbrach Martin ihn.
„Nicht näher. Hin und wieder trafen wir uns zufällig und da unterhielten wir uns kurz, über was man halt so redet: über das Wetter, die eine oder andere Fernsehsendung und die weniger rücksichtsvollen Nachbarn. Na so was! Herr Raabe war meistens zu Hause, ich meine auch tagsüber. Er war doch eigentlich noch gar nicht so alt …“ Herr Freundorfer stutzte.
„Haben Sie ihn mal darauf angesprochen?“
„Nein, nie! Sie bringen mich ganz in Verlegenheit mit Ihren Fragen. Jetzt erst merke ich, wie oberflächlich der Kontakt war. Es lag auch an ihm. So richtig warm bin ich mit ihm nicht geworden.“
„Tut mir leid, wenn wir Sie in Bedrängnis bringen. Aber wir müssen uns ja ein Bild vom Toten machen. Hatte Ihr Nachbar öfter Besuch? Vielleicht haben Sie ja rein zufällig mal jemanden gesehen.“
Herr Freundorfer kratzte sich am Kopf. „Das ist ja sonderbar. Nein, nie! Nicht mal an Feiertagen. Er wirkte so … in sich gekehrt. Ich merke schon, Sie beide sind es gewöhnt, solche Verhöre zu führen. Nach ein paar Fragen kennen Sie Ihre Pappenheimer. Dass mir das alles nicht viel früher aufgefallen ist ...“ Ein ungläubiges Kopfschütteln begleitete diese Feststellung. „Ab und zu ist Herr Raabe ins selbe Lokal zum Mittagessen gegangen, auch da war er immer allein. Gleich nebenan ist eine Wirtschaft mit einem günstigen Mittagsmenü. Nichts Besonderes, aber für mich reicht's. Wenn ich nicht wegfahre, gehe ich dorthin. Außer meine Enkelin kommt zu Besuch, dann lade ich sie und die Kinder in den Ratskeller am Marienplatz ein.“ Herr Freundorfer hielt kurz inne und lächelte schelmisch. „Entschuldigen Sie bitte, ich quassele viel zu viel! Meine Enkelin sagt immer, mein Mundwerk ist in Topform. Aber ich bin auch sonst noch ganz fit. Ich bin viel draußen, wandere gern. Die Berge sind mit dem Zug ja leicht erreichbar, und die Zeit vergeht beim Plaudern wie im Flug.“ Erneut legte Herr Freundorfer eine Pause ein, als müsse er sich zur Ordnung rufen. „Also um auf Herrn Raabe zurückzukommen“, fuhr er grinsend fort. „Ich habe ihn hin und wieder beim Mittagessen gesehen. Er hat mich höflich gegrüßt und sich dann einen Tisch am Fenster gesucht. Dort hat er entweder stur auf seinen Teller oder nach draußen geschaut. Er war immer freundlich zu mir, aber eben auf seine distanzierte Art.“
„Können Sie uns sagen, wie lange Herr Raabe hier gewohnt hat?“, fragte Martin.
Herr Freundorfer zog die Stirn in Falten. „Müssten etwa acht Jahre sein. Meine Frau hat er nicht mehr kennen gelernt. Sie ist vor neun Jahren leider verstorben. Das ist sie bei Hannas Taufe.“ Er deutete auf ein anderes gerahmtes Foto.
Martin warf Irene einen Blick zu. Sie nickte.
„Vielen Dank, Herr Freundorfer. Sie haben uns sehr geholfen“, sagte Martin, während er aufstand und ihm die Hand reichte.
Auch Irene verabschiedete sich und fügte hinzu: „Bleiben Sie ruhig sitzen, wir finden alleine raus. Wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, rufen Sie uns bitte an.“
Martin gab ihm seine Karte. „Wie können wir Sie erreichen, falls wir weitere Fragen haben?“
Herr Freundorfer erhob sich und wuselte in seinen Filzpantoffeln an ihnen vorbei zum Flur. Er nahm einen Zettel von der Kommode und malte darauf große Ziffern. „Hier ist meine Telefonnummer.“ Als er Irene den Zettel entgegenhielt, entdeckte er die beschriebene Rückseite. „Tut mir leid. Das ist meine Einkaufsliste, die brauche ich noch.“
Rasch riss Irene ein Blatt aus ihrem Notizbuch und reichte es ihm. Dabei bemerkte sie ihre Notizen auf der Rückseite und meinte lachend: „Die brauche ich auch noch!“
Herr Freundorfer zwinkerte Martin zu. „Ihrer Frau geht es so wie mir, obwohl sie viel jünger ist. Das ist beruhigend.“ Erneut schrieb er seine Telefonnummer gut lesbar nieder, und Irene klemmte das lose Blatt in ihr Notizbuch.
„Eine Frage noch: Könnte ein anderer Nachbar etwas gehört oder gesehen haben?“
Herr Freundorfer öffnete die Wohnungstür, streckte seinen Hals in den langen Gang und meinte leicht verärgert: „Die offene Tür wird den meisten aufgefallen sein, aber es hat wohl niemanden interessiert.“
„Zum Glück haben Sie nachgeschaut. Nochmals vielen Dank, Herr Freundorfer!“
Mit einem strahlenden Lächeln und vor Aufregung leuchtend roten Wangen schloss er die Tür.
„Der ist ja drollig“, sagte Irene leise. „Seine Urenkel haben sicher eine Menge Spaß mit ihm.“
„Und zu erzählen hat er auch immer etwas. Langweilig wird es mit ihm bestimmt nicht.“
„Psst!“ Irene legte den Zeigefinger an die Lippen und deutete auf die Tür.
Von drinnen war deutlich die Stimme von Herrn Freundorfer zu vernehmen: „Du, Marlies! Ich bin's noch mal. Gerade eben war die Kriminalpolizei bei mir … Ja, wegen dem Mord! … Nein, kein mürrischer Kommissar, sondern ein sympathisches Pärchen. Aber die haben mich trotzdem ganz schön in die Mangel genommen … Du hast ja recht. Um mich zum Reden zu bringen, braucht's nicht viel. Dennoch mit wenigen Fragen haben die alles über Raabe aus mir herausgekitzelt. Der Raabe war vielleicht ein sonderbarer Typ! So verschlossen und ein Eigenbrötler war er auch … Ich komm dann am Wochenende und erzähl dir und den Kindern sämtliche Einzelheiten. Du kennst mich ja … Freu mich schon!“

Irene und Martin wichen von der Tür zurück und gingen erheitert die wenigen Meter zu Raabes Wohnung. Just in diesem Moment kam Maria erneut heraus. „Sorry, dass ich euch hier ewig warten lasse. Aber ich hab bis gerade eben den Flur nach DNA-Spuren durchkämmt. Kein einziger Hinweis auf den Täter. Alle Fingerabdrücke stammen ausschließlich vom Opfer. Das ist mir … noch nie untergekommen.“ Mit gesenktem Kopf und Zornesfalte zwischen den Augenbrauen stierte sie auf den grauen Fußabstreifer. Doch dann machte sie einen Schritt zu Seite und ließ die beiden widerwillig eintreten.
Vom Flur aus warf Irene einen prüfenden Blick ins Schlafzimmer. Über das schmale Bett war eine Wolldecke akkurat ausgebreitet. Der Kleiderschrank schien eher in ein Jugendzimmer zu passen und wirkte an der Wand verloren. Beide Schranktüren waren weit geöffnet. Die darin aufbewahrte Kleidung ließ auf einen pedantischen Ordnungsfanatiker schließen. Wie magisch angezogen, trat sie näher und dachte fassungslos: Wie kann man nur so leben? Na ja, bei Martin war es auch mal ganz ordentlich, bevor ich meine Sachen überall verstreut habe.
Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen, als sich Maria aufgeregt vordrängte und sich energisch vor ihr aufbaute. „Ins Schlafzimmer könnt ihr noch nicht rein, sonst werdet ihr am Ende als Tatverdächtige verhaftet.“
Irene lachte und erntete einen verstörten Blick von Maria. Die meint das Ernst, stellte sie irritiert fest.
Mit einer Handbewegung deutete Maria zum Wohnzimmer. „Da drinnen bin ich fertig. Nichts! Der Täter wusste genau, was es zu vermeiden gilt.“
Martin fragte neugierig: „Ist Hubert hier?“
„Ja. Der braucht aber noch Zeit. Könnte sein, dass er euch verscheucht, wenn ihr ihn stört.“
So blieben sie zunächst an der Wohnzimmertür stehen und betrachteten stumm Professor Dr. Dr. Hubert Reinmüller, der mit seinem massigen Körper wie ein andächtiger Kirchenbesucher vor der Leiche kniete.
„Hallo Irene, hallo Martin, kommt nur rein, lasst euch von Maria nicht abschrecken!“, rief er vergnügt in ihre Richtung. In der Hand hielt er ein stiftähnliches Instrument, mit dem er den Eintrittswinkel der Kugel gemessen hatte.
Die beiden traten etwas näher heran, blieben aber trotzdem auf Distanz. Wie eingeübt sagten sie nacheinander: „Hallo Hubert!“ Irene fügte ein „Schön, dich wiederzusehen!“ hinzu.
„Ich freue mich auch. Zum Glück hat das Haus einen funktionierenden Lift, sonst hätte mich sein Tod erheblich mehr mitgenommen. Denkt euch nur, Maria hat den Aufzug blockiert, um Fingerabdrücke von den Knöpfen zu nehmen. War ich froh, als sich kurz darauf der Lift doch noch in Bewegung setzte, aber nur bis er beim Einsteigen unter meinem Gewicht ächzte.“
„Das lag bestimmt nur an deiner schweren Tasche“, meinte Irene.
Hubert lachte.
„Uns sind die Leichen im Erdgeschoss auch lieber“, sagte Martin. „Und das viele Blut hätte es ebenfalls nicht gebraucht.“
Zögerlich richtete nun Irene den Blick auf den Toten. Mit seinen weit aufgerissenen Augen schien er sie anzustarren. Schaudernd und nur mit Mühe konnte sie sich dem Bann entziehen. Die in Herzhöhe dunkelrot glänzende Blutlache blendete sie schnell aus, indem sie sich von den Beinen her nach oben arbeitete. „Mit dem dunklen Anzug sieht er aus, als ob er an seiner eigenen Beerdigung teilnehmen wollte“, stellte sie erstaunt fest.
„Stimmt. Dafür, dass er am frühen Morgen zu Hause ermordet wurde, war er tadellos gekleidet.“
Irritiert betrachtete Martin die vielen Programmzeitungen und Illustrierten, die auf dem Teppich verstreut herum lagen und so gar nicht zur ansonsten peniblen Ordnung passte.
Als könnte er Martins Gedanken lesen, erklärte Hubert: „Die Unordnung hat Erwin veranstaltet. Die Zeitschriften waren auf dem Stuhl dort fein säuberlich gestapelt.“
„Das ist ja noch sonderbarer! Raabe führt seinen Mörder ins Wohnzimmer, aber er räumt vorher nicht einmal den zweiten Stuhl frei. Raabe ist also davon ausgegangen, dass der Besucher sich nicht allzu lange bei ihm aufhält.“
Irene verzog die Mundwinkel. „Laut Aussage von Herrn Freundorfer war Raabe ein strikter Einzelgänger. Warum zum Teufel lässt er dann ausgerechnet seinen Mörder in die Wohnung?“ Sie besah sich erneut den feierlichen Anzug des Toten. „Es könnte ein formelles oder geschäftliches Zusammentreffen gewesen sein, das tödlich endete. Wie wäre es, wenn wir Herrn Freundorfer fragen, wie Raabe üblicherweise angezogen war.“
„Ja, aber nicht gleich. Er soll erst mal wieder zur Ruhe kommen. Hubert, kannst du uns schon etwas sagen?“, fragte Martin, weil der nun anfing, die gebrauchten Utensilien in seine große Ledertasche zu verstauen.
„Es gibt nur zwei Schusswunden und die wurden von derselben Waffe abgefeuert. Beide Male mitten ins Herz. Der Schütze stand dicht vor ihm, als er abdrückte.“
„Na wenigstens keine fünf Täter wie beim letzten Mal.“
„Nein, das war wirklich ein einzigartiger Fall. Also Gift kann ich bereits jetzt ausschließen.“
„Trotzdem ist er genauso tot, wie Handtke es war.“
„Absolut! Auch bei diesem hätte ein Schuss vollauf genügt. Der Todeszeitpunkt dürfte irgendwann zwischen 6:30 und 8:30 gewesen sein. Genauer möchte ich mich noch nicht festlegen. Was haltet ihr von einem gemeinsamen Mittagessen?“
Für diese Frage erntete Hubert ein amüsiertes Kopfschütteln.
„Bedeutet das trotzdem 'Ja'?“
„Wie kannst du bei diesem Anblick ans Essen denken?“, fragte Martin und zeigte dabei ein betont angewidertes Gesicht.
„Auch wenn ich meinen Beruf liebe, freue ich mich doch auf die Pausen.“
„Falls alle Nachbarn so redselig sind wie Herr Freundorfer, dann treffen wir uns wohl erst zum Abendessen.“
„Als Student hab ich in so einem Haus gewohnt. Ich könnte jetzt schon darauf wetten, dass außer dem einen keiner etwas Ungewöhnliches bemerkt hat.“
„Warte trotzdem nicht auf uns! Wir rufen dich an, wenn wir hier fertig sind.“
In diesem Moment kam ein schlanker Mann mit Mundschutz aus der Küche. Er steuerte direkt auf Irene zu, um sich vorzustellen. Doch Maria pfiff ihn sogleich zurück: „Erwin, mach du inzwischen mit den Fingerabdrücken weiter! Ich fotografiere derweil das Schlafzimmer.“
Mit hängenden Schultern und etwas vor sich hin maulend kehrte er um. Während Irene ihm noch verwundert nachschaute, sagte Martin schnell: „Komm! Mal hören, was die Nachbarn zu erzählen haben.“

Wie Staubsaugervertreter klapperten sie eine Wohnungstür nach der anderen ab und wie auch diese mit nur mäßigem Erfolg. Die meisten Türen blieben verschlossen. Und die wenigen, die ihnen öffneten, hatten nichts Besonderes wahrgenommen. Niemand kannte Herrn Raabe näher.
Nachdem sie auch im Stockwerk darüber und darunter keinerlei Hinweise erhielten, machten sie sich auf den Rückweg zu dessen Wohnung. Dort waren die zwei von der Spurensicherung gerade am Zusammenpacken.
„Ich schicke euch die Dokumente zu, sind ja nicht allzu viele“, sagte Maria und legte eine Mappe sowie einen Hefter mit Kontoauszügen säuberlich verpackt auf einem der Koffer ab. Mürrisch fügte sie hinzu: „Ich könnte schon jetzt wetten, dass auch die weiteren Untersuchungen nichts bringen … So, endlich kann ich euch herumführen. Sind ja nur zwei Zimmer.“
Sie zeigte ihnen die kleine, aber hochwertige Küche, die blitzblank geputzt und aufgeräumt war. Maria öffnete die Kühlschranktür und meinte trocken: „Gehungert hat er jedenfalls nicht. Das reicht locker für eine Familie.“ Und tatsächlich war jedes Fach bis oben mit allerlei Vorräten befüllt und erweckte so den Eindruck eines Supermarkts im Miniformat.
Weiter ging es ins Wohnzimmer. Diesmal ignorierten sie die Leiche, den quadratischen Esstisch mit den zwei Stühlen sowie die Zeitschriften am Boden. Stattdessen mokierten sie sich über den bombastischen Flachbildschirm an der Wand, um danach den luxuriösen Relax-Ledersessel mit elektronischer Steuerung samt Hocker zu bewundern. Maria öffnete die Türen eines Schränkchens gleich daneben. „Randvoll mit Pralinenschachteln. Sozusagen griffbereit. Damit hat er sich wohl seine ausgiebigen Fernsehstunden versüßt.“
„Woher weißt du, dass er …“
„In seinen Programmzeitschriften waren etliche Sendungen angekreuzt. Ein paar jugendfreie Filme hat er gesondert markiert. Ansonsten bevorzugte er Thriller.“
Nun durften sie auch das Schlafzimmer betreten, das seine ursprüngliche kalte Makellosigkeit verloren hatte. Auf dem Bett lagen Hosen, Sakkos, Pullover, Unterwäsche und Socken achtlos übereinander und bildeten ein wirres Knäuel. Die besseren Stücke waren aus ihren Schutzhüllen gerissen, die Innentaschen nach außen geklappt. Amüsiert stellte Irene fest, dass die nun herrschende Unordnung ihr ebenso wenig behagte.
Maria wandte sich an Martin: „Sieht für mich so aus, als ob er etwa jedes halbe Jahr eine gründliche Reinigung auf dem Plan hatte. Wenn hier mal jemand übernachtet hat, ist das schon länger her.“ Sie zeigte auf ein Klappbett, das unscheinbar in der Ecke stand.
„Alles außer dem Fernsehsessel wirkt auf mich steril und unpersönlich.“
„Umso mehr ärgert es mich, dass wir keinerlei Spuren gefunden haben.“ Maria führte sie mit einem Kopfschütteln weiter.
Vom Flur erreichten sie das Bad, das wohl vor ein paar Jahren modernisiert worden war. Auch hier herrschte der Eindruck von akribischer Sauberkeit und Ordnung. Unter dem Waschbecken reihten sich etliche Reinigungs- und Desinfektionsmittel aneinander.
„Von was wollte der sich reinwaschen?“, murmelte Martin in Gedanken vor sich hin.
Irene ging indessen noch mal in die Küche. „Die ist ebenfalls relativ neu. Und die Teppichböden auch.“
Maria blätterte in ihren Notizen und schrieb daraufhin etwas an den Rand. Doch plötzlich erschrak sie. „Das hab ich ja total vergessen! Hubert wartet drunten auf euch. Vielleicht hat er irgendeine Spur gefunden. Er tat so geheimnisvoll.“ Wieder grub sich eine Zornesfalte in ihre Stirn.
„Danke, dann lassen wir ihn nicht länger warten. Tschüss, Maria!“
An der Wohnungstür ging der schlanke, mittelgroße Mann nunmehr ohne Vermummung auf Irene zu, wurde aber von Maria erneut gestoppt: „Erwin, bring mir rasch eine andere Schutzhülle für die Unterlagen!“ Missmutig streifte er sich die Einmalhandschuhe erneut über und trabte dann mit einer Klarsichtfolie an ihnen vorbei. Martin stellte sich vor Irene und rief ihm zu: „Wir müssen weiter. Tschüss!“

Vor dem Hauseingang stießen sie auf Hubert, der an seinen Wagen gelehnt, sich von der Sonne bescheinen ließ. Er schlug die Augen auf und meinte erfreut: „Ah, da seid ihr ja! Ich habe nur ein bisschen Vitamin D für meine alten Knochen getankt.“
„Ich hätte nicht gedacht, dass wir mit den Befragungen so schnell durch sind“, sagte Martin. „Aber du hattest recht: Niemand wollte mit uns reden.“
„Damit ist jetzt Schluss! Ich brenne darauf, mit euch zu plaudern. Ich hab auch schon unseren Tisch vorbestellt. Manchmal hab ich das Gefühl, dass der sowieso nur für mich reserviert ist. Na dann nichts wie los!“

Irene folgte Huberts Auto durch den dichten und dennoch konstant dahinfließenden Stadtverkehr. Doch kurz vor dem Restaurant bog sie links ab und so erreichte sie vor ihm den Parkplatz.
Breit grinsend stieg Hubert aus und sagte zu Martin: „Gegen dich hätte ich eine Chance gehabt, aber Irene ist mir in jeder Hinsicht überlegen. Den Bericht zu Raabe schicke ich euch im Klartext.“
Enttäuscht widersprach Irene sofort: „Du willst tatsächlich diese liebevoll gepflegte Tradition beenden? Das geht gar nicht! Wer übt denn sonst mit uns Latein?“
„Ach was! Ich mach mir ewig lang Gedanken, und dann kommst du mir in Windeseile auf die Schliche.“
„Von wegen! Martin hat deinen erotischen Text übersetzt“, korrigierte sie sogleich.
„Aber du wusstest sofort, dass es sich dabei nicht um den Bericht handeln kann“, warf Martin schnell ein.
„Ich geb auf, ihr seid ein unschlagbares Team.“ Hubert wirkte entmutigt.
„Ach komm! Du hast doch einen exzellenten Ruf. Maria traut dir eine Menge zu. Sie hat übrigens gemeint, dass du uns etwas Interessantes über Raabes Ermordung anvertrauen möchtest.“
„Alles deutet darauf hin, dass sich ein professionell arbeitender Mörder in eine bescheidene Zwei-Zimmer-Wohnung verirrt hat.“
„Ein Profi? Aber weshalb?“
„Hm … der hier war zwar besser gekleidet als das letzte Opfer, aber er hat sicherlich kein so gut gefülltes Bankkonto aufzuweisen.“
Die beiden dachten an den ermordeten Diplom-Informatiker zurück, den sie wegen seiner ausgewaschenen Jeans und dem schlabbrigen T-Shirt eher für den Hausmeister hielten.
Martin fragte interessiert: „Gibt es denn wirklich keine Spuren? Der Mörder war immerhin im Wohnzimmer.“
„Tja, da muss ich leider passen. Maria war heute auch mir gegenüber recht schweigsam. Ich vermute, Erwin war am Wochenende mal wieder auf Streifzug durch sämtliche Münchner Bars. Er sah jedenfalls ziemlich verkatert aus. An solchen Tagen kriegt er nichts alleine auf die Reihe. Maria hasst das. Manchmal erinnern mich die beiden an ein altes Ehepaar, wenngleich sie ja nur in der Arbeit ein Team sind. Da fällt mir ein: Wie steht es denn mit eurem Geheimnis?“
Irene antwortete mit gemischten Gefühlen: „Gerade heute Morgen wollten wir mit der Heimlichtuerei Schluss machen. Wir sind gemeinsam zu spät gekommen, und Freddie erzählte, dass wir nun eine Fahrgemeinschaft bilden.“
„Sehr schlau. Er hat sich also Gedanken gemacht, wie man euren täglichen Synchronauftritt erklären kann.“
„Wir haben jetzt zwar einen Freibrief, aber andererseits wäre ich froh, wenn dieses Versteckspiel endlich ein Ende hätte.“
Martin überlegte, ob Freddie auch eine Erklärung dafür hätte, wenn er mit Irene zusammenziehen würde.
Hubert beobachtete dessen Mimik. „Falls ihr jetzt zusammenzieht, wird Freddie behaupten, dass ihr aus Umweltschutzgründen nur eine Wohnung heizen wollt.“
„Kannst du Gedankenlesen, oder hab ich laut geredet?“
„Nein und nein. Ich konnte mir nur keinen anderen Grund für dein Grinsen vorstellen.“
Die beiden schauten sich verunsichert an, und so begann Hubert zu erzählen: „Meine Frau hat sechs Monate quasi zur Probe bei mir gewohnt, bevor wir dann endgültig zusammengezogen sind. Bei uns ist damals ein ziemlicher Machtkampf entbrannt. Unterm Strich hat sie erreicht, dass ich auch am Ende eines langen Arbeitstages nicht nach Spiritus rieche, und wir noch immer viel gemeinsam unternehmen, wenn sie nicht gerade verreist ist. Sie brachte die Oper und Theaterbesuche in unsere Ehe ein, und ich hab dafür gesorgt, dass wir den Urlaub immer an ruhigen Orten verbringen.“
„Ich fühle mich bei Martin wie zu Hause. Leider sieht es nun bei ihm entsprechend chaotisch aus.“ Irene lächelte verschämt.
„Ach was. In der Wohnung ist es viel gemütlicher, seit Irene ihre Sachen verstreut.“
„Ihr zwei passt zusammen! Deshalb hab ich ja gleich gemerkt, dass ihr beide …“
Scheinbar überrascht fragte Martin: „Erkennt denn gleich jeder, wie glücklich ich mit Irene bin? Na ja, sogar der redselige Nachbar von vorhin hat sie für meine Frau gehalten.“
In diesem Moment betrat der Ober mit einem großen Tablett den Raum. Hubert begann sofort, eine tiefe Schusswunde detailgetreu zu beschreiben. Mit deutlichem Abscheu im Gesicht stellte der Ober die geschmackvoll dekorierten Teller vor ihnen ab und suchte dann eilig das Weite. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, stoppte Hubert abrupt. „Tut mir leid. Es ist wirklich eine Sünde, solche schaurigen Geschichten aufzutischen, wenn der Koch sich soviel Mühe gegeben hat. Aber nur so ist mir der Platz in dieser ruhigen Ecke sicher.“ Er streifte sorgfältig die Serviette über seinen Bauch. Dann fächelte er sich mit der Hand den Duft des Gerichts zu und sog ihn genießerisch ein. „Einen guten Appetit dürftet ihr nach dem anstrengenden Morgen haben. Also deshalb nur Wohl bekomms! euch beiden!“
Eine Zeitlang blieb es still.
„Vorgestern haben wir Sandra getroffen“, unterbrach Irene das andächtige Schweigen. „Das Mädchen, das du auf dem Trainingsgelände des FC Bayern ärztlich versorgt hast.“
„Wie geht es ihr? Ist ihr Zustand mittlerweile stabil?“
„Das kann man mit Gewissheit sagen: Sie wollte unbedingt ein Fußballspiel ihres Team sehen und auf den Weg dorthin, musste sie sich nur noch auf eine Krücke stützen. Ihre Ärztin hat diese Auszeit vom Krankenhaus genehmigt.“
„Kaum vorstellbar! Vor knapp drei Wochen dachte ich, sie sei der schweren Schussverletzung erlegen.“
„In ein paar Wochen möchte sie sogar mit dem Training beginnen. Sie macht sich nämlich Sorgen um ihren Platz im Team.“
„Und da meint die katholische Kirche, sie hat die einzige Wiederauferstehung verbucht. Ich dachte damals erst mal, dass ich ganz in Ruhe meiner üblichen Arbeit nachgehen kann. Ihr könnt euch mein dummes Gesicht vorstellen, als mir bewusst wurde, dass ich erste Hilfe leisten muss.“
Martin fragte neugierig: „Hast du überhaupt den richtigen Besteckkasten dabei gehabt? Ich meine: Normalerweise brauchst du nicht einmal ein Pflaster.“
„Doch schon! Es kommt immer wieder mal vor, dass jemand beim Anblick einer Leiche umfällt und sich eine Platzwunde holt. Wollt ihr noch Nachtisch, oder darf ich ins Detail gehen?“
Martin bremste ihn sofort mit erhobener Hand. „Nichts da! Ich möchte mir die Pflaumen in Rotwein auf Mascarponebett einverleiben.“
Mit einem Lachen meinte Irene: „Dann nehme ich die Crème Brulee.“
„Beides erinnert mich an etwas … Mir fällt nur gerade nicht ein, an was … Bestellt mal ruhig! Wenn alles auf dem Tisch steht …“
Während sie sich die Nachspeisen schmecken ließen, setzte Hubert mehrmals theatralisch an, seine Sperenzchen fortzuführen, die drei kleinen Kunstwerke stets im Auge. Doch jedes Mal traf ihn Martins drohender Blick. Und so gab er auf und widmete sich hingebungsvoll seiner Zabaione.

„Das hat richtig gut getan!“, sagte Irene, während sie das Auto zum Parkplatz des Kommissariats lenkte. „Mit Hubert ist es immer eine Freude … Mit diesen beiden aber nicht!“, fügte sie mit finsterer Miene hinzu, als sie Hans und Stefan rauchend vor der Tür stehen sah. „Von denen lasse ich mir die gute Laune nicht verderben!“
Kurzerhand fuhr sie geradeaus die Rampe in die Tiefgarage hinunter.
„Denkst du das gleiche wie ich?“, fragte Irene beinahe frohlockend, nachdem sie den Motor abgestellt hatte.
„Wenn wir uns beeilen, haben wir uns in meinem Büro versteckt, bevor die beiden ihren Tratsch beenden.“
„Dann nichts wie los!“
Sie rannten zur Treppe, lauschten kurz nach oben und hetzten die Stufen hoch. Während im Gang die Stimmen von Hans und Stefan sich deutlich näherten, öffnete Martin die Stahltür mit der Chipkarte. Irene betrat leise den Raum, und Martin bremste von innen her die Tür ab. Für einen Moment verharrten sie reglos und sondierten die Lage. Aus der Küche drang das Kratzen des Schöpflöffels in der Kaffeedose. Werner war ganz in sein Telefonat vertieft. Ein wechselseitiger Blick und sie schlichen hinter seinem Rücken vorbei. Rasch schlüpften sie in Martins Büro und schlossen von innen vorsichtig die Tür. Wie kleine Kinder kicherten sie leise und freuten sich über den gelungenen Streich.

In der nächsten Stunde übernahm Martin den Papierkram, während Irene an ihn gelehnt einen Plan von Raabes Wohnung in ihr Notizbuch zeichnete und die Lage der Leiche markierte. Sie notierte ihre Beobachtungen und malte Wolken, in die sie ihre Gedanken eintrug.
Ein sachtes Klopfen an der Tür und schon spannte sich ihr Oberkörper. Schnell rückte sie ihren Stuhl von Martin weg, wobei ihr der Stift zu Boden fiel. Auf das übliche „Komm herein!“ öffnete Freddie die Tür und sagte lachend: „Hat sich Werner also nicht getäuscht! Dann hat er doch keinen Schatten, weil er einen Schatten vorbeilaufen sah. Aber jetzt ist es an der Zeit, dass ihr aus eurem Versteck herauskommt. Die Unterlagen aus der Wohnung von Raabe sind da.“
„Das ging ja schnell!“ Martin sprang erfreut auf. Irene suchte ihren Stift am Boden und eilte sodann ebenfalls ins Nachbarbüro.

Mit einem klassischen Brieföffner schlitzte Werner das Kuvert auf und breitete den mageren Inhalt auf seinem Schreibtisch aus.
„Aha, der Kaufvertrag für die Wohnung“, freute sich Martin und nahm ihn an sich. „Raabe ist also 46 Jahre alt. Die Wohnung hat er vor acht Jahren gekauft. Damals allerdings noch nicht zu einem so astronomisch hohen Preis wie heute. Aber 120.000 Euro sind trotzdem eine Menge Geld.“
Irene hatte sich indessen die Kontoauszüge geschnappt und blätterte rasch durch die letzten Monate. „Das ist ja interessant. Raabe erhält monatlich eine Überweisung in Höhe von 1.500 Euro. Allerdings nicht von einer Firma, sondern von einer Anwaltskanzlei. Immer mit dem Betreff Konto 7659875673125. Hm, was bedeutet das? Als erstes kann man schon mal sagen, dass er seinen Lebensunterhalt nicht mit Arbeit verdient hat.“
Freddie beugte sich vor und fragte interessiert: „Seit wann erhält er diese Zahlungen?“
Irene blätterte zurück. „Zumindest die letzten zwei Jahre, weiter reichen die Auszüge nicht.“
„Also hat er wohl jemanden stetig gemolken. Sieht ganz nach Erpressung aus.“
„Hm.“ Irene betrachtete die wenigen Unterlagen. „Kann es sein, dass der Täter alle Beweise mitgenommen hat? Das würde auch erklären, warum wir nur den Kaufvertrag und diese paar Kontoauszüge erhalten haben. Oder war die Spurensicherung etwas nachlässig?“
„Nein, Maria ist immer sehr gründlich, du kennst sie noch nicht“, verteidigte Martin diese sogleich.
„Zu mir war sie ja ziemlich abweisend.“
„Mein Fehler. Ich hätte dich vorstellen sollen. Zu dumm, dass ich wegen Erw…“ Martin unterbrach sich.
Freddie schien indessen so richtig Fahrt aufzunehmen, wurde allerdings schlagartig gebremst, als er in das teilnahmslose Gesicht von Hans blickte. Also richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf Irene. „Erpressung ist doch ein klassisches Motiv für einen Mord!“
„Und weshalb erhält Raabe dann das erpresste Geld von einer Anwaltskanzlei?“
„Wenn er, sagen wir mal, etwas Brisantes über eine namhafte Persönlichkeit herausgefunden hat, sorgt dies dafür, dass wir nicht erfahren, um wen es sich handelt.“
„Und von so einer Persönlichkeit bezieht er gerade mal 18.000 Euro pro Jahr?“
Freddie kratzte sich am Kopf und war knapp davor, klein beizugeben. Doch dann blühte er wieder auf: „Und wenn dieser Raabe plötzlich gierig geworden ist und den Hals nicht mehr voll kriegen konnte? Wäre nur eine Frage der Zeit, bis der Auftragsmörder preisgünstiger ist.“
„1.500 pro Monat. Eine Erpressung auf Leibrenten-Basis … Irgendwie passt das für mich nicht zusammen. Raabe hat selten die Wohnung verlassen, war ein Einzelgänger. Am Tatort hatte ich den Eindruck, dass er sich in seinen vier Wänden alle seine Wünsche erfüllt hat, so nach der Art My home is my castle. Seine großen Leidenschaften waren Fernsehen und Putzen. Für was hätte Raabe mehr Geld gebraucht?“
„Also keine Erpressung? … Tja, es könnte ja auch anders herum sein. Wenn Raabe durch fremdes Verschulden geschädigt worden ist, dann wären die Zahlungen sozusagen seine Invalidenrente.“ Er schmunzelte, weil Irene sich diese Frage sofort in ihr Notizbuch schrieb. „Nehmen wir mal an“, fuhr er fort: „Ein Prominenter fährt Raabe betrunken an, wodurch der arbeitsunfähig wird. Um einen Prozess zu verhindern, zahlt der öffentlichkeitsscheue Mann auf freiwilliger Basis, und schon hat Raabe ausgesorgt.“
Irene wollte gerade etwas erwidern, als Freddie sich eilig erhob: „Ich werd jetzt mal … losfahren!“ Ohne sich umzudrehen, nahm er seine Jacke und bewegte sich schnell Richtung Tür.
Martin blickte zur Wanduhr, die 15:30 zeigte. Üblicherweise bleibt er doch bis fünf, wunderte er sich und verkündete: „Unsere Besprechung ist hiermit beendet. Werner, du hörst dich bitte um, ob dieser Raabe mit irgendwelchen Verbrechen in Zusammenhang gebracht werden kann.“
„Ich lasse ihn mal durchleuchten. Vielleicht gibt es ja dunkle Flecken in seiner Vergangenheit.“
„Danke. Irene und ich schauen uns die Unterlagen genauer an. Wir haben ja noch immer kein Mordmotiv, das uns alle überzeugt.“
Unschlüssig steuerte Martin Irenes Schreibtisch an, worauf Werner meinte: „Geht ruhig wieder in dein Büro. So bekommt ihr nicht mit, wann ich mich aus dem Staub mache.“
„Also schön, bis morgen!“
„Bis morgen!“ Werner stand auf, als wollte er sofort verschwinden, griff dann aber grinsend zum Telefonhörer.

Irene setzte sich neben Martin an den Schreibtisch. „Ist schon seltsam, jetzt fängt Werner auch noch an, uns eine gemeinsame Zeit zu gönnen.“ Doch sogleich begann sie, ihre ganze Aufmerksamkeit den Kontoauszügen zu widmen. Dabei nutzte sie ihr Smartphone als Taschenrechner.
„Ich dachte erst, er gibt jeden Cent aus, aber das stimmt gar nicht. Seine monatlichen Ausgaben liegen zwischen 750 und 1.200 Euro, den Rest überweist er an sich selbst auf ein anderes Konto. Genau 12.750 in den letzten zwei Jahren. Ist schon sonderbar. Raabe erhält Monat für Monat unverändert die 1.500 Euro. Und plötzlich wird dieser Putzteufel von jemandem aus dem Weg geräumt, der keinerlei Spuren hinterlässt. Zumindest war der Mörder insoweit rücksichtsvoll.“
Martin schaute vom Monitor auf. „Keine Vorstrafen! Das kann ich auch ohne Werners Verbindungen sagen. Aber vielleicht ist er ja in einem anderen Milieu unterwegs.“
„Meinst du etwa, Raabe war ein Geheimagent?“
„Wohl kaum! So armselig lebt kein Agent. Wer sollte ihm Geheimnisse anvertrauen?“
„Dann darf ich mir also weiterhin einen Highsociety-James-Bond vorstellen …?“
Martin schluckte und so ergänzte Irene rasch: „… der Alkoholiker ist und jeder Frau hinterherläuft. Ich bin so froh, dass du nicht so bist.“
„Da hab ich ja Glück gehabt, dass du nicht auf solche Typen reinfällst.“ Martin zog sie zu sich heran und küsste sie leidenschaftlich.

Fast gleichzeitig kündigten gegen 17 Uhr zwei Signaltöne die zugehörigen Mails an. Martin beugte sich zum Monitor. „Von der Spurensicherung und von Hubert. Haben die sich extra abgesprochen, damit wir beide gleichzeitig bekommen?“ Unschlüssig, welche Nachricht er zuerst aufrufen sollte, fuhr er mit der Maus hin und her.
„Zuerst die von der Spurensicherung“, entschied Irene. „Huberts Bericht heben wir uns als Zuckerl für später auf.“
„Maria entschuldigt sich dafür, dass sie nicht alle Unterlagen mitgeschickt hat.“ Lachend las Martin weiter: „Erwin hat einen der Koffer auf die zweite Klarsichthülle gestellt. Das passt zu diesem Chaoten.“
Irene sah Martin kurz amüsiert an und widmete sich der nachfolgenden Information: „47.763 Euro auf dem Sparkonto! Doch eine ganze Menge.“ Ärgerlich fügte sie hinzu: „Seine monatlichen Überweisungen zu addieren, hätte ich mir also sparen können.“
Martin scrollte weiter. „Hier sind eingescannte Briefe angehängt. Na wenigstens ist die Schrift einigermaßen lesbar.“
Er blätterte zum Ende des Briefes, um festzustellen, von wem er stammt. „Martha“, entzifferte er. „Hoffentlich erfahren wir durch sie mehr über Raabe. Bisher ist er ja ein unbeschriebenes Blatt.“
Gemeinsam vertieften sich in den Inhalt. Doch schnell wandelte sich ihre Erwartung in Enttäuschung, da die Korrespondenz hauptsächlich aus nichtssagenden Floskeln bestand, die sie keinen Schritt weiterbrachte.
Irene deutete auf eine Stelle: „Immerhin wissen wir jetzt, dass die Frau in Oldenburg wohnt. Aber ohne Nachnamen können wir diese Martha nicht ausfindig machen.“
„Ich schau mal, ob Umschläge beigefügt sind.“
Doch schon bald lehnte sich Martin resigniert zurück. „Nichts. Das war's dann. Im letzten Jahr hat sie drei Briefe geschrieben: an Weihnachten, zu seinem Geburtstag im März und eine Antwort auf seine Glückwünsche zu ihrem Geburtstag im Oktober. Und nirgends findet sich ein Hinweis, was Raabe mit dieser Frau verbindet. Auch keine sonstigen Details aus seinem Leben, die uns eine Spur aufzeigen könnten.“
Irene starrte noch immer auf eine Textpassage.
„Meinst du, sie haben einen Geheimcode verwendet?“
„Was …? Nein, das hier liest sich so, als ob die Frau eine Zeitlang in München gelebt hat, bevor sie in ihre Heimat, also nach Oldenburg, zurückgekehrt ist.“
„Alle drei Briefe sind total leidenschaftslos … und todlangweilig. Lesen wir mal weiter, was uns Maria sonst noch mitteilt.“ Martin lachte höhnisch. „Das passt wieder mal zu Erwin!“, erregte er sich. „Er vermutet, dass diese Martha eine frühere Freundin von Raabe ist.“
„Kann es vielleicht sein, dass du ihn nicht magst? Ich hatte heute Morgen das Gefühl, dass du ihn von mir fernhalten wolltest.“
„Stimmt schon. Erwin ist verheiratet, ist aber dennoch ständig auf der Suche nach amourösen Abenteuern. Und die sieht er auch überall.“
Irene ließ das Gesagte so stehen, da Martin nach unten scrollte: „Weitere Schriftstücke wurden nicht gefunden. Seine Geldbörse enthielt 23,95 Euro, eine Bankcard der Stadtsparkasse und die Gesundheitskarte der AOK.“
„Das ist wirklich wenig. Und was hat Hubert geschickt? Ich bin schon gespannt, ob er uns wieder herausfordert.“
Martin schloss Marias Mail und rief die von Hubert auf. „Sein vorläufiger Bericht ist in Latein. Er lässt sich doch noch nicht ganz entmutigen.“
Mit Begeisterung beugte sich Irene nahe an den Monitor. „Hubert hat die Leiche gleich nach dem Mittagessen seziert.“
„Dem graust ja vor gar nix! Mal sehen, was er herausgefunden hat.“
Während Irene klassisch an die Übersetzung heranging, gelang es Martin, mit Hilfe seiner Spanischkenntnisse die wesentlichen Fakten rasch zu erfassen. „Todeszeitpunkt zwischen 7:00 Uhr und 7:30 Uhr.“ Er deutete auf die Fußnote. „Das ist ja mal präzise: 7:20 Uhr, wenn er kein Fieber hatte. Hubert ist schon ein Witzbold … Zwei Schüsse ins Herz aus derselben Tatwaffe. Die Entfernung zum Täter betrug maximal eineinhalb Meter. Also nicht viel Neues, außer der Übersetzungsarbeit.“
„Dein Latein ist wirklich gut.“
„Ach was! Hubert schreibt doch fast immer dasselbe“, wiegelte Martin ab. Bevor Irene ihm weitere Fragen stellen konnte, schlug er vor: „Lass uns gleich mal Freddies Unfallopfer-Theorie mit Hubert durchsprechen.“
Der meldete sich gleich mit einem Vorwurf: „Ich hab eine Ewigkeit gebraucht, den Bericht mit Floskeln auszuschmücken, und ihr habt ihn in fünfzehn Minuten durch!“
„Wieso bist du dir so sicher, dass wir dich nicht bitten, ihn für uns zu übersetzen?“
„Dann hättet ihr euch nicht ganze fünfzehn Minuten damit abgemüht. Was wollt ihr wissen?“
„Hatte der Tote irgendeine Behinderung?“
„Ich schau gleich mal nach. Er liegt ja bei mir noch auf dem Tisch.“

Nach wenigen Minuten rief Hubert zurück: „Eine Behinderung ist nahezu auszuschließen. Außer einer sehr alten Fraktur des linken Schultergelenks ist sein Knochengerüst intakt. Ich würde lediglich einen chronischen Bewegungsmangel attestieren. Raabe hat sich ganz sicher die Beiträge für ein Fitnessstudio gespart. Seine Muskulatur ist lapidar als schlaff zu bezeichnen. Eine neurologische Erkrankung, soweit sie im Gehirn nachweisbar ist, kann ich ebenfalls ausschließen. War gut, dass ihr telefonisch bei mir nachgefragt habt. Ein paar Vokabeln hätte ich wohl nachschlagen müssen.“
„Wir aber auch“, sagte Irene lachend.
„Glaub ich nicht. Ich hatte bei Martin bisher schon den Eindruck, dass er im Alten Rom ganz gut zurechtgekommen wäre. Doch seit du mit rätselst, stehe ich auf verlorenem Posten. Ich geh jetzt heim.“
„Hast du dir deshalb kein neues Rätsel ausgedacht?“
„Eigentlich hatte ich es vor. Doch dann hat mir Maria erzählt, wie peinlich es ihr sei, dass sie nicht gleich alle Unterlagen mitgeschickt hat. Um sie aufzuheitern und euch zu irritieren, habe ich vorgeschlagen, unsere Nachrichten gleichzeitig abzuschicken. Habt ihr die Mail von Maria schon bemerkt?“
„Die haben wir zuerst gelesen“, sagte Irene und hielt sich sofort die Hand vor den Mund.
„Das gibt mir den Rest! Ich geh jetzt total frustriert nach Hause. Wir sollten nur noch telefonieren, das geht schneller.“
„Beim nächsten Mal sind wir mit unserem Latein am Ende und kommen ins Rudern wie Galeerensklaven. Ganz bestimmt!“
Hubert lachte. „Also schön, einen weiteren Versuch habt ihr noch gut bei mir.“

Martins Blick wanderte zur Uhr, aber Irene hielt ihm die herausgerissene Seite aus ihrem Notizbuch hin. „Das klären wir am besten gleich. Und dann ist Schluss für heute!“
Martin lehnte sich bequem in seinen Stuhl zurück und wählte mit einem Augenzwinkern die Nummer von Herrn Freundorfer.
„Kripo München, Behringer hier! Entschuldigen Sie bitte die Störung.“
„Ach ja, der Herr von der Mordkommission! Aber Sie stören doch nicht. Wenn ich Ihnen behilflich sein kann, sehr gerne.“
„Wir wollten Sie fragen, wie Herr Raabe sich üblicherweise gekleidet hat. Er wurde ja in einem dunklen Anzug aufgefunden.“
„Stimmt! Dazu kann ich Ihnen tatsächlich etwas sagen: So war er immer gekleidet, wenn er unterwegs war. Ich hab mir oft gedacht, der wirkt wie ein Versicherungsvertreter. Aber sein Gesichtsausdruck war … so teilnahmslos, falls Sie wissen, was ich meine.“
„Wissen wir. Was wir außerdem noch fragen wollten: Hatte Herr Raabe vielleicht irgendeine … nun ja … Behinderung?“
„Lassen Sie mich mal nachdenken ...“ Nach einer Weile kam die Antwort: „Er hat zumindest keinen Tick gehabt und gehinkt hat er auch nicht. Aber ich bin da kein Experte. Für mich war er gesund. Na ja, er war halt ein Stubenhocker. Das wäre nichts für mich. Morgen fahre ich mit der S-Bahn zum Starnberger See, es soll ja sonnig werden. Die Stimmung im Winter ist dort einmalig. Friedlich und unheimlich schön. Das tiefblaue Wasser und dahinter die verschneiten Bergketten … “
„Danke, Sie haben uns wieder weitergeholfen“, warf Martin schnell ein.
„Das ist doch selbstverständlich … Ich hätte da auch eine Frage: Muss ich über … den Stand Ihrer Ermittlungen Stillschweigen bewahren?“ Herr Freundorfer klang plötzlich besorgt.
Martin atmete tief durch, bevor er widerwillig antwortete: „Solange Sie der Presse keine Interviews geben …“
„Der Presse? Aber nein! Es ist nur wegen Theresa, ähm … Frau Vierthaler. Sie war bis vor zwei Jahren Lehrerin. Sie unterhält mich immer wieder mit lustigen Anekdoten aus ihrem Schuldienst. Und morgen würde ich ihr gern von der Mordermittlung erzählen.“
„Also schön! Wenn Sie uns im Gegenzug weiterhin Ihr Insiderwissen anvertrauen …“
„Insiderwissen? Das ist gut!“ Herr Freundorfer war nun vollends aus dem Häuschen. „Aber gern! Jederzeit. Falls Sie noch Fragen haben: Nur zu!“
„Vielen Dank, Herr Freundorfer, für heute ist alles geklärt. Auf Wiederhören.“
„Auf Wiederhören. Wie gesagt: Jederzeit.“
Martin legte auf. „Der ist schon eine Marke. Plaudert bei einem Ausflug über unsere Mordermittlungen, um einer Frau zu imponieren. Na ja, vielleicht brauchen wir ihn ja tatsächlich noch mal.“
„Mit seinem Insiderwissen, das hat ihm gefallen“, meinte Irene lachend.
„Fest steht jedenfalls: Für den Besucher hat Raabe sich nicht extra herausgeputzt. Und die monatlichen Zahlungen stehen nicht mit einem Unfall in Verbindung, wie Freddie erwogen hat.“
„Herr Freundorfer scheint mir ein richtiger Lebenskünstler zu sein. Seine Begeisterung ist irgendwie ansteckend“, meinte Irene vergnügt. „Und wir haben auch einen guten Grund, uns zu freuen. Feierabend!“
Während Irene schon beschwingt ins Nachbarbüro eilte, fuhr Martin den PC herunter, nahm seine Jacke, knipste das Licht aus und folgte ihr.
„Alle ausgeflogen!“, rief Irene und lief ihm ein paar Schritte entgegen. Martin breitete die Arme aus und fing sie auf. Sie schmiegten sich aneinander und küssten sich. Danach strebten sie händchenhaltend dem Ausgang zu.

Auf dem Heimweg stoppte Irene vor dem Biosupermarkt, um noch schnell Sahne einzukaufen. Martin blieb im Auto sitzen, seine Gedanken drifteten weg und landeten schließlich beim Telefonat mit Herrn Freundorfer. Er will mit einer ehemaligen Lehrerin über unseren Toten plaudern. Was war Raabe eigentlich von Beruf? Selbst wenn er die letzten Jahre nicht mehr gearbeitet hat, irgendwann wird er doch eine Ausbildung gemacht haben. Plötzlich wurde Martin klar, wie wenig sie über Raabe wussten. Die Briefe dieser Frau aus Oldenburg waren der einzige Bezug zu dessen Vergangenheit. Und auch der gab nicht viel her. Martha ist nicht gerade ein moderner Name …
In diesem Moment öffnete Irene die Autotür und Martin fuhr erschrocken zusammen. „Hab ich dich beim Nachdenken gestört?“, fragte sie halb entschuldigend.
„Wir wissen so gut wie gar nichts über Raabe. Das ist mir erst jetzt so richtig bewusst geworden. In seiner Wohnung wurde keine Geburtsurkunde, kein Personalausweis oder Reisepass gefunden. Auch keine Zeugnisse, weder von einer Schule noch von einem Arbeitgeber. Unklar ist auch nach wie vor, warum er nicht gearbeitet hat. Sieht ganz so aus, als hätte er gründlich mit seiner Vergangenheit abgeschlossen und komplett neu angefangen.“
„Mittlerweile gibt es ja eine Menge Ratgeber, die einem empfehlen, sich von überflüssigem Ballast zu trennen. Vielleicht ist er ja ein radikaler Anhänger dieses Trends. Aber da behält man doch sicher die offiziellen Dokumente. Das ist schon seltsam. Na ja, morgen ist auch noch ein Tag. Heute sind unsere Gedanken schon lange genug um diesen seltsamen Raabe gekreist.“
„Stimmt. Der war wirklich ein komischer Vogel.“
„Jetzt ist mir nach was anderem zumute.“ Sie startete den Motor und reihte sich in den dichten Verkehr ein.

Dienstag, 29.01.

Übermüdet aber viel früher als sonst, kamen die beiden im Kommissariat an. Während Martin Kaffee kochte, überprüfte Irene bereits, was sie über Raabe in Erfahrung bringen konnte. Wenig später rief sie ins leere Nachbarbüro: „Raabe war nicht verheiratet und hatte auch keine Kinder. Von Beruf war er technischer Zeichner.“
„Soviel ich weiß, wurde diese Art der Tätigkeit weitgehend mit der Umstellung auf CAD wegrationalisiert.“
„Bald wissen wir mehr über seine Vergangenheit! Ich hab gerade eine Anfrage an das Finanzamt geschickt, um seine Steuerbescheide einzusehen.“
„Unter meinem Namen oder unter deinem?“
„Unter deinem. Vielleicht geht es dann schneller. Ist dir das recht?“
„Aber natürlich.“ Mit diesen Worten betrat Martin sein Büro. Er servierte zwei Tassen Kaffee auf einem altmodischen Klemmbrett, den linken Arm nach hinten gebeugt in eleganter Ober-Manier. Als Irene aufstehen wollte, winkte er ab. „Bleib ruhig sitzen und lass dich verwöhnen. Voilà!“ Er zauberte eine Packung Schokoladenkekse hinter seinem Rücken hervor.
Irene lächelte. „Wie machst du das nur? Wir gehen doch immer gemeinsam zum Einkaufen. Ach so, während ich beim Friseur war. Und ich hatte befürchtet, du amüsierst dich nur mit den Bedienungen in deinem Lieblingscafé.“
„Dann würde ich jetzt mit leeren Händen dastehen.“
„So ist es mir lieber.“ Irene riss die Verpackung auf, fingerte einen Keks heraus und stopfte ihn in den Mund. Genüsslich schloss sie die Augen. Sie schluckte den Rest hinunter und sagte: „Ich hab auch gleich noch eine E-Mail an die Arbeitsagentur geschrieben, vielleicht hat Raabe beruflich umgesattelt.“
„Prima. Wir werden seine Geheimnisse schon noch lüften.“
In diesem Moment wurde draußen die Eingangstür geöffnet. Blitzschnell ließ Irene die Packung Kekse im Schreibtisch verschwinden als sie die Stimmen von Werner und Freddie hörte.
Martin erhob sich und positionierte sich betont lässig, indem er sich mit einem Arm am Türrahmen abstützte. „Hast du etwa mit Werner auch eine Fahrgemeinschaft gebildet?“
Freddie erwiderte breit grinsend: „Ich hab den Burschen auf dem Parkplatz getroffen und denk dir nur, überraschenderweise hatten wir den gleichen Weg. Und ihr habt bereits Kaffee gekocht, wie mir meine Spürnase zweifelsfrei verrät.“
„Nicht nur. Irene hat schon offizielle Informationen über Raabe angefordert.“
Werner wirkte leicht verärgert. „Das hätte ich gestern doch anleiern können. Aber ich hab mich nur erkundigt, ob Raabe einen kriminellen Hintergrund hat.“
Irene mischte sich ein. „Martin ist aufgefallen, dass die Spurensicherung noch nicht mal einen Ausweis in der Wohnung gefunden hat.“
„Du warst ja nicht am Tatort“, sagte Martin beschwichtigend zu Werner.
„Trotzdem. Ich hätte weiter denken müssen.“ Er wandte sich an Irene: „Dann zeig ich dir jetzt wenigstens, wie du deine dringende Anfragen beschleunigen kannst.“
„Ich … wir haben sie unter Martins Namen abgeschickt. Ich dachte, das genügt.“
Werner lächelte. „Schon. Aber bis sie bei der richtigen Stelle landen, das dauert.“
„Dann bin ich mal gespannt.“ Irene schaltete ihren Computer ein und wartete. Als er betriebsbereit war, winkte sie Werner heran, stand auf und überließ ihm ihren Platz. Sie nahm ihr Notizbuch zur Hand und deutete auf die Mails, die sie auch an sich selbst geschickt hatte.
„Gut. Die Anfrage an die Arbeitsagentur werde ich gleich mal an Marc weiterleiten. Der sitzt sozusagen an der Quelle.“ Er fügte ein paar erklärende Sätze hinzu und drückte dann auf Senden.
„Und beim Finanzamt habe ich Susi als direkten Kontakt.“ Wieder tippte er einen Text und setzte auch diesmal Martin auf cc. „So und jetzt könnt ihr beide mal überprüfen, wer sich zuerst meldet.“
Freddie, der bisher ruhig zugehört hatte, drängte nun: „Martin hat durch dich so viel Zeit gespart und die vertrödeln wir gleich mal in der Küche. Du hast dir eine Kaffeepause verdient.“
Mit beiden Händen stützte er sich auf den Schreibtisch, um sich zu erheben. Da klingelte sein Telefon. Grummelnd ließ sich Freddie in seinen Stuhl zurückfallen, hob den Hörer ab und stellte den Lautsprecher an.
Herbert Reiser meldete sich. „Diesmal passt es wieder. Ein Toter in Harlaching in einer schönen Villa, beste Lage. Ein lohnendes Ziel für einen Ausflug, noch dazu an diesem herrlichen Sonnentag. Ich hab euch die Adresse schon geschickt.“
„Du hörst dich ja wie ein Immobilienmakler an. Vermittelst du die freigewordenen Wohnungen und Häuser danach weiter?“
„Das ist eher etwas für euch. Ihr fahrt ja jetzt gleich zu einem ersten Besichtigungstermin. Bei dieser Gelegenheit könntet ihr die Zimmer ausmessen, ein paar Fotos machen und ein Exposé erstellen.“
„Das wäre tatsächlich ein lukrativer Nebenverdienst. Die Leute von der Spurensicherung würden allerdings ganz schön dumm schauen, wenn es am Tatort von Kaufinteressenten plötzlich nur so wimmelt.“
„Wollt ihr nicht vorher überprüfen, ob es Erben gibt und so …?“
„Stimmt. Am Ende kriegen wir gar keine Provision. Weißt du was: Das knallharte Immobiliengeschäft ist doch nicht unsere Welt. Wir beschränken uns lieber auf unsere Pflichten.“
„So kenne ich euch. Ihr denkt nur an das Wohl der Bürgerinnen und Bürger. Dann kann ich ja beruhigt weiterarbeiten.“
Herbert Reiser legte lachend auf.
Sogleich erhob Freddie seinen Zeigefinger und sagte fordernd: „Der Fall gehört Werner und mir! Ihr habt ja schon den aus dem Hochhaus.“ Mit einem wehmütigen Blick in Richtung Kaffeemaschine verabschiedeten sie sich.

Noch bevor die Tür ins Schloss fiel, wurde sie von außen her erneut aufgedrückt. Hans und Stefan traten ein und setzten ihr Gespräch fort, bis sie die zwei Augenpaare wahrnahmen, die auf sie gerichtet waren. Anstatt einer Begrüßung fragte Stefan: „Gibt es eine Spur?“
„Leider nicht!“ antwortete Martin. „Aber uns wurde ein weiterer Mordfall zugeteilt.“
„Kann ich auch etwas beitragen? Gestern war es hier schon sehr langweilig.“
Empört warf Hans ein: „Spinnst du? In unserem Urlaub haben sich über 150 Mails angesammelt! Die zu lesen, ist eine Menge Arbeit. Das dauert sicher noch ein paar Tage, bis wir durch sind.“
„Ach was! Ich hab die rausgesucht, die mich betreffen. Das waren gerade mal 14, und davon sind 11 nicht mehr aktuell.“
Irene kicherte vergnügt. Auf diese Weise wurde Hans bewusst, dass er nun als Faulpelz und Drückeberger dastand. Mit unverhohlener Wut fixierte er den Verräter. Doch Stefan zuckte nur die Schultern.
Trotz Pokerface schwirrten die Gedanken in Martins Kopf. Ist das nun die Gelegenheit, von Hans endlich mal Mitarbeit einzufordern? … Ach was, viel wichtiger ist, dass ich Stefans Angebot annehme. „Na ja, ein paar der üblichen Nachforschungen haben wir bereits angeleiert. Werner überprüft, ob Raabe sich etwas zu Schulden kommen ließ. Und Irene hat bei den Behörden Informationen angefordert.“
Während Stefan sich enttäuscht auf seinen Bürostuhl setzte, rief Martin erfreut aus: „Die Telefonverbindungsnachweise! Vielleicht hat Raabe ja mit seinem Mörder telefoniert.“
„Habt ihr ein Handy bei ihm gefunden?“
„Nein, … und der Apparat im Flur war mindestens 20 Jahre alt. Wahrscheinlich hab ich deshalb vermutet, dass er ihn nicht allzu oft benutzt hat. Aber wenn doch, führen uns die Anrufe möglicherweise direkt zum Täter.“
Stefan tippte bereits wie wild auf seiner Tastatur herum.

Auf dem Weg in sein Büro warf Martin einen sehnsüchtigen Blick auf Irene, die sich nun auf ihren Monitor konzentrierte. Mit einem Seufzer wandte auch er sich seinem Computer zu. In den wenigen Minuten waren vier E-Mails eingegangen. Die neueste Nachricht stammte von Herbert Reiser. Martin klickte weiter, das war ja nun Freddies Fall. Die nächste Nachricht kündigte eine zweistündige Fortbildung für Einsatzkräfte an. Es ging um den richtigen Umgang mit Drogenkriminellen. Aus jedem Team sollte eine Person teilnehmen. Da schicke ich Hans hin, entschied Martin spontan. Der ist ohnehin scharf darauf, sich vor der Arbeit zu drücken und nutzt auch so dafür jede Gelegenheit. Martin musste sich eingestehen, für das Problem Hans noch immer keine Lösung gefunden zu haben. Nach mehreren Versuchen und Ansätzen hatte er kapituliert. Hinzu kam die schwer zu akzeptierende Einsicht, die tief in seinem Innern keimte: Die Dreistigkeit von Hans imponierte ihm auf gewisse Weise, da sie auf einem unerschütterlichen Selbstvertrauen basierte. Martin seufzte erneut, wippte mit dem Stuhl und wandte sich seinem Monitor zu.
Die dritte E-Mail kam von der Organisationsabteilung, der Martin mit tiefer Abneigung verbunden war. Nur widerwillig fing er zu lesen an. Und so erfuhr er, dass im Rahmen von Maßnahmen zur Effizienzsteigerung sämtliche Ermittlungskräfte zu wöchentlichen Meetings ins Präsidium eingeladen wurden. Martin verdrehte die Augen. „Die Teilnahme ist auch während laufender Ermittlungen Pflicht“, wiederholte er empört. Das gab es ja noch nie!, fügte er im Stillen aufgebracht hinzu. Wir arbeiten ganz bestimmt effizient, wenn wir jede Woche stundenlang zusammen in einem Meeting hocken!
Er starrte auf die nächste Stelle: „Nach einer Standardisierungsphase werden alle Abteilungen nach den gleichen optimierten Methoden ermitteln. Der dadurch realisierbare Support von Personal-Flow liegt auf der Hand.“ Nach ein paar tiefen Atemzügen zwang er sich, den langen, mit Anglizismen gespickten Text weiter zu verfolgen. Schnell fühlte er sich bestätigt: Diesen Organisationsfuzzis ging es nur darum, die von persönlichen Vorlieben und Fähigkeiten geprägte Ermittlungsarbeit in Misskredit zu bringen und stattdessen das schablonenhafte Vorgehen als einzig wahre Methode zu verkaufen. Schließlich scrollte er zum Ende der Einladung: „Die Brainstorming-Phase ist nun abgeschlossen und für das Kick-Off-Team-Event können wir bereits jetzt einige Top-Highlights announcen.“ Die leeren Worthülsen dieser Marketingsprache waren Martin aus tiefsten Herzen zuwider. Er hatte genug. Mit dem Finger drückte er so energisch die Löschen-Taste, als könnte er damit ein für alle Mal diese sinnlosen Meetings aus der Welt schaffen.
Er stieß hörbar die Luft aus, ließ sich in seinen Bürostuhl zurückfallen und begann zu wippen.
Nachdem er sich auf diese Weise wieder einigermaßen beruhigt hatte, wandte er sich der noch verbliebenen Mail zu. Sie ging ihm lediglich zur Kenntnisnahme zu. Ohne viel Interesse überflog er den Text. In Malaga war ein Toter aufgefunden worden, der laut Reisepass aus München stammte. Malaga … Erinnerungen wurden wach. Wie von selbst richtete sich sein Blick zum Fotoposter an der Wand, das einen menschenleeren Palmenstrand im zarten Glanz der Morgenröte zeigte. Aber er war nicht in der Stimmung, alten Zeiten nachzuhängen. Das alles lag lange zurück und spielte heute keine Rolle mehr. Wahrscheinlich ein Drogentoter, dachte Martin, nun wieder auf die Mail bezogen. Sogar mir hat dort ein Dealer Stoff andrehen wollen. Martin vertiefte sich nun doch in die Angaben. Der Tote wohnte seit acht Jahren in Malaga. Also kein Junkie, der sich im Urlaub einen Trip verschafft hat. Martin wollte gerade erneut die Löschen-Taste drücken, als er wie elektrisiert innehielt. „Der Name des Toten ist Manfred Raabe“, stand da schwarz auf weiß. Ungläubig starrte er auf den Bildschirm. „Der Mann wurde am 28. Januar zwischen 6:30 und 7:30 Uhr erschossen.“ Das ist doch völlig unmöglich! Zwei Männer mit dem gleichen Namen werden am selben Tag um dieselbe Uhrzeit ermordet ... Das sind ja eine Unmenge an Gemeinsamkeiten! Martin schüttelte den Kopf. Vom Schreibtisch aus rief er aufgeregt in den Nebenraum: „Kommt bitte gleich mal alle her! Es gibt Neuigkeiten. Und was für Neuigkeiten!“

Irene trat allein in sein Büro und lächelte. „Ich wollte dich ohnehin gerade besuchen. Hans und Stefan sind eben zum Rauchen rausgegangen.“
„Hab ich gar nicht bemerkt. Deswegen. Schau mal!“ Er zeigte auf den Namen des Toten in der E-Mail und wartete gespannt.
„Ich dachte, mein Nachname sei häufig. Und nun soll es gleich zwei geben, die Manfred Raabe heißen, … und am selben Tag ermordet wurden? Das ist doch verrückt!“
„Sogar zur gleichen Uhrzeit. Ich werde Stefan darauf ansetzen, etwas über diesen ominösen zweiten Raabe herauszufinden. Wenn er schon vor acht Jahren ausgewandert ist, wird es schwierig. Aber Stefan wollte ja mithelfen. Und in der Zwischenzeit fordern wir aus Malaga weitere Informationen an.“
Irene las die Mail komplett und notierte die lange Telefonnummer auf ein Post-it.
„Ich hole uns frischen Kaffee“, sagte Martin. „Und danach rufen wir in Malaga an. Wie gut ist dein Englisch?“
Irene zögerte zunächst und antwortete mit wenig Überzeugung: „Ganz Okay.“ Doch sogleich ärgerte sie sich: Warum hab ich eigentlich jahrelang Kurse in englischer Konversation besucht, wenn ich mich jetzt drücke!
„Das schaffen wir schon! Wir wollen ja nur ein paar Auskünfte.“


Martin kam mit dem Kaffee zurück. Irene hatte bereits Kekse auf eine Untertasse gehäuft, und so vergaßen sie das bevorstehende Telefonat. Als jedoch der letzte Keks gerecht geteilt war und die Tassen leer vor ihnen standen, nahm Martin den Hörer zur Hand. Irene diktierte die Nummer und schon schallte aus dem Lautsprecher ein ratterndes Spanisch wie aus einem Maschinengewehr.
„Martin Behringer from the German police.“
Doch der Mann sprach unbeirrt weiter Spanisch mit ihm.
Also begann Martin erneut: Soy Martin Behringer de la policía en Munich.“ („Martin Behringer von der Polizei in München.“)
„Como puedo ayudarle?” („Wie kann ich Ihnen helfen?”)
„Llamo por el asesinato de Manfred Raabe.” („Ich rufe an wegen dem Mord an Manfred Raabe.”)
„Un momento, por favor. Voy a conectarle con el Comisario.“ („Einen Moment, bitte. Ich werde Sie mit dem Kommissar verbinden.“)
„Gracias.“ („Danke.“)

Irene saß regungslos da. Doch in Gedanken war sie ganz an den Anfang ihrer Liebesbeziehung zurück gewandert. Sogleich fielen ihr die Grammatikbücher ein, die kurz darauf spurlos aus Martins Bücherregal verschwunden waren. Weshalb hat er sie damals weggeräumt? Was hat er zu verbergen? Irene verzog das Gesicht. Vor sich sah sie wie auf einer großen Leinwand eine feurige, wunderschöne Spanierin, die Martin eng umschlungen hielt. Entschlossen setzte sie den geistigen Rotstift an ihrer ach so perfekten Miss Spain an und freute sich: So, jetzt siehst du aus wie ich! Ein kurzes Aufatmen und Irene war mit sich versöhnt und wieder ganz Ohr.
Als sich der ermittelnde Comisario meldete, versuchte Martin erneut, auf Englisch mit ihm zu sprechen, doch auch diesmal lief er ins Leere. Also erklärte er ihm auf Spanisch mit eingestreuten Denkpausen, dass sie hier in München ebenfalls den Mord an einem Manfred Raabe bearbeiten. Er beantwortete die Frage des spanischen Kollegen und bat um Informationen über den Ermordeten in Malaga.
Kaum hatte er aufgelegt, erschien Hans mit einem triumphierenden Grinsen in der Tür. Martin verstand sofort: Der meint wohl, dass ich im Dienst private Auslandsgespräche führe. Na dann werde ich das gleich mal klarstellen. Er wandte sich an Irene. „Sie schicken uns alles über den Toten.“
Sichtlich enttäuscht ging Hans zu seinem Schreibtisch zurück. Dafür trat Stefan näher heran und fragte neugierig: „Das war doch Spanisch. Was hat das mit unserem Mordfall zu tun?“
Martin brachte ihn auf den neuesten Stand und fügte hinzu: „Das mit dem gleichen Namen und demselben Todeszeitpunkt, ist schon höchst seltsam. Kannst du bitte mal nachforschen, ob wir irgendetwas über diesen zweiten Manfred Raabe in unseren Archiven haben?“
Indessen klebte Irenes Blick förmlich an Martin, ein stummer Appell, der seine Wirkung nicht verfehlte. Doch erst nachdem Stefan im Nebenzimmer an seinem Schreibtisch saß, sagte Martin leise: „Früher wäre mir das Sprechen leichter gefallen.“
In diesem Moment klingelte sein Telefon. Wie aus einer Zwangsjacke befreit, griff er rasch nach dem Hörer. Es war Werner, der sich von unterwegs meldete: „Unser Toter lag in einer ansehnlichen, gepflegten Villa mit herrlichem Blick auf das Isarhochufer. Bedauerlicherweise hatte er nichts mehr davon. Er musste auch nicht frieren, obwohl es im Haus eiskalt ist. Jemand hat das Fenster zum Garten herausgeschnitten. Bisher wurden leider keinerlei verwertbare Spuren gefunden. Der Mörder ist wahrscheinlich auf dem schmalen, gepflasterten Weg ums Haus geschlichen. Der Tote heißt Richard Bernhardt. Richard ist der Vorname. Er wurde heute Morgen um 9 Uhr von der Putzfrau entdeckt. Die Ehefrau war über Nacht bei einer Freundin und ist erst nach uns am Tatort eingetroffen. Als wir sie nach potenziellen Tätern gefragt haben, hat sie nur gesagt, dass ihr Mann öfter mal wegen seinem Beruf bedroht worden ist. Genaueres wissen wir noch nicht. Die Frau hat kaum einen Satz raus gebracht. Im Gegensatz dazu war Hubert recht gesprächig. Er lässt euch Grüße ausrichten. Du hättest sein enttäuschtes Gesicht sehen sollen, als er sich mit uns begnügen musste. Freddie hat ihm gesagt, dass wir nun für den reichen Süden zuständig seien, weil wir uns am besten in dieses Milieu hineindenken können. So, das genügt fürs Erste, jetzt ist es Zwölf! Wir fahren gleich noch zum Essen und kommen danach zurück.“
„Macht das! In der Gegend gibt es sicher ein paar gute Restaurants.“
„Kann ich dafür Spesen abrechnen?“
„Du kannst es gerne versuchen.“
„Also eher nicht. Freddie hat auch so etwas angedeutet. Schade, ein exquisites Menü würde uns ganz bestimmt bei den Ermittlungen weiter bringen. Wird extrem schwierig, wenn wir Fast Food in uns rein schaufeln.“
„Ihr schafft das schon. Bis später!“
Martin legte auf. Er war nun bereit, Irenes unausgesprochene Frage zu beantworten. Doch sie meinte nur: „Eigentlich hab ich noch keinen Appetit, wir können das Mittagessen ja mal streichen. Die Schokoladenkekse waren ganz schön kalorienreich.“
„Aber der Nachmittag ist lang.“
„Na gut, das ist ein Argument!“

Als sie das Gebäude verließen, sagte Irene unvermittelt: „Du hast ja gar nicht erzählt, dass du so gut Spanisch sprichst.“
„Dir ist wahrscheinlich aufgefallen, dass ich mich ziemlich anstrengen musste.“
„Wirklich? Hab ich gar nicht bemerkt … Wie hast du es gelernt?“
„Nun, ich hab ein paar VHS-Kurse belegt, und Spanien hab ich mir auch mal angeschaut. Aber das ist schon lange her.“
„Wenn Männer sagen, das ist schon lange her, steckt eine Frau dahinter“, sagte sie mit gespielter Lässigkeit.
„Eigentlich nicht, obwohl ich kannte damals tatsächlich … jemanden.“
„Und wie gut?“
„Nicht gut genug, dass du irgendwie besorgt sein müsstest. Ich hab sie vor Jahren aus den Augen verloren. Aber lass uns von etwas anderem reden.“
„Einverstanden … Wo hast du sie kennen gelernt?“
Martin schaute Irene verblüfft an. „In Malaga“, antwortete er bemüht locker.
„Ach dort“, sagte Irene wie beiläufig.
Martin presste die Lippen zusammen. Irene würde mir nie glauben, dass mein Talent für Spanisch nichts mit Isabel zu tun hat. Und je mehr ich ihr erzähle, desto mehr beschäftigt es sie … Oder wäre es doch besser, damit herauszurücken? Lieber nicht, ich weiß ja wie eifersüchtig sie ist.
Schweigend schlenderten sie über den Viktualienmarkt, nahmen das geschäftige Treiben um sie herum kaum wahr.
Sie betraten das wie üblich volle Bio-Bistro, bedienten sich am Buffet und setzten sich an einen Tisch am Fenster, der gerade frei geworden war. Beide konzentrierten sich aufs Essen.
„Schade, dass wir nicht auch den anderen Mordfall übernehmen konnten“, sagte Martin, um das Gespräch mit einem unverfänglichen Thema anzuleiern. „Wir hätten wieder mit Hubert plaudern können. Und diesmal in einer schönen Villa in Harlaching.“
Irene schluckte den letzten Bissen herunter und meinte dann: „Aber Freddie möchte auch nicht die ganze Zeit im Büro herumsitzen. Er fühlt sich nicht wohl, wenn er keinen Fall bearbeiten kann.“ Sie atmete durch und besann sich wieder auf den Mordfall Raabe. „Was hat dich der Kommissar in Spanien gefragt?“
„Ob unser Toter reich war.“
„Nur das?“
„Ja, das ist schon sehr ungewöhnlich. Ich bin mir sicher, er hat verstanden, dass wir ein Mordopfer mit demselben Namen haben, das auch noch zur selben Zeit erschossen worden ist. Und das einzige, was ihn interessiert, sind die Vermögensverhältnisse unseres Toten. Na ja, vielleicht zählen in Spanien nur Morde an finanzkräftigen Persönlichkeiten.“
„Hast du ihn gefragt, ob der Manfred Raabe dort reich war?“
„Ja. Er war zumindest einflussreich. Der Kollege war irgendwie beruhigt, als ich ihm gesagt habe, dass unserer zwar nicht arm, aber auch nicht gerade vermögend war.“
„Inwiefern?“
„Kann ich nicht genau sagen. Ich hatte nur so den Eindruck. Sonderbar.“

Weil nach dem Mittagessen Hans und Stefan vor der Tür standen, gingen Irene und Martin rasch die Rampe zur Tiefgarage hinunter. Wieder erreichten sie unbemerkt das Büro.
„Eine E-Mail aus Malaga! So bald hätte ich nicht damit gerechnet“, stellte Martin erstaunt fest.
„Und was hat der Comisario geschickt?“, wollte Irene wissen, während sie ihre Jacke aufhängte.
„Eine Kopie des Personalausweises … Das gibt es doch nicht! Mit der Adresse unseres Toten in Feldmoching!“
Irene rannte um den Schreibtisch herum. „Tatsächlich!“ Eingehend betrachtete sie das Foto. „Der sieht unserem Toten nicht besonders ähnlich, selbst wenn er sich in den letzten Jahren stark verändert haben sollte. Er wirkt aber auch nicht südländisch. Wann wurde der Personalausweis ausgestellt?“
Martin vergrößerte die Bilddatei und nannte das Datum, während Irene sich die Akte auf seinem Schreibtisch griff und durchblätterte. „Raabe hat den Kaufvertrag für die Eigentumswohnung zwei Wochen vor Ausstellung des neuen Personalausweises unterschrieben.“
„Hast du einen Verdacht?“
„Keinen konkreten. Was meinst du? Wie gehen wir weiter vor?“
„Ich werde in Malaga ein aktuelles Foto vom Toten anfordern. Darf ich es noch mal mit Spanisch versuchen, oder bist du dann wieder eifersüchtig?“, fragte Martin vorsichtig.
Es dauerte eine Weile, bis Irene antwortete: „Mein erster Freund hat mich wegen einer anderen sitzen lassen. Zurecht, wie ich damals glaubte. Ich hatte die kürzeren Beine, war nicht gerade eine Disco-Queen und selbst ich fand mich langweilig. Trotzdem hat mir das einen ziemlichen Schlag versetzt. Du bist sozusagen der nächste Versuch.“
„Du hattest nie mehr einen Freund?“
„Na ja, ein paar halbherzige Versuche gab es schon. Aber irgendwie gingen sie immer gleich am Anfang schief. Es ist fast ein Wunder, dass ich nicht im Alter von 18 Jahren selbst einen Mord aus Eifersucht begangen habe.“ Irene lachte gezwungen. „Und danach hab ich mich bei der Polizei beworben. Dort konnte ich mir dann dauernd blöde Sprüche über Frauen anhören. Du bist die Ausnahme. Aber gerade deshalb vermute ich, dass die Konkurrenz groß ist.“
„Du kannst diese Spanierin ermorden, wenn du einen Grund dazu siehst.“
„Du gibst mir einen Freibrief für einen Mord? Das überzeugt mich.“ Gerührt kuschelte sie sich an Martin. Das beklemmende Gefühl löste sich und ihr wurde ganz warm ums Herz.

Aus dem Nachbarbüro drangen nun die Stimmen von Hans und Stefan zu ihnen herüber. Martin öffnete die Zwischentür und wurde von beiden wie ein Gespenst angeschaut. Er genoss den Auftritt und sagte zu Stefan: „Du kannst deine Nachforschungen wegen Manfred Raabe einstellen. Es handelt sich um zwei Personen, die sich dieselbe Identität teilen.“
„Aber wie war ein solcher Betrug möglich?“
„Keine Ahnung. Bislang wissen wir nur, dass der Mann in Malaga einen Personalausweis mit dem Namen und der Adresse des Toten hier besaß.“
Stefan blickte frustriert auf seinen Bildschirm, so dass Martin rasch nachfragte: „Ist der Name unter Auswanderern so häufig?“
Stefan erklärte, wie er bei der Suche vorgegangen war.
„Das hast du alles in der kurzen Zeit überprüft? Echt super!“
„Ich hätte ebenfalls auf die Mittagspause verzichten sollen, vielleicht …“
„Das ist nicht auf meinem Mist gewachsen. Die Information stammt von den spanischen Kollegen.“
Stefan richtete sich auf und schaute seinen Chef direkt an, als würde er ihn zum ersten Mal wirklich sehen. Etwas verwirrt darüber sagte Martin rasch: „Das Passfoto zeigt keine besondere Ähnlichkeit mit unserem Toten. Ich werde daher ein aktuelles Foto anfordern. Vielleicht wissen wir dann, warum Raabe ausgewählt wurde.“
„Du meinst: eine Art Doppelgänger?“
„Wäre zumindest eine Erklärung. Aber wir sollten erst mal abwarten, bevor wir weiter spekulieren.“
„Die Telefonverbindungsliste bringt uns leider auch keine brauchbaren Fakten. Raabe hat lediglich an mehreren Gewinnspielen im Fernsehen teilgenommen. Ansonsten gar nichts. Keine Telefonate in den letzten drei Monaten. Nicht mal an Weihnachten.“
„Danke, Stefan.“

Martin ging in sein Büro zu Irene zurück und schloss die Tür. „Stefan war fast fertig mit seinen Nachforschungen. Ein paar Minuten später und er hätte selber festgestellt, dass das Auftauchen dieses Manfred Raabe in Malaga mit unserem Raabe in Feldmoching zusammenhängt.“
Irene blickte Martin verwundert an. Der war ebenfalls unschlüssig, wie er den plötzlichen Arbeitseinsatz von Stefan einordnen sollte. Doch noch viel mehr beschäftigte ihn die rätselhafte Verbindung der beiden Toten. Unruhig lief er im Zimmer auf und ab, während Irene sich Notizen machte, die sie kurz danach vehement durchstrich.

Gegen 15 Uhr tönte von nebenan Freddies markante Stimme zu ihnen herüber. Martin öffnete die Tür. Sofort ging Freddie auf ihn zu und begann, mit Feuereifer auf ihn einzureden: „Da hast du was versäumt! Herbert hat nicht zu viel versprochen. In Harlaching lässt es sich wirklich gut leben. Falls die Witwe das Haus verkauft, hat sie ausgesorgt. Ihr Name ist Christine Bernhardt, eine attraktive Frau mit roten Haaren. Natürlich hat sie nun auch rote Augen. Sie ließ sich durch nichts beruhigen.“
Christine Bernhardt? Martin traute seinen Ohren nicht. Gefühle und Gedanken wirbelten wild durcheinander: Das darf ja nicht wahr sein! Gerade eben musste ich zugeben, dass ich eine Bekannte in Malaga habe. Und jetzt taucht im Rahmen einer Mordermittlung eine Frau auf, die ich von den Tanzkursen her kenne. Ausgerechnet Christine mit ihrer aufreizenden Art! Ob sie sich an mich erinnert? Was ist das nur für ein Tag! Martin fühlte förmlich das Messer im Rücken.
„Hallo, Martin! Bist du noch da?“, dröhnte es in seinen Ohren, während sich vor seinen Augen Freddies Hand wie ein Scheibenwischer bewegte.
„Wie ist Herr Bernhardt denn umgekommen?“, beeilte sich Martin nach einem Räuspern zu fragen.
„Er wurde erstochen.“
Wäre Christine dazu fähig? Erneut versank Martin in der Vergangenheit und suchte dort nach einer Antwort. Als er wieder aufsah, schauten ihn alle an. „Ich hab irgendwie den Faden verloren. Was hast du gerade erzählt, Freddie?“
„Kommt darauf an, wann du den Faden verloren hast.“
„Bei erstochen. Ist ja eine sehr ungewöhnliche Todesart bei einem Einbruch.“
„Dann hast du nur meine Frage 'Warum möchtest du das wissen?' und unser Warten auf deine Antwort verpasst. Und wir warten schon eine ganze Weile.“
„Entschuldige, ich bin noch immer ein wenig abgelenkt. Ich muss rasch einen Gedanken mit Irene besprechen, sie war ja mit am Tatort.“

Bedächtig schloss Martin die Tür hinter sich und blieb dann mit hängendem Kopf vor Irene stehen. „Meine Verwirrung hat einen Grund. Es geht um Christine Bernhardt. Ich kenne sie aus dem Tanztraining.“ Martin ging langsam auf Irene zu und nahm ihre Hand. „Bevor du wieder eifersüchtig wirst, möchte ich dir gleich sagen, dass ich mit keiner Frau aus den Tanzkursen etwas hatte. Ich weiß, das klingt unglaubwürdig, aber es war so.“
Irene schaute ihn mit großen Augen an und schwieg. Dann fragte sie zögerlich: „Ist sie so wie deine frühere Tanzpartnerin, diese Elke?“
„Nein, als sie zu Hause eine Choreographie einüben sollte, kam sie wochenlang nicht mehr zum Training. Das Tanzen hat sie nicht wirklich interessiert.“ Martin sprach nun in sachlichem Ton weiter: „Ich hab vorhin überlegt, ob Christine Bernhardt als Täterin infrage kommt. Ich hab ja den Vorteil, dass ich sie aus dem richtigen Leben kenne. Ist jetzt etwa drei Jahre her. Damals wirkte sie ziemlich athletisch. Rein physisch wäre sie dazu durchaus in der Lage. Sie hat übrigens seinerzeit verschwiegen, dass sie verheiratet ist. Ich hielt sie für eine dieser verwöhnten Töchter aus gutem Hause, die sich auch mit 35 noch ihre Freizeitaktivitäten von den Eltern finanzieren lassen.“
Plötzlich lachte Irene. „Ich bin ganz schön blöd! Ich lerne einen Mann kennen, mit dem ich glücklich bin, der mich liebt und respektiert. Und statt mich darüber zu freuen, mache ich mir mein Leben unnötig schwer …“ Übergangslos fügte sie hinzu: „Und hältst du diese Christine für kaltblütig genug, einen Mord an ihren Mann zu planen und auszuführen?“
„Ich halte sie für wenig zimperlich, wenn ihr Lebensstil in Gefahr ist. Aber Werner hat ja angedeutet, dass ihr Mann wegen seiner beruflichen Tätigkeit bedroht worden ist.“
„Stimmt, vielleicht hatte er eine ganze Menge Feinde, und wir vertrödeln die Zeit mit der Ehefrau, nur weil sie zufällig mal mit dir … getanzt hat. Obwohl mich ihr Alibi schon interessiert hätte. Diese ominöse Freundin …“
„Kann es sein, dass du Christine am liebsten hinter Gittern sehen würdest?“
Irene setzte ein Gesicht auf, als müsste sie darüber lange und intensiv nachdenken. „Warum nicht, wenn sie sich schuldig gemacht hat“, antwortete sie schließlich, verschmitzt lächelnd.
Martin grinste. „Übrigens Freddie muss ja nicht unbedingt erfahren, dass ich mit dem gesammelten Geld tatsächlich einen Tanzkurs besucht habe.“
„Eine solche Idee kann wohl nur von ihm stammen!“
„Er hat sogar 20 Euro extra in das Sparschwein gesteckt, das er mir damals samt dem ausgefüllten Anmeldeformular überreicht hat. Und trotzdem hat er nicht gemerkt …“
„Wie kann man nur so blind sein! Mir ist gleich aufgefallen, wie geschmeidig du dich bewegst.“
„Na ja, anfangs war es eher mühsam. So richtig Spaß hat es mir ab dem Fortgeschrittenenkurs gemacht. Und von da an war es mir total peinlich, dass ich gerade fürs Tanzen Talent habe. Verstehst du das?“
„Ja, ich kenne zwar Freddie und Werner erst ein paar Wochen, aber soviel weiß ich: Zum Thema Tanzen fallen den beiden ganz sicher eine Million dummer Sprüche ein. Dabei hast du vom Training durchaus profitiert.“ Zärtlich strich sie mit der Hand über seinen straffen Po. Er schluckte und sagte möglichst sachlich: „Da fällt mir ein: Wir haben noch gar nicht über unseren Fall gesprochen. Wir brauchen unbedingt mehr Informationen über den Ermordeten in Spanien. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ein ebenso zurückgezogenes, langweiliges Leben geführt hat wie unser Manfred Raabe hier in München.“
„Wenn sich die Kollegen in Malaga bis morgen nicht rühren, rufst du dort noch mal an. Dein Spanisch wirkt sehr erotisierend auf mich. Daher der Eifersucht-Blackout vorhin.“
Martin schaute sie zunächst verwirrt an und lächelte dann. Er neigte sich zu ihr. „Mi amor, mi corazón“, flüsterte er ihr melodisch sanft ins Ohr. Er umfasste ihre Taille, presste Irene an sich und küsste sie stürmisch.
Die schnappte nach Luft und schob Martin lachend von sich. „Puh, gerade noch mal gut gegangen! Ein paar Momente länger und ich hätte jegliche Kontrolle über mich verloren … Und wenn unsere Kollegen plötzlich hereinplatzen, weil sie meinen, wir hätten einen Asthmaanfall oder so …“
„Hereinplatzen? Das können wir auch!“
Martin nahm Irenes Hand und zog sie mit sich. Er zählte mit den Fingern bis drei und riss theatralisch die Tür auf. Mit einen bewundernden Blick zu Irene verkündete er: „Unser Fall ist mir jetzt viel klarer geworden.“
„Hat dir Irene wieder gesagt, was du tun sollst?“, fragte Werner höhnisch.
„Mir kam plötzlich ein Geistesblitz, nachdem sie mir x-mal erklärt hat, was sie meint.“
Freddie erhob sich hastig. „Irene kann ja unseren Fall gleich mit lösen. Ich muss weg.“ Er stand überstürzt auf und holte seine Jacke.
Völlig perplex schaute Martin zur Wanduhr. Wieder 15:30 Uhr, wie gestern. Und das, obwohl er einen neuen Fall übernommen hat.
„Geh ruhig heim!“, rief ihm Martin zu. „Irene macht das schon. Du brauchst dann morgen nur noch den Abschlussbericht zu schreiben.“
Freddie verzog das Gesicht. Da er es aber eilig hatte, blieb sein Kommentar unausgesprochen.
Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, wandte sich Irene an Werner: „Du kannst uns doch sicher auch etwas über diesen Richard Bernhardt erzählen.“
„Ja, Freddies Bericht wäre jedoch viel witziger ausgefallen. Also der Tote ist oder vielmehr war Kommunikationsfachmann. Er hat sich bei Unternehmen eine goldene Nase verdient. Allerdings hielt er keine Fortbildungskurse ab, sondern war sozusagen das Gesicht, das wichtige Entscheidungen präsentierte. Als er so am Boden lag, wirkte er ziemlich lustlos. Aber lebendig war er ein Schönling, der sicher nicht nur schmachtende Frauenherzen für sich einnehmen konnte. Christine Bernhardt hat ein paar nützliche Beziehungen in die Ehe eingebracht und das Geschäftliche ansonsten ihrem Mann überlassen.“
„Das ist ja eine ganze Menge, was ihr da auf die Schnelle herausgefunden habt!“, rief Martin begeistert. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass das alles im Personalausweis steht, wenn Bernhardt denn einen hatte?“
„Er hatte einen! Die Informationen bekamen wir allerdings von seiner Sekretärin. Sein Büro lag sozusagen auf dem Weg in die Mittagspause. Die junge Frau war ziemlich aufgelöst, als wir die traurige Nachricht vom Tod ihres Chefs überbrachten. Na ja, sie muss sich ja nun einen neuen Job suchen.“
„Könnten die beiden ein Verhältnis gehabt haben?“, hakte Irene nach.
„Ein Gspusi am Arbeitsplatz? Hm … Sie hat von ihrem Chef sehr distanziert gesprochen. Und auch über dessen Ehefrau hat sie nicht gelästert. Wir fragen Freddie morgen nach seinem Eindruck. Er hat eine bessere Menschenkenntnis als ich.“
Während Werner sich eine Notiz machte, wandte sich Martin an Stefan: „Würdest du bitte die Finanzen von Herrn Bernhardt überprüfen?“
Ein unschlüssiger Blick traf ihn. Und so befürchtete Martin schon, dass Stefan sich wie früher vor der Arbeit drücken wollte.
„Ich muss euch etwas sagen“, begann er zaghaft. „Ich … das heißt wir, also Hans und ich, wir kennen die Frau des Toten.“
Hans zuckte zusammen. Martin glaubte, nicht richtig gehört zu haben.
„Am vorletzten Wochenende in Garmisch trafen wir sie in einer Bar. Den ganzen Abend unterhielten wir uns über alles Mögliche. Und … ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll … Ich hatte … Sex mit ihr.“ Seine Stimme stockte. „Am nächsten Tag ist sie abgereist, ohne sich von mir zu verabschieden. Ich hab es nicht verstanden, wo doch die Nacht mit mir angeblich so schön war. Über das Internet fand ich später heraus, dass sie verheiratet ist. Und damit war klar, warum sie keine Fortsetzung wollte. Hans, du hast dich ja lange mit ihr allein unterhalten. Hat sie dir noch etwas erzählt?“
Dem war sein Unbehagen deutlich anzusehen, in die Beichte hineingezogen zu werden. Widerwillig antwortete er: „Nein, von einem Ehemann wusste ich nichts. Wir haben nur über Sport gesprochen. Sie macht sehr viel.“
Stefan schaute nun entschlossen in die Runde. „Ich übernehme gern die Nachforschungen. Aber das solltet ihr wissen.“
„Danke für deine Offenheit. Ich kann mir gut vorstellen, wie unangenehm es ist, wenn man plötzlich merkt, dass jemand, … den man aus dem richtigen Leben kennt, in einer Ermittlung eine Rolle spielt.“
Irene war knapp davor loszuprusten. Irritiert fixierte Martin schnell wieder Stefan und sagte in ernstem Ton: „Wir sind ja erst ganz am Anfang unserer Nachforschungen, und da ist es hilfreich alle Informationen zu sammeln.“ Da Irene weiterhin grinste, fügte er rasch hinzu: „Dann machen wir Schluss für heute.“
Werner beeilte sich, um die nächste S-Bahn zu erreichen, während Stefan damit begann, das Formular für die Überprüfung der Finanzen auszufüllen. Ohne auf ihn zu warten, verließ Hans hastig das Büro. Wenig später fuhr Stefan seinen Computer herunter, nahm seinen Anorak und rief zu Irene und Martin ins Nachbarbüro: „Schönen Abend! Dann bis morgen.“
Beide erwiderten den Gruß und lauschten nach draußen, bis die Eingangstür erneut ins Schloss fiel.
„Alle machen sich einfach aus dem Staub …“, stellte Irene mit gespieltem Ärger fest.
Martin schrieb rasch noch eine kurze Mail an den Comisario in Malaga und meinte: „Ziemlich staubig hier … Nichts wie weg!“

„Endlich!“, sagte Irene aufgekratzt, während sie sich in den Feierabendverkehr einreihte. „Warum gibt es denn keinen schnelleren Weg nach Hause? Ich könnte ja mal ausprobieren, wie lange es dauert, wenn ich die Fußgängerzone als Abkürzung nehme. Mit Blaulicht auf dem Dach dürfte eigentlich nichts passieren.“
Martin linste zu ihr hinüber. Meinte sie dies wirklich ernst? Er war sich nicht sicher.
„Lass das mal lieber. Ich möchte, dass wir tatsächlich daheim ankommen.“
„Ich doch auch.“ Dennoch blickte sie entschlossen in Richtung Marienplatz, wie um die Slalomstrecke durch die flanierende Menschenmenge vorauszuberechnen. Verschmitzt lächelnd wandte sie sich Martin zu: „Und soll ich? … Die Fußgänger haben bestimmt Verständnis für ein Liebespaar.“
Als er zustimmend nickte, fuhr Irene mit einem enttäuschten „Na, dann eben nicht!“ geradeaus weiter.
„Du solltest auf einer Bühne auftreten“, meinte er kopfschüttelnd.

Mittwoch, 30.01.

„Jetzt gib schon endlich Ruhe!“
Martin knipste das Licht an und sah, wie Irene das Kissen auf den Wecker drückte. Sie lächelte verlegen. „Es ist nicht so, wie es aussieht. Es ist nur …“
„Der Spruch kommt mir irgendwie bekannt vor“, sagte Martin und schob ein Gähnen nach. „Eigentlich hab ich die Strafe verdient. Ich hätte ja eine spätere Weckzeit einstellen können. Verzeihst du mir?“ Er zog Irene an sich, und sie küssten sich zärtlich.
Als sie sich voneinander lösten, setzte sie den Wecker behutsam an seinen Platz und streichelte ihn. „Ist geschenkt … Solange wir die gewonnene Zeit dafür verwenden, darf er sich immer so früh melden. Also los! Vielleicht hat uns ja der Comisario schon etwas geschickt.“ Sie sprang aus dem Bett und schlüpfte in ihre Pantoffeln.
Martin schwang sich hoch und folgte ihr. „Wäre toll, wenn wir endlich mal Fortschritte machen würden. Freddie und Werner haben es da leichter. Die können hier in München ermitteln. Und was Christine Bernhardt betrifft: Eigentlich hätte ich gestern ebenfalls gestehen müssen, dass ich die Frau des Ermordeten auch irgendwie kenne.“
„Solange du sie tatsächlich nicht so gut kennst wie Stefan, geht das völlig in Ordnung.“
Martin hielt in Unschuldsmanier die Hände nach oben. „Ich hab sie nur in der Tanzstunde berührt und soweit ich mich erinnern kann, nicht mal beim Tango.“
„Ich bin froh, dass du nicht auf sie abgefahren bist.“
„Ich auch. Aber wenn ich so zurückdenke: Es gibt sicher noch andere aus dem Tanzkurs, die wie Stefan ein Geständnis ablegen könnten.“
„Und so einer Frau hast du widerstanden?“
„Sie war mir nicht sympathisch mit ihrer überdrehten Art, und ich war ihr wohl zu langweilig.“
„Du! Langweilig?“ Irene strahlte ihn an. „Ich erlebe die schönste Zeit mit dir. Aber ich werde nichts verraten und so einer schon gar nicht.“

„Ich mach uns gleich mal einen starken Kaffee“, verkündete Irene, als sie mit Martin das leere Büro betrat.
„Nichts da! Das ist meine Aufgabe. Schließlich bin ich hier der Chef. Du ruhst dich von der anstrengenden Fahrt aus.“
Ein paar Minuten später stand Martin mit zwei Kaffeetassen vor Irene. Die starrte mit gerunzelter Stirn auf den Monitor. „Eine Mail aus Spanien … Mann ist das schwierig! Ich verstehe nur Bahnhof … Was heißt eigentlich Bahnhof auf Spanisch?“
„Estación de ferrocarriles.“
„Also verstehe ich nicht mal Bahnhof.“
Martin stellte die beiden Tassen zu abrupt ab, so dass etwas Kaffee überschwappte. Ohne sich weiter darum zu kümmern, setzte er sich neben Irene und las die wenigen Zeilen in flüssigem Deutsch vor: „Der hier in Malaga lebende Manfred Raabe war Geschäftsmann, hatte aber keine registrierte Firma.“
„Geschäftsmann? Geht es noch allgemeiner?“ Als Irene ihn kritisch anschaute, lächelte Martin sie entwaffnend an. „Ich kann nichts dafür. Das steht wirklich so da. Jetzt wird es konkreter: Die versteuerten Einnahmen beliefen sich im letzten Jahr auf 543.584 Euro, ziemlich genau auf Vorjahresniveau. Er verreiste sehr oft ins Ausland, hauptsächlich nach Peru und Venezuela. Señor Raabe war nicht vorbestraft. Der Tote wurde in seiner Stadtwohnung in Malaga erschossen aufgefunden. Er besaß außerdem noch eine Villa in der Nähe von Marbella.“
Martin lehnte sich zurück und wippte mit dem Stuhl. „Was wollte er in Peru und Venezuela? Hm, Drogenhandel verbindet man eher mit Kolumbien. Die Frage ist, warum er nicht unter seinem richtigen Namen verreist ist. Und die zweite Frage ist, ob er seinen richtigen Namen parallel verwendet hat oder nur als Manfred Raabe seine ominösen Geschäfte betrieb. Er scheint sich die neue Identität ja ziemlich teuer erkauft zu haben.“
„Stimmt, die Wohnung in Feldmoching und die monatliche Rente könnten eine Entlohnung dafür sein.“
„Das war doch gleich dein erster Verdacht! Ich hab gesehen, wie du gestern das Datum des Kaufvertrags überprüft hast.“
„Aber nur weil mir klar war, dass er sich beim Notar ausweisen musste. Mir kommt da noch ein Gedanke … Hat er den Personalausweis danach neu ausstellen lassen, oder hat der andere den Kaufvertrag unterzeichnet?“
„Schauen wir gleich mal nach!“
Schon auf den ersten Blick waren die Unterschiede erkennbar.
Martin schlug die Akte zu. „Dann wissen wir jetzt, dass er seit dem neuen Personalausweis ein schwungvolleres M verwendet.“
„Ich hab mal gelesen, dass Geheimagenten bei der Wahl des Decknamens die Initialen beibehalten. Es macht sich nicht gut, wenn man beim Unterschreiben aus alter Gewohnheit mit dem falschen Buchstaben ansetzt.“
„Demnach würde der richtige Vorname von Raabe ebenfalls mit einem M beginnen, wie zum Beispiel Martin.“
„Auf keinen Fall“, widersprach Irene sofort, während sie das angehängte Foto musterte, das einen geschniegelten Geschäftsmann mit lebhaften Augen zeigte. „Der hier sieht unserem nicht sonderlich ähnlich.“
Irene hielt den ausgedruckten Personalausweis neben den Monitor. „Andererseits … Wenn man sich unseren Toten und den da jeweils acht Jahre jünger vorstellt, ist dieses Foto eine Schnittmenge von beiden.“
„Eine Fälschung?“
„Wahrscheinlich…“
„Hm ... angenommen, der falsche Raabe ist vor dem Erwerb seiner neuen Identität als Straftäter aufgefallen, dann ist er bereits kriminaltechnisch erfasst. Ich rufe in Malaga an, um das überprüfen zu lassen … Und falls er mit deutschem Akzent gesprochen hat, kann es ebenso gut sein, dass er hier in Deutschland gesucht wird.“ Martin schaute auf die Uhr und fügte hinzu: „Um diese Zeit erreichen wir dort wahrscheinlich niemanden.“
Irene betrachtete den übergeschwappten Kaffee und dachte: Spanien scheint ihn ja ganz schön nervös zu machen.
Martin folgte ihrem amüsierten Blick. „Ich hol rasch eine Serviette“, bot er an und sprang auf.
Irene erwischte gerade noch seine Hand und hielt sie fest. „Was hab ich für ein Glück: Du bist nicht nur der zärtlichste Liebhaber, sondern auch der ideale Chef.“ Sie erhob sich. „Ich komme mit. Ich muss mich mal wieder bewegen.“

Beim Öffnen der Tür schaute Werner mit ernster Miene von seinem Schreibtisch hoch. „Ja, sie kann ein Verhältnis mit ihm gehabt haben; wenn, dann aber ein sehr diskretes.“
„Bei dir hat man den Eindruck, als ob der gestrige Tag nahtlos in den heutigen übergegangen ist“, sagte Martin lachend. „Guten Morgen übrigens!“
Nun lachte auch Werner. „Guten Morgen! Ich wollte euch ein wenig imponieren. Reicht das fürs Erste, oder soll ich euch ein paar Kartentricks zeigen?“
„Für diese Woche reicht das. Aber nächste Woche solltest du dich noch einmal so reinhängen.“
„Seit Hans wieder da ist, bist du genügsamer geworden.“
Freddie kam mit seiner riesigen Kaffeetasse aus der Küche und warf ein: „Stimmt, diese Schlafmütze zieht Martin ganz schön runter.“
„Vielleicht hab ich mich deshalb gestern ablenken lassen.“
„Ist dir das noch immer peinlich? Das freut mich aber.“
„Na ja, ich kann nicht mal behaupten, dass mir so was nie zuvor passiert ist. Schon in der Grundschule stand im Zwischenzeugnis ziemlich regelmäßig: 'Der verträumte Schüler sollte sich öfter am Unterricht beteiligen'.“
„Bei mir waren die Lehrer froh, wenn ich sie den Unterricht gestalten ließ.“
Als die Blicke der anderen Irene ins Visier nahmen, winkte sie ab. „Ich stamme schon aus der Generation, wo manche Eltern bei einer solchen Bemerkung ein Gerichtsverfahren eingeleitet hätten. Ich hatte also immer nur recht vage Umschreibungen im Zeugnis.“
Schließlich richteten sich Freddies Augen erwartungsvoll auf Werner. Der antwortete ungewöhnlich leise: „Ich bin in einer Kleinstadt aufgewachsen, da ist die Zeit stehengeblieben. Bei mir standen noch ungeschönte Bemerkungen im Zeugnis.“ Mit Trotz in der Stimme fügte er hinzu: „Aber die gehen euch nichts an!“
„Ach komm schon! Vor uns brauchst du dich nicht zu genieren.“
Werner blieb stur und hüllte sich in Schweigen.
Freddie hingegen überspielte seine Niederlage, indem er euphorisch wieder auf seinen Fall zu sprechen kam. „Wir haben in Bernhardts Aktentasche Rechnungen seiner Geschäftspartner gefunden. Ein paar dieser Firmen werden wir heute mal besuchen. Wir machen uns also einen schönen Tag.“
Bei Geschäftspartner wanderten Martins Gedanken zu Raabe zurück und mäanderten dort eine Zeitlang. Als Martin die Blicke der anderen bleischwer auf sich ruhen fühlte, lächelte er gequält und sagte: „Na ja, ich kann das, was mir durch den Kopf geht, ebenso gut mit euch besprechen. Ich hab mich gerade gefragt, welche Geschäftspartner der Raabe in Spanien wohl hatte … Aber wäre es nicht an der Zeit, uns mit dem Toten hier in München zu beschäftigen? Wir wissen ja immer noch nicht, weshalb er seinen Namen verkauft hat. Wieso wurde ausgerechnet Manfred Raabe für so einen Deal ausgewählt? Ein zurückgezogen lebender Dauerfernseher. Und seltsam ist doch auch, dass er offenbar ganz ohne Ausweis zurechtgekommen ist. Er hatte schließlich ein gut gefülltes Bankkonto. Musste er sich bei der Bank denn nie legitimieren? Mit Online-Banking kann man das zwar umgehen, aber ein Computer oder Handy wurde bei ihm ja nicht gefunden.“
„Freddie, was meinst du: Ist es in der heutigen Zeit möglich, sich ohne Ausweis Geld auszahlen zu lassen?“, fragte Werner provokativ.
„Woher soll ich das wissen? Elisabeth geht mit unserem Sparbuch zur Bank.“
„Ein Sparbuch? Gibt es so was überhaupt noch?“
Um weitere Sticheleien zwischen den beiden zu unterbinden, mischte sich Martin ein: „Hab ich vorhin eine Frage oder Antwort verpasst?“
„Nein, diesmal nicht“, meinte Freddie schmunzelnd. „Wir konnten es nur nicht ertragen, dass du uns einfach ignorierst. Aber nachdem du hier wieder gelandet bist, können wir ja jetzt aufbrechen. Komm Werner! Und unterwegs erzählst du mir, wie die Lehrer dich behandelt haben.“
Er hielt ihm die Tür auf und redete weiter auf ihn ein, doch nun mit stark gedämpfter Stimme: „Ich kann ja verstehen, dass du Martin nichts anvertrauen willst. Der plaudert das womöglich noch in einem seiner Tagträume aus. Ich hingegen, behalte alles für mich. Ehrenwort!“
„Also gut. Meine Erdkundelehrerin …“ Donnernd fiel die schwere Eingangstüre ins Schloss.
Irene, die ihre Ohren gespitzt hatte, zuckte heftig zusammen. „Schade, ich hätte zu gerne erfahren, was in Werners Zeugnissen stand. Er ist mir immer noch ein Rätsel.“
„Und du meinst, seine Lehrerin hält für uns einen pädagogisch wertvollen Hinweis parat, wie wir mit seinem hinterhältigen Verhalten umgehen sollen.“
„Ja, und um erzieherisch einzugreifen.“
„Ich werde ihn zweihundertmal auf dem Computer schreiben lassen: 'Ich darf meine Kollegin und meine Kollegen nicht täuschen!'“, sagte Martin mit allzu strenger Miene.
„Ach du! … Was soll's. Der denkt sich sowieso seinen Teil, und wir sind wieder die Dummen.“ Irene machte eine abschließende Handbewegung und kam auf den Fall zurück: „Was unseren Raabe anbelangt: Beim Online-Banking braucht man nur eine TAN. Wir müssen gleich mal bei dieser Maria nachfragen, ob sie nicht doch einen Computer oder ein Handy sichergestellt hat.“
„Wenn wir schon dabei sind: Zu einer Wohnung gehört üblicherweise ein Kellerabteil. Vielleicht hat er dort seine stockdunkle Vergangenheit eingelagert.“
Irenes Augen begannen zu leuchten. „Super, dann haben wir gleich mehrere Gründe, einen Ausflug zu machen. Aber erst genießen wir hier die Ruhe!“ Sie breitete die Arme aus und segelte zwischen den Schreibtischen herum. „Endlich! Nur wir zwei!“, rief sie übermütig. Martin stellte sich ihr in den Weg und fing sie lachend auf. Sie drückten sich an einander und küssten sich.
„So, und jetzt lösen wir ganz schnell den Fall!“ Voller Elan nahm sie Martin bei der Hand und zog ihn zum Besprechungstisch. „Was mir immer noch durch den Kopf geistert: Wann wäre unser Raabe gefunden worden, wenn der Mörder die Tür hinter sich geschlossen hätte?“
„Tja, er ist tatsächlich ein idealer Kandidat für die Schlagzeile 'Mann lag drei Jahre tot in seiner Wohnung'. Aber so konnte Hubert seinen Todeszeitpunkt auf eine halbe Stunde eingrenzen. Hm, auch die Zeitangabe aus Spanien zwischen 6:30 und 7:30 Uhr ist recht präzise. Das sind schon verdammt viele Gemeinsamkeiten. Mit Zufall sind solche Parallelen nicht zu erklären. Ich bin überzeugt: Dahinter steckt ein Plan und eine Absicht, wenn zwei Personen mit identischem Namen zum selben Zeitpunkt in Malaga und in München ermordet werden. Für mich sieht das nach einer Inszenierung aus. Aber für wen? Falls allerdings weder wir noch die Polizei in Spanien diese Fakten an die Presse weitergeben, würde niemand etwas davon erfahren.“
„Und wenn diese Botschaft tatsächlich für uns bestimmt ist? Wollen uns die Täter damit herausfordern? … Nur wozu? Das ist doch Irrsinn, gerade uns auf ihre Verbrechen zu stoßen.“ Irene schüttelte den Kopf, wie um diesen Gedanken als zu unwahrscheinlich zu verwerfen. „Andererseits, wenn du diese E-Mail nicht gelesen hättest, dann wüssten wir jetzt nichts von dieser Geschichte.“
„Wir nicht. Aber die Todesnachricht wurde schon mal innerhalb des gesamten Präsidiums per Mail herumgereicht. Vielleicht sollte ja gar nicht die Mordkommission darauf gestoßen werden, sondern eine andere Abteilung. Oder jemand, der im Umfeld der Polizei herumschnüffelt. Die Zahlungen kommen von der Anwaltskanzlei Steinle & Strobl in Augsburg. Ob die über den Zweck Bescheid wissen? Wir müssen möglichst bald dort nachforschen, aber extrem vorsichtig.“
Irene schaute betroffen. „Wenn das deren Geschäftsmodell ist, dann wäre es doch möglich, dass es weitere doppelte Identitäten gibt.“
Wie um den beunruhigenden Gedanken hinunterzuspülen, nahm sie einen Schluck Kaffee. Sie verzog das Gesicht. „Ist leider kalt geworden.“
„Ich hole frischen“, kündete Martin sogleich an und startete in die Küche.
Als er gerade die neu befüllten Tassen in sein Büro balancierte und mit seinem Rücken die Tür zudrückte, fiel die Eingangstür ins Schloss.
Martin horchte nach draußen. An ihren Schritten erkannte er Hans und Stefan, die schweigend zu ihrem Arbeitsplatz gingen. „Zwischen den beiden scheint ja noch immer Sendepause zu herrschen“, flüsterte Martin überrascht.
„Normalerweise quasseln die doch fast ununterbrochen miteinander.“
Martin lauschte ein letztes Mal ins Nachbarbüro und stellte dann die beiden Tassen auf seinem Schreibtisch ab. Der Kaffee sollte ja nicht wieder kalt werden.
„Lassen wir die beiden ruhig schmollen. Was meinst du: Könnte es sein, dass der Geschäftsmann in Spanien ein rechtschaffener Bürger ist, und wir zu Unrecht einen kriminellen Hintergrund vermuten?“
„Auch das ist möglich. Aber warum wurden beide ermordet? Und wozu erkauft man sich eine unbescholtene Vorgeschichte? Hm, was steht als nächstes an?“
Martin dachte kurz nach und entschied dann: „Wir fragen bei Maria wegen Computer und Handy von Raabe und dem Kellerabteil nach. Ich sag Hans gleich mal Bescheid, er soll sich in der Bankfiliale erkundigen, wie Raabe seine Geldgeschäfte erledigt hat. Stefan kann ja die Anwaltskanzlei überprüfen, aber ganz diskret. Am Ende warnen wir sie zu früh, und sie verwischen alle Spuren. Und bei den Kollegen in Malaga versuchen wir herauszufinden, in welcher Branche der Raabe dort tätig war. Und wenn wir dann wissen, was wir suchen, fahren wir noch mal in die Wohnung.“

Im Nachbarbüro war die frostige Stimmung zwischen Hans und Stefan fast greifbar. Aber Martin war das egal. Er verteilte die Aufgaben und ging danach wieder in sein Büro zurück. Über den Lautsprecher hörte er eine säuselnde Stimme und so einiges, was ihm ganz und gar nicht gefiel: „Ach, Sie sind die hübsche Kollegin von der Mordkommission. Ich hab mich noch gar nicht bei Ihnen vorgestellt, der Montag war nicht mein Tag. Aber das kann ich ja jetzt nachholen. Mein Name ist Erwin, Erwin Lehmann. Ist ganz leicht zu merken. Erwin und Mann ist eh klar. Dann musst du dir nur das 'Leh' dazwischen denken und schon passt es.“
Martin beugte sich über das Telefon und sagte mit fester Stimme: „Hallo, Erwin. Wir haben nur ein paar Fragen. Aber nachdem der Montag nicht dein Tag war, wäre es besser, wenn du uns an Maria weiterreichst.“
„Mach ich, sobald ich mich mit deiner neuen Mitarbeiterin bekannt gemacht habe.“
„Ich hab ihr schon einiges über dich erzählt. Sie weiß bereits, dass du mit einer Kollegin verheiratet bist. Wie alt sind eure Kinder jetzt?“
„Vier und zwei Jahre“, kam es zähneknirschend zurück.
„Wie doch die Zeit vergeht.“
Daraufhin hörten sie Erwin gereizt in den Raum rufen: „Maria, dein Typ wird verlangt! Es ist Martin.“
Wenig später meldete sich Maria Zeilinger: „Hallo, Martin. Was möchtest du wissen?“
„Hallo, Maria. Habt ihr in der Wohnung von Raabe einen Computer oder ein Handy sichergestellt?“
Sie dachte kurz nach. „Nein, nichts dergleichen. Er hatte nicht mal ein Radio. Nur diesen riesigen Fernseher. Warte mal …“
Nach einer Minute meldete sie sich erneut: „Ich hab mich schnell noch mal durch die Fotos geklickt. Raabe hatte ja auch keinen Schreibtisch. Die wenigen Schriftstücke haben wir in der Kommode im Flur gefunden. Auf der Suche nach weiteren Papieren hab ich sogar im Küchenschrank und unter der Matratze nachgeschaut. Nichts. Und im Kleiderschrank war tatsächlich nur Kleidung.“
„Seltsam.“
„Am meisten ärgert mich, dass der Täter keine DNA-Spuren hinterlassen hat. Im Eingangsbereich hab ich lediglich etwas feuchten Schmutz auf dem Teppich gefunden. Das war aber dann schon alles.“
„Also hat der Mörder nach der Tat die Wohnung sofort wieder verlassen.“
„Ja, so wird es gewesen sein. Von diesem Nachbarn, der sich so lange im Flur mit den Kollegen unterhalten hat, hab ich im Wohnzimmer ein paar Haare gefunden.“
„Woher weißt du, dass es seine sind?“
„Er hat mir seinen Kamm mitgegeben. Oh, den muss ich ihm ja zurückschicken! Er hat zwar gemeint, das hat Zeit, bis die Polizei das nächste Mal vor Ort ist. Aber wir sind ja dort fertig.“
„Danke. Du warst ja wie immer sehr gründlich. Hast du mal einen Blick ins Kellerabteil geworfen?“
Erst Schweigen, dann eine Art Knurren: „Hab ich vergessen. Erwin …“ Sie unterbrach sich. Martin hörte sie schwer atmen. „Ich erinnere mich“, fuhr sie schließlich in annähernd normaler Tonlage fort: „Der Kellerschlüssel lag ebenfalls in der Kommode. Am Schlüsselbund hing nur der Wohnungs- und der Briefkastenschlüssel. Uns bleibt wohl nichts anderes übrig, als noch mal hinzufahren.“
„Nicht nötig. Wenn der Täter im Wohnzimmer keine Spuren hinterlassen hat, dann sicher auch nicht im Keller, falls er überhaupt dort war.“
„So ein Patzer darf mir nicht passieren! Ich hätte daran denken müssen. Ich …“
„Ist dir irgendetwas aufgefallen, was zum Beispiel einer Frau oder einem Kind gehört hat?“
Nach einer kurzen Bedenkzeit antwortete Maria: „Nein. Nichts. Er hatte nicht viel Geschirr und nur diesen kleinen Kleiderschrank.“
„Danke. Du hast uns sehr weitergeholfen. Dann bis zum nächsten Mal!“
„Verdammt! Ich Trott…“, hörte Martin sie schimpfen, bevor er auflegte.
„Maria ist eine Perfektionistin“, meinte er bedauernd. „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie jemals etwas übersehen hat. Sie ist zu streng mit sich. Sich einen Fehler zu verzeihen, fällt ihr offensichtlich schwer. Ich hab versucht, sie abzulenken. Aber wie du mitbekommen hast, mit wenig Erfolg.“
„Die hat ja eine ganz schöne Wut auf diesen Erwin, aber die Schuld schiebt sie sich selbst zu. Ich hab sie bei der Arbeit beobachtet. Sie war sehr konzentriert, solange sie sich nicht um ihren schusseligen Kollegen kümmern musste.“ Irene lachte. „Warum hast du diesen Erwin …mann auf seine Frau und seine kleinen Kinder angesprochen?“
„Ich wollte nicht, dass er auf dich Eindruck macht.“
„Du bist eifersüchtig?“
„Ja. Und wie“, kam es zerknirscht zurück.
„Was hast du mir immer wieder gesagt: Dass ich dir vertrauen kann. Dasselbe gilt auch für mich: Vertrau mir!“ Sie legte ihre Hand auf sein Herz und küsste ihn sanft auf den Mund.
Tief berührt umarmte er Irene, wobei er sein Gesicht in der Mulde zwischen ihrer Schulter und ihrem Hals vergrub.
Sie vergaßen die Zeit.
„Das war um einiges schöner, als in einem Kellerabteil herum zu stöbern. Ich bin gespannt, ob unser Saubermann dort regelmäßig gescheuert hat.“
„Lass uns erst mal nachsehen, ob die anderen gearbeitet haben.“ Martin ging voran ins Nachbarbüro.
Stefan blickte auf und sagte sogleich: „Ich hab mir die Augsburger Anwaltskanzlei im Internet angeschaut. Das ist schon merkwürdig. Auf ihrer Homepage steht eigentlich nur die Adresse und eine Telefonnummer. Ansonsten findet man dort nur Hinweise auf Rechtsberatungsstellen. Nichts deutet auf irgendwelche Schwerpunkte hin. Ich meine, es macht doch einen gewaltigen Unterschied, ob man als Anwalt für Patent- oder Strafrecht tätig ist.“
„Danke, Stefan. Das ist wirklich seltsam. Sei bitte vorsichtig, wenn du weitere Nachforschungen startest.“
Stefan nickte.
Als nächstes sah Martin Hans forschend an. Daraufhin begann der, seinen Bericht herunterzuleiern: „Ich hab in der Bankfiliale angerufen. Manfred Raabe nutzte kein Online-Banking. Er ist seit Jahren allen Angestellten persönlich bekannt. Deshalb hat man von ihm nie einen Ausweis verlangt. Er hätte auch problemlos einen höheren Betrag abheben können.“
„Dann ist das geklärt. Ich habe einen Auftrag für euch beide: Eine Fahrt nach Feldmoching. Bisher hat noch niemand das Kellerabteil von Raabe inspiziert. Der Schlüssel liegt in der Kommode im Flur. Macht bitte auch Fotos. Den Wohnungsschlüssel bekommt ihr in der Spurensicherungsabteilung von Maria Zeilinger. Ach ja, bei der Gelegenheit könnt ihr dem Nachbarn Herrn Freundorfer seinen Kamm zurückgeben.“
„Einen Kamm“, wiederholte Hans abfällig.
„Ja, der wurde für eine DNA-Untersuchung mitgenommen.“
„Na dann nichts wie los!“, sagte Stefan, während er aufstand und gleichzeitig seinen Computer ausschaltete. Hans blieb einfach sitzen. Erst als Martin ihn auffordernd fixierte, erhob er sich und folgte Stefan betont langsam nach draußen.
Irene lächelte. „Eine Superlösung! Die beiden wühlen im Keller, und wir haben hier freie Bahn.“
„Wie es aussieht, nur Stefan. Aber der findet bestimmt genauso viel wie wir.“
„Am besten rufst du jetzt gleich in Malaga an. Möglicherweise ist der Fall gelöst, bevor die beiden zurück sind.“
„Ich weiß allerdings nicht, wie weit wir dem ermittelnden Comisario vertrauen können.”
„Vielleicht hörst du das ja aus dem Gespräch heraus. Du kannst ja gut Spanisch.“
„So gut nun auch wieder nicht. Mal abwarten, was er uns erzählt.“

Martin sammelte schnell noch einige Fragen im Kopf und wählte dann die Telefonnummer, die in der E-Mail angegeben war. Diesmal sprach er von Anfang an Spanisch mit Señor Montes. Nach ein paar einleitenden Worten kam er gleich zur Sache: „Können Sie uns etwas zu den genauen Todesumständen von Raabe sagen?“
„Nun, er wurde mit vier Schüssen ins Herz getötet.“
„Wann wurde der Tote gefunden?“
„Gegen 12:30 Uhr.“
„Wer hat ihn gefunden?“
„Ein Nachbar. Die Eingangstür seiner Wohnung stand offen.“
Martin geriet durch Montes knappe und rasante Antworten in Stress. „Hat Raabe gut Spanisch gesprochen?“
„Ja, sehr gut sogar, allerdings mit einem fremdem Akzent.“
„Gibt es den Verdacht, dass Raabe in kriminelle Machenschaften verwickelt war?“
„Sein Büro in der Stadt wird derzeit durchsucht. Aber soweit wir erkennen können, wurden alle Einkünfte ordnungsgemäß versteuert.“
„Haben Sie irgendwelche Hinweise auf den Mörder?“
„Nein. Bisher wurden keinerlei Spuren gefunden.“
„Haben Sie eine Erklärung für den zeitgleichen Mord hier in München?“
„Nein.“ Martin wartete auf eine weitergehende Antwort. Als die ausblieb, fragte er nun wie beiläufig: „Kannten Sie Herrn Raabe persönlich?“
Die entstandene Pause versuchte Montes zu überspielen, indem er das ohnehin hohe Tempo seiner Sprechweise noch steigerte. „Ich habe diesen Mann nie getroffen.“
„Wie lebte … Hatte Raabe eine Familie oder Angehörige?“
„Er lebte alleine.“
„Danke! Wir werden Sie informieren, falls wir hier etwas herausfinden.“ Er fügte hinzu: „Ist aber wohl ziemlich aussichtslos. Bisher haben wir keine Anhaltspunkte.“
Martin beendete rasch das Gespräch.

Irene schaute ihn fragend an. „Ich hab leider gar nichts verstanden.“
„Die Parallelen bei den beiden Morden sind eindeutig. Und darüber hinaus bin ich mir nun absolut sicher, dieser Comisario Montes kannte Raabe, obwohl er mir weismachen wollte, dass er ihm nie begegnet sei.“ Nach einer Weile fügte Martin hinzu: „Andererseits zeigte sich Montes nicht sonderlich betroffen über Raabes Tod, befreundet waren die beiden wohl nicht.“
„Dann ist die Vertrauensfrage ja leider abgehakt. So ein Mist, dass wir nur ihn als Ansprechpartner haben.“
Martins „Vielleicht nicht“ ließ Irene ärgerlich fragen: „Bedeutet das etwa, dass diese Frau, die du in Malaga kennst, bei der Polizei arbeitet?“
„Nein, sie ist Lehrerin. Aber ihre Schwester war bei der Polizei. Das ist allerdings schon zehn Jahre her.“
„Was? Du warst sogar bei ihrer Familie zu Besuch?“
„Ach woher! Bei unseren Treffen war manchmal ihre Schwester Ana Maria mit ihrem Freund dabei. Mit ihr hatte ich sogar ein Jahr länger Briefkontakt als mit Isabel, allerdings schrieb sie in Englisch, um zu üben.“
Irene wiederholte leise: „Isabel … Und worüber hat dir diese Ana Maria geschrieben?“
„Über alles Mögliche. Über dienstliche Dinge, ihren Alltag mit den Drogenhändlern. Aber auch über ihre Beziehungsprobleme.“
„Und dann?“
„Nach einem Jahr hatte sie einen neuen Freund. Irgendwann blieben die Briefe aus.“
„Hm, es kann also sein, dass sie nach all der Zeit gar nicht mehr bei der Polizei ist.“
„Ja. Aber selbst wenn sie mittlerweile Kinder hätte: In Spanien ist es üblich, dass Frauen auch dann weiterarbeiten.“
„Wir könnten ja einfach mal bei der Polizeibehörde nachfragen. Vielleicht kommen wir über deine Brieffreundin an zuverlässige Informationen.“
Martin zögerte. „Ich weiß nicht, ob ich das möchte.“
„Ach komm, sei kein Spielverderber! Ich hab gestern beschlossen, dass ich dir vertraue. Wäre doch eine Mega-Chance. Und überhaupt: Interessiert es dich gar nicht, was aus ihr geworden ist? Ich werde gleich mal in Malaga anfragen. Wie heißt sie?“
„Also gut.“ Martin lächelte Irene an. „Ich wäre ein schlechter Chef, wenn ich eine so engagierte Mitarbeiterin in ihrem Eifer bremsen würde … Ihr voller Name ist Ana Maria Garcia Seco. Ana mit einem n.“
Irene deutete einen Kuss an und eilte zu ihrem Computer.
Martin wippte kurz mit seiner Rückenlehne, während er sich in das Strandfoto an der Wand versenkte. Mit einem Achselzucken riss er sich los und widmete sich wieder seinem Computer. Eine E-Mail der Arbeitsagentur ließ ihn auf andere Gedanken kommen.

Manfred Raabe hat sich vor 11 Jahren arbeitssuchend gemeldet. In der Folge nahm er zwei Jahre lang an Umschulungsmaßnahmen teil, belegte jedoch keine Fortbildungen in EDV und so blieb er unvermittelbar. Vor acht Jahren hat er sich abgemeldet.

„So erledigt!“ verkündete Irene stolz, als sie wenig später vor ihm stand.
„Werners Kontakt hat ja schnell reagiert. Schau!“ Martin deutete auf seinen Bildschirm, und so las sie die Nachricht.
„Das passt zeitlich genau mit dem Wohnungskauf zusammen … Übrigens, für meine Anfrage bei der spanischen Polizei musste ich einen Grund angeben. Ich hab geschrieben, dass wir im Rahmen der erneuten Untersuchung eines alten Falls etwas mit Frau Garcia Seco besprechen müssen.“ Irene lächelte verschmitzt. „Es ist ja tatsächlich ein alter Fall, der uns seit gestern wieder beschäftigt.“
„Nur dich. Ich hab mit der Vergangenheit abgeschlossen.“
„So, so“, sagte Irene und deutete auf das vergrößerte Urlaubsfoto.
„Woher weißt du, dass das Malaga ist?“
„Bis gerade eben dachte ich, du warst mit dieser Diplompsychologin aus Nürnberg an einem tropischen Strand.“
„Das Foto ist aus einer Laune heraus entstanden. Isabel und ich sind um 1 Uhr nachts an den Strand und haben frierend auf den Sonnenaufgang gewartet.“
„Du bist ja wirklich unschuldig! Ich hab noch nie in einer Nacht mit dir gefroren.“
„Isabel war danach ziemlich sauer.“
„Geschieht ihr recht!“
„Und nun? Bisher fehlt uns ein Motiv für die beiden Morde.“
In sich gekehrt überlegte Irene: „Weshalb wurde dieser langweilige Namensgeber ermordet? Der war bestimmt nicht aktiv an irgendwelchen kriminellen Machenschaften beteiligt. Und warum genau zur gleichen Zeit?“
„Ich kann auch nur Vermutungen anstellen. Jedenfalls ist uns dadurch klar geworden, dass Raabe seine Identität verkauft hat.“
„Und wenn du die Mail einfach gelöscht hättest?“
„Früher oder später wäre die Polizei in Spanien sowieso wieder an uns herangetreten, und sei es nur um nachzuforschen, ob der Tote Angehörige hatte.“
„Ist also nur eine Frage der Zeit, bis wir darauf gestoßen werden, dass beide am selben Tag ermordet worden sind.“

Kaum hatte Werner die Tür geöffnet, stürzte Freddie auch schon herein. Aufgebracht rief er quer durch den Raum in Richtung von Martins Büro: „Das ist ja ein dicker Hund!“ Diesmal vergaß er sogar anzuklopfen. „Wir waren bei drei Firmen, für die Richard Bernhardt Spezialaufträge erledigte. Man kann es nicht anders sagen, er war … ein richtiger Kotzbrocken. Für Geld hat der sich nicht nur hingestellt und Arbeitsplatzabbau als die einzig mögliche Lösung für eine Firmenrettung verkauft. Er hat diese sogenannten Restrukturierungsmaßnahmen auch gleich noch selbst durchgezogen. Wie hieß es so schön: 'mit unkonventionellen Methoden'. Mit anderen Worten: Bernhardt hat die Leute mit Psychoterror raus gemobbt. Wir bekommen eine Liste der Betroffenen. Die zwei Firmen wollten dies alles erst bagatellisieren, aber bei Mord lasse ich mich nicht verarschen. Die mussten alle Karten auf den Tisch legen.“
Auch Werner kochte vor Wut. „Unser dritter Besuch hat ebenfalls einiges ergeben: Dieser windige Kommunikationsfachmann hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit ein Autokonzern in einem Naturschutzgebiet eine Teststrecke bauen kann. In den sogenannten sozialen Netzwerken hat er nach kritischen Kommentaren gesucht, um 'Gegenargumente zu platzieren', also die Fakten zu verdrehen und die Gegner anzugreifen. Dazu hat er sich verschiedener wohlklingender Namen mit Doktortitel bedient. Doch die Umweltschützer haben den Schwindel aufgedeckt und veröffentlicht, wer tatsächlich hinter diesen angeblich so renommierten Experten steckt. Du kannst dir vorstellen, was da im Netz los war! Das ging sogar so weit, damit zu drohen, Bernhardt bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit abzustechen. Und das alles vor gerade mal zwei Wochen! Na ja, irgendjemand von denen hat das dann in die Tat umgesetzt. Wir sind noch mal bei der Sekretärin vorbeigefahren und haben sie dazu befragt. Sie meinte, eine Handvoll Leute schrieben ihrem Chef regelmäßig Drohbriefe. Diese Spinner nahm er nicht ernst. Aber dass er im Internet mit Mord bedroht wurde, war ihr neu. Sie wusste auch nicht, dass er im Netz mit falschen Namen arbeitet, fand jedoch nichts Verwerfliches dabei. Es sei doch üblich, dass man sich hinter Phantasienamen verstecke.“
„Trotzdem müssen wir den Mörder suchen“, sagte Freddie, nun wieder einigermaßen gefasst. „Es gibt ja nun eine ganze Reihe von Verdächtigen, dafür hat Bernhardt schon gesorgt. Die Tatwaffe wurde nicht gefunden. Es handelt sich um ein Messer mit 15 Zentimeter Klingenlänge. Wird längst im Müll gelandet sein. Der Todeszeitpunkt war laut dem Bericht von Hubert zwischen 17 und 19 Uhr. Genauer kann er ihn nicht bestimmen, die Leiche war eiskalt und sein Magen ziemlich leer. Nicht der von Hubert, du verstehst mich schon. Wir ziehen gleich noch mal los, um die Nachbarn zu befragen. Vielleicht hat jemand von ihnen in letzter Zeit etwas Auffälliges bemerkt.“
„Gute Idee, macht das!“, sagte Martin, worauf Freddie und Werner wieder nach draußen eilten.
„Die beiden sind zurecht sauer auf diesen Typen“, meinte Martin. „Mobbing und eine Teststrecke in einem Naturschutzgebiet … Solche Leute wie Bernhardt möchte man am liebsten … stoppen.“
Irene nickte und sprach wie zu sich selbst: „Ist schon ein ziemlicher Rückschlag. Dann stehen wir bei beiden Fällen mit leeren Händen da.“ Sie lächelte: „Seine Frau wäre für mich die ideale Täterin, bei einer rothaarigen Konkurrentin hab ich eben rot gesehen. Aber jetzt gibt es ja eine Menge Verdächtiger aus dem beruflichen Kontext. Würde mich interessieren, was da in den sogenannten sozialen Medien so gelaufen ist.“
Irene gab im Browser Teststrecke Naturschutzgebiet ein und klickte die ersten Suchergebnisse an. „Nichts!“
Sie startete eine ganze Reihe weiterer Versuche. Vergeblich. Vor jeder neuen Abfrage strich sie mit dem Zeigefinger über ihr Kinn und tippte zusätzliche Stichwörter ein.
„Bingo!“, triumphierte sie, als sie schließlich in einem Forum landete.
„Hier ist was! Eine Art Chat, bei dem sozusagen einiges durch die Blume gesagt wird. Die haben tatsächlich alle Pflanzennamen. Schau mal!“

Peter.Silie: Bernhardt ist also der Drecksack, der uns das eingebrockt hat. Dem würde ich am liebsten mit seinem Anteil das Maul stopfen.
Rosa.Weißdorn: Für Geld geht der über Leichen, warum nicht über seine eigene?
RittervonSporn: Unsere Experten diffamieren und dies mit lauter Fake News! Die Welt braucht kein solches asoziales Arschloch!
Waldmeister: Wenn den jemand absticht, wäre das ein Freudentag.
Lichtwurzel: Der kassiert groß ab, dann kann er auch mal einen Aderlass abgeben.
Peter.Silie: Ach was, an dem machen wir uns nicht die Finger schmutzig. Der ist das nicht wert.
Rosa.Weißdorn: Wir werden ihn bloßstellen, den Mistkerl wird niemand mehr engagieren.
RittervonSporn: Genau, wir machen ihn lächerlich, das wird seinen Geschäftspartnern gar nicht gefallen. Damit ist er aus dem Business raus. Vorher stellen wir ihn zur Rede und sagen ihm ins Gesicht, was er für ein gewissenloses Arschloch ist.
Waldmeister: Ja, er soll wissen, wer ihn entlarvt hat. Wir setzen uns für den Erhalt der Natur ein. Aber nicht jedes Mittel heiligt den Zweck. Trotzdem rücken wir ihm auf die Pelle, mal schauen, wie er reagiert.
Lichtwurzel: Wir hauen ihm auf die Finger und dann bringen wir alles an die Öffentlichkeit.

Martin fragte irritiert: „Waren das wirklich noch dieselben? Die haben sich ja schnell wieder beruhigt. Oder ist ihnen plötzlich bewusst geworden, dass ihre Kommentare für alle zugänglich sind? Na immerhin wollten sie Bernhardt einen Besuch abstatten. Gibt es eine konkrete Morddrohung?“
Irene scrollte zurück.
„Hier! Da steht's!“
Kugelfisch: Bernhardt, dieses asoziale Arschloch, gehört abgestochen!
Und Tentakel 66 stimmt nach zwei Minuten zu: Das wäre für mich kein Grund zum Trauern. Die Messer sind gewetzt.
Gemeinsam verfolgten sie gebannt die Posts.
Schließlich lehnten sie sich zurück, und Irene fasste zusammen: „Tentakel 66 hat zuerst geschrieben, dass dieselben Pseudo-Experten schon zuvor bei einem anderen Bauprojekt uns Umweltschützer lächerlich gemacht haben. Von ihm stammt außerdem die Info, dass die Werbekampagne damals von Richard Bernhardt geleitet wurde. Und darauf hat der Kugelfisch in die hitzige Diskussion eingebracht, dass Richard Bernhardt auch diesmal für die Werbekampagne verantwortlich ist. Wie finden wir heraus, wer hinter Kugelfisch und Tentakel 66 steckt?“
Martin überlegte. „Ich hab's! Die Computer-Forensik. Ich rufe Herrn Loher an.“
„Meinst du wirklich, der ist imstande, uns weiterzuhelfen? Der würde doch jetzt noch vor Handtkes verschlüsselter Festplatte sitzen, wenn du ihm nicht auf die Sprünge geholfen hättest.“
„Er kann ja im Web seine Netze auswerfen, und mit ein bisschen Glück zappeln darin bald ein Kugelfisch und 66 Tentakel.“

Herr Loher meldete sich beim zweiten Klingelton: „Sieh an, die Nummer von Herrn Behringer! Worum geht es bei diesem Fall?“
„Sie wissen also bereits, dass der Mord an Handtke aufgeklärt ist?“
„Und ob! Sie haben unsere Abteilung gelobt und dafür durfte ich gestern hübsch verpackt beim Chef antanzen.“ Er machte eine Pause und sagte erst dann: „Danke. Mein Chef war zu Tränen gerührt, und das lag nicht daran, dass ich im Anzug eine lächerliche Figur abgebe.“
Martin lachte und kam nun rasch zur Sache: „Kann man überprüfen, wer Beiträge in ein Forum postet?“
„Puh! Gar nicht so leicht, das herauszufinden.“
„Irene … ich meine Frau Meier hat Ihnen soeben die entsprechende URL und die Posts gesendet, die uns interessieren.“
„Ah! Die edle Dame! Ich werfe gleich mal einen Blick drauf.“ Irene dachte amüsiert an den Besuch in der Computer-Forensik, der gerade mal zwei Wochen zurücklag.
Loher pfiff durch die Zähne. „Das ist ja hochinteressant! Beide Posts wurden in UTC+2 abgeschickt. Das bedeutet eine Stunde Zeitunterschied zu uns. Könnte in Griechenland … Rumänien … oder im Baltikum gewesen sein.“
„Beide Posts?“
„Ja! Beide.“
„Das ist doch schon etwas! Demnach handelt es sich also bei Kugelfisch und Tentakel 66 um ein und dieselbe Person. Das bringt uns auf alle Fälle weiter.“
„Hm … Die entsprechende IP-Adresse wird sicherlich eine Zeitlang gespeichert. Aber es ist ein ziemlich fragwürdig, ob wir den Namen des Schreiberlings herausfinden. Ich tippe ohnehin auf ein Internet-Café.“
„Ist also aussichtslos. Die Posts wurden in einem Forum für Umweltschutz veröffentlicht, das sich gegen Bauprojekte hier im Umfeld richtet.“
„Dann wohl doch eher in Griechenland. Kein normaler Mensch fährt im Januar ins Baltikum. Da ist es saukalt.“
„Tja, ich fürchte, in Griechenland sparen sie sich die Internetüberwachung.“
„Oder die Leute, die die Ergebnisse auswerten.“
„Kommt aufs Gleiche raus. Vielen Dank, Herr Loher.“
„Meine Empfehlung an die heimliche Freundin.“
„Werde ich untertänigst weiterleiten.“
Martin legte auf und hauchte einen Kuss auf Irenes Hand. Er erntete ein bezauberndes Lächeln.
Wieder ganz bei der Sache meinte Irene: „Sieht so aus, als wollte jemand die Stimmung gegen Bernhardt anheizen und dabei sichergehen, dass die Spur nicht zu ihm führt.“
„Kannst du Freddie erklären, wie du diesen Chat im Internet gefunden hast?“
„Ich? … Ich weiß ja selbst nicht, wie eine solche Suche funktioniert. Aber Freddie soll in jedem Fall Bescheid wissen. Vielleicht sind den Nachbarn ja ein paar sonderbare Gewächse aufgefallen oder sie haben etwas Fischiges gerochen.“
„Das werden wir gleich in Erfahrung bringen.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739494807
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (April)
Schlagworte
Mord Deutsche Krimis Bayern-Krimi Ermittlerin Krimi Spannung München-Krimi Liebe Cosy-Krimi Humor Cosy Crime Whodunnit Thriller

Autoren

  • Sophie Lenz (Autor:in)

  • Klaus Sanders (Autor:in)

Sophie Lenz wuchs in Regensburg auf. Nach dem Abendgymnasium stürzte sie sich in ein Studium der Philosophie und Biologie. Etliche Semester später zog sie, geleitet von praktischer Vernunft, nach München und absolvierte dort eine Ausbildung zur Verwaltungsfachwirtin. Klaus Sanders ist in einer bayerischen Kleinstadt aufgewachsen. Für sein Studium der Nachrichtentechnik zog er in das Millionendorf München. Seit 2013 verbringt das Autorenteam die Freizeit schreibend mit Mord und Totschlag.
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Titel: Doppel-Moral