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Enemy, love me

Verbotene Gefühle

von Samira Wood (Autor:in) Alina Jipp (Autor:in)
346 Seiten
Reihe: Enemy, Band 2

Zusammenfassung

Emma ist traumatisiert und nur die Suche nach ihrer Tochter hilft ihr, sich nicht selbst aufzugeben. Enzo ist ein eiskalter Mafiosi, doch er war nicht immer so. Die Dämonen der Vergangenheit haben ihn dazu gemacht. Kann ausgerechnet er ihr helfen, wieder ins Leben zu finden? Und wird er sie wieder gehen lassen? Jeder Teil der Enemy Reihe ist abgeschlossen. Reihenfolge: Enemy, be mine - Verhängnisvolle Gefühle Enemy, love me - Verbotene Gefühle

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Samira Wood

 

Enemy, love me
Verbotene Gefühle

 

Kapitel 1

Emma

»Happy Birthday to you. Happy Birthday to you. Happy Birthday, geliebte Emilia Hope. Happy Birthday to you.« Nachdem ich mein mehr gekrächztes als gesungenes Lied beendet hatte, zündete ich eine Geburtstagskerze an und stellte sie neben das einzige Foto, das ich von meiner Tochter besaß, auf den Tisch. Die Tränen liefen mir dabei ohne Unterlass über die Wangen. Der Schmerz fraß mich regelrecht auf. Das Bild zeigte Emilia im Alter von drei Tagen. Mein Baby fehlte mir so sehr und langsam schwand meine Hoffnung, sie jemals wiedersehen zu dürfen. Raûl war tot und hatte das Geheimnis ihres Aufenthaltsortes mit ins Grab genommen.

An manchen Tagen kam ich kaum noch aus dem Bett. Wozu auch, es gab nichts, wofür das Aufstehen lohnte. Manchmal wünschte ich mir fast, die Gewissheit zu erhalten, dass sie nicht mehr lebte. Dann könnte ich meine sinnlose Existenz auch endlich beenden.

»Emma, Essen ist fertig. Kommst du?« Die Stimme meiner Schwester Keyla riss mich aus diesen trüben Gedanken. Ich bemerkte nicht einmal, dass sie das Zimmer betreten hatte. Ihr Gesicht wurde wehmütig, als sie das Bild und die Kerze ansah. Ahnte sie, woran ich gerade dachte?

»Wir werden sie finden, Emma.« Doch daran zu glauben, fiel mir immer schwerer. Zu oft hatten sie mir das versprochen und zu oft wurde ich hinterher nur enttäuscht.

»Ich habe keinen Hunger.« Den hatte ich schon lange nicht mehr.

»Bitte, Emma. Du musst etwas essen. An dir ist doch schon jetzt nichts mehr dran.« Ihre Fröhlichkeit war inzwischen vollständig aus ihrem Gesicht verschwunden. Stattdessen sah ich dort Sorge und Mitleid. Ich hasste diesen Ausdruck in ihren Zügen. Sie war erst ein paar Monate verheiratet und das mit ihrem Traummann. Nicht wie ich mit einem Monster. Sie sollte glücklich sein, fast noch im Honeymoon, stattdessen kümmerte sie sich ständig um mich und meine Probleme.

»Zum Mittagessen komme ich«, versprach ich ihr halbherzig, nur um sie loszuwerden und weiter in Ruhe trauern zu können.

»Komm wenigstens mit und trink einen Tee. Mario ist auch da, der freut sich immer, dich zu sehen.« Nun lächelte sie wieder leicht. Aber das reichte schon aus, um ihre Augen zum Funkeln zu bringen. »Ich glaube, er hat sich in dich verliebt. Magst du ihn denn auch ein bisschen?« Wahrscheinlich bot ich einen verdammt seltsamen Anblick, als ich sie statt mit einer Antwort nur mit weit geöffnetem Mund anstarrte, denn Keyla grinste nun wieder mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen. Endlich fand ich meine Sprache wieder.

»Wie kommst du darauf?« Mario war nett, aber ich hatte mit ihm nie mehr als ein oder zwei Sätze gewechselt.

»Ich hatte irgendwie gehofft, du könntest seine Gefühle erwidern und damit etwas zurück ins Leben finden. Er ist ein echt guter Kerl – besonders für jemanden, der für die Mafia arbeitet. Außerdem bedeutest du ihm wirklich etwas. Täglich macht er freiwillig mehr, als er muss, um nach Emilia zu suchen.« Davon hatte ich bisher nichts gewusst, aber änderte es irgendetwas? Ich fühlte mich schuldig, aber mehr auch nicht. Und das tat ich sowieso immer. Schließlich war ich schuld daran, dass Raûl mir die Kleine überhaupt weggenommen hatte. Ich hätte nur besser gehorchen müssen und wenn ich seinen Tod verhindert hätte, könnte ich meine Kleine zumindest einmal pro Woche sehen, so wie am Anfang. Aber alles ›hätte‹ und ›könnte‹ half nichts. Meine Fehler würde ich nie wieder ausbügeln können, egal was ich tat. Mir blieb nur zu hoffen, dass man mein Baby, das nun schon ein Kleinkind war, irgendwann fand. Entweder tot oder lebendig. Damit mein Leiden endlich ein Ende finden könnte.

»Also komm wenigstens mit und leiste uns Gesellschaft. Mario würde sich freuen und zum Mittag kommst du sowieso wieder nicht, denn da wird Enzo anwesend sein und dem gehst du ja immer aus dem Weg. Dabei würde er dir nie etwas tun, vor allem nicht hier im Haus.«

»Okay, ich komme mit«, beeilte ich mich, zu antworten. Nicht wegen Mario, aber Enzo ging ich wirklich aus dem Weg. Er war Keylas Schwiegervater und der Boss der italienischen Mafia hier in der Stadt, während Antonio – Keylas Mann – seit der Ermordung unseres Erzeugers den eigentlich mexikanischen Clan leitete. Enzo war ein seltsamer Mann. Jeder wusste, dass er grausam, kalt und ohne Gefühl war. Doch dann hatte er alle überrascht und unsere Mutter zurückgebracht und angeblich sogar nach Emilia gesucht. Ich wusste nicht, was ich von ihm halten sollte. Manchmal warf er mir sehr seltsame Blicke zu, daher ging ich ihm lieber aus dem Weg und jeder hier im Haus akzeptierte das. Wahrscheinlich fühlte ich mich nicht als einzige in seiner Gegenwart unbehaglich.

In der Küche erwarteten uns nicht nur die Männer, die immer hier im Haus waren – Antonio, Mario und Marco, die beiden Hacker, Derek und Ian, Antonios engste Vertraute – sondern auch noch unsere Mamita, die lächelnd am Herd stand. Sie liebte es, alle zu verwöhnen und seit dem Tod unseres Vaters war sie so richtig aufgeblüht. Zum ersten Mal seit Jahren konnte sie nun tun und lassen, was sie wollte. Ich gönnte es ihr, auch wenn ich mich dadurch oft wie eine Außenseiterin fühlte. Immerhin war ich die einzige, die hier im Haus miese Stimmung versprühte wie einen schlechten Duft. Ich hätte besser doch auf meinem Zimmer bleiben sollen.

»Emma, mein Schatz. Das Rührei ist fertig, oder möchtest du lieber etwas anderes? Du bist so dünn geworden, du musst unbedingt mehr essen, mein Schatz.« Nun fing sie auch noch an. Die Männer begrüßten mich alle mit einem freundlichen Nicken, nur Mario sprang sofort auf, rückte mir einen Stuhl zurecht und fragte, was ich trinken wolle.

»O–Saft, bitte.« Schnell goss er mir das Gewünschte ein.

»Kann ich dir sonst noch etwas Gutes tun?«, fragte er eifrig wie so ein Labrador, der um Lob bettelte. Oh Mann. Am liebsten wäre ich schreiend davon gelaufen. Dabei meinten es ja alle nur gut mit mir. Nun stellte Mom mir auch noch einen Teller vor die Nase, auf dem sich eine Portion für drei erwachsene Männer befand. Das würde ich nie essen können. Aber jeder Protest verhallte hier sowieso ungehört. Also hielt ich einfach gleich meinen Mund und führte lieber die erste Gabel dorthin. Doch kaum hatte ich den Mund voll, öffnete sich die Küchentür erneut und sofort jagte es mir einen Riesenschreck ein. Denn niemand Geringeres als Enzo Esposito stand dort und sein Blick bohrte sich regelrecht in meinen. Sollte der nicht erst zum Mittagessen kommen?

 

Enzo

Normalerweise besuchte ich das Haus, in dem mein Sohn sein Hauptquartier hatte, nicht ohne Ankündigung. Auch wenn seine Leute mich alle kannten und ohne Probleme hineinließen. Doch die misstrauischen Blicke blieben, und würden wahrscheinlich auch nie mehr verschwinden. Fast dreißig Jahre lang hatten die Italiener und die Mexikaner sich bekriegt. Es hatte viele Gräueltaten auf beiden Seiten gegeben, da fiel es den meisten immer noch schwer, nun an den Frieden zu glauben. Wie schwer es ihnen erst fiel, meinen Sohn und eine Frau als Anführer zu akzeptieren, wollte ich gar nicht wissen. Frauen hatten unter Juan Rodriguez nie etwas zu sagen gehabt. Im Gegenteil, er hatte seine Ehefrau zur Sexsklavin ausbilden lassen, seine älteste Tochter mit einem perversen Arschloch verheiratet und seine jüngere auch zu einer Hochzeit zwingen wollen. Doch Keyla war geflohen und so nahm die Geschichte ihren Lauf. Heute lebten alle drei Rodriguez-Frauen frei in diesem Haus und Keyla führte zusammen mit Antonio – einem der früher verhassten Feinde – das Kartell. Und es funktionierte überraschend gut. Trotzdem blieb das Misstrauen.

Mir selbst fiel es auch noch immer schwer, den Frieden zu wahren. Und das nicht nur zu den Mexikanern, sondern auch den zu meinem Sohn. Jahrelang hatte ich ihn nicht als das annehmen können, was er war. Hatte ihn teilweise sogar gehasst. Um dann genau in dem Moment, in dem er sich in den Händen meiner Feinde befand, zu erfahren, dass ich einer Lüge aufgesessen war. Über zwei Jahrzehnte hatte ich fest daran geglaubt, dass Antonio ein Bastard war, den meine Frau mir unterschieben wollte. Immerhin hatte ich den Vaterschaftstest schwarz auf weiß vor mir gehabt. Konnte ich doch nicht ahnen, dass das Ganze ein abgekartertes Spiel war. Antonio würde mir mein früheres Verhalten zu recht wohl niemals verzeihen. Wie auch, wenn ich es selbst nicht konnte? Also spielte ich weiter den Herzlosen und versuchte dennoch, gleichzeitig Wiedergutmachung zu leisten, indem ich nach dem Baby suchte. Es war Antonio wichtig, also suchte ich danach und nun gab es endlich eine heiße Spur.

»Ich habe Neuigkeiten«, erklärte ich meinen plötzlichen Besuch und sofort verstummten alle Gespräche im gut besuchten Raum. Ich hielt ja nichts davon, zusammen mit meinen Untergebenen zu speisen, aber mein Sohn sah vieles anders als ich. Also sagte ich nichts dazu. Zumal mir das heute die Arbeit sehr erleichterte.

»Hallo, Vater.« Antonio stand auf und kam auf mich zu, um mich zu begrüßen. Obwohl er mich die meiste Zeit meines Lebens hasste, zollte er mir doch den gebotenen Respekt. »Wir haben erst zum Mittag mit dir gerechnet. Möchtest du dich trotzdem zu uns setzen und mit uns frühstücken, oder wollen wir runter in mein Büro gehen und deine Neuigkeiten in Ruhe besprechen?«

»Ich erzähle es am besten hier, denn die Neuigkeiten werden alle interessieren.« Mein Blick wanderte zu Emma, die inzwischen den Kopf gesenkt hatte und sich fast hinter dem riesigen Essensberg auf ihrem Teller versteckte. Keylas Schwester war lange nicht so taff wie ihre kleine Schwester. Das Arschloch Raûl hatte sie gebrochen, als er ihr das gemeinsame Kind nahm. Ich konnte nur erahnen, was in ihr vorging. Hatte ich doch selbst einen ähnlichen Verlust erlitten, als meine Frau Fiona bei der Geburt unseres Sohnes gestorben war. Es veränderte einen, wenn man einen geliebten Menschen verlor. Wahrscheinlich ließ mich diese Frau – dieses Mädchen musste ich ja fast noch sagen – deshalb nicht los. Noch nie hatte ich Monate Arbeit, viel Geld und unzählige Verhöre dafür verschwendet, ein Baby zu finden. Doch jetzt hatte ich es getan und vor zwanzig Minuten endlich einen entscheidenden Schritt nach vorn geschafft.

»Es gibt eine neue Spur von Emmas Tochter«, ließ ich mit wenigen Worten die Bombe platzen. Sofort riss Emma den Kopf hoch, während alle anderen mich nur neugierig anstarrten.

»Lebt … lebt sie noch?« Es schien Emma unheimlich schwerzufallen, mir diese Frage persönlich zu stellen. Doch sie schaffte es schließlich, ihren Satz zu beenden.

»Ja, wenn es keinen schrecklichen Unfall gab, lebt sie noch. Ich habe endlich herausgefunden, wo die Kleine hingebracht wurde, nachdem man sie von deiner Mutter getrennt hat.«

»Sag schon, wo ist sie? Ich möchte meine Nichte endlich kennenlernen«, mischte sich nun Keyla ein, die ihr Temperament nicht zügeln konnte. »Sie hat doch heute Geburtstag.«

»Genau weiß ich es noch nicht, aber bis vor vier Wochen befand sie sich in einer Pflegefamilie an der Grenze zu Mexiko. Nur muss irgendjemand bemerkt haben, wie nah ich der Kleinen inzwischen gekommen bin, denn als ich endlich die genaue Adresse hatte, war die Kleine nicht mehr dort. Aber ich kann zu hundert Prozent sagen, dass sie vor kurzem noch dort war. Wir haben DNA von ihr an mehreren Schnullern und Fläschchen gefunden.« Niemals wäre ich mit dieser Nachricht hierher gekommen, wenn ich nicht die Bestätigung erhalten hätte, dass es sich bei der angeblichen Maria Paltina wirklich um die gesuchte Emilia Hope Rodriguez handelte. Schnell zog ich zwei Fotos aus der Tasche, die ich von der verängstigten Pflegemutter bekommen hatte. Sie hatte eigentlich alle Beweise vernichten sollen, dass die Kleine jemals bei ihr war. Doch das Baby war ihr so ans Herz gewachsen, dass sie es nicht fertiggebracht hatte. Mein Glück in diesem Fall. Das eine Bild war angeblich erst zwei Tage, bevor die Kleine abgeholt wurde, entstanden.

»Hier, Emma. So sieht deine Tochter jetzt aus.« Ich ging mit wenigen Schritten zu der jungen Frau und drückte ihr die Fotos in die zitternde Hand. Natürlich hatte ich die Bilder auch an alle meine Männer weitergeleitet. Irgendwo mussten wir das Baby doch finden können.

Emma

Meine Hände zitterten so stark, dass mir die Bilder fast aus den Händen fielen. Emilia lebte. Mein Baby war zu einem süßen Kleinkind geworden. Auf dem einen Foto schlief sie halb im Sitzen auf einem Sofa und auf dem anderen grinste sie in die Kamera. Ich sog jede Kleinigkeit in mich auf. Ihre schwarzen Löckchen, die beiden Schneidezähne, die man auf der zweiten Aufnahme so gut erkennen konnte. Sie sah glücklich und gesund aus. Irgendwo gab es ein Babybild von Keyla, auf dem sie fast genauso aussah. Es brach mir das Herz, dass sie so nah gewesen war und nun doch nicht zu mir zurückgebracht wurde.

»Wo könnte sie jetzt sein?«, fragte ich und meine Stimme zitterte dabei kaum weniger als meine Hände. Warum hatten sie Emilia weggebracht? Und wohin? Vielleicht hatten sie meiner Kleinen auch etwas angetan. Allein der Gedanke reichte aus, um die Tränen laufen zu lassen.

»Noch weiß ich das nicht, aber ich werde es herausfinden und wenn ich jeden Stein auf diesem Planeten dafür umdrehen muss.« Enzos Stimme klang so entschlossen, dass er mir automatisch wieder Mut gab. Auch wenn ich nicht verstehen konnte, warum ausgerechnet er sich so sehr in die Geschichte hineinziehen ließ. Es passte so gar nicht zu diesem harten und oft angsteinflößenden Kerl. Ohne darüber groß nachzudenken sprang ich von meinem Stuhl auf und stand plötzlich direkt vor ihm. Was sollte ich jetzt tun? Ihn umarmen? Irgendwie wollte ich das, aber gleichzeitig traute ich mich nicht.

»Danke«, sagte ich also nur leise und legte meine Hand auf seinen Oberarm, um ihn dort kurz zu drücken. Albern irgendwie, aber trotzdem trat ich gleich wieder zurück.

»Darf ich die Bilder behalten?« Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln.

»Natürlich, ich habe die Bilder bereits digitalisiert und sende sie allen zu. Dir natürlich auch noch. Aber ich dachte, du hättest gern diese Originale aus dem Haus der Pflegemutter. Sie hat auch eine digitale Kopie von mir bekommen. Zuerst wollte ich sie töten, aber dann habe ich herausgefunden, dass sie nicht wusste, woher Emilia kam.«

Unser Vater und seine Leute hätten sie getötet, ohne Rücksicht darauf, ob sie etwas gewusst hatte oder nicht. Ich rechnete es Enzo hoch an, dass er sie leben ließ. Schließlich schien sie gut für Emilia gesorgt zu haben. Meine kleine Emilia Hope. Vielleicht sollte ich ihren Zweitnamen als Omen sehen und die Hoffnung niemals aufgeben.

Vielleicht war Enzo doch ein besserer Mann als unser Vater. Keyla zum Beispiel sprach immer wieder über die Amish Familie, die ihretwegen sterben musste. Dabei hatten die Leute nicht einmal gewusst, wer sie war, und wollten nur helfen. Sie litt deswegen unter großen Schuldgefühlen.

Über alles sprechen, es sich von der Seele reden, das sollte helfen. Auch Mom versuchte so, mit ihrem Schicksal fertig zu werden. Wenn auch nicht uns gegenüber, sondern bei einem teuren Psychologen, der ihr wirklich zu helfen schien. Nur ich schaffte es nicht, über meine Erlebnisse als Raûls Ehefrau zu sprechen. Es war einfach zu grausam, daher drängte ich sie in die hinterste Ecke meines Gehirns und verschloss sie dort, so gut es ging. Die meiste Zeit erfüllten mich sowieso nur die Gedanken an Emilia, aber gerade jetzt, als ich noch immer vor Enzo stand, kamen unliebsame Gedanken zurück. Er sah mich so durchdringend an, als könne er meine Gedanken lesen und genau auf diese Kiste in meinem Kopf zusteuern, um sie zu öffnen. Doch das durfte ich nicht zulassen. Deshalb drehte ich mich auf dem Absatz um und floh aus der Küche, auch wenn er mich jetzt wahrscheinlich für völlig verrückt hielt. Irgendjemand folgte mir, denn ich konnte Schritte hören. Aber ich drehte mich nicht um, sondern lief auf direktem Weg in mein Zimmer, wo ich die Tür hinter mir zweimal abschloss. Erst als ich mich aufs Bett fallen ließ und die Bilder in meiner Hand sah, hörte mein Herz auf, wie wild in meiner Brust zu galoppieren, und schlug langsam wieder in einem normalen Rhythmus. Emilia lebte und auch wenn sie ihren ersten Geburtstag nicht mit uns feiern konnte, so klammerte ich mich doch an den Gedanken, dass es ihr bisher anscheinend ziemlich gut ergangen war. Vielleicht gab es ja doch noch eine Hoffnung, dass ich meine Prinzessin irgendwann wieder in den Armen halten durfte.

Kapitel 2

Enzo

Die Tage vergingen und ich wurde immer frustrierter. Es war, als ahnten die Entführer der kleinen Rodriguez – der Schwächling Raûl hatte tatsächlich zugestimmt, dass seine Frau ihren Namen behielt und auch die Kleine so hieß – was wir taten und wo wir als Nächstes suchen würden. Langsam wuchs in mir die Gewissheit, dass wir einen Maulwurf unter uns haben mussten. Allerdings wusste ich bisher nicht, wer es sein könnte und ob er zu meinen oder Antonios Leuten gehörte. Was das Ganze nicht gerade leichter machte. Wie sollten wir den Informanten ausmachen, wenn wir nicht einmal wussten, in welchen Reihen er zu finden war?

Natürlich drängte sich mir sofort der Gedanke auf, dass der Spion nur bei Antonio sitzen konnte. Er hatte den Clan nicht gerade friedlich übernommen. Warum sollten seine Leute also loyal sein? Bestimmt nicht, weil er seiner Frau so viel Macht zugestand und auch, dass er den Handel mit unfreiwilligen Sexsklavinnen verboten hatte, brachte ihm nicht nur Freunde ein. Allerdings war er ja auch nicht so blöd, alle Informationen mit Hinz und Kunz zu teilen. Die bekam nur sein innerer Kreis und diese Leute standen voll und ganz hinter ihm. Seine komischen Nerds zum Beispiel gehörten dazu, doch für die würde selbst ich meine Hand ins Feuer legen. Unter Rodriguez und seinen Konsorten waren sie wie Dreck behandelt und erpresst worden, während Antonio sie ganz anders behandelte. Welchen Grund sollten sie also haben, gegen ihn zu arbeiten? Seine Bodyguards hatte er aus meinen Reihen rekrutiert und die Kerle waren schon vorher Freunde von ihm gewesen, als er noch der ungeliebte Sohn ihres Bosses war. Sie hatten also ebenfalls keinen Grund, gegen ihn zu arbeiten. Aber bei mir sah es ja auch nicht anders aus im engeren Kreis. Ohne Vertrauen konnte man so einen Clan einfach nicht leiten.

Es klopfte kurz an der Tür und Swetlana kam herein. Sie war meine momentane Gespielin, denn seit dem Tod meiner Frau hatte ich niemals mehr als das gehabt. Nie wieder wollte ich jemanden so sehr an mich heranlassen, dass mein Herz gebrochen werden konnte. Und schon gar keine Frau.

»Es ist schon fast Mitternacht.« Ihre Stimme klang fast wie das Schnurren einer Katze und sollte wahrscheinlich verführerisch klingen. »Komm doch zu mir ins Bett. Es ist da so einsam ohne dich.« Sie drehte sich etwas, so dass sich das hauchdünne Negligé, das sie trug, etwas aufbauschte und noch durchscheinender wurde, als es sowieso schon war. Doch heute schaffte sie es nicht, mich dadurch zu reizen. Normalerweise hätte ich ihr Verhalten zum Anlass genommen, sie zu bestrafen. Immerhin war sie so durchs Haus gelaufen und wer wusste schon, wer sie alles so sehen konnte. Doch heute verspürte ich keinerlei Lust, sie dafür zu züchtigen. Im Gegenteil, es war mir sogar irgendwie egal.

»Ich muss noch arbeiten. Geh schon mal in dein Zimmer und leg dich schlafen. Ich benötige dich heute nicht mehr«, wies ich sie daher an. Den beleidigten Blick, den sie mir dafür zuwarf, ignorierte ich ebenso wie das Türenknallen, das gleich darauf folgte. Wenn sie dachte, mich so herumzubekommen, dann hatte sie sich getäuscht. Mir machte es eher bewusst, dass es Zeit wurde, sie wegzuschicken und mir ein neues Spielzeug zu suchen. Bis ich die Richtige dafür fand, konnte ich ja auf einen meiner BDSM-Clubs ausweichen. Dort gab es immer willige Subs, die sich nur zu gern dem Boss unterwarfen. Einige kamen sogar nur in der Hoffnung, dort auf mich zu treffen und vielleicht auch von mir ausgewählt zu werden, meine nächste Dauergespielin zu werden. Und das, obwohl diese nach der Liaison mit mir, nie wieder zurück in ihr altes Leben konnten. Niemanden, der einmal in meinem Hauptquartier war, konnte ich so einfach wieder gehen lassen. Früher hatte ich die Frauen beseitigt oder als Sexsklavinnen verkauft, doch inzwischen tat ich das Antonio zuliebe nicht mehr. Die Letzte hatte ich also im gegenseitigen Einvernehmen mit einem meiner Leute verheiratet. Außerdem hatte ich für Swetlana sowieso andere Pläne. Ich wollte sie zur Agentin für meine Organisation ausbilden lassen. So wäre sie immerhin noch zu etwas nützlich und durfte weiter in der Gegend leben.

Emma

Wie so oft in den letzten Tagen saß ich in meinem Zimmer und sah mir stundenlang das Bild meiner kleinen Tochter an. Wo konnte sie nur sein? Und wer war für ihr Verschwinden verantwortlich? Irgendjemand von Dads oder Raûls Leuten musste dahinter stecken, nur wer? Die meisten hatten sich Antonio inzwischen angeschlossen und der Rest war in alle Winde zerstreut.

Mario war einer von denen, die sich immer hier im Haus befanden, so wie früher in Raûls. Aber trotz dieser gemeinsamen Vergangenheit und der Tatsache, dass er meiner Folter zugesehen hatte, mochte ich den Nerd irgendwie, wenn auch nicht so, wie er mich offenbar. Eigentlich war selbst das krank, oder? Diese Frage stellte ich mir immer wieder, kam aber zu keiner befriedigenden Antwort. Zumal Keyla mich ständig ermunterte, Zeit mit ihm zu verbringen. Doch wollte ich das? Von Männern hatte ich eigentlich die Nase gestrichen voll und meine Tochter war das Einzige, was mich noch interessierte.

Es klopfte an meiner Tür und ohne eine Antwort abzuwarten, kam meine Schwester herein.

»Hey, Große. Wir wollen heute einen Filmabend machen. Nur Mamita, Rosa, du und ich. Antonio muss noch mit einigen Männern weg und ich dachte, wir nutzen die Zeit für einen Frauenabend.« Frauenabend? So etwas hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht gemacht. Von klein auf war mein Vater sehr streng zu mir gewesen und Freundinnen durfte ich außerhalb der Schule eigentlich nie treffen. Nach der kurzen heimlichen Affäre, die ich mit Jaxon, einem der Stallburschen, gehabt hatte, war ich bei ihm sowieso unten durch und er übergab mich seiner rechten Hand als Frau. Immerhin bezahlte ich, im Gegensatz zu Jaxon, nicht mit meinem Leben dafür. Trotzdem bestrafte er mich, denn mein Vater wusste sicher, was Raûl für ein Typ war und ahnte zumindest, was dieser mir in der folgenden Zeit alles antat.

»Komm schon, Mamita freut sich so darauf.« Dieser Seitenhieb traf mich, denn Mamita hatte versucht, mich zu beschützen und dafür ebenfalls sehr leiden müssen. Wie sollte ich ihr also diesen Wunsch abschlagen?

»Okay, gib mir zwanzig Minuten, um mich frisch zu machen, dann komme ich runter«, versprach ich also wenig begeistert.

»Quatsch, wir machen einen Gammelabend. Jogginghose und Shirt reichen völlig, also Haare kämmen ist erlaubt, und dann kommst du. Ich gebe dir fünf Minuten, sonst drückst du dich doch nur wieder und schläfst ein.« Früher hätte ich ihr für so einen frechen Spruch irgendwas an den Kopf geworfen. Doch diese Zeiten waren vorbei. Mir fehlte einfach die Energie, um mich zu streiten. Auch wenn ich seit Emilias Geburtstag etwas Mut gefasst hatte, so blieb da doch immer noch diese Leere in mir und der Knoten in meinem Magen, der mich am essen hinderte. Wahrscheinlich würde ein Arzt mir Tabletten aufschreiben oder mich in die Psychiatrie einweisen oder so, denn ich zeigte alle Anzeichen einer Depression.

»Ich komme ja schon«, gab ich also nur von mir und stand dann brav auf. Obwohl ich mich langsam bewegte, verspürte ich ein Schwindelgefühl. So unauffällig wie möglich hielt ich mich an der Bettkante fest. Doch Keyla war zu aufmerksam und bemerkte natürlich sofort, dass etwas mit mir nicht stimmte.

»Was ist los? Ist dir schwindelig? Brauchst du einen Arzt?« Musste sie denn immer alles mitbekommen? »Hast du wieder nicht gegessen, Emma? Du hast mir versprochen, mehr auf dich zu achten. Was soll denn mit Emilia passieren, wenn wir sie endlich finden und dir etwas zustößt. Sie braucht ihre Mom doch noch.«

»Sie kennt ihre Mutter überhaupt nicht. Was passiert, wenn sie gefunden wird und dann ihre Pflegemutter vermisst und mich hasst?«, brach es aus mir heraus. Dabei wollte ich diese Gedanken doch eigentlich mit niemanden teilen. Aber sie fraßen mich auf. Erst habe ich sie einfach nur vermisst und befürchtet, ihr wäre etwas zugestoßen. Doch seit Enzo mir die Fotos gebracht hatte, fürchtete ich einerseits, sie trotzdem nie wiedersehen zu dürfen oder falls doch, dass sie sich schreiend abwenden würde, weil ich eine Fremde für sie war. Diese Gedanken ließen mich kaum schlafen und erst recht nicht essen, auch wenn ich selbst bemerkte, wie ich meinen Körper damit zu Grunde richtete.

»Sie wird lernen, dich zu lieben. Denn du wirst ihr die beste Mutter sein, die sie je haben könnte. Aber dafür musst du auf dich aufpassen.« Keyla hatte gut reden. Es war gar nicht so einfach, nicht den Mut zu verlieren.

»Okay, ich versuche es«, versprach ich ihr halbherzig. Ich wollte ja leben, aber jeder Bissen fiel mir schwer. »Könntest du mir ein Glas Coke holen? Der Zucker bringt mich bestimmt wieder auf die Beine.« Keyla lief sofort los, um mir das Gewünschte zu holen, und wirklich ging es mir gleich besser, nachdem ich das Glas geleert hatte.

»Bereit?«, fragte meine Schwester und grinste mich an.

›Nicht wirklich‹, hätte ich am liebsten geantwortet, nickte aber brav. Vielleicht sollte ich es einfach versuchen und dem Abend eine Chance geben, gut zu werden.

Er wurde wider Erwarten auch noch ganz schön und nur im Beisein der Frauen brachte ich sogar etwas zu Essen hinunter, wenn auch nicht viel. Mein Magen war inzwischen wahrscheinlich geschrumpft. Wir tranken Wein, sahen einen albernen Film und ich lachte sogar einige Male. Vielleicht waren es ja auch bloß die Männer hier im Haus, die mir sonst den Appetit und die Laune verdarben. Auch wenn es nicht die Männer waren, die sich unter der Führung unseres Vaters hier versammelt hatten, so waren es doch immer noch Mafiosi. Männer, die Gesetze brachen, Menschen quälten und ermordeten. Manchmal konnte ich das verdrängen, doch oft auch nicht.

Zum ersten Mal seit Tagen ging ich sehr viel später entspannt ins Bett und hoffte, endlich einmal wieder durchschlafen zu können. Doch schon während ich noch am Eindösen war, spielten die Gedanken in meinem Kopf schon wieder verrückt.

Ich sah mein Baby in völliger Dunkelheit liegen und niemand reagierte auf das verzweifelte Weinen der Kleinen. Ich wollte zu ihr eilen, doch ich konnte nicht, denn ich war in einem Raum eingesperrt, aus dem ich der Kleinen zwar per Monitor zuschauen konnte, aber aus dem ich nicht eingreifen konnte. Ich schrie. Tobte. Warf sogar Sachen durch die Gegend, doch es half alles nichts. Selbst als ich auf dem Monitor sah, wie Raûl sich ihr näherte und sie schlug, konnte ich nichts weiter tun, als hilflos zuzusehen. Ich sah zu, wie er so lange mit einem Gürtel auf sie einschlug, bis ihr Schreien aufhörte und sie sich nicht mehr bewegte. Dann drehte er sich zur Kamera um und grinste mich durch den Monitor an.

»Sie wird sterben, weil du mich nicht gerettet hast. Du bist schuld an ihrem Leid. Nur du!« Mit einem lauten Schrei und am ganzen Körper zitternd wachte ich auf. Die Bilder des Traums noch immer überdeutlich vor Augen. Ja, ich war schuld. Wie konnte ich es da nur wagen, mir einen schönen Abend zu machen? So etwas hatte ich doch wirklich nicht verdient. Alles Leid, das meiner Kleinen widerfuhr, hatte ich zu verantworten. Ich ganz allein.

Kapitel 3

Enzo

Gerade als ich das Gebäude betrat, in dem mein neuer Club entstand, klingelte mein Telefon. Eigentlich wollte ich jetzt absolut nicht gestört werden, um jedes Detail eigenhändig genau zu überprüfen, doch dann sah ich, wer der Anrufer war. Antonio. Mein Sohn würde sich niemals grundlos bei mir melden. Dazu saß das Misstrauen immer noch viel zu tief. Daher nahm ich das Gespräch an.

»Was gibts?« Ich hielt mich nie mit langen Begrüßungsfloskeln auf. Zeit war Geld und seit ich auf einige Geschäftszweige verzichtete, musste ich neue erschließen. Okay, musste wohl nicht, schließlich besaß ich schon jetzt mehr Geld, als ich jemals ausgeben könnte, doch der Aufbau befriedigte mich. Die Aufregung, die Spannung, das alles fühlte ich nur bei neuen Projekten oder Frauen und einige neue legale Standbeine konnten wirklich nicht schaden.

»Ich brauche deine Hilfe, Dad.« Mir blieb für einen Moment die Luft weg. Dass er mich Dad nannte, kam so gut wie nie vor. Fast so selten, wie er mich um Hilfe bat, aber beides in einem Satz? Da musste wirklich Not am Mann sein.

»Wo brennt es?«

»Es geht um Emma. Sie braucht Hilfe.« Worauf zum Teufel wollte er hinaus? Ich tat doch schon alles, um ihr Kind zu finden.

»Inwiefern?«

»Du hattest mal eine Sklavin, die gebrochen war, nachdem du sie freigeben wolltest. Sie kam nicht damit zurecht und wollte sich aufgeben. Doch du hast es geschafft, dass sie wieder in ein einigermaßen normales Leben gefunden hat und heute als Geschäftsführerin für dich arbeitet.« Wie kam er jetzt darauf? Natürlich wusste ich, von wem er sprach. Tara, doch die konnte man nicht mit Emma vergleichen. Tara hatte sich aufgegeben, Drogen genommen, war zur Schmerzsklavin ausgebildet worden und hatte ihre Persönlichkeit völlig verloren. Am Ende wollte sie nur noch sterben, doch das ließ ich nicht zu, denn sie war früher eine Freundin von Fiona gewesen und sie aufzugeben hätte fast dasselbe bedeutet, wie meine Frau endgültig aufzugeben. Ich hatte dafür gesorgt, dass sie kämpfte und eine Aufgabe fand, die ihr Leben bereicherte. Warum ich das tat, konnte ich später selbst nicht sagen. Wirklich für Fiona? Viele andere in ihrer Lage ließ ich, ohne mit der Wimper zu zucken, sterben, doch bei ihr konnte ich es einfach nicht.

»Worauf willst du hinaus?« Irgendwie ahnte ich es schon. Aber das konnte doch nicht Antonios Ernst sein.

»Du sollst Emma helfen, bevor sie uns hier noch verhungert. Keyla glaubt zwar, ihr Zustand hat nur mit der Kleinen zu tun, aber das glaube ich nicht, das geht tiefer. Raûl hat etwas in ihr zerbrochen.« So, wie ich Raûl kennengelernt hatte, konnte das möglich sein.

»Und da glaubst du, dass ausgerechnet ich es reparieren kann? Das kann ich mir kaum vorstellen. Sie ist eine Rodriguez und ist mit dem Hass gegen mich aufgewachsen.« Wie kam er nur auf diese völlig hirnrissige Idee. Ich war nun wirklich der Letzte, dem man eine verletzte Person anvertrauen sollte. Machte ich doch immer alles kaputt und diejenigen, die mir näher kamen.

»Ja, das glaube ich. Denn du könntest sie aus diesem Haus holen, das voller schlechter Erinnerungen steckt. Hier hat ihr Vater ihre erste Liebe – einen Stallburschen – vor ihren Augen getötet. Und hier hat er sie gegen ihren Willen mit Raûl verheiratet. Meinst du wirklich, hier könnte sie gesund werden?« Obwohl ich weiterhin nach Gründen suchte, die dagegen sprachen, hörte ich mich plötzlich sagen: »Okay, ich versuche es, aber nur, wenn sie es selbst will. Ich werde sie nicht gegen ihren Willen zu mir holen.« Was ritt mich nur dabei?

Emma

Wie schon in den letzten Tagen lag ich auch jetzt in meinem Bett und rührte mich nicht. In meinen Händen hielt ich die beiden Fotos, die ich von Enzo bekommen hatte. Doch selbst der Gedanke an Emilia half mir nicht. Sie würde mich sowieso nicht mehr erkennen. Vermutlich weinen, wenn sie mich sehen würde. Ich hatte sie verloren. Endgültig, ihr Lächeln galt einer anderen Frau.

Mein Mund fühlte sich schon ganz trocken an, aber ich ignorierte es genauso wie meinen schmerzenden Magen. Essen oder Trinken war das Letzte, wonach mir im Moment der Sinn stand. Eigentlich wollte ich mich am liebsten in Luft auflösen, aber das ging natürlich nicht. Der Traum, der mich seit Tagen jedes Mal heimsuchte, wenn ich meine Augen schloss, beraubte mich allen Mutes. Jeder Hoffnung. Mamita und Keyla verzweifelten schon langsam mit mir, aber ich konnte einfach nichts dagegen machen. In mir war etwas gestorben und vielleicht konnte ich bald wirklich für immer die Augen schließen. Kein Schmerz mehr, keine Schuld und keine Erinnerungen. Warum hatte ich überhaupt so lange gekämpft? Es ergab doch sowieso keinen Sinn. Mein Baby war weg. Für immer verloren und ich war schuld.

Die Zimmertür öffnete sich, doch ich ignorierte die Personen, die wortlos hereinkamen. Sollten sie mich anstarren, mir war es wirklich egal. Zu weit entfernt fühlte sich mein Leben an. Der Tod war mir viel näher. Eine Person begann im Zimmer hin und her zu laufen, sagte aber keinen Ton. An den Schritten hörte ich schon, dass es weder Keyla, noch unsere Mutter sein konnte. Es war irgendein Mann, doch das änderte nichts an der Situation, und weckte mich nicht aus meiner Lethargie. Wenn ich mich nicht rührte, würde er bestimmt bald wieder verschwinden. Oder mich bestrafen. So wie Raûl es immer getan hatte. Doch sogar das wäre mir jetzt egal. Der Schmerz in meinem Inneren war so stark, den würde selbst eine Auspeitschung nicht vertreiben können. Plötzlich blieb die Person direkt neben mir stehen, doch ich reagierte nicht.

»Emma, du musst aufstehen und etwas essen«, flehte Keyla von der Tür her. Doch ich ignorierte sie weiterhin. Ich konnte nichts essen. Vielleicht nie wieder.

»Emma, steh auf!«, die Stimme des Mannes, der neben mir stand, klang so streng, dass ich automatisch handelte, ohne es bewusst zu steuern. Mein Körper reagierte einfach auf den Tonfall, wahrscheinlich um mich trotz allem vor einer Bestrafung zu schützen. Ich stellte mich so hin, wie Raûl es mir antrainiert hatte, den Rücken durchgedrückt, aber den Blick auf die Fußspitzen gesenkt. So hatte ich oft stehen müssen, über Stunden und jede kleinste Regung war bestraft worden. Doch heute würde ich keine Stunden so ausharren können. Der Mann sagte nichts und so verharrte ich erst einmal. Allerdings fingen nach wenigen Sekunden meine Beine an zu zittern, mir wurde übel und dann wurde mir schwarz vor Augen.

Enzo

»Scheiße!«, schrie ich und sprang auf Emma zu, die einfach neben mir zusammenbrach. Gerade noch konnte ich verhindern, dass sie mit dem Kopf auf den Boden aufschlug. Schnell zog ich sie auf meinen Schoß. Eigentlich hatte ich den Plan, Antonio zu zeigen, wie falsch er mit seiner Idee lag. Doch nun musste ich wohl zugeben, dass er recht hatte. Wenn wir nicht handelten, würde Emma nicht mehr lange leben. Sie schien völlig dehydriert zu sein und von ihrem Gewicht wollte ich lieber gar nicht reden. Sie konnte höchstens noch vierzig Kilo wiegen. Warum hatten sie nicht eher gehandelt und sie in eine Klinik gebracht?

»Emma!«, rief Keyla und eilte um das Bett herum und zu uns.

»Das meine ich, Vater. Sie reagiert automatisch auf dich.« Antonio schien nicht glücklich darüber zu sein, dass er recht hatte. Mit liebevoller Zuwendung konnte man Emma jetzt wahrscheinlich nicht mehr erreichen. Als Keyla sie ansprach, reagierte sie gar nicht, auf meinen Befehl allerdings schon.

»Okay, ich mache es.« Keyla sah mich zweifelnd an, Antonio dafür umso hoffnungsvoller.

»Ich bin immer noch der Meinung, dass die Idee falsch ist. Vielleicht sollten wir Emma lieber in eine Klinik bringen.« Doch da hatte sie die Rechnung ohne ihre Schwester gemacht, die sich in meinen Armen zu bewegen begann.

»Nein, keine Klinik«, sagte sie mit überraschend fester Stimme. Dann versuchte sie, sich aus meinen Armen zu befreien, doch sie besaß kaum Kraft und hatte keine Chance gegen mich. Zwar ließ ich zu, dass sie sich aufsetzte, aber dabei hielt ich sie weiterhin fest.

»Du hast die Wahl, Emma. Du kannst entweder in eine Klinik gehen oder du kommst mit in meine Wohnung, wo ich mich persönlich um dich kümmere.« Es gelang mir nicht, ganz so streng zu klingen wie vorhin, doch wollte ich nicht, dass sie nur auf meinen Befehl zu mir kam, sondern aus freien Stücken. Außerdem sollte Keyla nicht denken, ich täte ihrer Schwester etwas an.

»Kann ich nicht einfach hierbleiben? Ich verspreche auch, dass ich besser auf mich achte.« Emma sah von einem zum anderen. Doch ihr Blick war so leer und traurig, dass ich ihr kein Wort glaubte. Der Kampfgeist und Wille fehlte ihr im Moment völlig. Vermutlich hatte sie sich selbst schon aufgegeben. Was sie brauchte, war ein Grund zum Weitermachen. Eine Aufgabe. Okay, am meisten würde ihr wahrscheinlich ihre Tochter helfen, doch bisher hatte ich die Kleine einfach nicht aufspüren können. Es gab keine Spur, weder von ihr noch von dem vermuteten Maulwurf in unseren Reihen. Es war zum Verrücktwerden.

»Du bist zusammengebrochen, Emma. Du bist völlig abgemagert und dehydriert. Wann hast du zuletzt etwas gegessen oder getrunken?« Ich versuchte, ihr klarzumachen, in was für einem Zustand sie sich befand. Doch sie zuckte nur mit den Schultern und senkte den Blick. »Wir werden nicht zulassen, dass dir jemand schadet. Auch du selbst nicht. Daher kannst du jetzt wählen, ob du zu mir kommst oder in die Klinik gehst. Hier lieben dich alle zu sehr, um dich zu etwas zu zwingen, auch wenn es zu deinem Besten ist.« Ich erwartete Widerstand, einen Wutanfall oder Ähnliches, doch sie saß einfach mit gesenktem Kopf da und sagte nichts. Vielleicht dachte sie, ich würde es nicht ernst meinen, aber da kannte sie mich schlecht.

»Keyla, packst du bitte schon einmal eine Tasche? Egal wofür Emma sich entscheidet, sie wird eine Zeitlang weg sein und braucht Sachen.« Endlich kam etwas Leben in sie.

»Das könnt ihr vergessen. Ich gehe nirgendwo hin, solange ich nicht weiß, wo Emilia ist. Sonst bekomme ich ja gar nichts mehr mit.«

»Ich leite die Suche nach der Kleinen, weil ich mehr Männer habe als Antonio. Wenn du mit zu mir kommst, verspreche ich dir, dass du uns helfen darfst.« Damit hatte ich sie. Das sah ich an ihrem Blick. Endlich konnte ich da ein Funkeln erkennen, ein kurzes Aufblinken der Hoffnung. Dabei hatte ich keine Ahnung, wie sie helfen sollte, noch dazu in ihrem Zustand.

Emma

Er würde mir echt die Chance geben, mich aktiv an der Suche zu beteiligen? Bisher hatte Antonio das immer abgelehnt, weil das viel zu gefährlich für mich wäre.

»Aber …« Auch jetzt versuchte er, dagegen zu protestieren, doch Enzo stoppte ihn mit einer Handbewegung.

»Wenn du willst, dass ich Emma helfe, dann musst du mich das auf meine Art erledigen lassen. Sie ist kein kleines Kind, das von allen bemuttert werden muss, denn genau das macht sie schwach. Sie braucht eine Aufgabe.« Nun wandte er sich mir zu. »Das siehst du doch auch so, oder, Emma?« Sein Blick fraß sich regelrecht in meinen, als wollte er mich hypnotisieren. Dabei war der Ausdruck lange nicht so kalt wie sonst. Allerdings nicht mitleidig, wie bei meiner Schwester und ihrem Mann so oft. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich fast sagen, er sah mich liebevoll an. Aber er war Enzo Esposito. Der Mann, der seinen eigenen Sohn zum Mörder ausgebildet hatte. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass er auch nur einen Funken Liebe für irgendjemanden oder irgendetwas empfand und ganz sicher nicht für mich.

»Okay, ich gehe mit zu dir, auch wenn ich dir nicht vertraue. Aber besser als eine Klinik, wo man mich von allem fernhält, ist es allemal.« Fast hätte ich noch hinzugefügt, dass ich deswegen nicht sein Bett mit ihm teilen würde. Doch ich schluckte es herunter. So attraktiv Enzo auch aussah, er war der Schwiegervater meiner Schwester und wollte mich garantiert nicht auf diese Weise.

»Dann ist das beschlossene Sache. Antonio besorgst du mal ein Glas Saft oder noch besser Cola, wenn du hast. Ich möchte, dass Emma etwas trinkt, bevor wir aufstehen. Nicht, dass ihr Kreislauf gleich wieder zusammenbricht. Flüssigkeit und etwas Zucker wird ihr sicher helfen.« Antonio warf uns einen seltsamen Blick zu. Nickte dann aber und verließ das Zimmer. Wahrscheinlich passte es ihm nicht, dass sein Vater ihn wie einen Dienstboten losschickte. Allerdings war mir das völlig egal. Keyla verschwand ebenfalls, vermutlich nach nebenan ins Badezimmer, um dort zu packen, und so waren wir beide allein. Ein seltsames Gefühl. Seit Raûls Tod war ich nicht mehr mit einem Mann allein in einem Zimmer gewesen. Automatisch rückte ich ein Stück von ihm weg.

»Emma, du musst mich an dich heranlassen, wenn das klappen soll. Ich werde dich sexuell nicht bedrängen, davor musst du keine Angst haben. Auch will ich dich nicht quälen, aber ich werde streng zu dir sein und erwarte, dass du dich mir öffnest und auf mich hörst.« Er räusperte sich, als ich nicht reagierte. »Emma!« Seine Stimme klang wie pures Eis und sollte mir eigentlich Angst einjagen, doch aus irgendeinem seltsamen Grund war da keine. Was stimmte nur nicht mit mir? »Emma!«, wiederholte er. »Ich erwarte, dass du mich ansiehst, wenn ich mit dir spreche. Kein gesenkter Blick, kein Verstecken. Ich weiß, das wird nicht einfach für dich. Aber es ist deine erste und wahrscheinlich wichtigste Regel für die nächsten Tage. Wenn man mal vom essen und trinken absieht.« Ich hob den Kopf in der Sekunde, in der Keyla wieder ins Zimmer kam.

»So ist es brav, ich kenne dich nicht besonders gut, aber deine Augen verraten mir viel über dich.«

»Sie ist doch kein Hund oder Kleinkind«, schimpfte Keyla los. »Ich war von Anfang an der Meinung, dass es eine Schnapsidee ist, Enzo. Tut mir echt leid, dir das so sagen zu müssen. Aber es ist bestimmt besser, wenn Emma in ein Krankenhaus geht, statt sich von dir sozusagen abrichten zu lassen.« Enzos Gesichtszüge erstarrten zu einer Maske und einige Sekunden lang war ich mir sicher, er würde auf Keyla losgehen. Vor allem, als er mich endlich aus seinen Armen entließ und mit einem Ruck aufstand.

»So, das denkst du also, kleine Keyla? Du hast doch keine Ahnung. Weder von mir noch von dem, was deiner Schwester zugemutet wurde. Du bist fast noch ein kleines unschuldiges Mädchen, also sei froh, wenn du nicht mitreden kannst und lass uns Erwachsene das regeln.« Unwillkürlich hielt ich die Luft an. Bisher hatte das keiner bemerkt, denn obwohl ich nur zwei Jahre älter war als Keyla, kam es mir vor, als wären es Jahrzehnte. Die Unbeschwertheit der Jugend fehlte mir völlig.

»Wie redest du mit mir? Ich bin kein kleines Kind mehr.« Keyla kochte und ihre Augen sprühten regelrecht Funken. Doch davon ließ Enzo sich nicht einschüchtern. Mit wenigen Schritten stand er neben ihr und packte plötzlich nach ihrem Kinn mit beiden Händen. Keyla versuchte, sich zu wehren, doch er hielt sie zu fest.

»Ich bin ein gefährlicher Mann, Keyla, und wärst du nicht meine Schwiegertochter, dann würde ich dich für dieses Benehmen jetzt bestrafen. Hoffentlich übernimmt Antonio das später für mich …« Nun hielt ich es nicht mehr aus. Obwohl mir noch immer schwindelig war, kämpfte ich mich auf die Füße und lief auf die beiden zu.

»Stopp!«

Enzo

Mit einer Kraft, die ich Emma gar nicht zugetraut hätte in ihrem Zustand, griff sie nach meinem rechten Arm.

»Ich gehe mit dir, aber lass meine Schwester in Ruhe. Sie ist impulsiv, meint es aber nur gut.« Jetzt fingen ihre Beine doch wieder an zu zittern. Deshalb ließ ich meine Schwiegertochter in Ruhe und schob Emma behutsam zur Bettkante.

»Wo bleibt nur Antonio? Hat er sich auf dem Weg in die Küche verlaufen? Keyla, könntest du mal nachsehen?« Doch die dachte gar nicht daran, zumal in diesem Moment die Tür erneut aufging und der Gesuchte mit einem voll beladenen Tablett hereinkam.

»Entschuldigt bitte, dass es etwas gedauert hat. Aber ich wollte Emma eine Auswahl bieten. Also, was möchtest du?« Das war ja lieb gemeint von ihm, bloß für sie spielte es vermutlich kaum eine Rolle, was sie trank. Und wirklich, sie wirkte etwas überfordert mit der Auswahl, griff aber schließlich nach dem Glas, das am nächsten zu ihr stand und trank ein bisschen.

»Gut so. Kleine Schlucke trinken«, lobte ich sie. Doch als sie das Glas nach der Hälfte absetzte, sah ich sie streng an und schüttelte den Kopf. »Austrinken!« Keyla versuchte schon wieder, mich mit Blicken zu töten, hielt jedoch zum Glück ihren Mund, denn Emma trank wirklich gehorsam, bis das Glas leer war. Okay, zweihundert Milliliter waren jetzt nicht die Welt, aber ein Anfang, auf dem man aufbauen konnte. Überfordern durfte ich sie auch nicht. Schließlich wollte ich nicht, dass sie sich übergab.

»Wie geht es dir? Wird das Schwindelgefühl besser? Ist dir übel?«, fragte ich und sah Emma intensiv an, der ich anmerkte, wie gern sie den Blick senken wollte, doch sie hielt sich tapfer und sah mir brav in die Augen.

»Übel ist mir nicht, aber schwindelig noch etwas«, gab sie zu. Das klang besser allerdings nicht gut.

»Okay, dann werde ich dich zum Auto führen und du sagst, wenn du eine Pause brauchst. Oder soll ich dich tragen?« Statt ihre Antwort abzuwarten, mischte sich meine nervige Schwiegertochter schon wieder ein.

»Ich halte das immer noch für falsch. Enzo, lass sie hier. Ich möchte nicht, dass Emma noch unglücklicher wird.« Gerade wollte ich ihr über den Mund fahren, als sich Emma zu meiner Überraschung selbst zu Wort meldete.

»Keyla, lass es bitte gut sein«, bat sie leise aber bestimmt. »Ich möchte mit Enzo gehen und unglücklicher als hier könnte ich woanders auch nicht sein. Ich liebe dich wirklich und Mamita auch, aber ich hasse diesen Ort. In diesem verdammten Anwesen stecken so viele Erinnerungen und die wenigsten davon sind gut.« Diese kleine Ansprache raubte ihr sichtbar die Kraft. Schon wieder fing sie an zu zittern.

»Du hast deine Schwester gehört, Keyla. Ich nehme Emma jetzt mit, aber du kannst gern jederzeit anrufen oder vorbeikommen. Ich habe weder vor, sie einzusperren, noch dich auszuschließen, solange Emma das nicht will.« Um weiteren Diskussionen aus dem Weg zu gehen, griff ich nach Emmas Tasche und half ihr dann auf. Ein schneller Abschied war jetzt das beste für sie, außerdem wollte ich, dass mein Hausarzt sie noch heute untersuchte, um herauszufinden, ob ihr außer Nahrung und Flüssigkeit nicht zusätzlich etwas anderes fehlte. Zu meiner Überraschung hielt Keyla sich ab jetzt tatsächlich zurück. Zwar begleite sie uns zusammen mit ihrer Mutter und Antonio zum Wagen, aber ihre Einwände waren für den Moment verstummt. Der Abschied hätte eigentlich relativ schnell gehen sollen, da jeder sah, wie sehr Emma allein dieser kurze Weg angestrengt hatte, doch dann ging das Temperament mit ihrer Mutter durch.

»Emma, geh nicht!«, rief sie und fuchtelte theatralisch mit den Händen. »Er wird dir nur Unglück bringen. Er ist ein Feind, dein Vater würde sich im Grabe umdrehen.« Na ja, wer Emma Unglück gebracht hatte, darüber diskutierte ich jetzt lieber nicht. Immerhin hatte er seine Tochter mit diesem Monster verheiratet. Ich versuchte lieber, die inzwischen immer stärker zitternde Emma ins Auto zu bugsieren. Doch ihre Mutter zeterte weiter, dass ich nur Unglück bringen würde und Emma zu ihr zurückkommen sollte. Emma stöhnte und versuchte zu protestieren, doch ihre Mutter ließ sie gar nicht zu Wort kommen und prophezeite ihr, dass sie es bereuen würde, wenn sie jetzt mitging. Zum Glück schaffte mein Fahrer es, die nervige Frau etwas zur Seite zu drängen und die Tür zu schließen, so dass wir endlich abfahren konnten. Emma sah völlig fertig aus und schlief auch schon ein, kaum, dass wir das Anwesen verließen.

Kapitel 4

Emma

Die Sonne schien und ich lag mitten auf einer Wiese. Ein laues Lüftchen spielte mit meinen Haaren und irgendwo in der Nähe wieherte ein Pferd. Die ganze Szene war so friedlich. So schön. Doch mit einem Mal veränderte sich alles. Ein Schuss hallte durch die Luft, der Wind wurde stärker und eine Welle aus Blut kam auf mich zugerast. Ganz oben darauf, wie ein Surfer, stand Jaxon, meine erste große Liebe und sah mich vorwurfsvoll an. In seinen Armen hielt er ein Bündel.

»Du hast uns das angetan«, brüllte er mich regelrecht an. »Nur du! Du hast uns umgebracht und solange du lebst, wirst du noch viele weitere Menschen auf dein Gewissen laden. Warum setzt du nicht endlich deinem Leben ein Ende!« Er drehte das Bündel. Ich konnte erkennen, was es war. Er hielt den abgetrennten Kopf meiner Tochter in der Hand. Mir entkam ein langer spitzer Schrei. Ich wollte weglaufen, doch meine Beine bewegten sich einfach nicht. »Daran bist nur du schuld, Emma. Du ganz allein.« Dann schlug die Welle aus Blut über mir zusammen.

»Emma!« Jemand rüttelte an meiner Schulter. »Emma, wach auf. Es ist nur ein Traum!« Ich hörte die Worte. Konnte sie aber kaum begreifen. Der Schmerz war so groß. So verdammt groß, dass ich das Gefühl hatte, zu ersticken. Mein Baby. Meine Emilia Hope. Sollte sie wirklich nicht mehr leben? Warum konnte ich mein Kind nur nicht beschützen? War ich noch immer genauso machtlos wie mit achtzehn, als mein Vater Jaxon tötete? Ein Weinkrampf schüttelte mich. Was hatte ich getan, um so gestraft zu werden? Warum durfte ich nicht einfach sterben? Dann müsste ich nichts mehr fühlen.

»Emma, du bleibst jetzt bei mir und fällst nicht in Ohnmacht.« Das war doch Enzos Stimme. »Emma!« Sein Ton wurde energischer, der Griff um meine Oberarme fester. »Du musst atmen. Langsam ein und aus und ein und aus.« Obwohl ich es nicht wollte, reagierte mein Körper aus irgendeinem Grund auf ihn. Ich atmete gehorsam in dem Rhythmus, den er mir vorgab und allmählich lichtete sich auch die Dunkelheit um mich herum. Mein Kopf wurde klarer und ich erkannte, dass ich in einem Raum war, den ich nie zuvor gesehen hatte. Weiße Wände, helle Holzmöbel und pastellfarbene Gardinen konnte ich vom Bett aus erkennen. Nichts erinnerte hier an das düstere Anwesen meines Vaters. Nur, wie war ich hierher gekommen? Ich versuchte, mich aufzurichten, um mehr zu sehen, doch zwei starke Arme hielten mich davon ab.

»Bleib noch etwas liegen. Du hattest einen Albtraum, Emma. Falls du dich fragst, wo du bist – bei mir.« Enzo ließ mich langsam los, holte von irgendwoher ein Taschentuch und wischte mir die Tränenspuren aus dem Gesicht.

»Möchtest du über deinen Traum reden?«, fragte er fast sanft. Schnell schüttelte ich den Kopf. Nein! Hierüber wollte ich ganz sicher nicht sprechen.

»Okay, heute lasse ich dich damit durchkommen. Aber du wirst darüber sprechen müssen. Reden ist das A und O, wenn man ein Trauma verarbeiten will. Aber jetzt ist erstmal Zeit für dein Frühstück.« Frühstück? Mein Magen fühlte sich an, als würde die Welle aus meinem Traum darin herumtreiben. Wahrscheinlich würde ich gar nichts herunterbekommen und falls doch, käme es gleich wieder hoch.

»Kann ich nicht erstmal duschen gehen? Ich fühle mich verschwitzt.« Vielleicht konnte ich das Essen so noch eine Weile umgehen. Doch Enzo blieb unerbittlich.

»Nein, du musst erst etwas essen. Dann darfst du aufstehen und duschen. Ich habe keine Lust, dass du mir ohnmächtig wirst und dir den Kopf stößt oder ertrinkst. Deine Schwester würde mir die Hölle heißmachen.« Obwohl ich es nicht wollte, musste ich doch grinsen. Oh ja, das würde Keyla tun. Aber eigentlich war er kein Mann, der sich vor meiner kleinen Schwester fürchtete.

Enzo

Natürlich versuchte Emma weiterhin, sich vor dem Essen zu drücken. Im Hauptquartier der Rodriguez war ihr das gelungen. Heute Morgen saß sie dort zwar am Esstisch, hatte allerdings nicht wirklich gegessen. Hier würde sie mir nicht damit durchkommen. Deshalb drückte ich den Rufknopf neben dem Bett. Ich hatte meiner Haushälterin schon aufgetragen, auf dieses Zeichen hin das Frühstück zu servieren. Auch wenn es von der Uhrzeit her eher ein Mittagessen war. Doch so kleinlich wollte ich heute nicht sein. Normalerweise wäre das zwar die Aufgabe meines Butlers, das Essen aufzutragen, aber fürs erste wollte ich es Emma ersparen, außer mir noch anderen Männern zu begegnen. Vor allem solange sie so leicht bekleidet im Bett lag.

Wahrscheinlich ahnte sie gar nicht, wie verführerisch sie aussah, wobei sie mit einigen Kilos mehr noch anziehender für mich wäre. Nachdem sie vorhin im Wagen eingeschlafen war, hatte ich sie ins Haus getragen und bis auf Slip und T-Shirt ausgezogen. Bisher schien sie das noch gar nicht registriert zu haben. Sie hatte wie eine Tote geschlafen, bis sie von einem Albtraum heimgesucht wurde und sich im Schlaf wild hin und hergeworfen hatte.

»Aber …« Doch damit brauchte sie bei mir gar nicht anfangen. Viel zu lange hatten alle um sie herum zugelassen, dass sie hungerte.

»Nein, Emma. Du isst zuerst etwas, vorher verlässt du dieses Bett nicht. Wenn du etwas zu dir genommen hast, kannst du dich frisch machen.« Sie wandte zwar ihren Blick ab, nickte aber. Trotzdem forderte ich sie auf, mich anzusehen.

»Wir haben einen Deal, Emma. Vergiss das nicht. Du musst nicht ins Krankenhaus und darfst auch etwas tun, sobald deine Kräfte es zulassen, aber dafür siehst du mich an, wenn ich mit dir spreche und gehorchst meinen Befehlen.« Wieder nickte sie, zumindest sah sie mir dieses Mal brav in die Augen. Ein Fortschritt, obwohl mir ihr Ausdruck nicht wirklich gefiel. Es war eher Resignation, als der Wille zum Kämpfen, den ich so gern darin sehen wollte. Aber es war ein Anfang. Emma musste erstmal ankommen und Kraft tanken. Dann würde sie schon lernen, für sich und ihre Bedürfnisse zu kämpfen.

Es klopfte an der Tür, die sich gleich darauf öffnete und Maria kam, einen Servierwagen schiebend, herein. Zuerst wollte sie ein riesiges Frühstück vorbereiten, doch ich hatte sie davon abgehalten, um Emma nicht zu überfordern. Deshalb stand jetzt nur ein Teller mit Rührei und zwei Scheiben Toast sowie ein Glas Orangensaft und ein Becher heiße Schokolade darauf. Von Keyla wusste ich, dass ihre Schwester diese süße Versuchung liebte, oder ihr zumindest früher nicht widerstehen konnte.

»Guten Morgen, Miss Rodriguez. Ihr Frühstück. Ich bin Maria, die Haushälterin und wenn Sie einen Wunsch haben, können Sie jederzeit nach mir klingeln. Ich stehe Ihnen gern zur Verfügung.«

»Danke, Maria. Aber nennen Sie mich bitte Emma. Ich mag diese Förmlichkeit nicht.« Sie murmelte noch etwas, das ich nicht verstand.

»Danke, Maria. Stellen Sie den Wagen hier hin. Ich helfe Emma schon beim Frühstücken.« Maria lächelte noch einmal und drehte sich zum Gehen um.

»Gerne, Mr. Esposito. Ich werde dann schon mal die Suppe für das Abendessen vorbereiten und vielleicht einen Obstsalat als Nachtisch? Miss Emma sieht aus, als könnte sie ein paar Vitamine brauchen.« Ich nickte. Maria war eine Seele von Mensch und liebte es, sich um alles und jeden zu kümmern.

»Das ist eine gute Idee.« Emma brauchte tatsächlich unbedingt ausgewogene Kost. Obwohl sie nicht begeistert aussah. Sie aß zwei Gabeln Rührei und ignorierte den Toast, aber wenigstens griff sie zur heißen Schokolade.

Kapitel 5

Emma

»Der Doktor ist da, Emma. Er erwartet dich im Wohnzimmer.« Maria, der ich inzwischen das Miss zum Glück abgewöhnen konnte, lächelte mich aufmunternd an. Seit drei Tagen hielt ich mich schon in Enzos Wohnung auf, die sich im Penthouse eines Hochhauses befand. Einen größeren Unterschied zum alten Anwesen meines Vaters konnte es kaum geben. Beinahe konnte ich hier vergessen, was Enzo war. Aber nur fast. Er war so anders als mein Vater und doch wieder gleich. Immerhin leitete er ebenso eines der größten Mafiakartelle der Stadt. Nur dass er seine Leute nicht mit in der Wohnung hatte. Bei uns Zuhause waren die Mafiosi immer ein- und ausgegangen. Hier gab es nur Maria, ein Mädchen für grobe Arbeiten, die ich aber kaum sah, Enzo und mich. Normalerweise lebte zudem noch ein Butler in den Räumen. Doch dem hatte Enzo Urlaub gegeben. Er tat wirklich alles, damit ich mich wohlfühlte. Zwang mich allerdings dazu, mindestens dreimal am Tag etwas zu essen, und achtete penibel darauf, dass ich genug trank. Sollte ein Mann wie er nicht eigentlich andere Aufgaben haben?

»Emma, der Doktor.« Maria griff nach meinem Arm und sah mich mahnend an. »Heute kannst du dich nicht wieder drücken. Also komm, bevor Mr. Esposito sauer wird. Er hat den Arzt an deinem ersten Tag weggeschickt, damit du dich ausschlafen konntest. Noch einmal tut er das nicht.« Hierbei hatte sie vermutlich recht, also seufzte ich und folgte ihr dann brav in das sogenannte Wohnzimmer. Eigentlich könnte man es eher Wohnhalle nennen. Denn der Raum umfasste an die hundert Quadratmeter. Wozu ein einzelner Mann so viel Platz benötigte, würde ich nie verstehen. Zumal sich eine Dachterrasse anschloss, die noch einmal genauso groß war.

»Ahhhh, da bist du ja endlich. Emma, das ist Doktor Parker, mein Hausarzt. Doktor Parker, das ist Emma Rodriguez, mein Gast.« Der Arzt streckte mir die Hand hin und ich griff danach, um sie kurz zu drücken.

»Freut mich, Miss Rodriguez. Wollen wir uns erstmal setzen und besprechen, was Sie für Beschwerden haben? Später werde ich Ihnen dann noch Blut abnehmen und sie genauer untersuchen.«

»Okay«, antwortete ich, obwohl ich wirklich keine Lust darauf hatte. Maria verschwand aus dem Raum und Enzo stellte sich ein bisschen abseits hin, um uns etwas Privatsphäre zu lassen.

»Wie ich hörte, haben Sie eine schwere Zeit hinter sich. Haben Sie außer der Appetitlosigkeit noch andere Beschwerden?«

»Manchmal ist mir schwindelig oder übel. Aber sonst geht es mir gut.« Okay, gut war die Übertreibung des Jahrhunderts, allerdings hatte ich absolut keine Lust, von ihm zu einem Seelenklempner geschickt zu werden.

»Mhhh, könnten Sie schwanger sein?«, fragte er und machte sich Notizen auf einem Block. Entsetzt riss ich den Mund auf, schloss ihn dann aber schnell wieder.

»Nein, das kann ich ausschließen. Mein Mann ist vor ziemlich genau einem Jahr verstorben und seitdem gab es niemanden mehr in meinem Leben.« Raûl hatte mich nach Emilias Geburt zwar relativ schnell wieder zum Sex genötigt, da er unbedingt einen männlichen Nachkommen haben wollte. Doch zum Glück war ich nicht sofort schwanger geworden.

»Gut, dann können wir das ausschließen. Dann möchte ich Sie jetzt bitten, einmal auf die Waage zu steigen, die ich mitgebracht habe und danach horche und taste ich Sie einmal ab. Zum Schluss brauche ich dann nur noch eine Blut- und Urinprobe.«

Enzo

Emma ließ alles über sich ergehen, ohne Anzeichen von Angst zu zeigen. Sie empfand Unbehagen, ja. Aber hätte ich das geahnt, hätte sie die zwei Tage Schonfrist nicht von mir bekommen. Ihr Ernährungszustand war wirklich besorgniserregend. Dreimal täglich eine winzige Portion und selbst dazu musste ich sie regelrecht zwingen. Für sie bedeutete sogar ein halber Apfel eine komplette Mahlzeit.

»Miss Rodriguez, auf den ersten Blick kann ich sagen, dass Sie viel zu dünn sind. Ihr Körper hat keinerlei Reserven und ich fürchte, dass der Bluttest massive Mangelerscheinungen zutage fördern wird. Was aber kein Wunder ist, so wie Mr. Esposito Ihre Essgewohnheiten schildert. Ich werde Ihnen einen Ernährungsplan aufstellen, der mindestens sechs besser noch acht Mahlzeiten enthält. Sie leiden an Magersucht und ich würde Sie am liebsten direkt in eine Spezialklinik einweisen, doch Mr. Esposito hat angedeutet, dass dies nicht infrage kommt, solange Sie nicht noch weiter abnehmen.« Er warf mir einen Blick zu, der andere Menschen vermutlich einknicken ließ, doch bei mir wirkte er nicht. Emma schrumpfte sichtlich in sich zusammen, als würde es nichts Schlimmeres geben, als in eine Klinik zu müssen. Daher mischte ich mich in das Gespräch ein.

»Ich habe Emma versprochen, dass wir es hier versuchen.« Der Arzt nickte ergeben.

»Sie müssen wissen, was Sie tun. Gegen Magersucht kommt man ohne psychologische und manchmal auch psychiatrische Hilfe meistens nicht an. Wenn die Patientin allerdings noch ein Kilo abnimmt, sehe ich mich gezwungen, die Behörden einzuschalten, um ihr Leben zu retten.« Dieser Satz war nur für Emma bestimmt und im Vorfeld mit mir abgesprochen. Denn der gute Doktor wollte keinen Ärger mit mir riskieren. Er flickte öfter meine Leute zusammen und verdiente damit viel Geld nebenbei. Doch Emma musste begreifen, wie wichtig ihre Gesundheit war.

»Nimmt sie ab, bringe ich sie eigenhändig ins Krankenhaus. Das verspreche ich, Doktor Parker.«

»Aber acht Mahlzeiten? Das schaffe ich wirklich nicht.« Emma klang ehrlich entsetzt.

»Doch, Miss Rodriguez. Ihr Magen ist so geschrumpft, dass er keine größeren Mengen schafft. Aber viele kleine Mahlzeiten wird er überstehen. Wir trainieren ihn darauf, wieder normal zu funktionieren, dann können wir die Häufigkeit auch heruntersetzen.« Damit wandte er sich mir zu.

»Ich maile Ihnen den Essensplan nachher und ergänze ihn, sowie ich die Blutergebnisse habe. Das kann aber einige Tage dauern bis alle da sind. Dadurch kann es also mehrmals zu Änderungen kommen. Zudem verschreibe ich ihr eine hochkalorische Trinklösung, die sie zumindest am Anfang zusätzlich zu sich nehmen sollte.« Zum Abschied schenkte er Emma ein strahlendes Lächeln, während ich nur ein Nicken bekam. Aber ich wusste auch so, worauf er hinaus wollte. Er würde sie vorsorglich ergänzend auf sexuell übertragbare Krankheiten testen lassen. Ich konnte nach allem, was sie erlebt hatte, eh kaum glauben, dass dies nach Raûls Tod noch nicht erledigt wurde. Der Mistkerl war ihr sicher nicht treu gewesen und auch vor der Ehe kein unbeschriebenes Blatt.

Nachdem der Arzt weg war, brachte ich Emma dazu, ein paar Weintrauben zu sich zu nehmen. Nicht viel, aber immerhin ein bisschen.

»Du kannst dich gern hier in der Wohnung frei bewegen und alles machen, wozu du Lust hast, außer Sport. Wir wollen schließlich nicht, dass du noch weiter abnimmst. Gezieltes Training kommt erst später dazu.« Das hatte der Arzt schon vorher mit mir so besprochen. »Ich muss jetzt mal arbeiten. In den letzten Tagen habe ich meine Geschäfte etwas vernachlässigt.«

Emma

Na prima, jetzt vernachlässigte er schon seine Leute und damit vielleicht sogar die Suche nach Emilia. Was er sonst noch zu tun hatte, wollte ich eh lieber gar nicht so genau wissen.

»Kann ich nicht irgendwie helfen? Ich kann zwar nicht besonders viel, aber ein bisschen tippen, Kaffeekochen oder so schon. Dann käme ich mir nicht ganz so nutzlos vor.« Enzo sah mich mit einem Blick an, der mich zum Zittern brachte. Was hatte ich nur falsch gemacht? Wollte er mir wegen des Angebots etwa wehtun?

»Emma, du bekommst eine Aufgabe von mir, sobald du dazu in der Lage bist. Aber im Moment musst du dich erst einmal aufs Zunehmen konzentrieren. Du bist ein Meter sechzig groß und wiegst nur achtunddreißig Kilo. Jeder Schritt ist eigentlich zu viel für dich. Nimmst du noch weiter ab, befindest du dich bald im lebensgefährlichen Bereich.« So dramatisch würde ich meine Situation echt nicht sehen. Okay, ich musste zugeben, dass ich extrem abgenommen hatte, aber ich war doch nicht magersüchtig. Ich hungerte nicht, um dünn zu werden, sondern weil ich einfach nichts hinunter bekam.

»Setz dich aufs Sofa, leg die Füße hoch und guck einen Film, eine Serie, oder lies ein Buch. Wir haben sämtliche Streamingdienste im Haus und wenn du etwas möchtest, das wir nicht hier haben, dann besorge ich es dir.«

»Okay«, antwortete ich wenig überzeugt. Aber ich wollte ihn auch nicht aufhalten oder reizen.

»Maria ist da drüben in der Küche und wird dir jeden Wunsch erfüllen. Bitte iss und trink etwas. Ich bin in etwa einer Stunde wieder hier.« Im Gehen schaltete er noch den Fernseher an und warf mir dann die Fernbedienung zu. »Keyla hat mir verraten, dass du diese Serie früher geliebt hast.« Auf dem Bildschirm tauchten die nur zu vertrauten Bilder der ersten Folge von Vampire Diaries auf und ich musste plötzlich lachen. Ein seltsames Geräusch, das mich sofort wieder aufhören ließ. Ich hatte so lange nicht gelacht, dass es sich völlig falsch in meinen Ohren anhörte. Das ewige Drama um Stefan, Damon und Elena sollte mich also von meinem eigenen Problemen ablenken? Na, gut. Früher hatte ich die Serie wirklich geliebt, aber nun schon länger nichts davon gesehen. Die ersten Folgen gefielen mir inzwischen nicht mehr so sehr, weil vieles später gar nicht mehr passte, wie der Nebel und die Krähe, aber trotzdem genoss ich irgendwie das Wiedersehen mit den alten Gesichtern. Ich war immer Team Damon, während meine Schwester zum Team Stefan gehörte. Und einen Enzo gab es dort ebenfalls. Anfangs war er absolut grausam, aber später änderte er sich. Konnte sich ein Mensch im realen Leben auch so sehr verändern? Hatte Keyla ihm deswegen ausgerechnet zu dieser Serie geraten?

Die Zeit verflog nur so, während ich die erste Folge sah und nur auf Damons Auftritt wartete, gerade als er Stefan mit ›Hi Bruder‹ begrüßte, kam Maria, brachte mir eine Schokomilch und einen Donut.

»Hier, etwas Süßes für zwischendurch. Hast du sonst noch einen Wunsch, Kindchen?« Kindchen? So jung war ich doch wirklich nicht mehr. Seit ich sie gebeten hatte, mich zu duzen, wurde sie immer vertraulicher.

»Nein, außer du möchtest mir Gesellschaft leisten, Maria. Dazu würde ich nicht Nein sagen. Ich hasse es, allein zu sein.« Meine Gedanken drifteten ab und ich landete wieder in Raûls Kellerwohnung. Auf den ersten Blick wirkte die ja trotz der fehlenden Fenster ganz gemütlich, doch in Wahrheit war es ein Folterkeller der besonderen Art. Monate hatte ich dort unten festgesessen, die meiste Zeit völlig isoliert von der Außenwelt und wenn Raûl zu mir kam, dann nur, um mir wehzutun oder mich zu vergewaltigen. Er stand darauf, mir Schmerzen zuzufügen. Ohne es zu wollen, drifteten meine Gedanken erneut ab und mir wurde eiskalt. Mein Magen zog sich zusammen. Ich war immer noch gefangen. Nicht mehr in der furchtbaren Kellerwohnung, aber in meinen Erinnerungen. Wie sollte ich jemals wieder ein normales Leben führen? Von den Bildern, die über den Fernseher flimmerten, bekam ich nichts mehr mit. Stattdessen lief ein anderer Film vor meinem inneren Auge ab. Ein Horrorfilm, mit mir in der Hauptrolle, in dem ich misshandelt und vergewaltigt wurde. Maria war in der Küche, Enzo weg und so überrollten mich die Erinnerungen wieder und wieder wie Wellen, die mich verschlingen wollten.

Kapitel 6

Enzo

In den letzten Tagen hatte ich meine Arbeit vernachlässigt und das rächte sich. Statt wie geplant, eine Stunde nach dem Rechten zu sehen, wurde ich viel länger aufgehalten.

Eine Lieferung Koks war von den Bullen beschlagnahmt worden. Nun musste ich dringend Nachschub organisieren. In einem der legalen Clubs, in denen ich mein Geld wusch, gab es Personalprobleme. Der Manager war durchgebrannt und hatte sich zudem aus der Kasse bedient. Dachte er wirklich, er könnte damit durchkommen? Da hatte er sich verrechnet. Ich setzte sofort drei Männer auf die Suche nach ihn an.

Und dann war da noch die andere Suche, die nach Emmas Tochter, die wichtigste Sache überhaupt. Hier gab es seit gestern eine neue Spur, der einer meiner Leute auch schon nachging. Mich ärgerte es, ausgerechnet hierüber nichts erfahren zu haben und so machte ich meine Männer zur Sau.

»Warum habt ihr mich nicht darüber informiert? Ich habe genaue Anweisung gegeben, mich bei jeder Spur sofort anzurufen, ganz egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit.«

»Wir wollten doch nur zuerst sicher gehen, ob es nicht wieder eine falsche Spur ist, Boss.« Toni wagte es als Einziger, mir zu antworten. Der Rest meiner Männer saß mit gesenkten Köpfen am Tisch und hielt wohlweislich die Klappe.

»Egal wie sicher oder unsicher. Das ist eine Familienangelegenheit, daher möchte ich nicht noch einmal erleben, dass ihr mir etwas verschweigt. Ansonsten rollen Köpfe.« Sie sahen mir wohl an, wie ernst ich es meinte. Niemand sagte ein Wort. Wieder einmal fragte ich mich, ob es einen Maulwurf unter ihnen gab. Doch ich traute keinem der anwesenden Männer zu, mich zu hintergehen. Toni war meine rechte Hand und zusammen mit Frederik – meinem Schwager eine große Stütze für mich. Er war fast ein Freund und der einzige, der mir ab und zu in den Hintern trat. Er war es auch immer gewesen, der mich ermahnte, wenn ich zu streng zu Antonio war. Nicht, dass es etwas genutzt hätte, aber immerhin hatte er es versucht.

Wir lösten die Versammlung auf und ich wollte mich gerade an meinen Schreibtisch setzen und alle Mitteilungen der letzten Tage durchgehen, als Toni sich noch einmal zu mir gesellte.

»Stimmt es, dass die ältere Rodriguez-Tochter in deiner Wohnung ist?« Na, die Nachricht hatte sich ja schnell rumgesprochen.

»Ja, Antonio hat mich gebeten, dass ich mich seiner Schwägerin annehme.«

»Und warum tust du es? Dich interessiert doch sonst auch niemand. Willst du sie zu deinem nächsten Spielzeug machen?« Ich lachte auf. Egal wie sehr die Kleine etwas in mir drin ansprach. Das käme auf keinen Fall infrage.

»Ganz sicher nicht. Sie könnte fast meine Tochter sein. Außerdem ist sie bereits schwer traumatisiert. Da braucht sie kein Arschloch wie mich, das sie völlig zerstört. Dafür hat Raûl schon gesorgt.« Er nickte verstehend.

»Also machst du es nur deinem Sohn zuliebe? Glaubst du wirklich, dass es etwas zwischen ihm und dir reparieren kann?« Daran glaubte ich nicht. Wenn ich ganz ehrlich war, konnte ich selbst nicht sagen, warum ich es tat. Aber irgendetwas hatte Emma an sich, dass in mir das Gefühl weckte, sie beschützen zu müssen. Und das bereits seit ich ihr kurz nach der Befreiung aus Raûls Haus in das verzweifelte Gesicht geguckt hatte. Ihre Mutter konnte ich ausfindig machen, nun fehlte noch ihre Tochter.

»Sie erinnert mich an deine Frau.« Er zuckte zurück, kaum dass er es ausgesprochen hatte. Niemand sprach je über Fiona. Lag es wirklich daran? Zumindest äußerlich konnte ich keine Gemeinsamkeiten zwischen der mexikanisch stämmigen Emma und der italienischen Fiona finden. Okay, beide waren klein, schlank und dunkelhaarig, aber da endete die Ähnlichkeit auch schon. Fiona war immer eine fröhliche und vor Lebenslust sprühende Frau gewesen, etwas ernster war sie erst während der Schwangerschaft und nach der furchtbaren Diagnose geworden. Nierenkrebs. Antonio ahnte bis heute nichts davon, dass seine Mutter wusste, welches Risiko sie einging, um ihn zur Welt zu bringen. Sie lehnte jede Behandlung des Tumors ab, um unseren Sohn nicht zu gefährden. Und genau das wurde ihr zum Verhängnis, während der Geburt platzte ein Blutgefäß an der Niere und sie verblutete innerlich, obwohl die Ärzte noch alles taten, um sie zu retten.

»Sie kämpft um ihr Baby, so wie Fiona es getan hat. Ich bin mir sicher, dass Emma ebenso ihr Leben für ihre Tochter opfern würde.« Da konnte ich ihm nicht widersprechen. Doch ich würde dafür sorgen, dass Emma und ihre Tochter nicht so sehr leiden mussten, wie Antonio. Dem ich immer die Schuld am Tod seiner Mutter gegeben hatte. Ich konnte ihm lange Zeit einfach nicht verzeihen, dass sie gestorben war, um ihm das Leben zu schenken. Erst als er sich in den Händen des Rodriguez-Kartells befand, ging mir auf, wie sehr ich ihn trotz allem liebte. Ich war ein furchtbarer Vater gewesen, aber vielleicht gelang es mir wenigstens ein kleines Bisschen wieder gut zu machen, wenn ich Emma und ihre Tochter rettete. Antonio brauchte mich nicht mehr. Er hatte sich und Keyla selbst gerettet und machte mich damit unendlich stolz, obwohl ich es ihm nicht zeigen konnte.

Emma

Der Fernseher lief weiterhin, doch ich bekam von der Handlung überhaupt nichts mehr mit, obwohl ich die ganze Zeit auf den Bildschirm sah. In meinem Kopf lief ein völlig anderer Film ab und ich schaffte es nicht, mich aus diesem Horror zu befreien. Absolute Dunkelheit umhüllte mich, wie an so vielen Tagen in Raûls Haus. Dazu unerträglicher Lärm, der über die Lautsprecher abgespielt wurde und mich fast in den Wahnsinn trieb. Schlafentzug. Hunger. All diese Gefühle kamen zurück und ich ertrug das Leid nicht länger. Wollte nur noch sterben. Doch es gab nichts, mit dem ich mein Leid beenden konnte. Keine Hoffnung auf Frieden.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752111101
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (August)
Schlagworte
Mafia Feinde Enemy Romance Altersunterschied Mafiaromance Dark Romance Liebesroman

Autoren

  • Samira Wood (Autor:in)

  • Alina Jipp (Autor:in)

Samira Wood ist das Pseudonym einer Liebesromanautotrin, die ab und zu mal etwas anderes schreiben möchte.
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Titel: Enemy, love me