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Dünenflimmern

Schleier der Vergangenheit

von Katharina Mohini (Autor:in)
388 Seiten
Reihe: Dünenflimmern-Reihe, Band 1

Zusammenfassung

Ein Roman, der den Leser tief in eine der schönsten Landstriche Dänemarks führt und eintauchen lässt. Sonne, Sand, weites Meer und eine faszinierende Natur. Spätsommer in Blåvand, dem beliebten Urlaubsort an der dänischen Westküste. Hyggelig, wie die Dänen sagen ... Diese Gemütlichkeit wandelt sich für die Freunde Mads, Ove und Peder schnell zu einem Abenteuer, das ihr gewohntes Leben auf den Kopf stellt und für ewig verändern wird. Dabei beginnt alles mit der Frage: Wer ist die mysteriöse Frau, die sich in Mads’ Haus am Sandtoftevej einmietet? Und welche dunklen Geheimnisse trägt sie mit sich herum? Schnell kristallisiert sich dabei für Ove, den Polizisten, heraus, dass diese Sybille Martens keineswegs die Person ist, für die sie sich ausgibt. Dann trifft auch noch ein Fahndungsaufruf nach einer verdächtigen weiblichen Person ein, die ein Attentat auf einen führenden Politiker plant. Alles spricht dafür, dass es die Frau ist, in die sich sein bester Freund Mads geradewegs Hals über Kopf verliebt. Gefahr ist im Verzuge.mAls dann auch noch Mikkel, Mads kleiner Sohn in Gefahr gerät, überstürzen sich die Ereignisse. Ein Roman in dem es nicht nur um die Fragen von Vertrauen, Mut und Einsicht geht. Sondern auch darum, auf sein Herz zu hören und wenn es sein muss über den eigenen Schatten zu springen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1

Der Stadtteil Blankenese an einem sonnigen, kalten Januartag. Hamburgs Nobelwohnort lag um diese Zeit wie erstarrt in seinem Winterschlaf. Kalt und unpersönlich für diejenigen, die nicht mit dem goldenen Löffel geboren waren. Oder für die, die nicht mehr hierhergehörten, verglich die stumme Beobachterin in ihr.

»Und du hast es dir ernsthaft überlegt?« Der kurze Blick der Fahrerin streifte die Passagierin, die wie erstarrt neben ihr saß.

»Du musst die nächste Straße links rein«, kam es kaum verständlich über die verkniffenen Lippen der Mitfahrerin.

»Ich weiß.« Sybille Martens schluckte ihren aufkeimenden Unmut herunter und betätigte den Blinker ihres altersschwachen Golfs. Niemand, nicht einmal sie selbst mochte ermessen, was ihre beste Freundin in den letzten Monaten hatte durchmachen müssen. Ganz zu schweigen von der Zeit davor. »Nur finde ich es nicht gut, dass du da allein reingehen willst.«

Funkstille. Typisch Silje! Es wäre vergebens, darauf zu hoffen, dass sie einlenkte. Ärgerlich über sich selbst und darüber, dass sie bereit war, mit der Freundin dieses Ding zu drehen, bog sie in die Straße Wilmans Park ab.

Von alten Bäumen und noblen Villen gesäumt, schlängelte sich die wie ausgestorben daliegende Straße den sanften Abhang hinunter. Am Fahrbahnrand türmten sich schmutziggraue Schneehaufen, die an die letzten heftigen Schneefälle erinnerten, die Hamburg heimgesucht hatten.

»Du kannst dort vorn anhalten.« Silje Nehrmann deutete auf einen freien Parkplatz und zog den Reißverschluss ihrer dunklen Fleecejacke bis unter das Kinn.

Die Fahrerin lenkte ihren Wagen in die freie Lücke am Straßenrand. Der Motor erstarb und hinterließ ein bedeutungsschweres Schweigen.

»Silje?« Sybille Martens musterte die Freundin, die ganz damit beschäftigt war, sich für ihr riskantes Vorhaben vorzubereiten. Mit ihrem Outfit und der an den Tag gelegten Entschlossenheit wirkte sie wie ein weiblicher James Bond. »Ich habe ein echt mieses Gefühl bei der ganzen Sache.«

Statt auf die besorgte Feststellung ihrer Gefährtin einzugehen, beschäftigte diese sich ausschließlich damit, eine störrische Strähne ihres langen roten Haares unter die Wollmütze zu verbannen.

»Silje!«

»Nein, Spatzi.« Der sonst so milde Blick bannte die aufgebrachte Freundin an ihren Platz. »Ich bin dir dankbar, dass du mich hierhergefahren hast und Schmiere stehst. Doch der Rest ist allein meine Sache.«

»Aber …«

Statt ihr zu antworten, öffnete die zu allem entschlossene Frau die Tür und sprang behände hinaus. Nur um kurz darauf hinter der hochgewachsen Rhododendronhecke zu verschwinden, die das Grundstück der von Gernhausen’schen Villa umschloss.

Wie ein Einbrecher schlich sich Silje Nehrmann die geschwungene Auffahrt zum Anwesen hinauf. Dabei war es keine zehn Monate her, dass sie hier ein- und ausgegangen war. Sie horchte prüfend in sich hinein, suchte nach einem Bedauern, das sich partout nicht einstellen wollte. Letztlich war es nur ein goldener Käfig, aus dem sie ausgebrochen war. Nein, sie bedauerte nichts von dem, was seither geschehen war. Schluss! Sie musste aufhören, sich davon beeinflussen zu lassen. Nicht jetzt!

Silje konzentrierte sich auf das Knirschen des Kieses unter den Sohlen ihrer Sneakers und auf das Ende der Bepflanzung. Da lag es vor ihr, das Haus, das einmal auch ihres gewesen war. Ein sichernder Blick zum Nachbargrundstück. Bewegte sich da nicht eine Gardine? Dort im ersten Stock. Die alte Havekost, stellte die nüchterne Stimme in ihrem Kopf fest. Sie würde sich beeilen müssen. Gut anzunehmen, dass diese Hexe bei Hartmut anrief, um ihm brühwarm zu erzählen, wer sich hier aufhielt. Verdammt, sie würde weniger Zeit haben als geplant.

Alle Vorsicht vergessend sprintete sie über den Wendeplatz der Auffahrt und die imposante Freitreppe hinauf. Das Adrenalin schoss durch ihren Körper und ließ die Finger zittern, als diese versuchten, den Schlüssel im Türschloss unterzubringen. Nein, das durfte nicht sein. Nicht jetzt! Hartmut hatte das Schloss austauschen lassen. Der Schweiß rann ihr brennend den Rücken hinab, während sie fieberhaft nach einem Ausweg suchte, um ins Haus zu gelangen. Die Blumenschale … Silje zwang sich dazu, den Topf nicht von der Brüstung zu fegen, um an den dort deponierten Schlüssel zu gelangen. Das war schon immer so gewesen. In gewissen Dingen war Hartmut so berechenbar.

Stille umfing sie, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Hatte sie etwas anderes erwartet? Partymäuse, eine Nachfolgerin? Wohl nicht.

Sie musste an ihren Safe kommen, hämmerte es in ihrem Kopf. Zielstrebig eilte sie die Treppe in das obere Stockwerk hinauf. Der Gedanke an ihre ehemalige Nachbarin trieb sie voran. Wenn diese sie bemerkt hatte, würde Hartmut keine zwanzig Minuten benötigen, um von der Kanzlei hierherzukommen. Silje riss die Tür zu ihrem Ankleidezimmer auf und prallte erschrocken zurück. Das Chaos, das sich ihr präsentierte, raubte ihr den Atem. Alle Schranktüren standen offen; wenn sie nicht gar eingetreten oder aus den Angeln gerissen waren. All ihre Kleider, die sie hiergelassen hatte, lagen verstreut auf dem Boden. Und damit nicht genug. Ein Stöhnen entrang sich ihrer Brust und zwang sie auf die Knie. Das Armanikleid, das sie damals zu Karinas Hochzeit getragen hatte –, von oben bis unten aufgeschnitten. Das nächste, das folgende, alle Kleidungsstücke, die ihre Hände erfassten, waren zerschnitten, zerrissen oder irgendwie sonst beschädigt. Hasste Hartmut sie so sehr, dass er alles, was sie besaß, blind zerstörte? Noch immer?

Auf allen Vieren kroch sie zu dem Kleiderschrank, unter dessen doppeltem Boden sie ihr ganz persönliches Versteck wusste. Hatte ihr Exmann auch hier für vollendete Tatsachen gesorgt? Das durfte nicht sein. Sie brauchte ihr Tagebuch und die Papiere, die sie hier deponiert hatte und an die sie bislang nicht herangekommen war.

Die Holzplatte über dem Versteck war wie verschweißt. Ein zweiter Fingernagel brach ihr bis auf das Nagelbett ab und trieb ihr das Wasser in die Augen. Schluchzend versenkte Silje ihre Hand in dem Stoffhaufen neben sich. Statt einer Linderung erfühlten die Finger einen festen Gegenstand. Die Schere, mit der Hartmut die Kleidung zerschnitten hatte, war ihr rettender Anker. Mit einem kratzenden Geräusch löste sich die Platte aus ihrer Verankerung und gab endlich das Versteck frei.

Das Vibrieren an ihrem Körper ließ Silje erschrocken zusammenfahren. Fahrig fummelte sie das Handy aus ihrer Jacke. Sybille? »Ja, was ist?« Ihre Stimme kam ihr selbst fremd vor. »Kommt da wer?«

»Du musst dich beeilen.« Die Freundin klang gehetzt. »Da steht eine Frau vor dem Nachbarhaus und sieht zu euch rüber. Sie scheint etwas bemerkt zu haben.«

»Warum bist du nicht im Auto geblieben?«

»Komm raus, wir versuchen es ein anderes Mal. Nein … Verdammt, jetzt kommt auch noch ein Auto die Auffahrt rauf.«

Siljes Herz setzte für einen langen Moment aus, ehe sie mehr unbewusst handelte. Sie griff sich ihren geliebten Missonischal, raffte die wichtigen Unterlagen zusammen und wickelte diese in ihn hinein.

»Silje, wo bist du!!!«, überschlug sich die Stimme der Freundin im Handy. »Es ist dein Exmann. Und er kommt gleich ins Haus!«

Mit zusammengebissenen Zähnen verknotete Silje den Schal und kam mit ihrer Last taumelnd in die Höhe. Was, wenn Sybille recht hatte? Ihren Besitz in der einen, das Handy in der anderen Hand, huschte sie zum Fenster und riss es auf. »Bille, wo bist du?« Keine Antwort, doch der Blondschopf der Freundin leuchtet vor dem dunklen Grün der Koniferen. »Schnapp dir die Sachen und warte im Auto auf mich.« Silje riss das Fenster auf. Es war eine Entscheidung aus dem Bauch heraus, als sie das eigentümliche Paket im hohen Bogen hinauswarf.

Und nun? Ein Blick über die Schulter. Sie musste fort von hier. Hartmut würde mittlerweile das Haus betreten haben. Silje sprang über die traurigen Überreste ihrer Kleidung hin zur Tür. Wusste ihr Ex, dass sie hier eingebrochen war? Hatte Frau Havekost ihn informiert? Oder war er nur zufällig so früh aus der Kanzlei heimgekehrt?

Der Flur zur Treppe hin war frei. Alarmierend war, dass nicht das leiseste Geräusch von unten zu ihr heraufdrang. Jetzt musste sie nur diese dreizehn Stufen und die paar Meter über den Flur zur Haustür hin überwinden. Wenn sie schnell war und noch mehr Glück hatte, wären es Sekunden. Und Hartmut würde nicht einmal mitbekommen, wer hier eingestiegen war. Silje nahm all ihren Mut zusammen. Nahezu lautlos überwand sie die Treppe und hastete über die hellen Fliesen des Flures.

Die Haustür war zum Greifen nah, als ein derber Schlag sie von der Seite her erfasste und gegen die Wand katapultierte. Hart prallte sie mit ihrer Schulter und dem Kopf auf das Mauerwerk und sackte zu Boden. Hartmut hatte ihr aufgelauert. Er hatte die ganze Zeit über gewusst, dass sie sich hier im Haus befand. Die Erkenntnis schlug mit einem heftigen Schmerz über sie zusammen.

»Was hast du hier zu suchen, du undankbares Miststück?«, drangen seine Flüche wie durch Watte auf sie ein. Der harte Griff, mit dem er sie an den Oberarmen packte und emporriss, ließ den Schmerz, der sie durchtobte auf ein noch höheres Level schnellen. Ein weiteres Mal stieß er sie grob gegen die Wand, wobei er sie mit wütenden Verwünschungen, Flüchen und Schlägen traktierte.

Silje war sich bewusst, dass es nur eine Frage von Sekunden war, bis seine Wut auf sie und das, was sie ihm in seinen Augen angetan hatte, in einem Tobsuchtsanfall endete. Die Küche! Sie musste in die Küche kommen. Von dort ging eine Tür hinaus in den Garten. Der nächste Stoß ließ sie vorantaumeln. Die Gelegenheit, Abstand zu gewinnen. Das hier war einmal ihr Reich gewesen. Selbst jetzt, wo es sprichwörtlich um Leben und Tod ging, fiel ihr auf, wie verwahrlost all das hier wirkte. Weiter, sie musste weiter, trieb sie sich und ihren geschundenen Körper an. Schon traf sie der nächste Schlag in den Rücken und ließ sie haltlos herumschleudern.

Die Kante der marmornen Arbeitsplatte bohrte sich schmerzhaft in Niere und Hüfte, als sich der Rasende förmlich auf sie warf. Seine Hände fuhren ihr an den Hals und drückten erst langsam, dann immer kräftiger zu. Dieses selbstgefällige Lachen, dieser Blick, der in einer Mischung von maßloser Wut und beginnendem Irrsinn auf ihr ruhte, fraß sich in Siljes Bewusstsein hinein. Sie spürte, wie die Atemnot sie einer Ohnmacht entgegentreiben ließ. Und doch schrie etwas in ihr, dass sie gefälligst um ihr Leben zu kämpfen hatte. Hartmut würde sie umbringen und selbst damit vor dem Gesetz durchkommen. Er wäre erneut der, der triumphieren würde. Dieser aalglatte, selbstverliebte und durch und durch verdorbene Mensch, der alle anderen für sich einspannte und für seine Ziele missbrauchte.

»Har…«, drang ein Röcheln aus ihrer geschundenen Kehle hervor. Keine Flucht mehr möglich. Die Schatten begannen sich bereits an den Rändern ihrer Wahrnehmung zu sammeln. Ihre Hände gaben die Stahlkrallen frei, die ihr das Leben aus dem Körper sogen; sanken zur Seite, wischten ziellos suchend umher. Und dann war da dieser Gegenstand, den die Rechte umstieß. Der Messerblock. Die Finger spürten den Griff eines der Messer, schlossen sich drum. Mit letzter Kraft riss sie die Klinge hoch und stieß sie in Richtung ihres Peinigers.


Kapitel 2

Langsam näherte sich die junge Frau dem schmucklosen Backsteingebäude. Hier am Steckelhörn betrieb die Deutsche Post eine ihrer zahlenmäßig größten Postschließfachanlagen in Hamburg. Darunter auch ihres. Gegenüber dem Gebäude blieb sie stehen und scannte unauffällig die Umgebung. Doch keiner der vielen Passanten um sie herum schien Notiz von ihr zu nehmen. Mittagszeit. Ein jeder war mit sich selbst beschäftigt, hatte Besorgungen zu erledigen oder eilte in eines der Restaurants.

Sie kam nicht oft hierher. Eigentlich suchte sie dieses Postamt nur dann auf, wenn sie eine dieser kryptischen Mails erreicht hatte. Ein Schließfach, das ihr das größte Maß an Heimlichkeit und Diskretion gewährte. Wie so vieles in ihrem heutigen Leben; diesem Doppelleben.

Ein nochmaliger sichernder Blick in die Runde, bevor sie ihren Fuß auf die Straße setzte und die Seiten wechselte.

Durch die Drehtür hindurch betrat sie die funktional wirkende Schalterhalle. Sie tat, als müsse sie sich erst anhand des Schlüssels und der Hinweisschilder orientieren. Dabei beobachtete sie erneut ihr Umfeld. Das Verhalten eines gehetzten Tieres, ging ihr dabei durch den Kopf. Und doch waren es diese Instinkte, die ihr bislang das Leben und die Freiheit gesichert hatten.

Gelassenen Schrittes steuerte sie das Postfach an, das sie vor Jahren angemietet und seitdem selten aufgesucht hatte. Das letzte Mal vor ein paar Monaten, erinnerte sie sich mitleidlos. Wie jedes Mal zuvor würde es auch dieses Mal das Leben mancher Menschen auf ewig verändern.

Der weiße handelsübliche Briefumschlag füllte nahezu das gesamte Fach aus. Er wirkte verhältnismäßig schwer. Auch das war nichts Neues. Erneut packten sie die Erinnerungen, als ihr Blick die Adressatin streifte.

Das Herz wurde ihr schwer bei dem Gedanken an die wahre Trägerin dieses Namens. Karen Winter. Ihr liebliches Lachen, die Fröhlichkeit, mit der es ihr gelang, jeden Regentag in Sonnenschein zu verwandeln. Gedanken an ihre gemeinsame, aufregende Zeit in Südostasien. Rückblickend betrachtet waren es die schönsten Monate ihres bisherigen Lebens gewesen. Unbeschwert, zusammen mit dieser beschwingten Freundin, die sie mitzog und das Leben wieder lieben lernen ließ. Und nicht nur das Leben.

»Jetzt werde nur nicht sentimental«, murmelte die junge Frau hart zu sich selbst und wischte mit dem Handrücken eine aufsteigende Träne aus dem Augenwinkel. Tiefes Durchatmen, ein eiskaltes Abblocken der weiter auf sie einstürzenden Erinnerungen. Schluss mit diesen romantischen Gefühlen. Nicht so lange, bis dieser neue Job erledigt wäre. Wenn sie ihn denn annahm.

Entschlossen versenkte sie den Umschlag in der großen Schultertasche, die sie bei sich trug. Das Postfach verschließen, ein erneutes Scannen ihrer Umgebung. Ein Handeln, das ihr längst ins Blut übergegangen war.

Ohne erkennbare Eile verließ die rätselhafte Frau das Gebäude und wandte sich in Richtung Katharinenstraße. Mit dem Mittagsläuten der Kirche im Rücken, die der Straße ihren Namen gab, ging es in Richtung Nikolaifleet, das sie über die Reimersbrücke überquerte. Ein kalter Wind zerrte an ihrem modischen Kamelhaarmantel und ließ sie frösteln. Der Gedanke an das, was sie bei sich trug und dass letztendlich ein Mensch dadurch sterben würde, hatte nicht annähernd diese Wirkung auf sie.

Das Haus im Hans-Henny-Jahnn-Weg war eines der älteren in der Straße. Es stammte noch aus der Kaiserzeit, meinte sie sich zu erinnern. Was im Grunde genommen unwichtig war. Sie fühlte sich hier sicher und beschützt. Hier im dritten Stock, zwischen den alten Leutchen und den New-Age-Typen, die ausnahmslos mit sich selbst beschäftigt waren. Man lebte nebeneinander her und ließ sich in Ruhe. Etwas, das mit Gold nicht aufzuwiegen war. Das Schönste an ihrer geräumigen Wohnung war jedoch der große alte Kachelofen, der dekorativ in der Ecke ihres Wohnzimmers stand. Ihr ›Tresor‹, wie sie ihn selbst nannte. Mit etwas Geschick hatte sie ihn, gelinde gesagt, nach ihrem Einzug modifiziert. Ein sicheres Versteck für all die Gegenstände, die definitiv nicht zu der ewigen Studentin gehörten und von niemandem gefunden werden durften.

Sie legte die Umhängetasche mit dem brisanten Inhalt auf dem Schreibtisch ab und ging in die Küche, um einen Tee aufzusetzen.

Nur langsam fiel die Anspannung von ihr ab und erlaubte, ihren Gedanken freien Lauf zu lassen. Ein neuer Auftrag wartete auf sie. Der wievielte?, fragte sie sich und war es doch längst leid nachzurechnen. Am jüngsten Tag würde man es ihr ohnehin brühwarm auftischen. Bedeutend schwieriger war es da bei der Frage nach dem Sinn ihres Handelns. Nicht dass sie es ehrlich bedauerte; doch mit jedem Unmenschen, den sie ausschaltete, rückten gefühlt zehn weitere nach. Da war sie, diese schleichende Müdigkeit, die sich erneut in ihr festzusetzen versuchte. Erneut tauchte Karens liebliches Gesicht vor ihrem geistigen Auge auf. Sie versuchte, sich dagegen zu wehren, und versagte doch vor den auf sie einstürzenden Erinnerungen. Karens Lachen, das verführerische Glitzern in ihren Augen. Nur um ihr kurz darauf sterbend in den Armen zu liegen. Erneut diese bohrenden Fragen, ob es das alles wert gewesen war. Alle Menschen, die ihr je etwas bedeutet hatten, waren tot. Sie war es, die jedem den sicheren Tod brachte. Denen, die es verdient hatten, genau wie der, die sie über alles liebte.

Ein tiefer Seufzer entrang sich ihrer Brust. Er reichte aus, um sich erneut auf das Wesentliche zu konzentrieren. Das Teewasser brodelte im Wasserkocher. Sie gab zwei Beutel einer ayurvedischen Teemischung in die Kanne und goss mit ruhiger Hand das Wasser auf.

Die Pulverbeschichtung der Einweghandschuhe jagte ihr, wie jedes Mal, ein Frösteln über den Rücken. Doch es war nötig. Von diesem Moment an war es überlebenswichtig, keine verwertbaren Spuren zu hinterlassen. Das Dossier ihres nächsten ›Kunden‹ wäre später das Einzige, was die Spezialisten der Polizei am zukünftigen Tatort finden würden. Darin war sie gut. Ein Ermittler von Europol hatte einmal mit einem Hauch von Verständnis von ihrer speziellen Visitenkarte gesprochen. Obwohl sie selbst nicht erwartete, auch nur einen Tag Strafmilderung dafür zu bekommen. Nur weil sie die Welt von einem weiteren abscheulichen Monster befreit hatte.

Der große Umschlag lag vor ihr auf dem Schreibtisch. Unschuldig weiß, ihre Anschrift wirkte gestochen scharf, kein Absender. Die bunten Briefmarken darauf verrieten als Herkunftsland Dänemark. Aufgegeben, laut Poststempel, in Kopenhagen. Unerheblich! Der Inhalt war wichtig, nicht der Absender, solange dieser ihr ein umfängliches Dossier sandte und den üblichen Betrag zahlte.

Die Schere hatte mit dem dreimal gesicherten Verschluss zu kämpfen. Als wollte der Versender unbedingt eine Beschädigung auf dem Transportweg vermeiden. Die Bündel Banknoten, die sie zuerst hervorholte, waren luftdicht eingeschweißt. Auf den ersten Blick gebrauchte Scheine, ohne fortlaufende Nummerierung. Dreißigtausend Euro würde sie zählen, daran zweifelte sie nicht. Ihre Auftraggeber waren keine Anfänger. Das Dossier!

Einen Schluck Tee genießen, die Augen schließen und sich sammeln. Wenn sie diesen Augenblick der inneren Einkehr hinter sich hatte, wäre alles anders. Sie würde die Vita eines Menschen kennenlernen, der, wenn es gut lief, nicht mehr lange auf dieser Erde wandelte.

Jesper Hyrde-Englund. Ihr erstes Gefühl hatte sie nicht getäuscht – Hjerting bei Esbjerg, Dänemark. Das offizielle Foto zeigte einen auf den ersten Blick sympathischen, jugendlich wirkenden Mann. Die Vita erzählte von einem erfolgreichen, rechtsliberalen Politiker, der es bis zum Staatssekretär und designierten Minister für Ernährung, Fischerei und Chancengleichheit geschafft hatte. Erfolgreich, charismatisch und mit diplomatischer Immunität gesegnet. Ein Machtmensch, mit Freunden an wichtigen Positionen, Geld und Connections, die ihn unantastbar machten. Ein Mann, mit dem man es sich nicht verscherzen sollte.

Dieser Auftrag würde anders ablaufen als gewöhnlich. Zu viele Lücken und Unwägbarkeiten, die es vorab zu klären galt. Ganz tief in ihr regte sich ihr untrügliches Bauchgefühl, diesen Job abzulehnen. Doch die Bilder auf den folgenden Seiten ließen ihr keine Wahl. Bilder von missbrauchten, von geschändeten Kindern und ihre Geschichte. Die Beschreibungen dazu musste sie nicht lesen, um für sich zu einer Entscheidung zu kommen. Geschichten, die ein Aufguss ihrer eigenen Erlebnisse waren. Nüchterne Daten und Fakten, die nicht annähernd widerspiegelten, wie die Peiniger jahrelang ihre perversen Gelüste austobten. Ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Geld, Macht und die richtigen Beziehungen waren die ständig wiederkehrenden Säulen, mit denen solche ›Menschen‹ ihre abnormen Gelüste ungestraft austoben konnten.

Es sei denn, es gab jemanden, der es auf sich nahm, der Engel mit dem Flammenschwert zu sein. Jemanden, dem die eigene Zukunft gleichgültig war. Den einzig der Wunsch antrieb, möglichst viele Täter mit sich zu nehmen, bevor es ihn selbst erwischte.

Während sie das Dossier durchlas, arbeitete es längst in ihrem Hinterkopf, welche Strategie die passendste wäre. Sie musste sich eine Legende erschaffen. Eine, die auch auf den zweiten Blick einer Überprüfung standhielt.


Kapitel 3

Die Zahlen sahen nicht wirklich gut aus. Die beiden Stornierungen, die heute aus Deutschland hereingekommen waren, waren dabei das kleinste Problem. Peder Wieland setzte die Brille ab und rieb seine brennenden Augen.

Im nächsten Leben werde ich mit Gewissheit kein Ferienhausvermieter, schwor er sich und sah aus dem Fenster, in Richtung Oksby Kirke. Im Grunde genommen sah er gar nichts durch die regenblinde Scheibe, durch die es zudem immer dunkler wurde. Ein nachdenklicher Blick zur Uhr. Er hätte längst Feierabend machen sollen. Ja wirklich, ein kleines Feierabendbierchen in Lise’s Pub, ehe es nach Haus ging. Er sollte Mads anrufen und vielleicht kam auch Ove hinzu. Obwohl … seitdem der Freund seinen Dienst in Varde versah, ließ er sich hier in Blåvand viel zu selten sehen. Doch Mads, der würde ihn nicht im Stich lassen.

Wieland hatte gerade zum Telefonhörer gegriffen, als die Tür zum Büro aufflog. Ein heftiger Wind folgte der Eintretenden und wirbelte neben einer unbehaglichen Feuchtigkeit erstes Laub in den Raum hinein. Das Knallen der gegen die Hauswand schlagenden Außentür hatte etwas Gespenstisches an sich. So als wäre der Leibhaftige gerade hier aufgeschlagen.

»Hallo.« Die späte Besucherin schlug die Kapuze ihrer übergroßen Jacke zurück und blinzelte angestrengt zu dem Mann hinter dem flachen Tresen. »Darf ich Sie noch stören?«

»Äh, ja?« Fasziniert musterte Peder die Frau, die auf ihn wie ein junges Kätzchen wirkte, das man gerade aus dem Wasser gezogen hatte. Ohne dass sie dabei etwas von ihrer Attraktivität eingebüßt hatte, ergänzte er für sich und verfiel automatisch ins Deutsche: »Wie kann ich dir weiterhelfen?«

Ein kurzes Stutzen der Frau, verbunden mit einem missfälligen Zucken ihrer Mundwinkel. »Ich benötige ein Haus. Ein Ferienhaus«, ergänzte sie viel freundlicher und strich sich eine feuchte Haarsträhne aus ihrem schmalen Gesicht. »Sie sind meine letzte Chance.«

Ihr Lächeln fing ihn ein. Was für eine Frau … Nej, den Gedanken verschloss Peder Wieland dann doch lieber vor sich und konzentrierte sich auf das Wesentliche. »Da kann ich sicher bei behilflich sein.« Ein schüchternes Lächeln an ihre Adresse. »Ich habe ein paar schöne Häuser frei. Hast du … haben Sie einen speziellen Wunsch?«

»Es soll vor allem ruhig gelegen sein. Ich benötige nicht viel an Luxus. Ach, und ich möchte es auf längere Zeit mieten.«

Hinter ihr klapperte die Außentür weiter im Spiel des Windes. Wieland erhob sich und bewegte sich mit einer knappen Entschuldigung an ihr vorbei, um diese zu schließen. Geschenkte Zeit, sich auf diese bemerkenswerte Frau einzustellen. Das Parfum, das sie aufgelegt hatte, verströmte einen Hauch von Frische und Anmut. »Wie lange, denken Sie, dass Sie es mieten wollen?«

Ihr Blick, der irgendwie an ihm vorbeiging, wirkte mit einem Male verbittert. »Drei Monate. Vielleicht auch auf länger. Wäre das möglich?«

»Det er vanskeligt.« Wieland rieb sich nachdenklich den Nacken und blendete entschuldigend um. »Das wird nun doch ein kleine wenig schwierig sein.«

»Wenn es ums Geld geht.« Verstehend stellte sie ihre Handtasche auf den Tresen, öffnete sie und suchte darin herum. Ein dicker Briefumschlag kam zum Vorschein. »Ich hoffe, dass Sie Euro nehmen?«

»Kein Problem. Dabei nicht.« Wieland rief seine Belegungsseite auf und blätterte zur Übersicht mit den Vermietungen. »Nur sehe ich, dass es über Weihnachten und Neujahr hinweg ist. Das ist unsere A-Saison. Für diese Zeit sind die Häuser meist über ein Jahr im Voraus gebucht.«

Aus den Augenwinkeln heraus registrierte er ihren entsetzten Blick. Gerade einmal drei Häuser stachen heraus, die in den Folgemonaten durchgehend frei waren. Eines von denen konnte er niemandem zumuten, solange es nicht grundlegend saniert war. Ein weiteres gehörte seinem besten Freund Mads. Bei ihm wusste er, dass dieser das Haus gern über Weihnachten für sich selbst zurückbehielt; für irgendwelche Verwandten. Aber sollte er dafür eine durchgehende Vermietung von drei Monaten und mehr in den Sand setzen?

»Ich kann das Haus gleich bezahlen«, flüsterte sie schüchtern. »Zumindest kann ich eine Anzahlung leisten.«

»Wie vermutet.« Peder Wieland rief das erste Haus auf und drehte den Monitor so, dass sie die Bilder betrachten konnte. »Ich habe für die Zeit zwei Häuser, die ich dir gern vorschlagen will.«

Sie beugte sich interessiert vor, als er die Bilddateien aufrief und die Diashow betätigte. Zeit für ihn, fasziniert ihre Ausstrahlung auf sich wirken zu lassen.

»Ist das nicht ein wenig groß? Ich meine, ich bin allein«, gab sie zu bedenken. »Und sind das etwa die Monatspreise?«

»Wöchentlich.« Wieland sah das Erschrecken in ihren Augen und schaltete unverzüglich. »Undskyld, das ist natürlich in dänische Kronen.« Der Zeiger der Maus wischte über das kleine Icon mit der deutschen Flagge. Die Summe veränderte sich. Doch offenbar nicht so weit, dass sie damit leben konnte.

»Das wären dann ja fast viertausend Euro«, entglitt ihr ein ehrfürchtiges Hauchen. »Ich … ich wollte keine Bank ausrauben.«

Noch mehr als das, überschlug Peder Wieland für sich. Kam doch der deftige Aufschlag um Weihnachten und Neujahr hinzu. Der Moment, um ihr Mads’ Häuschen vorzustellen. »Es gibt noch ein zweites Haus. Es liegt etwas einsamer und ist sogar billiger.« Wieland rief auch diese Bilder auf.

»Und wo ist der Haken?«

Peder fragte sich irritiert, was sie damit meinte, bis er auf die Lösung kam. »Der Besitzer hat das Haus ein klein wenig für sich reserviert. Doch ich will gern mit ihm reden und versuchen, eine spezielle Preis zu machen. Wenn er hört, dass du planst, eine längere Zeit hier zu wohnen, hat er vielleicht ein Einsehen.«

Silje Nehrmann bemächtigte sich der Maus und rief die Bilder des angebotenen Hauses einzeln auf, um sie zu vergrößern. Als Shabby-Chic bezeichnete man diese Art der Einrichtung, durchzuckte sie der Gedanke. Es hatte einmal Zeiten in ihrem Leben gegeben, da wäre sie mit einem spöttischen Lachen darüber hinweggegangen und hätte sich in einem Hotel eingemietet. Doch dieser Lebensabschnitt gehörte gottlob der Vergangenheit an. Hoffentlich und endgültig, ergänzte eine gehässige Stimme in ihrem Hinterkopf. »Ich würde es mir gern einmal anschauen.«

Dieser Ferienhausvermieter nickte verhalten und war offenkundig bemüht, sich seine Neugier nicht anmerken zu lassen. Was er wohl dachte? Sie rang sich dazu durch, zu einem Abschluss zu kommen. Die Alternative war, dass sie weiter durch die Nacht fuhr, um verzweifelt nach einem Unterschlupf zu suchen. Blåvand war jedenfalls ein Ort, den sie einmal als junges Mädchen mit ihren Eltern besucht und in guter Erinnerung behalten hatte. Zumindest versprach er einen Hauch von Geborgenheit und Ruhe.

Peder Wieland hatte unterdessen die beiden Schlüsselbunde vom Haken genommen und den Rechner heruntergefahren. »Wenn es Ihnen recht ist, fahre ich voraus«, schlug er ihr vor. »Sollte Ihnen eines der Häuser zusagen, können Sie gleich dortbleiben. Das Geschäftliche können wir dann morgen Mittag regeln.«

Sie nickte beifällig und schloss ihre Handtasche. »Danke, dass Sie das alles für mich machen. Sie haben doch sicherlich längst Feierabend, oder?«

Ein mildes Schmunzeln eroberte Wielands Gesicht. »Das schon. Manchmal hat es doch Vorteile, wenn nur der Kater auf einen wartet.« Er schlüpfte in seine Jacke und bedeutete ihr voranzugehen.

Ihr Wagen stand gleich neben seinem. Ein alter Golf, der, so wie es aussah, bis unter das Dach vollgeladen war. Vom Kennzeichen her kam sie aus Hamburg.

»Ich denke, wir fahren erst zu Horns Bjerge, dem ersten Haus, das du gesehen hast.«

Sie sah ihn an, als wollte sie etwas sagen. Doch es blieb bei einem stummen Nicken.

»Dann bis gleich, ich fahre vor.«

Während der Fahrt blieb Peder Wieland genug Zeit, sich seine Gedanken über die attraktive, aber unterkühlt wirkende Frau zu machen. Sein Bauchgefühl lief Sturm dagegen und signalisierte ihm, dass er lieber auf diese Rieseneinnahme verzichten solle. Über kurz oder lang würde sie nur Ärger bedeuten. Er sah in den Rückspiegel, auf die Scheinwerfer des Wagens, der ihm unbeirrt folgte. Kurz darauf stoppte er vor einem dunkel daliegenden Haus und stieg aus.

Aus dem Gebäude in der Nachbarschaft drang genug Licht zu ihnen, um den Platz vor dem Haus auszuleuchten. Und laute Musik, ergänzte Wieland für sich, der selbst nur bedingt auf Heavy-Metal stand. Damit war er nicht der Einzige, registrierte er die pikierten Blicke der Frau.

»Ist das hier immer so laut?«

»Das kann ich nicht sagen. Das Haus dort gehört einem anderen Vermieter.« Er klimperte mit dem Schlüsselbund. »Wollen Sie es sich trotzdem anschauen?«

Silje Nehrmann zuckte mit den Schultern, obwohl sie sich im Grunde ihres Herzens längst dagegen entschieden hatte. Was, wenn solche Randalebrüder öfter hier auftauchten? Und dann diese grässliche schwarze Farbe, mit der das Haus gestrichen war. Doch ansehen musste sie es sich. Mittlerweile wurde es hier draußen immer dunkler. Sie folgte dem Vermieter, der das Haus betreten hatte und nun aus einer Abstellkammer heraus an ihre Seite trat. Er betätigte mehrere Lichtschalter, die den Flur und die angrenzenden Räume in einem unangenehmen, kalten Licht präsentierten.

»Dieses Haus hat acht Schlafplätze«, moderierte der Mann neben ihr in einem Tonfall, als würde er sich selbst unbehaglich fühlen. »Die Einbauküche ist ganz neu, ebenso die Sauna, die dort im Anbau untergebracht ist.«

Kopfschüttelnd durchmaß Silje den Wohnraum. Möbel, die in Schwarz und Weiß gehalten waren. Ein Brennofen zwar, ansonsten alles ins Minimalistische gehend. Kaum Wandschmuck, nichts, was den Hauch einer persönlichen Note besaß. Selbst wenn sie die heutige Nacht im Auto verbringen musste, hier würde sie es auf Dauer nicht aushalten! Sie wandte sich dem sympathisch wirkenden Mann zu. »Ich denke, dieses Haus sagt mir überhaupt nicht zu. Dürfte ich doch noch das andere Haus sehen?«

»Ja, gerne. Das wird Ihnen vermutlich besser gefallen. Der Sandtoftevej liegt am Rande von Oksby und nicht so nahe am Militärgebiet wie dieses Haus.«

Silje wandte sich um und verließ beinahe fluchtartig das Haus. Ein Blick über die kaum bewachsenen Hügel zum Horizont. Das waren wohl die Dünen, erinnerte sie sich dunkel an ihre Jugendzeit.

»Wir können fahren.« Der Mann hatte das Haus verschlossen und stand bereits an seinem Wagen. »Wir müssen den Weg wieder zurückfahren.«

Erneut folgte Silje dem unscheinbaren Kleinwagen über die Schotterpisten und schmalen Straßen. Die niedliche Straßenbeleuchtung war mittlerweile in Betrieb. Erst jetzt fielen ihr die Ansätze auf, die an den Laternen angebracht waren. Kleine rostbraune Leuchttürme, die von innen heraus ein warmes Licht ausstrahlten. Wie süß war das denn! Ein warmes Gefühl durchströmte sie und ließ sie automatisch langsamer fahren. Um diese Zeit war noch viel Betrieb im Ort, den sie nun auf der Hauptstraße durchfuhren. Kurz darauf ließen sie das Ortsschild hinter sich. Links und rechts krochen die dunklen halbhohen Nadelwäldchen bis dicht an die Straße heran. Der Wagen vor ihr beschleunigte zügig und bog dann nach etwa zwei Kilometern rechts ab. Das kam so schnell, dass es ihr nicht gelang, die Hinweisschilder zu lesen. Irgendwas mit Høvlehuset meinte sie erkannt zu haben. Mit den dänischen Wörtern würde sie die nächste Zeit über ganz sicher ihren Kampf haben. Erschrocken trat sie auf die Bremse, als der Wagen vor ihr plötzlich scharf abbremste, kurz den Blinker setzte und zügig abbog. Kaum war ihr ein herzhafter Fluch über die Lippen gerutscht, bog der Wagen vor ihr erneut ab. Die Einfahrt schlängelte sich zwischen hohen Kiefern hindurch und endete auf einem unbefestigten Parkplatz.

Die Dunkelheit war nun beinahe vollständig. Vom Haus selbst war kaum etwas zu erkennen. Außer dass es aus Stein gemauert war und ein Strohdach besaß. Auch hier ging der Vermieter so schnell um das Gebäude herum, dass sie kaum hinterherkam.

Ja, dieses Haus hatte schon beim Eintreten eine ganz andere Ausstrahlung. Zu ihrer Rechten befand sich ein kleiner Hauswirtschaftsraum, in dem der Mann gerade die Sicherung einschaltete. Die Angaben, mit denen Herr Wieland sie fütterte, glitten ungehört an ihr vorüber. Mit angehaltenem Atem betrat Silje den kleinen Flur und betätigte die Lichtschalter. Auch wenn die Räume ausgekühlt waren, konnte sie im warmen Licht diese Behaglichkeit auf sich einwirken lassen. Die offene Küche mit der Durchreiche ins Esszimmer hinein, das Wohnzimmer mit dem gemütlichen Brennofen, der mit großen weißen Kacheln verkleidet war. Selten hatte Silje in den letzten Monaten solch ein intensives Gefühl von Geborgenheit und Zufriedenheit verspürt wie in diesem Augenblick.

»Ja, das würde ich sehr gern nehmen«, hörte sie sich sagen und drehte sich dabei im Kreise. »Und Sie werden mit dem Besitzer sprechen?«

»Ja, ich denke, er ließe mit sich reden. Mit Glück erreiche ich ihn heute Abend. Sodass wir morgen einen Vertrag schließen können.« Über das Gesicht des Mannes glitt ein zufriedenes Lächeln. »Wir müssen nur den Stromzähler ablesen und dann können Sie einziehen.«

Letztendlich war es dann wohl doch ein versöhnlicher Tag, entschied Peder Wieland für sich, während er vom Grundstück fuhr und eine glückliche Mieterin zurückließ. Jetzt musste er nur noch Mads davon überzeugen, dass er seine Weihnachtsgäste diesmal woanders einlogierte.

Er holte sein Handy hervor. Mads Nummer lag auf der Kurzwahl. »Hej, det er Peder.«

»Hej, wie geht es dir?« Die Stimme des besten Freundes klang angespannt. »Was gibt’s?«

»Gute Nachrichten! Wollen wir uns gleich in Lise’s Pub treffen?«

»Ich weiß nicht. Ich hatte heute einen vollen Tag und ein nicht wirklich gutes Gespräch mit Kirsten.«

Daher rührte also Mads’ Ausgebranntsein, begriff Peder und erahnte, wie der Freund drauf sein würde. Konnte Mads Exfrau ihn denn nicht endlich in Ruhe lassen? »Nun komm schon. Auf ein Bier. Ich habe sehr gute Nachrichten für dich.«

»Gut, ich bin in einer halben Stunde bei Lise.«

Peder beendete das Gespräch. Den Rest der Fahrt machte er sich seine eigenen Gedanken über das Los seines besten Freundes seit Schulzeiten. Nein, dann lieber der ewige Single bleiben, als das durchzumachen, was Mads zugestoßen war.

Nur wenig klüger befuhr Peder den großen Parkplatz, der im eigentlichen Zentrum Blåvands lag. Die Herbstferien in Deutschland waren noch nicht in allen Bundesländern beendet. Somit brummte der Tourismus weiterhin, der für die meisten von ihnen hier im Ort die Lebensgrundlage war. Diesmal bekam er sogar einen Parkplatz direkt vor dem Pub.

Schon vor dem Lokal wurde er von Nachbarn und Freunden begrüßt. Ein kurzer Smalltalk hier und da, ehe er hineinging und den letzten freien Tisch für sich und den Freund belegte.

Kaum hatte sie der junge Mann allein gelassen, begann es erneut zu regnen und zu stürmen. Silje Nehrmann schloss den Wagen und schleppte den schweren Koffer ins Haus. Das war es dann wohl vorläufig mit dem Wagen auspacken.

Ächzend bugsierte sie ihre Last ins Schlafzimmer, das dem Bad gegenüber lag, und betrat dann die Wohnstube. Der zentrale Platz im Haus, von dem alles abging. Nachdenklich sah sie sich um und nahm es für sich in Besitz. Kühl war es, spürte sie es über ihren Rücken ziehen. Jetzt, nachdem sie sich warm gearbeitet hatte, ganz besonders. Ob es ihr gelingen würde, den Brennofen anzuheizen? In dem kupfernen Bottich befanden sich einige Holzscheite, doch viel zu dicke. Also doch die Heizung, die hier so ganz anders mit Kipphebeln und einem blinden Temperaturregler zu bedienen war. Ob sie sich an all das würde gewöhnen können? Ob sie hier jemals zur Ruhe kam? Silje spürte, dass solche Stimmungen exakt in die falsche Richtung führten.

***

Peder Wieland hatte kaum an seinem Tisch Platz genommen, als auch Mads den Pub betrat. Unbeirrt trat dieser an den Tresen und begrüßte die Wirtin mit ein paar Worten. Zwei Touristinnen, die am Nebentisch saßen, tuschelten nervös lachend, ohne ihre Blicke von dem Ankömmling zu lassen.

So war es immer, wenn Mads Lynggaard die Bühne betrat, resümierte Peder und horchte in sich hinein. Wer von ihnen beiden hatte das bessere Los gezogen? Er, der ausgemachte Blindgänger, wenn es darum ging, die Liebe einer Frau zu erringen? Oder Mads? Der alles in die Wiege gelegt bekommen hatte und die Herzen der Frauen berührte, ohne es überhaupt wahrzunehmen?

»Hej Peder, du hast eben sehr geheimnisvoll geklungen.«

Der Freund kam mit zwei Flaschen Bier zu Peder an den Tisch und klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter. Er setzte sich ihm gegenüber und schenkte den Frauen am Nachbartisch ein einnehmendes Lächeln.

Das war sein Geheimnis, das war Mads. Einnehmend, positiv und sich seiner Ausstrahlung nicht einmal wirklich bewusst, die er auf die Menschen in seiner Nähe besaß. Die Mädels am Nebentisch gerieten an den Rand einer Ohnmacht und er bekam nicht einmal mit, dass er der Auslöser war.

»Peder?« Grinsend schnipste Mads mit den Fingern vor seinem Gesicht. »Was wolltest du mir sagen?«

Der Angesprochene kehrte aus einer anderen Welt zurück und tat mysteriös. »Du musst deine Weihnachtsgäste umquartieren.«

»Was ist geschehen? Warum tust du so geheimnisvoll?«

»Ich habe Lykkebo vermietet.« Peder Wieland berichtete dem Freund euphorisch, was sich vor Kurzem zugetragen hatte. Irritierend war nur, dass Mad’s Begeisterung von Satz zu Satz mehr abnahm. »He, ich habe dich schon mal leidenschaftlicher gesehen. Mann, das sind mindestens drei Monate, vielleicht sogar mehr!«

Inzwischen hatte es Mads geschafft, das Etikett auf seiner Bierflasche zu zerpflücken. Das Lächeln, das sonst sein Markenzeichen war, hatte es deutlich schwer, in sein Gesicht zurückzukehren.

»Ich plane, das Haus zu verkaufen.«

Mit offenem Mund setzte der Ferienhausvermieter sein Bier ab. »Echt jetzt? Ich meine … das ist gut … sehr gut. Du löst dich mental von Kirsten.« Peder wusste wohl als Einziger, wie sehr der Freund darunter gelitten hatte, dass seine Exfrau ihn damals betrogen und vorgeführt hatte. Das Haus war das Letzte, was ihn mit dieser Schnepfe verband. Das und sein Sohn Mikkel. »Hast du schon einen Käufer?«

Mads schüttelte den Kopf und ließ ein kraftloses Lächeln folgen. »Ich habe gedacht, du wirst mir dabei helfen.«

»Ja, gerne, nur … Willst du dir diese Einnahme entgehen lassen? Drei Monate«, zog er seine letzten Worte genüsslich in die Länge.

»Mir kommt es vor, als hätte dich die Dame längst um den Finger gewickelt.«

»Mich!?!« Peder rollte mit den Augen.

Mads stand auf und holte ihnen ein weiteres Bier. »Komm, ich kenne dich. Erzähle mir von ihr. Ist sie hübsch?«

»Ach was. Nun ja«, geriet Peder ins Schwärmen. »Sie sieht schon rassig aus. Obwohl, ganz jung dürfte sie nicht mehr sein. Sie wirkt … Ja, sie wirkt geheimnisvoll, mit einer Spur Weltenschmerz.«

»Herrgott Peder, du redest wie ein Philosoph.« Mads hatte zu seinem Lachen zurückgefunden. »Komm, wie sieht sie aus?«

»Langes, lockiges rotes Haar. Sie hat ein schmales zartes Gesicht«, tauchte Peder mit geschlossenen Augen in seine Erinnerung hinab. »Und um die Nase herum hat sie süße Sommersprossen. Sonst kann ich nicht viel sagen. Die große Jacke, die sie trug, hat eigentlich alles verdeckt.«

»Hm, drei Monate sagtest du?«

»Ja, mit Möglichkeit zur Verlängerung. Sie mag das Haus. Ich habe ihr versprochen, dass ich mit dir reden werde.«

»Okay, versuchen wir es mit ihr«, ließ sich Mads überreden, obwohl sich alles in ihm sträubte. »Aber keine Sonderkonditionen! Und ich will, dass du dich um den Verkauf kümmerst.« Er trank den Rest seines Bieres in einem Zug und erhob sich. »Entschuldige, ich muss am Morgen früh aufstehen.«


Kapitel 4

Die letzte Nacht war anstrengend gewesen. Silje hatte zwischen den Regenschauern ihre Habe ins Haus geholt und war dann wie ein Stein auf das Bett gefallen.

Jetzt lag sie hier in ihrer Kleidung, auf einem ungemachten Bett und starrte an eine weißgestrichene, getäfelte Decke. Die Sonne schien aus einem wolkenfreien Himmel ins Zimmer hinein und setzte alles in ein richtiges Licht. Und doch war sie sich nicht sicher, ob sie bleiben sollte. Nur, wohin sollte sie denn noch flüchten? Es gab keine absolute Sicherheit. Sie hatte alles geplant, an alles gedacht, war sie sich sicher. Niemand außer ihrer Freundin Sybille wusste, wohin sie geflohen war; und die würde schweigen wie ein Grab. Okay, ich werde bleiben, entschied sie aus dem Bauch heraus. Erst einmal für vier Wochen, mit Garantie auf Weitermietung. Ja, so wollte sie es regeln. Der junge Mann vom gestrigen Abend schien doch sehr zugänglich zu sein. Wie er sie angesehen hatte.

Silje erhob sich von ihrem Bett und trat aus dem Zimmer hinaus. Herr im Himmel war das ein Schlachtfeld. Sie dachte an ihren überstürzten Aufbruch aus Hamburg und daran, dass sie wahllos zusammengetragen hatte, was ihr in die Hände gefallen war. Sie würde Tage brauchen, bis sie alles wiederfand und sich eingerichtet hatte.

Mit ihrem Beauty-Case und dem Kulturbeutel bewaffnet suchte sie das Bad auf. Na, seine besten Jahre hatte der Raum bereits hinter sich. Zumindest wirkte es auf dem ersten Blick hin sauber. Raus aus den Klamotten, trieb sie sich an. War es überhaupt schon mal geschehen, dass sie in ihrer Kleidung eingeschlafen war? Was für ein Start in ein neues Leben!

Fröstelnd überwand Silje die kühle Strecke zurück ins Bad. Der dunkel gehaltene Steinfußboden war eisig kalt. Da war es eine Wohltat, sich unter die Dusche zu stellen und das schnell heiß werdende Wasser auf dem Körper zu spüren. Das wohlriechende Shampoo vermittelte umgehend das Gefühl, sich endlich wieder wie ein Mensch zu fühlen. In Ermangelung eines Stücks Seife verteilte sie es über ihren ganzen Körper und genoss das auf sie herabprasselnde Wasser … das mit einem Male gar nicht mehr so heiß war. Sch… der Fluch blieb ihr im Halse stecken. Den Regler auf heiß zu stellen, brachte kaum einen spürbaren Erfolg. Die Temperatur des Wassers nahm rapide ab. Zu allem Unglück hatte sie nicht an ihr Badelaken oder den Bademantel gedacht. Jetzt waren es erste Tränen, die ihren Körper herabperlten.

***

Den ganzen Morgen über weilte Peder Wieland mit seinen Gedanken bei der Frau, die gestern so stürmisch in sein Leben getreten war. Und bei den anstehenden Plänen seines Freundes, ergänzte er bekümmert für sich. Ein Empfinden, das ihn mehr verwirrte, als er bereit war zuzugeben. Warum freute er sich nicht für Mads, dass dieser endlich Abstand zu seiner Exfrau fand? Es war doch gut, das Mads jetzt bereit war, das Haus abzustoßen, das er in seiner damaligen Verliebtheit für Kirsten angeschafft hatte. Nur weil seine Madame gehofft hatte, dadurch schnell reich zu werden. Aber so war diese Frau schon immer gewesen. Viel Geld verdienen und immer auf der Überholspur leben. Jeder, außer Mads, hatte es damals kommen sehen.

Peder war froh, dass die folgende Kundin ihn von seinen Gedankengängen abhalten würde. Oder auch nicht, ergänzte er, als er in ihr ebendiese Traumfrau wiedererkannte. Sie wirkte zwar leicht derangiert, trug heute aber eine weit positivere Ausstrahlung mit sich.

»Guten Morgen, Herr … Ich weiß gar nicht, wie Sie heißen?«

»Peder. Peder Wieland. Guten Morgen.« Ein Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Ferienhausvermieters aus. »Und Ihren Namen erfahre ich ja auch gleich, oder?« Er erhob sich höflich und reichte ihr die Hand. »Haben Sie gut geschlafen? Fühlen Sie sich wohl? Wie finden Sie das Haus?«

»Das sind ja einige Fragen.« Silje gab die Hand des jungen Mannes frei. »Die ich leider nicht alle mit einem Ja beantworten kann.«

»Oh, woran mangelt es denn?«

»Das ist noch eine lange Liste. Zuerst einmal an einem starken Kaffee.« Sie lachte verlegen. »Ich habe an vieles gedacht, nur nicht daran, dass ich mich in einem Ferienhaus selbst versorgen muss.«

»Das passiert nicht nur Ihnen so.« Peder machte auf dem Absatz kehrt und verschwand im Nebenraum. »Den Kaffee mit Milch und Zucker?«

»Oh, das ist aber lieb von Ihnen. Schwarz, ich trinke ihn immer schwarz.« Silje horchte in die Richtung, in die er verschwunden war. Ein wirklich aufmerksamer junger Mann, erkannte sie für sich. Mit einem Becher Kaffee und einem kleinen Teller mit dänischen Buttercookies kam er zurück.

»Etwas Besseres kann ich Ihnen zurzeit leider nicht bieten.«

»Das ist mehr, als ich zu hoffen wagte.« Wie eine Verdurstende setzte Silje den Becher an die Lippen. Das heiße Getränk weckte umgehend ihre Lebensgeister. »Nun haben Sie mir ein weiteres Mal mein Leben gerettet.«

»Das freut mich. Dann wird es mir sicher auch gelingen, Ihnen die weiteren Sorgen von den Schultern zu nehmen«, flirtete er zurück und verscheuchte den Gedanken, herauszufinden, ob er je Chancen bei ihr hätte.

»Danke schön«, hauchte sie und schlug die Augen nieder. »Ich muss Ihnen gestehen, so unbeholfen wie heute Morgen habe ich mich lange nicht gefühlt. Das heiße Wasser war sofort wieder kalt. Gibt es denn gar keine Bettwäsche? Bekommt man hier alles, was man zum Leben braucht? Ach, und ist es möglich, das Haus vorerst über vier Wochen zu mieten und sich eine Verlängerung zu sichern? Konnten Sie schon mit dem Besitzer sprechen?«

Peder Wieland lachte befreit auf und bemühte sich, all ihre Fragen umfassend zu beantworten. Mit der letzten begann er: »Ich konnte gestern mit dem Eigentümer sprechen und denke, dass er Ihnen das Haus auch über Weihnachten und Neujahr überlässt. Nur muss er Gewissheit haben, dass Sie zu Ihrer Zusage stehen.«

»Das heißt, ich muss gleich die vollen drei Monate mieten?«

»Ich denke ja.« Wieland hob in einer verlegenen Geste seine Schultern. »Mads … Ich meine, der Eigentümer verspricht uns im Gegenzug, seine Verkaufsabsichten zurückzustellen.«

»Das Haus soll verkauft werden?«

»Nicht solange Sie darin wohnen. Das hat er mir zugesagt.«

Silje Nehrmann biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. Wie sie es hasste, in Zugzwang gebracht zu werden. Drei Monate, das waren mindestens zweitausendfünfhundert Euro, überschlug sie im Geiste. Ihre Finanzen würden nicht lange reichen, wenn das so weiterging.

»Dreitausendundzwölf Euro wären es dann bis zur Woche drei«, zauberte der Vermieter eine Summe hervor, die weit über dem lag, was sie eben überschlagen hatte.

»Wie?« Silje spürte, wie ihr Blut in Wallung geriet. »Das wären ja weit mehr als die zweihundert, die ich laut Katalog pro Woche zahlen muss! Außerdem wäre es doch wohl recht und billig, über die Zeit einen Nachlass zu bekommen. Ich denke, ich muss selbst mit dem Besitzer verhandeln.«

Peder musste bei dem Gedanken daran sein Auflachen herunterschlucken. Mads und diese selbstsichere Frau in einem Raum; ja, das würde wirklich lustig werden. Stattdessen ließ er ein bedächtiges Kopfschütteln folgen. »Das ist keine so gute Idee. Ich verspreche Ihnen, dass ich bei nächster Gelegenheit ein weiteres Mal mit ihm darüber sprechen werde. Nur machen Sie sich bitte keine Hoffnungen. Unsere Mietpreise sind knapp kalkuliert und die Auflagen, die der dänische Staat uns Vermietern auferlegt, sind nicht ohne.«

Silje hätte in diesem Moment nichts lieber getan, als wütend mit dem Fuß aufzustampfen. Doch ihre Kindheit lag weit hinter ihr. Zudem hatte sie seit ihrer Trennung von Hartmut ständig erfahren müssen, dass das Leben kein Ponyhof war. Es half nicht, wenn sie immer nur davon sprach, alles hinter sich zu lassen. Sie musste ihr Leben endlich in den Griff bekommen. »Gut, ich nehme es. Aber mit dem Preis haben wir das letzte Wort noch nicht gesprochen.«

Peder Wieland nickte aufatmend und schob ihr den Anmeldebogen zu.

»Was ist das?«

Die Blicke aus ihren so intensiv grünen Augen bannten ihn an seinen Platz.

»Das Anmeldeformular. Wir benötigen die Daten für die Kundenkartei und für die Meldungen an die Tourismusbehörde. Hast du deinen Ausweis dabei? Ich kann dir gerne helfen.« Wieder dieser Blick aus ihren eindrucksvollen Augen. Nur war dieser diesmal deutlich finsterer. Schon gestern Abend hatte sie ihm dadurch signalisiert, dass sie wenig erbaut darüber war, wie er sie duzte. Dabei gab es im Dänischen nicht die förmliche Anrede ›Sie‹. »Ich möchte mich …«

»Es ist gut.« Sie stellte ihre Handtasche auf den Tresen und öffnete diese mit verkniffenem Mund. Sie holte eine dieser dicken Frauenbörsen heraus und fummelte den Ausweis hervor.

Peder nahm das Dokument entgegen. Das Bild hatte wenig Ähnlichkeit mit dieser attraktiven Frau, die vor ihm stand. Doch das hatte nichts zu sagen. Er selbst sah auf seinem Ausweis wie ein Schwerverbrecher aus. »Sybille Martens?«

»Ja, oder glauben Sie mir das etwa auch nicht?« Betretenes Schweigen. Sie griff sich das Formular und begann es auszufüllen.

»Frau Martens, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.« Wieland wartete vergebens auf eine Annahme der Entschuldigung. Ernüchtert ging er in den Nebenraum und suchte für sie die schönste Bettwäsche heraus. Gefasst kehrte er zurück und tauschte Bettzeug gegen Formular. »Kann ich Ihnen sonst auf irgendeine Art behilflich sein?«

»Nein.« Sie schloss ihre Handtasche und ergriff mit einem flackernden Lächeln die Bettwäsche. »Entschuldigen Sie, dass ich eben ein wenig mürrisch war. Ich hatte in den letzten Tagen wenig gute Momente.«

»Dafür nicht. Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Wir Dänen sprechen uns nur mit Du an. Das mag für euch Deutsche ein wenig zu direkt sein.«

»Ach so.« Ihr Lachen wirkte befreit, als sie ihm die Hand entgegenhielt. »Ja, das wird es sein. Dann sagen wir doch einfach Du. Ich bin Sybille.«

Silje verließ das Büro mit klopfendem Herzen und feuchten Handflächen. Ärgerlich, dass sie nicht vorher bedacht hatte, den Ausweis vorzuzeigen. Ob dieser Wieland etwas ahnte? Sie musste Sybille benachrichtigen. Herr im Himmel, was hatte sie sich nur dabei gedacht! Kaum saß sie im Auto, kramte sie das Handy hervor, das Sybille ihr am Tag der Abreise zugesteckt hatte. Uralt, prepaid und nicht zu orten, erinnerte sie sich an die mahnenden Worte der Freundin. Und nur zu benutzen, wenn es unbedingt nötig war. War es das? Nötig? Eine SMS? Das musste doch gehen.

***

Mads Lynggaard hatte heute nicht gerade seinen besten Tag gewählt, erkannte er für sich. Das gestrige Gespräch mit Peder hatte vieles wieder aufgewühlt. Er hätte das Haus längst verkaufen sollen. Stattdessen würde er es sich länger als geplant ans Bein binden. Wer kaufte schon ein Haus, das für eine kleine Ewigkeit vermietet war? Nein, er musste den Vertrag rückgängig machen, unbedingt.

»Hej Mads! Was ist mit dir los?« Thorben Skærbek, der Zimmermann lehnte an dem Deckenbalken, den er längst mit Hilfe seines Pflegmanns auf das Mauerwerk hatte aufbringen wollen.

»Entschuldige.« Mads hob beide Arme. Bevor er sich seiner Arbeit widmen konnte, klingelte sein Handy. »Nochmals sorry.« Er nahm das Gerät vom Gürtel und erkannte missmutig, wer ihn nun anrief. »Thorben, das ist wichtig.«

Mads trat aus dem Neubau hinaus und nahm Peders Gespräch an. Ausdauer musste belohnt werden. »Ich hoffe, sie hat die Bedingungen abgelehnt.«

Stutzen auf der anderen Seite. »Meinst du Frau Martens?«

»Weiß nicht. Diese Frau eben, die du mir gestern schmackhaft machen wolltest.«

»Hej, das ist nicht nett. Du weißt, dass ich dich nicht verkuppeln werde.«

»Nicht mehr«, knurrte Mads und ballte die Faust in seiner Tasche. »Was ist, hast du diese Frau weitergeschickt?«

Diesmal ein bedeutsames Schweigen. »Sie hat für drei Monate im Voraus bezahlt. Inklusive der Saison A.«

»Peder, ich kann Lykkebo nicht verkaufen, wenn du sie da wohnen lässt.«

»Sag mir nur eines. Warum bist du plötzlich so wild darauf, Lykkebo zu verkaufen?«

Mads Lynggaards Kiefer mahlten vor unterdrücktem Zorn. Sein harter Blick verfolgte, wie eine junge Familie am Nachbarhaus mit ihren Kindern spielte. So fröhlich, so liebevoll, dass es ihm das Herz zerriss.

»Mads?«

»Kirsten will Jørgen heiraten.«

»Mads? Mads, bist du noch dran?« Peder Wieland legte nachdenklich auf, wobei er sich fragte, wie er seinem besten Freund in dieser Lage helfen konnte. Mads’ letzte Äußerung sprach nicht davon, dass er wirklich über die Trennung von seiner Exfrau hinweg war. Vielleicht sollte er doch noch einmal mit Ove reden? Der dritte Musketier ihrer Runde fand sonst auch auf alles einen guten Rat.

***

Erst die Horrorsumme für die Miete und nun die dringend benötigten Einkäufe. Ja, sie nahmen hier natürlich Euro. Zweifelnd sah sie auf die Silbermünzen in ihrer Hand; mit und ohne Löcher. Der Rest von ehemals fünfzig Euro. Wenn das so weiterging, war sie am Ende des Monats pleite. Silje ließ das Kleingeld in ihre Handtasche fallen und holte stattdessen das altersschwache Handy heraus. Nie hätte sie geglaubt, dass sie einmal ihr Smartphone vermissen würde. Erneut keine Antwort. Mensch Sybille, melde dich endlich. Was soll ich nur tun?

Tja, was wohl? Silje stopfte das nutzlose Handy in die Tasche zurück und machte sich mit den Einkäufen auf den Weg in ihre neue Heimat. Zu tun gab es ja genug.


Kapitel 5

Der Freitagmorgen brachte die Routinearbeiten für das kommende Wochenende mit sich. Sieben Anreisen würde es am Samstag geben. Das Reinigungsteam musste noch in zwei der Häuser geschickt werden und dergleichen mehr. Kaum hatte Peder sein Büro betreten, fiel ihm das Blinklicht des Anrufbeantworters auf. Er betätigte die Taste des Aufnahmegerätes und hörte umgehend eine ihm mittlerweile wohlbekannte Stimme.

»Herr Wieland?« Eine angestrengt wirkende Pause. »Sybille Martens hier. Bin ich bei Ihnen richtig, um einen festgestellten Schaden zu melden? Dieser Warmwasserboiler spinnt die ganze Zeit über. Ich hole mir den Tod, wenn ich nach drei Minuten Duschen nur noch kaltes Wasser habe! Manchmal wird es gar nicht erst warm. Und dann ist da auch noch der Wasserhahn in der Küche. Wenn man ihn aufdreht, leckt es an der Seite.«

Wieland setzte sich an seinen Arbeitsplatz und versenkte sein Gesicht in den Händen. Diese Frau schon wieder, suhlte er sich in einem Aufstöhnen. Wenn sie denn wenigstens ihre Nummer hinterlassen hätte. Er notierte sich die Hausnummer und den Schaden mit der dumpfen Vorahnung, dass sie mit Gewissheit weitere Mängel finden würde. Nun, das war ein Fall für Mads, der seine Mieterin dann gleich richtig kennenlernen durfte. Ein leicht diabolisches Grinsen huschte ihm dabei über das Gesicht.

»Peder, altes Schlitzohr. Was ist mit unserem Mads nicht in Ordnung?«

Imposanter konnte der Auftritt der Staatsmacht nicht wirken. Peder sah zu dem eintretenden Politikommissær auf. Wie ein Bär füllte Ove Rassmussen mit seiner Gestalt den kompletten Türrahmen aus. »Frag mich mal, was mit ihm überhaupt in Ordnung ist.«

»So schlimm?«

Peder hob die Schultern und seufzte: »Kirsten will diesen Jørgen heiraten.«

»Fuck.« Ove durchmaß mit einem Kopfschütteln das Büro und bediente sich ungefragt an der Kaffeemaschine. »Das volle Programm?«

Peder hob die Schultern. »Das hat Mads nicht gesagt. Aber er will das Ferienhaus verkaufen.«

»Ist das nicht was Gutes?« Ove verzog das Gesicht und sah skeptisch auf den Becher in seiner Hand. »Zumindest besser als dein verbrannter Kaffee.«

»Zurzeit bestimmt nicht. Ich habe erst gestern sein Lykkebo für ganze drei Monate vermietet. Und nun kommt er bei mir an und will die Frau da nicht wohnen lassen. Weil er es angeblich verkaufen will.«

»Das ist doch Blödsinn«, brummte der Polizist. »Wer kauft oder verkauft um diese Jahreszeit sein Ferienhaus? Wir werden Mads heute Abend aufsuchen und ein aufrichtiges Gespräch unter Freunden führen«, entschied er kurzentschlossen. »Ich hole dich um sechs Uhr ab. Und du bringst den schönen Whisky mit, den dir dein deutscher Freund hiergelassen hat.«

»Was wenn Mads keine Zeit hat?«

»Er wird, Peder. Er wird uns empfangen.« Der Politikommissær sah über seine Schulter hinweg und ließ ein dröhnendes Lachen folgen. »Aber nun muss ich los und schwere Jungs einfangen.«

Peder Wieland trat an das Fenster und verfolgte, wie Ove gemächlich in den Streifenwagen einstieg. Es war schon beruhigend, dass er einen Teil seiner Besorgnis mit dem Freund teilen konnte. Nur ließ sich diese innere Stimme nicht verscheuchen, die ihm unmissverständlich drohte, dass sie allesamt aufregenden Zeiten entgegengingen.

***

Silje wischte sich prustend mit dem Unterarm über die Stirn. Es half nicht, diese sich wie lebendig gebärdende Haarsträhne aus dem Blickfeld zu bekommen. Sie ging ins Bad und löste ihr Haar, um es durchzubürsten, zusammenzufassen und erneut mit der Klammer zu fixieren. Nach dieser Putzaktion spürte sie jeden Knochen in ihrem Leib. Dabei war sie das letzte Jahr längst nicht mehr auf Rosen gebettet gewesen. Dank ihrer Fehler, dank ihrer Unbeherrschtheit, dank ihres Exmannes. Und schon war sie erneut in dieser unaufhörlichen Dauerschleife gefangen. Denke positiv, denke daran, was du alles geschafft hast.

Silje wandte sich von ihrem Spiegelbild ab und verließ das Bad. Es gab immer noch genug zu erledigen. Zum Beispiel, diesen Vermieter anzurufen, um ein weiteres Mal nachzuhaken, warum er nicht tätig geworden war. Oder eben, um selbst Hand anzulegen. Es wäre doch gelacht, wenn sie diesen Boiler nicht überlisten konnte.

***

Als Peder den Wagen vor seinem Zuhause im Fyrvej abstellte, saß Ove bereits auf der altersschwachen Holzbank vor dem Innenhof. Selbst im Sitzen und in ziviler Aufmachung wirkte er wie ein Fels in der Brandung. »Du bist schon da?«

»Richtig.« Ove stemmte die Faust in die Hüfte. »Deine Schilderung von Mads’ Seelenheil hat mir keine Ruhe gelassen. Hat er etwas über Mikkel gesagt?«

»Mikkel?« Peder sortierte die Erinnerung an Mads’ Sohn, der wie so viele Kinder das Leid trug, das die Trennung der Eltern mit sich brachte. »Nein, zumindest gestern nicht. Kommt er denn nicht zum Wochenende zu Mads?«

»Nein, ich meine, er ist mit seiner Mutter und ihrem Kerl in den Ferien. Mads hatte das letztens erzählt.« Ove vermied, dem Freund von den Befürchtungen zu erzählen, die Mads ihm vor Kurzem in einem schwachen Moment gebeichtet hatte. Herr im Himmel, hoffentlich kam Kirsten nicht auf diese Idee. Es würde Mads umbringen. »Sieh zu, Peder. Ich will den Abend nicht hier bei dir verbringen.«

»Duschen und umziehen muss ich mich aber«, begehrte dieser auf.

»Was für eine Diva«, brummelte Ove in seinen gepflegten Vollbart hinein und winkte verdrossen ab. »Wer fährt?«

»Ich opfere mich schweren Herzens«, warf sich Peder in die Brust und schloss die Tür auf. »Muss morgen ja eh ins Büro.«

Ove hatte sein erstes Bier gelüftet, als Peder endlich die Treppe herunterkam. »Hej, was ist das?« Er schnupperte wie ein Golden Retriever auf Speed. »Hast du dich eingesprüht? Eh, wir wollen einen ehrlichen Männerabend feiern.«

»Was ja nicht unbedingt heißen muss, dass wir wie eine Hammelherde duften müssen.«

»Ist es wegen dieser deutschen Frau?«

»Gibt es etwas, was man einem Polizisten verheimlichen kann?« Peder deutete seufzend auf die Flaschen, die auf dem Tisch standen. »Lass uns fahren.«

Peder nahm den Weg über den Sønder Vasevej. So würden sie das Verkehrsgewühl umgehen, das selbst zu dieser Jahreszeit um den Blåvandvej und den Ortskern herum herrschte. Am Ende der Straße hieß es dann doch warten. Eine Karawane aus Wohnwagengespannen, die allesamt Richtung Hvidbjerg Strandcamping fuhren, vereitelte ein zügiges Durchkommen zum Tane Hedevej, an dem Mads’ Vorfahren seit Generationen ihren Hof besaßen.

Irgendwann hatten sie es doch geschafft. Peder parkte seinen Wagen neben Mads’ Geländewagen und stieg aus. Nicht zum ersten Mal bewunderte er den Hof seines Freundes, der der Familie den Namen gegeben hatte: Lynggaard. Mit den Augen des Immobilienwirtes gesehen, war das Anwesen eine Goldgrube. Wenn Mads denn die Zeit und das Geld besessen hätte, es durchgehend zu renovieren. Stattdessen lief er lieber in der Gegend herum und half jedem anderen bei dessen Problemchen und kleinen Bauaufträgen.

»Hej Teddy.« Ove beugte sich zu dem Hund runter, der ihnen fröhlich bellend entgegengelaufen kam, und begrüßte ihn überschwänglich.

»Hej, kommt ihr endlich.« Mads trat aus dem ehemaligen Stall heraus und näherte sich ihnen. »Ich freue mich auf den Abend mit euch. Kommt rein.«

Die Männer mussten ihre Köpfe einziehen, um nicht an dem tief heruntergezogenen Strohdach anzustoßen. Sie traten in den kleinen Windfang und stellten dort ihre Schuhe ab.

»He, du hast die Küche endlich fertiggestellt.« Peder verbarg seine Überraschung und tat, als sehe er sich interessiert um.

»Es war ja nicht mehr viel zu erledigen.« Mads war ihnen als Letzter in den geräumigen Raum gefolgt.

»Und um darauf zu kommen, benötigst du ganze zwei Jahre?«, torpedierte Ove sämtliche ehrenhaften Versuche des Freundes und stellte den Zwanzigerpack Bier auf den Tisch. »Dann haben wir ja was zu feiern.«

»Kommt Leute, ich habe den ganzen Tag auf einem Bürostuhl gesessen.« Peder verdrehte die Augen und steuerte das Wohnzimmer an.

»Sucht euch den schönsten Platz aus.« Mads füllte Teddys Futternapf auf. Wohl wissend, dass sein gestriger Aussetzer der Grund für den überstürzten Freundschaftsbesuch war. Wenn schon mit jemanden darüber reden, dann mit den beiden. Er griff sich eine Flasche vom speziellen Linie-Aquavit und folgte den Freunden in die gute Stube.

***

Der Abend zog über das Land und brachte eine milde Brise mit sich. Der Duft von Heide und Kiefern umspielte sie und ließ eine lang vermisste Ruhe über sie kommen.

Möglicherweise war es ja doch nicht verkehrt, dass sie hierhergekommen war. Silje atmete tief ein und sah dann auf das Handy in ihrer Hand. Sybille hatte doch noch geantwortet. Wenn die Antwort sie auch nicht zufriedenstellte. ›Liebes, das war uns von vornherein bewusst. Hab keine Angst. Und vor allem, simse mich nicht wegen so was an!‹ Zähneknirschend erkannte sie, dass Sybille recht hatte. Zu viel hatte sie aufgegeben, um jetzt alles zu gefährden. Sie musste endlich lernen, auf eigenen Beinen zu stehen und ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Und gleich morgen würde sie damit beginnen. Blåvand war wie jeder andere Ort auf der Welt, der nicht Hamburg hieß. Ja, sie würde hierbleiben, sich eine Arbeit suchen und von vorn beginnen.

Mit neuem Mut verließ Silje die Terrasse und kehrte ins Haus zurück. Es gab noch genug einzurichten.

***

Ihr Männerabend war feuchtfröhlich schön, fand Mads. Sie hatten viel über ihre Jungenstreiche geredet und den ganzen Blödsinn, den sie in der Schule angerichtet hatten. Mittlerweile war das Bier geleert und sie selbst waren bei ihren heutigen Kapriolen gelandet. Mads hob die Flasche Aquavit und kassierte ein weiteres Mal Peders ablehnende Haltung.

»Sorry, ich muss morgen fit sein. Außerdem muss ich fahren.«

»Komm Peder, das war noch nie ein Grund für dich.« Mads schenkte sich selbst ein und bannte den Blick des Freundes. »Du bist noch immer böse mit mir.«

Peder stöhnte auf und raufte sich die Haare. »Du weißt, dass es nicht das ist. Ove und ich, wir machen uns Sorgen um dich.«

»Ich bin nicht lebensgefährlich erkrankt.« Mads wusste selbst, dass die Freunde mit ihrer Einschätzung recht hatten. Und dass er wirklich genug von diesem Schnaps hatte. Aber mit Vernunft kam er zurzeit nicht weiter. Zumal Peder und Ove nicht ansatzweise ahnten, was Kirsten ihm bei ihrem letzten Telefonat angedroht hatte. »Nein, ich freue mich sogar für Kirsten.«

»Und jetzt, wo du definitiv weißt, dass es kein Happy End mit ihr geben wird, wirfst du alles über Bord und verkaufst das Haus?« Nun war es Peder, der die Flasche mit dem Hochprozentigen ergriff und verteilte. »Ich kann dir sagen, dass nichts dergleichen helfen wird. Die Zeiten mit Kirsten werden dich auf immer und ewig verfolgen. Die guten wie die schlechten. Du musst deinen Frieden mit ihnen schließen.«

»Peder hat wie ein Pastor gesprochen«, brachte sich Ove ein und erhob das Glas. »Du brauchst eine neue Frau. Peder, hast du nicht eine an der Hand?«

»Ihr seid lustig!« Mads brach in ein schallendes Gelächter aus. »Glaubt ihr, ich würde jemals einen Mangel haben, eine Frau kennenzulernen? Gott, ich wünschte, es wäre andersherum.«

»Nej, du warst schon immer DER Frauenschwarm«, musste Ove neidlos anerkennen. Irritiert von Peders warnendem Blick vergaß er, was er anfügen wollte.

»Mads, wir wissen, dass wir dir damit nicht kommen müssen. Überhaupt, wenn es die Richtige für uns geben würde, wären wir allesamt längst glücklich verheiratet.« In Peder reifte ein Plan heran, den er in seinem Ausmaß und bei seinem Zustand kaum auszuloten vermochte. Bloß nicht gleich damit ins Haus fallen. Er sah auf seine Uhr und tat erschrocken. »Trotzdem sollten wir unser Treffen jetzt beenden. Die Touristen kommen morgen und ich muss ein paar Stunden geschlafen haben.«

Mads nickte erlöst und bot ihnen an: »Wollt ihr nicht hier schlafen? Die Gästezimmer sind gemacht.«

Während Ove mit der Möglichkeit liebäugelte, winkte Peder ab. »Ein anderes Mal gerne. Aber Ove hat sein Auto bei mir stehen.«

»Aber ihr habt einen kleinen Schnaps zu viel, denke ich. Nicht dass etwas passiert. Die Polizei macht jetzt häufig Kontrollen.«

Peder lachte übermütig und erhob sich. »Ja, nur heute nicht.« Auffordernd rüttelte er Ove am Arm. »Der eine Polizist hat Urlaub, der andere ist krank und Ove hier kann kaum geradeaus gehen.«

Mads begleitete die beiden hinaus bis an ihr Auto. Gemeinsam wurde Ove von ihnen auf den Beifahrersitz verfrachtet. Vor dem Wagen verabschiedete er sich von Peder und schloss diesen in die Arme. »Danke, dass es euch gibt. Und doch müsst ihr euch nicht um mich sorgen. Das mit Kirsten ist okay für mich. Ich freue mich für sie.«

»Das ist gut zu wissen.« Peder nickte und boxte ihm kameradschaftlich gegen die Schulter. »Der Abend bei dir war schön. Nebenbei bemerkt …«, mit einem listigen Augenzwinkern, das der andere in der Dunkelheit nicht sah, fiel Peder etwas Wichtiges ein. »Das habe ich fast vergessen. Deine Fähigkeiten als Klempner und Elektriker werden umgehend benötigt.«

»Okay, wo?«

»Im Lykkebo. Deine Mieterin hat heute Morgen angerufen und moniert, dass der Heißwasserbehälter zu schnell kalt wird. Und dass der Wasserhahn in der Küche undicht ist. Das solltest du schnellstens reparieren.«

»Peder, planst du etwas Unmoralisches?«

Das Problem an einer langjährigen Freundschaft war, dass man den anderen so genau kannte. Peder öffnete die Wagentür und dementierte aus vollem Herzen: »Nein. Ich meine nur, dass die Dame selbst für einen Mads Lynggaard ein wenig zu selbstbewusst ist. Ich will nur vermeiden, dass die mich dreimal am Tag anruft und nachfragt.« Peder winkte ein letztes Mal und setzte sich in den Wagen. »Ich sage dir auf keinen Fall, dass das genau die Richtige für dich wäre.«

»Was sagst du?« Ove pendelnder Blick fokussierte sich auf den Fahrer.

»Nichts, du Schnapsnase. Ich denke nur, dass wir Mads auf den richtigen Weg gebracht haben.«

»Das ist gut.« Ove lachte kratzend, ehe sein Kopf erneut zur Seite sackte und selige Schnarcher verkündeten, dass er hinfortgesegelt war.


Kapitel 6

Es war eine verdammt chaotische Nacht gewesen, die er hinter sich hatte. Am Alkohol hatte es nicht gelegen; dann wohl eher an den Träumen, die ihn bis hierher ins Bad verfolgten. Skeptisch betrachtete Mads Lynggaard sein Gesicht im Spiegel. Na, mit sechsunddreißig Jahren war der Lack langsam ab, oder? Warum fiel ihm gerade jetzt Peders Andeutung ein, dass er ein Frauenschwarm sei? »Ich doch nicht. Das würde ich doch wohl bemerken.« Ein trockenes Lachen kam ihm über die Lippen.

Das bestätigende »Wuff« lenkte seinen Blick auf Teddy, der schwanzwedelnd und mit schief gelegtem Kopf zu ihm aufschaute. »Nej, da stimmst du mir zu. Frauen sind nichts für uns.«

Mit einem schnaufenden Niesen drehte Teddy ab und trottete die Treppe hinab.

»Wie soll ich das jetzt verstehen?« Schmunzelnd sah er dem Hund hinterher und beeilte sich mit seiner Morgentoilette. Es gab heute eine Menge zu erledigen. Gleich nach dem Frühstück würde er zu Lykkebo fahren. Das würde nicht lange dauern. Eine Dichtung und die neue Zeitschaltuhr, die er längst besorgt hatte, wären schnell eingebaut. Danach gleich zu Thorben, um am frühen Nachmittag nach Hjerting zu fahren und Mikkel abzuholen.

Erneut kochte der Ärger über Kirsten in ihm hoch. Warum brachte sie den Jungen nicht selbst hier vorbei, wenn sie schon wieder plante, mit ihrem Kerl und ohne Kind zu verreisen. Nein Ove, Peder, ihr habt unrecht. Ich laufe dieser Frau ganz gewiss nicht mehr hinterher. Aber sie ist die Mutter meines Sohnes und sie weiß, wo sie die Knebel anziehen muss.

Silje lag mit geschlossenen Augen im Bett und genoss die Sonnenstrahlen, die zu ihr ins Schlafzimmer geschlichen kamen. Mit klopfendem Herzen erinnerte sie sich an den gestrigen Abend. Ja, sie begann sich richtig wohlzufühlen. Hier würden Hartmut und seine Handlanger sie bestimmt nicht finden. Für die nächsten Monate würde sie ein Versteck haben, in dem sie ihre Kräfte sammeln konnte, um sich darauf vorzubereiten zurückzuschlagen. Es gab nur einen einzigen Wermutstropfen. Auf Dauer war Dänemark ein teures Pflaster. Ihre Geldreserven schmolzen zusehends dahin. Sie würde sich wohl oder übel einen Job suchen müssen. Nur ob ihr das mit ihrem ›geborgten‹ Pass so einfach gelang?

Siljes Gedanken glitten zu dem Tag zurück, an dem sie und Sybille den Plan entwickelt hatten unterzutauchen, ohne Spuren zu hinterlassen. Damals hatte alles so einfach geklungen. Dabei war es keine Woche her. Sybille war an eine ihrer tausend Schachteln getreten und mit ihrem Ausweis und Führerschein an den Tisch zurückgekehrt. Mit den Worten »Was für ein Glück, dass ich noch nie die überkorrekte Staatsbürgerin war« hatte sie die beiden Dokumente vor Silje auf den Tisch gelegt. »Mit ein wenig Fantasie gehst du für mich durch. Du sagst einfach, dass du deinen Friseur nach den Fotoaufnahmen erschossen hast.« Gott, sie hatten wie junge Hühner dabei gelacht. Sybille hatte ihr daraufhin berichtet, wie sie vor einem Jahr ihre Geldbörse vermisst hatte. Vermutlich gestohlen, wie sie glaubhaft auf dem Amt versichert hatte. Das sei damals eine ziemliche Lauferei gewesen, all die Dokumente neu zu beschaffen. Ärgerlich, denn vor drei Monaten habe sie ihr Portemonnaie beim Abtauen des Gefrierschranks wiedergefunden und dann vergessen, die alten Ausweise abzugeben. Einer normalen Überprüfung würden sie allemal standhalten, hatte ihr die Freundin überzeugend versichert. Sie musste es schließlich wissend. Sybille besaß eine deutlich bewegte Vergangenheit, in der sie einige Male mit den Ordnungshütern zusammengestoßen war. So hatten sie sich auch damals, vor vielen Jahren, kennengelernt. Plötzlich hatte die jüngere Frau bei ihr im Garten der Villa am Wilmans Park gestanden. Sie würde unbedingt einen Rechtsanwalt benötigen, weil ihr die ›Bullen etwas anhängen wollten‹. Hartmut war natürlich unterwegs gewesen und hätte die Verteidigung dieser Terroristin eh abgelehnt. So ergab es sich, dass sie es in die Hand nahm, sich um Sybille zu kümmern. Seitdem waren sie beste Freundinnen geworden. Die einzig wahre, die ihr nach der Trennung von Hartmut von Gernhausen geblieben war. Oh, wie blauäugig war sie gewesen, begannen sich die Erinnerungen erneut in ihr heraufzuwürgen.

Doch es half nicht, sich über verschüttete Milch zu ärgern. Silje schlug die Bettdecke zur Seite und rappelte sich auf. Sie musste sich auf ihr neues Leben einlassen und einen Job annehmen, bei dem man eben nicht so genau auf die Papiere achtete. Bei diesem Vermieter hatte es schließlich auch geklappt. Vielleicht gelang es ihr sogar, diesen Herrn Wieland so zu bezirzen, dass er seine Kontakte spielen ließ. Na ja, so viel Eindruck hatte sie dann wohl doch nicht auf ihn gemacht, relativierte sie für sich. Sonst hätte er sich längst auf ihren Anruf hin gemeldet.

»Nein Teddy, du bleibst im Wagen«, befahl Mads dem Hund, der daraufhin gehorsam auf dem Beifahrersitz Platz nahm und hinausschaute. »Ich bin bald wieder da«, versprach er ihm und begab sich fröhlich pfeifend an das Heck seines Land Rovers, um den Koffer mit den Klempnerutensilien herauszuholen. Fast hätte er dabei die Zeitschaltuhr vergessen. Er musste nur daran denken, sie zu fragen, zu welchen Zeiten sie die volle Leistung benötigte. Ihr Auto stand beim Haus. Sie schien also da zu sein. Gar nicht solch ein Bonzenbomber, honorierte er den Anblick des alten Golfs. Die Fahrer solcher Autos waren meist umgänglich. Mads erinnerte sich an Peders unterschwellige Anspielung vom gestrigen Abend. Was das wohl für eine Dame war? Zumindest hatte sie einen anhaltenden Eindruck beim Freund hinterlassen.

Mads gab sich keine Mühe, leise zu sein. Die Pforte zum eingezäunten Terrassenareal klemmte. Das konnte er gleich im Anschluss richten. Das Unkraut an den Seiten würde er ebenfalls beseitigen müssen. Bei den mehr als zwanzigtausend Kronen, die sie hierließ, sollte das zum Service gehören.

Er klopfte mehrmals und recht vernehmlich an Türrahmen und Scheibe. Doch nichts geschah. Bestimmt war sie Joggen oder was Frauen sonst so taten. Sich lange aufhalten wollte er aber auch nicht. Notfalls konnte er ihr ja eine Nachricht hinterlassen.

Mads schloss die Tür auf und betrat das kombinierte Wohn- und Esszimmer. Der Duft nach einem Parfum drang ihm in die Nase und hinterließ den Hauch von etwas Besonderem. Frisch, sportlich und doch eine Note von etwas Verführerischem. »Hallo, ist jemand da?«, ließ er sich vernehmen, doch niemand antwortete ihm. Gut, so hatte er wenigstens den Weg frei und musste sich nicht in Smalltalk üben.

Silje war rundum mit sich zufrieden. So langsam bekam sie diesen Warmwasserboiler in den Griff. Haare nass machen, Wasser aus, einschäumen und länger abseifen, Wasser wieder an. Ein Dauerzustand sollte das aber nicht werden. Gleich nach dem Frühstück würde sie bei Peder Wieland vorbeifahren und sich in Erinnerung bringen. Oh Mann … Das war mal wieder typisch für sie. Jetzt hatte sie ihr Badelaken wieder im Schlafzimmer liegenlassen. Das einzige Handtuch würde eben reichen, um die Haare einzuschlagen. Fröstelnd eilte sie aus dem Bad hinaus.

Der markerschütternde Schrei löste eine eigenartige Starre in Mads aus. Verstört und zu keiner Reaktion fähig starrte er auf das weibliche Wesen, das urplötzlich splitterfasernackt vor ihm stand. Einzig sein Unterkiefer fiel haltlos herab. Außer, dass sein Unterbewusstsein wahre Schwerstarbeit leistete, um all das in sich aufzunehmen, was ihm die Augen lieferten.

Silje erging es kaum besser, als sie jählings vor diesem Mann stand, der sie fast um Haupteslänge überragte und wie versteinert ansah. Oh Gott, und sie stand nackt vor ihm. Ihre schmalen Hände wussten gar nicht, wo und wie sie zuerst ihre Körperstellen bedecken sollten. Als Nächstes überrollte sie eine heftige Scham. Darüber, in welch einer Lage sie sich wiederfand und darüber, was sie dem offenkundig jüngeren Mann hier darbot. Ihr Blut kochte so sehr, dass der Körper in Sekunden von allein trocknete.

»Wie … Wie kommen Sie hier rein?«, glitten ihr die Worte zitternd über die Lippen. »Was fällt Ihnen ein!« Erleichtert spürte sie, wie die heftigen Vorwürfe die Starre in ihr lösen.

»Undskyld … det er virkeligt pinligt«, entrang sich ihm ein Stöhnen, ohne dass es ihm gelang, seinen faszinierten Blick von ihr zu wenden. »Ich habe nicht gewusst, dass jemand hier ist.« Erst jetzt gelang es Mads, den Blick von ihr zu wenden. Wie ein kleiner Junge schlug er sich dabei die Hände vor die Augen und drehte sich um.

Silje fand weder die Gelassenheit noch die Abgeklärtheit, um mit Humor auf die peinliche Situation zu reagieren. Zu sehr ärgerte sie sich über sich selbst.

»Sie müssen mein Eindringen entschuldigen.« Der eigene Schrecken klang mit jeder Silbe seiner Worte durch. »Ich wollte nur die Dinge reparieren, die Sie Peder genannt haben.« Er hielt ihr weiterhin den Rücken zugewandt, raufte sich sein volles Haar und stöhnte verzweifelt: »Hvad er jeg bare en dum får.«

Silje gelang es endlich, sich von der Stelle zu lösen und ins Schlafzimmer zu flüchten. Zitternd vor Kälte und Scham betrachtete sie sich in den Spiegelplatten, die der Besitzer hier als Mosaik an die Wand gebracht hatte. Ihre leicht auseinandergehenden Brüste, die Spuren von Cellulite an ihren Oberschenkeln und rasiert hatte sie sich auch nicht. Mein Gott, war das peinlich! Kein Wunder, dass der Mann sie so entsetzt angesehen hatte. Sie riss den Bademantel vom Kleiderhaken und schlüpfte hinein. Wie sollte sie dem nur begegnen? So wie du es immer machst, riet ihr ihr Selbsterhaltungstrieb. Dummkopf, als wenn du schon einmal in solch eine Situation geraten wärst.

Mit rasendem Herzklopfen wagte sie sich endlich aus dem Schlafzimmer hinaus. Ihre letzte Hoffnung, dass er nur ein Albtraum war, verflüchtigte sich umgehend. Der Mann stand in der Küche an der Spüle und montierte den Wasserhahn ab. Er hatte ihr zumindest den Rücken zugekehrt und doch verriet seine Körperhaltung, wie unwohl er sich in seiner Haut fühlen musste.

»Entschuldigen Sie bitte nochmals.« Seine Stimme vibrierte vor Anspannung. Er sprach ein fast perfektes Deutsch. »Ich habe wirklich nicht damit gerechnet, dass Sie im Haus sind. Sonst wäre ich nie hereingekommen.«

Silje trat vorsichtig zwei Schritte näher und betrachtete ihn schweigend. Das Spiel der Muskeln an seinen freien, behaarten Unterarmen fesselte ihren Blick und ließ für Sekundenbruchteile einen Gedanken aufkommen, den ihre Vernunft längst ad acta gelegt hatte. Etwas in ihr schimpfte, dass es ungehörig sei, ihm nicht zu antworten. »Warum haben Sie mich denn nicht vorher angerufen?«

»Ich habe keine Telefonnummer von Ihnen.« Er wandte sich nach rechts, um in seinem Koffer nach einer Dichtung zu suchen. Dabei vermied er es angestrengt, sie ein weiteres Mal anzusehen. »Es ist eigentlich so, dass die Touristen auf ihren Ausflügen sind, wenn es etwas zu reparieren gibt. Wenn sie zurückkommen, ist dann alles wieder wie neu.«

»Alles neu?« Silje wusste nicht, welcher Schalk sie ritt, als sie herausfordernd feststellte: »Dann sollte ich Ihnen doch meine Nummer geben. Hier gäbe es einiges zu reparieren.«

Sie erreichte damit nur, dass er sich ihr nun doch zuwandte und sie in einer Mischung aus Gekränktsein und Verblüffung ansah. Ersteres ganz besonders.

»Wenn ich mir Ihr Verhalten von eben in Erinnerung rufe, gehe ich davon aus, dass Sie mit Ihrer Feststellung gewiss nicht zweideutig klingen wollen«, knurrte er bissig, ehe er sich erneut abwandte und seine Arbeit an der Armatur beendete.

Als ihr die Ironie ihrer letzten Anmerkung bewusst wurde, spürte Silje ein weiteres Mal die Schamröte kochend in sich aufsteigen. Zumal er gleich darauf einen Spruch brachte, der ihn ihr letztes Wohlwollen kostete.

»Im Übrigen sammle ich keine Telefonnummern von irgendwelchen Frauen.«

»Hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, dass Sie ein ungehobelter Hauklotz sind?« Nun war es an ihm, sie verblüfft anzusehen. Doch das interessierte Silje herzlich wenig. Zu sehr fühlte sie sich im Recht und gab ihrer Empörung freien Lauf. »Ich denke, wir sind miteinander durch. Sehen Sie bloß zu, dass Sie Ihre Sachen einpacken und von hier verschwinden, ehe ich mich vergesse!«

Sie drehte auf dem Absatz um und rauschte in ihr Schlafzimmer. Die Tür fiel scheppernd ins Schloss.

Nur mühsam gelang es Mads, ihre Empörung mit seiner letzten Feststellung in Verbindung zu bringen. Ging sie denn wirklich davon aus, dass er sie beleidigen wollte? Herrgott, warum gab es mit ihr nur diese ganzen Missverständnisse! Er trat an das dünne Türblatt und klopfte zaghaft dagegen. »Hören Sie, ich denke, Sie haben mich völlig falsch verstanden.«

»Wenn Sie hier hereinkommen, erschieße ich Sie! Glauben Sie es mir, ich habe eine Pistole!«

Mads schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Bei dieser Frau hatte er gänzlich verspielt. Ein letzter Versuch, ein weiteres Klopfen. »Ich baue nur noch die Zeitschaltuhr für den Boiler ein. Haben Sie eine Zeit…«

»Verschwinden Sie endlich aus meinem Haus, Sie Rüpel! Ich werde mich über Sie beschweren.«

»Gammel skræmmeskrue!« Kopfschüttelnd und am Ende seiner Weisheit wandte Mads sich ab und schickte sich an, sein Vorhaben möglichst schnell in die Tat umzusetzen. Mann, war das ein Drachen. Nur weg von hier. So schnell es ging!

Keine fünf Minuten später verließ er das Haus, ohne sich verabschiedet zu haben. Jedenfalls war er von einem fest überzeugt. Er würde das Haus schnellstmöglich verkaufen. Zusammen mit dieser … dieser Beißzange.

Teddy begrüßte ihn schwanzwedelnd und sah ihn mit schief gelegtem Kopf an. Wie ein geölter Blitz glitt er an seinem Herrchen vorbei und rannte zum nächstgelegenen Baum, um das Bein zu heben.

Der Abstand von dieser Frau tat Mads gut. Endlich gelang es ihm, die ganze verfahrene Szene zu überdenken. Da war eine Menge danebengegangen und missverstanden worden. Von ihnen beiden. Und … Herrgott … Ihr Anblick hatte sich ihm durch die Netzhaut ins Herz hineingebrannt. Er schloss die Augen und erinnerte sich an ihr stürmisches Zusammentreffen. Diese intensiv grünen, leicht mandelförmigen Augen, um die sich ein lille Stjernehimmlen voll sanfter Sommersprossen drehte. Diese so zarten, blassen Lippen, die zum Küssen einluden. Ihre Figur, die so zerbrechlich wirkte …

»Wuff.« Teddy sah zu seinem Herrchen auf und sprang an ihm hoch. Das Tier spürte die Veränderung an seinem Menschen. Und so, wie sich sein Mensch verhielt, hatte dieser sich noch nie gegeben.

Silje hatte sich irgendetwas zum Anziehen gegriffen und dabei gefragt, wie sie auf diesen Affront reagieren sollte. Eine Antwort darauf fiel ihr unendlich schwer und hielt sie hier gefangen. Irgendwann war es dort draußen ruhig geworden. Und doch benötigte sie etliche Augenblicke, um sich so weit aufzuraffen, das Schlafzimmer zu verlassen. »Hallo?«

Eine unangenehme Stille lastete im ganzen Haus. Einzig die Spuren seiner Anwesenheit waren überall verteilt. Bei der Spüle lag ein schmutziger alter Gummiring, dort die Pappverpackung irgendeines Gerätes, die er durch die Gegend gefeuert hatte. So als wäre er Hals über Kopf geflüchtet. Wie man sich doch nur in einem Menschen täuschen konnte. Dabei wirkte er auf den ersten Blick eigentlich recht attraktiv. »Und leider auch viel zu jung.« Erschrocken sah Silje sich um und musste zweifelnd den Kopf schütteln. So weit kam es noch! Sie würde sich keinen Mann mehr ans Bein binden. Und schon gar nicht ein Kind, wie es dieser Bursche war.

***

Peder Wieland stand mit der jungen Familie vor seinem Büro, um diese zu verabschieden, als Mads’ Geländewagen auf den Hof geschossen und in einer Staubwolke zum Stehen kam.

Der Mann wirkte von Weitem so, als wolle er sich wütend auf ihn stürzen. »Auf ein Wort, Peder.«

Hatte er Mads schon einmal so wütend erlebt? Peder erkaufte sich eine Galgenfrist und ging dem fortfahrenden Auto ein Stück winkend hinterher. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass der Freund auf Sybille Martens getroffen war, und dass diese Begegnung nicht wirklich harmonisch ausgegangen war.

»Peder, was hast du mir da für eine unmögliche Frau einquartiert!« Mads war ihm gefolgt und zog ihn an der Schulter zu sich herum. »Sieh zu, dass du sie umgehend zurück nach Deutschland schickst!«

»Das wird nicht so einfach sein.« Peder schenkte dem aufgebrachten Freund ein schiefes Grinsen. »Wir haben einen Vertrag mit ihr. Zudem hat sie im Voraus für drei Monate bezahlt.«

»Das ist mir einerlei! Tu etwas, oder ich verkaufe diese … diese Schreckschraube mit dem Haus zusammen.«

»Mads, was ist mit dir? Wo ist deine Beherrschung geblieben? Was hat sie getan, dass du so aus dir herauskommst?«

Lynggaard blieb ihm eine Antwort schuldig. Zumindest schien er sich langsam wieder zu beruhigen. Der erstaunte Blick, mit dem er ihn maß, sprach davon, dass er erst jetzt wahrnahm, wo er sich befand.

»Mads? Ist alles in Ordnung mit dir?« Langsam fand Peder es doch rätselhaft. »Was ist denn nur geschehen?«

Statt einer Antwort ließ Mads ihn stehen und stürmte zu seinem Wagen. In einer neuen Staubwolke verschwand er in Richtung Ort. Himmel, waren die beiden heftig aufeinandergeprallt? Wieland kehrte mit unguten Vorahnungen in sein Büro zurück. Er würde gewiss nicht lange warten müssen, bis diese Frau Martens ebenfalls hier vorbeikam. Puh ha, das würde mit den beiden auf Dauer echt lustig werden.

Keine halbe Stunde später war Peder von sich überzeugt, dass an ihm ein Hellseher verloren gegangen war. Das Knirschen des Kieses kündigte Kundschaft an. Sein Blick aus dem Fenster fiel auf den mittlerweile bekannten bordeauxroten Wagen. Dessen Fahrerin schlug die Tür zu und nahm energisch Fahrt in Richtung Büro auf.

»Frau Martens, wie geht es dir? Hast du dich gut eingelebt?« Seine offenherzige Naivität, die er an den Tag legte, nahm ihr den ersten Wind aus den Segeln.

»Ich weiß nicht. Ja, ich glaube ja. Und doch muss ich mich beschweren.«

»Beschweren?« Es war sicher ratsam, wenn er weiterhin den Unwissenden spielte, sagte sich Peder. »Wenn es den Reparaturauftrag betrifft, ich habe ihn weitergeleitet. Der Mechaniker will noch heute bei dir eintreffen.«

»Der war sogar schon da! Was für ein ungehobelter Patron war das nur«, ließ sie Dampf ab. »Ich will mich über ihn beschweren.«

»Hat er denn keine gute Arbeit geleistet?«

»Ich … Nein, ich denke, er hat alles ordentlich und schnell repariert.«

»Dann ist es doch schön.« Wieland rieb sich begeistert die Hände und stutzte übertrieben. »Aber du sagst, es ist nicht alles?«

»Er war unhöflich zu mir.«

»Mads? Das musst du mir erzählen. Wie ist es dazu gekommen?«

Statt darauf zu antworten, überflutete eine heftige Röte ihr Gesicht. »Das ist mir nun doch ein wenig peinlich.« Sie strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht und sammelte sich. »Wäre es möglich, sich bei dem Besitzer zu beschweren?«

Peder Wieland schätzte sich selbst als einfühlsamer Mensch ein. Und das, was er bei Sybille Martens und zuvor bei Mads wahrgenommen hatte, ließ ihn erbeben. »Ich bin mir nicht sicher, ob es ratsam ist, den Besitzer jetzt darauf anzusprechen. Er war nicht wirklich glücklich, als ich ihm sagte, wie lange du planst, in dem Haus zu wohnen. Tatsächlich will er das Haus sehr gern verkaufen.«

Die Auskunft musste bei ihr wie eine Bombe einschlagen. So entsetzt, wie sie ihn ansah.

»Oh … das ist … doch schade.« Sie hielt sich erschrocken beide Hände vor dem Mund. »Aber heißt das jetzt, dass ich ausziehen muss?«

»Nein, so einfach ist das nicht. Das habe ich ihm auch gesagt. Außerdem wäre es unklug, jetzt im Herbst zu verkaufen.«

»Du rätst mir also, ich sollte alles auf sich beruhen lassen?«

»Beruhen?« Peder musste für sich sortieren, was sie mit ihrer Frage meinte. »Das verstehe ich schwer.«

Ihr entschuldigendes Lächeln wischte sämtlichen Missmut aus ihrer Miene. »Du meinst, ich soll lieber auf Schönwetter machen?«

»Ja, das wäre nicht verkehrt. Sieh es ein wenig dänisch.«

»Du meinst lässig?« Schmunzelnd kassierte Silje seinen in die Höhe gestreckten Daumen. »Ich will es versuchen.« Sie sah durch das Fenster, dass weitere Fahrzeuge auf den Hof fuhren. »Gut, dann will ich dich nicht weiter aufhalten. Da kommt die nächste Kundschaft. Ach«, sie drehte sich ein letztes Mal zu ihm um. »Zum Strand geht es da entlang?«

Verblüfft blickte Peder auf. »Du warst noch immer nicht an unserem berühmten Strand?«

»Ich denke, in den nächsten Monaten werde ich genug Zeit finden, dort hinzukommen.« Sie schulterte ihre Handtasche, winkte ihm zu und machte dem nächsten Kunden Platz.

***

Mads Lynggaard betete darum, dass dieser unmögliche Tag endlich ein Ende fand. Erst die Begegnung mit dieser verrückten Deutschen und dann dieser entnervte Anruf von Kirsten, wann er denn endlich Mikkel abholen käme. Jørgen wolle mit ihr in einen Wellnessurlaub fahren, der schließlich lange geplant sei. Thorben Skærbek war wenig begeistert, dass er seine Arbeit bereits nach einer Stunde beendete und sich in den Wagen schwang.

Die nächsten dreißig Kilometer über hatte Mads Zeit genug, seinen tiefschürfenden Gedanken nachzuhängen. Mit dem ganz besonderen Augenmerk auf sein eindeutig gestörtes Verhältnis zu Frauen. Da passte es gut ins Bild, dass er jetzt auf dem Weg zu der Frau war, die ihm den größten Leberhaken von allen verpasst hatte. Kirsten Møller, selbst ihren Mädchennamen hatte sie wieder angenommen, hatte ihn den größten Teil ihrer Ehe betrogen und hintergangen. Er hätte sie nie heiraten dürfen. Selbst dann nicht, als Mikkel sich ankündigte. Das ging nur so lange gut, bis Kirsten diesen Aufschneider und Millionär kennenlernte. Jørgen Heissel hatte alles, was Mads nicht besaß. Geld, ein florierendes Unternehmen und exzellente Beziehungen in Wirtschaft und Politik. Das Wissen darum, das Heissel auch nur ein Meilenstein für Kirsten war, verschaffte ihm wenig Befriedigung.

»Slut nu!«, rief er laut über das Lenkrad und forderte ein bestätigendes Bellen seines tierischen Begleiters heraus. Mads strich Teddy beruhigend durchs Fell und übte sich an einem Lächeln. »Freue dich darauf, dass dein Sohn die nächsten Tage über bei dir wohnen wird«, murmelte er seinem Abbild im Rückspiegel zu. Es war alles in Ordnung. Sollte diese Frau doch mit ihrem Lover zusammenwachsen oder ihn gar heiraten. Er war darüber hinweg, solange sie zuließ, dass Mikkel ihn besuchte, wann immer es der Junge wollte.

Als der Land Rover Hjerting, einen Vorort von Esbjerg erreichte und in den Hjerting Strandvej einbog, trug sein Fahrer ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen.

Das ihm gleich wieder entglitt, als er Jørgen Heissel aufbruchbereit neben seinem protzigen Sportwagen stehen sah.

Mads stieg aus, atmete tief durch und steuerte auf den neuen Freund seiner Exfrau zu. Der helle Kies knirschte unter seinen derben Arbeitsschuhen.

»Ah, der Herr Lynggaard.« Jørgen Heissel sah demonstrativ auf seine Rolex. »Gut, dass du dich an deinen Sohn erinnerst.«

»Ich denke immer an meinen Sohn.« Mads schien äußerlich die Ruhe selbst. »Wenn ich jedoch darüber nachdenke, dass Kirsten vor Wochen darauf bestanden hat, diese Ferien mit Mikkel zu verbringen, wundert es mich, dass ihr ihn nicht mitnehmt.«

»Das Wellnesshotel ist absolut nichts für Kinder.« Heissel baute sich mit verschränkten Armen vor dem Exmann seiner Partnerin auf. »Zudem habe ich dort wichtige Geschäftstreffen. Da stört er nur.«

Bevor die feindselige Stimmung zwischen ihnen offen ausbrach, flog die Haustür auf und ein Junge kam herausgestürmt. »Paps!« Fliegende Arme und Beine wirbelten auf den Ankömmling zu.

Mads ließ diesen Schnösel stehen, um Mikkel aufzufangen.

»Hallo mein Großer«, begrüßte er seinen Sohn und drückte ihn herzhaft. »Hast du Lust darauf, deine Ferientage bei mir zu verbringen?«

»Selvfølgelig Far«, stimmte Mikkel seinem Vater zu und bestürmte ihn mit Fragen: »Werden wir gemeinsam Angeln gehen und Abenteuer erleben? Werden wir auch wieder in die Kallesmærsk Hede fahren, Hirsche beobachten und durch das Gelände heizen?«

Mads setzte seinen Sohn ab und sah dessen Mutter entgegen, die in diesem Augenblick das Haus mit einem kleinen Koffer verließ und auf sie zugesteuert kam. Mit den Worten »Willst du nicht Teddy begrüßen?«, lenkte er Mikkels Aufmerksamkeit auf den vierbeinigen Freund.

Mikkel rannte zum Wagen und befreite den Hund, um mit ihm ausgelassen über den gepflegten englischen Rasen zu toben. Sehr zum Leidwesen des sich mühsam beherrschenden Hausherrn. Nur dass Mads wenig Muße fand, sich darüber zu freuen. Er verfolgte, wie seine exklusiv gekleidete Exfrau den Weg von der Haustür zu ihnen hin zum Laufsteg umfunktionierte.

»Mads, wie schön, dass du an dein Kind denkst.« Kirsten tätschelte ihrem Freund demonstrativ die Wange und wandte sich dann in einer hoheitlichen Geste dem Empfänger ihrer Vorhaltung zu. »Es ist wie immer. Auf dich ist nie Verlass.«

»Hallo Kirsten, ich freue mich auch, dich zu sehen.« Mads war darum bemüht, sich zurückzuhalten. Diese Frau verstand es wie keine zweite, ihre Mitmenschen zu manipulieren und gegeneinander auszuspielen. Das hatte er in den letzten Jahren schmerzhaft lernen müssen. »Und das Ding mit der Zuverlässigkeit … Warst du es nicht, die unbedingt mit Mikkel und Jørgen in den Ferien nach Fuerteventura wollte? Du hast doch darauf bestanden, dass Mikkel mit euch in die Ferien fährt.«

»Wenn ich auch einmal etwas dazu sagen darf …«

»Nein, das darfst du nicht«, knurrte Mads den Mann an ihrer Seite an. »Das ist ein Gespräch zwischen Kirsten und mir.«

»Einen Moment mal, wir befinden uns hier auf meinem Grundstück. Und so sprichst du nicht mit meiner zukünftigen Frau.«

Also doch! Hatte diese Frau ihn endlich so weit. Mads unterdrückte ein mitleidiges Kopfschütteln und heftete seinen harten Blick auf Kirsten.

»Du brauchst dich hier nicht aufzuspielen«, überging diese die Anfeindungen der Männer ungerührt und drückte ihm den Koffer in die Hand. »Und was dich betrifft, Mads Lynggaard. Du solltest jeden Tag genießen, den du noch mit deinem Sohn verbringen darfst.«

Kirsten wandte sich ab und schickte sich an, zum Haus zurückzugehen. »Ach, noch was.« Sie sah über ihre Schulter zurück. »Ich erwarte von dir, dass du Mikkel am nächsten Sonntag rechtzeitig heimbringst. Er hat schon genug Schwierigkeiten in der Schule.«

»Vater?« Mikkel Lynggaard sah zu seinem Vater auf und nahm dessen Lächeln als Aufforderung, weiterzusprechen. »Warum bist du so still?«

»Ich muss ein wenig nachdenken.« Das Lächeln des Mannes wirkte milder als zuvor. »Angefangen, was wir die nächsten Tage unternehmen wollen, bis hin dazu, was wir essen werden.«

»Biksemad und Apfelmus! Und besuchen wir auch Farmor?«

»Biksemad? Echt jetzt?«

»Ja!«, jubelte Mikkel und Teddy fiel bellend darin ein. »Bei Mutter gibt es so ein Bauernessen nicht. Da sind zu viele versteckte Fette und Unreinheiten drin«, jammerte Mikkel in der hohen Tonlage, die täuschend echt mit dem Original übereinstimmte.

Mads biss sich auf die Lippe, um nicht schallend zu lachen. Er war eben nicht wie Mikkels Mutter, die sich nicht darum scherte, den Ex vor dem eigenen Sohn zu demütigen. »Okay, dann werden wir einen richtigen Männerurlaub machen, was?« Mads verdrängte erfolgreich die bösen Vorahnungen, die Kirstens letzte Worte in ihm ausgelöst hatten.

***

Silje hatte sich nicht sattsehen können an der Großartigkeit, mit der die Natur sie um Blåvandshuk empfing.

Zu Beginn war ihr noch das Grauen gekommen, als sie den überfüllten Parkplatz bei dem eindrucksvollen Leuchtturm erreichte. Das sonnige Wetter hatte offenbar jeden Touristen der näheren und weiteren Umgebung hierhergelockt. Trotz allem hatte sie sich nicht einschüchtern lassen. Schnell war sie in ihre Gummistiefel geschlüpft, die sie wohlweislich im Kofferraum untergebracht hatte und schlug den Weg ein, auf dem es in Richtung Strand ging.

Majestätisch, alles andere überragend, lag der weiße Leuchtturm vor ihr. Hervorgehoben durch den charakteristischen rotbraunen Zierfries, der sein Strahlen zusätzlich verstärkte. Ob man da auch hinaufsteigen durfte? Später, wenn sie zurückkam, nahm sie sich vor. Entschlossen stapfte Silje durch einen sandigen Hohlweg, der sich durch die meterhohen, grasbewachsenen Dünenhügel schlängelte. Zu ihrer Rechten nahm sie einen schäbigen Betonklotz wahr, der überhaupt nicht in die Landschaft zu passen schien. Bedrohlich grau erinnerte er an eine unrühmliche Zeit, in der die Deutschen nicht als Gäste gekommen waren.

Dann lag sie plötzlich zum Greifen vor ihr. Diese unendliche Fläche aus gras- und buschbewachsenen Dünen, der riesige Strand und die grenzenlose Weite des Meeres. Das erhabene Gefühl, das einen übermächtig in die Arme schloss und das Herz aufgehen ließ. Bis nach hier oben, am Rande der mächtigen Düne, drang das besänftigende Rauschen des Meeres zu ihr herauf. Untermalt von einem leisen Donnern, das unverkennbar aus Richtung Norden kam. Von dorther, wo eine scharfe weiße Linie im Grünblau des Wassers stand. Wellen, die sich mitten auf dem Meer brachen.

Ehrfürchtig setzte Silje einen Schritt vor den anderen; tastete sich den breiten, ausgetretenen Weg an den Strand hinab. Diese Weite, diese herrliche Weite, überfiel der atemlose Eindruck das Stadtkind in ihr. Da war dennoch kein Erschrecken; im Gegenteil. In all dieser Weite fühlte sie sich sogleich geborgen. Wie es einem das Herz aufgehen ließ, wenn der Wind neckisch mit ihrem offenen Haar spielte. Die feinen Sandkörnchen, die zu ihren Füßen aufwirbelten und in kleinen Windhosen den Strand entlangzogen. Sie war so schutzlos und doch so geborgen.

Silje war dem fliegenden Sand gefolgt. Der angenehm warme Wind in ihrem Rücken trieb sie stetig voran. Vorbei an den Familien mit herumtollenden Kindern. Vorbei an den Personen, die ihre Hunde frei herumlaufen ließen, und den Schatzjägern, die am Spülsaum des Wassers nach Bernstein suchten. Je weiter sie ging, desto weniger Menschen begegneten ihr. Abgelöst wurden sie von Vogelschwärmen. Sie erkannte Möwen der unterschiedlichsten Arten. Und sogar Sandregenpfeifer, die auf ihren dünnen Beinchen aufgeregt am Wassersaum entlangliefen und im Sekundentakt irgendwelche Leckereien fanden.

Irgendwann schwenkte Silje nach rechts ab und begab sich an den Fuß der Dünen, die sich vor und hinter ihr bis zum Horizont hin erstreckten. Sie setzte sich und sah mit tränenblinden Augen auf das Meer hinaus. Eine eigentümliche Stimmung hatte sie erfasst und nahm sie mit sich. Der milde Wind um sie herum streichelte nicht nur singend durch die hohen, stabilen Gräser, sondern auch durch ihr Herz, ihr Gemüt. Das Lied der ungestörten Natur sog alles Schwarze aus ihr heraus. Sanftmut strömte in all die Wunden, die ihr das Leben und sie selbst sich zugefügt hatte. Sie ließ es einfach mit sich geschehen und sank mit dem Oberkörper zurück in das Bett aus Gras und feinem Sand.

Silje wusste nicht, wie lange sie so dagelegen hatte. Zwischendurch musste sie sogar eingeschlafen sein, ging es ihr durch den Kopf. Sie erhob sich und klopfte, so gut es ging, den Sand aus ihrer Kleidung. Das Gefühl, das sich in ihr ausgebreitet und festgesetzt hatte, blieb und füllte sie mit einer Zufriedenheit aus, die sie selten so intensiv in sich gespürt hatte. Ihr gesamtes Leben lang nicht.

Das Bild des Strandes hatte sich verändert. Das Wasser zog sich weiter zurück, je näher sie ihrem Ausgangspunkt kam. Selbst das sanfte Donnern der Wellen, die den Saum des Indre Horns Rev bildeten, blieb langsam hinter ihr zurück. Der Leuchtturm schob sich in das Zentrum ihres Blickfeldes. Erneut nahm seine imposante Präsenz ihre Aufmerksamkeit gefangen. Das Weiß seines Mauerwerks blendete sie in der tiefer stehenden Sonne. Seine Zinnen, die an eine wuchtige Burg aus früheren Zeiten erinnerten. Zuoberst die glänzend rote Haube, in der gewiss die ganze Elektrik und die Prismen untergebracht waren. Ja, sie wollte dort hinauf, wollte in die Welt hinausschreien, dass sie endlich glücklich war. Frei von allen Zwängen und Ängsten. Frei von Hartmut und all den Menschen, die ihr das Leben zur Hölle gemacht hatten.

Silje kehrte auf dem Weg zurück, den sie vorhin genommen hatte und der sie direkt zum Turm führte. Die Tür des viereckigen Bauwerks stand offen. Sie sprach einen Mann an, der kurz zuvor dort herausgekommen war. Er deutete auf das Gebäude zu ihrer Linken und sagte etwas auf Dänisch, das sie nun gar nicht verstand.

Das Schild sprach davon, dass hier im alten Leuchtturmwärterhaus die Ausstellung zum Offshore-Windpark und eine Touristinformation untergebracht waren. Hoffentlich ließ man sie hier mit ihren Gummistiefeln herein? Letzteres, durfte Silje gleich darauf erfahren, war kein Problem. Wie so manches hier in Dänemark.

Interessiert schaute sie sich bei den ausgelegten Broschüren um, während sich die Angestellte mit einem Mann in einem schnellen, nicht annähernd verständlichen Dänisch unterhielt. Sie verstand nicht eines der Worte und doch ertappte sie sich dabei, wie sie den melodischen Klang der Stimmen in sich aufsog. Ob man sie hier überhaupt verstehen würde? Bislang war sie immer davon ausgegangen, dass jedermann hier Deutsch verstand und auch sprach. Wie anmaßend war das eigentlich? Warum begann sie nicht gleich damit, sich anzupassen? Wenn sie hierbleiben wollte, würde sie wohl oder übel diese Sprache erlernen müssen.

»Hallo, kann ich dir helfen?«

Silje erwachte aus ihren Gedankengängen und lächelte erlöst, ohne sich davon abbringen zu lassen, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. »Gott Dag«, betonte sie buchstabengetreu die Begrüßung und entlockte der Frau hinter dem Tresen ein warmherziges Lächeln. Nur war damit ihr bislang erlernter kompletter Sprachschatz völlig ausgeschöpft. »Ich … es tut mir leid, aber mehr Dänisch beherrsche ich nicht. Ich hoffe, ich kann deutsch mit Ihnen reden?«

»Guten Tag«, entgegnete die Frau freundlich und fuhr in völlig akzentfreiem Deutsch fort: »Das ist kein Problem. Ich bin froh, wenn ich mit dir in meiner alten Heimatsprache reden kann.«

»Du … äh, Sie …« war die Überraschung perfekt. »Sie sind Deutsche?«

»Ja schon. Doch das ist hier nicht ungewöhnlich, meine ich. Bei mir war es die große Liebe, wegen der ich damals hiergeblieben bin.«

Ihr Lachen wirkte ansteckend und lockerte Siljes anfängliche Befangenheit so weit, dass sie sich zu der Bemerkung »Bei mir ist es eher umgekehrt« hinreißen ließ.

Ihr Gegenüber schien den Sinngehalt zu erfassen, ging aber nicht darauf ein. Froh darüber wechselte Silje das Thema: »Ich würde gern auf den Turm hinauf. Wäre das möglich?«

»Ja, natürlich. Du kannst die Karte hier kaufen. Übrigens, ich heiße Susanne, und du?«

Silje fühlte sich von so viel Freundlichkeit etwas überfordert. Ängstlich brachte sie ein »Sybille« hervor und ergänzte: »Es ist für mich immer noch ein wenig ungewohnt, dass ihr euch mit dem Vornamen ansprecht. Peder Wieland hatte da auch schon seine Schwierigkeit mit mir.«

»Peder?« Susanne lachte herzhaft auf. »Ja, Peder ist ein ganz Netter. Hast du bei ihm ein Ferienhaus gemietet?«

Silje nickte und bezahlte ihre Eintrittskarte. »Ja, es war gar nicht so leicht, eines zu bekommen, das man durchgehend bewohnen kann.«

Susanne nickte zustimmend. »Du bleibst für länger?«

»Erst mal für drei Monate.«

»Das wird eine schöne Zeit für dich werden, denke ich. Dann sehen wir uns doch hoffentlich öfter, oder?«

»Ja, gern, wenn es dir nichts ausmacht. Ich würde nämlich schon sehr gern mehr über das Land und die Leute hier erfahren. Und vielleicht lerne ich dabei sogar ein wenig Dänisch.«

»Wenn du magst, bin ich dir gern dabei behilflich. Wenn du Lust hast und vom Turm herunter bist, komm doch gern auf einen Kaffee herein.«

Das war ein Angebot, das konnte und wollte Silje nicht ablehnen. Voller Freude darüber, einen netten Menschen kennengelernt zu haben, nahm sie den Aufstieg in den Turm auf sich.

Einhundertsiebzig Stufen später trat Silje auf die windumtoste Plattform hinaus, die ihr einen atemberaubenden Ausblick auf die Welt unter ihr bot. Ein weiteres Mal erlebte sie das berauschende Gefühl, Teil von etwas ganz Besonderem zu sein. Das grenzenlose Meer lag glitzernd in der Sonne unter ihr. In der Ferne waren schwach die Silhouetten von Windrädern auszumachen. Sie taten dem faszinierenden Ausblick keinen Abbruch. Die große Heidefläche, die sich an die Dünen landeinwärts anschloss, war von Wegen, alten Bunkern und Fahrzeugspuren durchzogen. Von hier oben wirkte es wie das Muster einer Patchworkdecke. Gerade kroch ein Geländewagen wie ein Käfer über eine dieser Spuren. Ihr Weg entlang der Zinnen ließ ihren Blick über den Ort schweifen. Es war spannend, zu sehen, wie viele Häuser sich unter ihr ausbreiteten. Vergeblich suchte sie das ihre auszumachen, das von hier aus gesehen am Ende der Welt liegen musste.

Silje hatte seit dem heutigen Tag das Gefühl, endlich angekommen zu sein. Und zudem hatte sie zwei Menschen kennengelernt, die sie dabei unterstützen würden, hier Fuß zu fassen. Der einzige Wermutstropfen war, dass sie diese belügen musste, wer sie wirklich war. Vor allen Dingen bedrückte es sie, dass die neue Freundschaft, die sie mit Susanne geschlossen hatte, über kurz oder lang schwierig werden würde. Wer ließ sich schon gerne belügen?

Silje steuerte den überfüllten Parkplatz in der Ortsmitte an und freute sich über die Lücke, die sich vor ihr auftat. Sie brauchte dringend einige Lebensmittel, wenn sie bis morgen nicht verhungern wollte.

Ob das hier immer so voll war? Auf dem Weg in den Supermarkt inspizierte sie die Kennzeichen der abgestellten Autos. Dänische waren definitiv in der Unterzahl. Viele trugen sogar das Hamburger Kennzeichen. Zum ersten Mal kam ihr der erschreckende Gedanke, dass jemand aus ihrem alten Leben sie wiedererkennen könnte. Unbewusst beschleunigte sie ihren Gang und flüchtete sich in den Supermarkt.

Bereits nach den ersten Metern fühlte sie sich von der Vielfalt und der farbenfrohen Aufmachung wie erschlagen. Schnell füllte sich der Einkaufswagen mit allerlei Lebensmitteln, die sie benötigen würde. Brot, Kaffee, Tee und vielerlei mehr. Erst die Getränkeabteilung bremste ihren Einkaufsrausch. Ein Sechserpack Mineralwasser entlockte ihr dann doch eine Schnappatmung. Umgerechnet zwei Euro für eine Flasche simplen Wassers? Die Limonade daneben schien kaum mehr zu kosten. In der nächsten Woche würde sie sich umgehend nach einer Arbeit umsehen müssen.

Weiter ging es durch die Lebensmittelabteilung. Schlachter hier, eine gut bestückte Salatbar dort. Ein junger Mann in der Kleidung eines Meny-Mitarbeiters kam ihr gerade recht. »Entschuldigen Sie bitte. Ich suche Geflügelfleisch.«

Er deutete freundlich lächelnd auf eine Kühltruhe vor ihr. »Das heißt bei uns Kylling eller Kalkun.«

Das waren für sie Begriffe, die nicht annähernd ähnlich klangen zu ihrem deutschen Gegenpart waren. Ob sie jemals Dänisch lernen würde? Zumindest sah das angebotene Fleisch frisch aus und war hygienisch verpackt. Leider waren es Portionen, die gut und gerne für drei Mahlzeiten reichten. Als Single benötigte man hier definitiv eine große Gefriertruhe.

Ihr Blick wanderte nachdenklich über die verschiedenen Truhen hinweg und blieb an einem Mann hängen, der ihr fast gegenüberstand. Ihr stockte das Herz, als sie in ihm genau den Menschen wiedererkannte, mit dem sie heute Morgen auf so dramatische Weise aneinandergeraten war. Oh Gott, sie spürte, wie ihr das Blut schlagartig zu Kopf stieg, zumal ihre Libido fröhlich feststellte, wie attraktiv dieser Mann wahrhaftig war. Anziehend, ja … aber definitiv zu jung! Das mittelblonde, etwas zu lange Haar und der verwegene Vier-Tage-Bart umrahmten ein schmales und doch markantes Gesicht, in dem viele kleine Lachfältchen zu Hause waren.

In diesem Moment wurde er von einem anderen Mann angesprochen. Die beiden schienen sich gut zu kennen. Silje stahl sich den Augenblick, ihn ungestraft weiter in Augenschein zu nehmen und seine Nähe auf sich wirken zu lassen. Der schmeichelnde Bass, mit dem er sich unterhielt, ließ selbst auf diese Entfernung hin die Härchen auf ihren Unterarmen vibrieren. Sein Lachen war so ganz anders als die Verwünschungen, die er für sie heute Morgen übrig gehabt hatte.

Der Gedanke schleuderte sie gnadenlos in die Realität zurück. Die Packung Hähnchenfleisch, die sie weiterhin in der Hand hielt, dürfte langsam durchgegart sein. Ehe sie sich beschämt abwenden konnte, geschah es, dass ein Junge an die Seite des Mannes trat und ihm Gläser entgegenhielt, die Schokoladencreme und Marmelade enthalten mochten. Umgehend verabschiedete sich der Mann mit einem Schulterklopfen von seinem Bekannten und widmete seine ganze Aufmerksamkeit dem Kind. Siljes Herz ging auf, mit welch einer Milde er den jungen Mann ansah und die Gläser mit einem Augenzwinkern und einem lachenden Kommentar entgegennahm.

Der Junge, vielleicht mochte er acht oder neun Jahre alt sein, kam um die Truhen gelaufen und bremste kurz vor ihr ab, um in die Nachbartruhe zu schauen.

»Far, lad os spise bøf«, rief er dem vermutlichen Vater ausgelassen zu und öffnete die Truhe.

»Darf ich dir helfen?« Silje, die die Schwierigkeit des Jungen bemerkte, trat an seine Seite und deutete ins Innere. »Was möchtest du denn haben?«

Das Kind sah sie an und löste eine Erinnerung in ihr aus, die ihr Herz erneut heftig schlagen ließ. Es waren dieselben braunen Augen, die sie seit dem heutigen Morgen verfolgten. Er entgegnete ihr etwas auf Dänisch und deutete dabei aufgeregt in die Truhe. Kurzentschlossen packte sie den Jungen an den Hüften und hob ihn hoch, damit er selbst das Gesuchte für sich und seinen Vater fand.

Wurde ihr erst jetzt ernsthaft bewusst, dass sie durch ihre unüberlegte Aktion die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich lenkte? Siljes zufriedenes Lächeln verhungerte, als sie seinen Blick auf sich ruhen spürte. Einen Blick, der so alles beinhaltete, nur keine Freundlichkeit. Zweifellos hatte er erkannt, wer sie war. So musste es sein, wenn die Ohnmacht nach einem griff und alles in Watte verpackte. Nur nicht die peinlichen Momente.

Neben ihr hatte der junge Mann das Gesuchte erobert und hielt es ihr freudestrahlend entgegen. »Dankesööön, dass du mich gehelft hast.«

Alles glitt wie nebensächlich an ihr vorbei. Nur nicht die Blicke aus den dunklen Augen des Mannes, die sie gefühlt hier festnagelten. Es ließ erst nach, als das Kind an seiner Seite auftauchte und begeistert auf ihn einredete.

»Far, Far, wir haben zwei schöne Stücke bekommen.« Mikkel hielt seine Beute in die Höhe. »Die Frau hat mir geholfen. Far? Hörst du mir zu?«

Mads erwachte wie aus einer Trance, als Mikkel sich an seinen Arm hängte und aufgeregt auf ihn einredete. Als er wieder aufsah, war die Frau auf der anderen Seite der Tiefkühltruhen verschwunden.

Er hätte sie kaum wiedererkannt, wären da nicht ihre Augen gewesen, die ihn seit heute Morgen nicht mehr losgelassen hatten. Dunkelgrün waren sie, als sie ihn vor Wut und Schrecken nur so verschlangen. Ihr rotes Haar war das Nächste, das sich ihm unweigerlich einprägte. Wie es lang und in Wellen bis über ihre zarten Schultern fiel. Herr im Himmel, das durfte nicht geschehen, dass er sich ein weiteres Mal auf den ersten Blick verliebte! Das war noch nie gut ausgegangen.

»Far, was ist mit dir?« Mikkel war ein aufmerksamer Beobachter. Das stellte sich erneut heraus. »Kennst du die Frau?«

»Nein! Nein wie kommst du darauf?«

»Sie sieht sehr hübsch aus und sie hat dich die ganze Zeit über ständig angesehen.«

»Mikkel, bring bloß keine Gerüchte auf. Was ist schon an der Frau dran!«

»Sie ist ganz bestimmt eine Fee, oder eine Königin. Wie Merida! Ja, sie hat die Haare von Merida«, flüsterte Mikkel atemlos. »Und sie ist echt stark, weißt du.«

Verblüfft sah Mads seinen Sohn an und dann in die Richtung, in der die Frau verschwunden war. »Mikkel?«

»Ja?«

»Wie kommst du dazu, diese Frau zu mögen? Kennst du sie denn?«

»Weil sie dich lieb angesehen hat. Nicht so wie die anderen. Und nein, ich kenne sie nicht. Aber sie ist doch freundlich.«

Mads ging in die Hocke und umarmte den Jungen, der ihm eine Lektion erteilt hatte, ohne es zu wissen. »Weißt du, dass ich sehr stolz auf dich bin, mein Großer.«

Der Junge erwiderte die Umarmung seines Vaters und stellte pragmatisch fest: »Wir brauchen aber noch Gemüse zum Fleisch.«

Silje hatte es plötzlich eilig, das Geschäft zu verlassen. Völlig konfus packte sie irgendwelche Früchte und Lebensmittel ein und steuerte die Kassen an, vor denen sich die Massen stauten.

Seitdem sie diesen unmöglichen Mann wiedergesehen hatte, war so einiges in Aufruhr bei ihr, was nicht sein durfte. Was, wenn er sie ansprach? Was, wenn er sich gar über sie lustig machte? Letztendlich hatte er sie gefühlte Stunden lang nackt gesehen. Splitterfasernackt!!!

»Sie dürfen gerne weiter vorangehen«, forderte der Mann hinter ihr sie schmunzelnd auf.

»Danke, das ist höflich von Ihnen.« Ja, mussten diese Touristen denn immer gleich so hektisch sein?

***

Prustend arbeitete sich die junge Frau aus den Zwiebelschichten ihrer Outdoorklamotten, als das Handy zu vibrieren begann. Typisch, wieder einmal im unpassendsten Moment. Sie hüpfte auf einem Bein durch das halbe Zimmer und warf einen Blick auf das Display. Mit einem leidenden Seufzen nahm sie das Gespräch an. »Hej Bjarne.«

»Wie ist es? Hast du nicht Lust, zu uns auf ein Bier ins Huk zu kommen?« Die Stimme von Bjarne Thomsen, dem Chefornithologen, klang ausgelassen. Im Hintergrund hörte man eine verzerrte Kneipenmelodie.

»Sorry, ein anderes Mal gerne, aber heute geht es echt nicht.« Sie verdrehte innerlich die Augen. »Du weißt doch, ich habe heute ein Treffen in Varde, das mir einiges bedeutet.«

»Bring deinen Freund doch einfach mit. Du wirst ihn uns sowieso vorstellen müssen.«

»Jaja.« Sie lachte auf. »Wir sehen uns morgen früh. Habt einen schönen Abend.«

Sie beendete das Gespräch und warf das Handy aufs Bett. Zufrieden mit sich und darüber, dass die anderen den Abend weit abseits verbrachten, suchte sie die Dusche auf. Bei dem, was sie heute Abend plante, konnte sie niemanden um sich haben. Es wurde ohnehin Zeit, dass sie ihren Job abschloss.

Als sich die Sonne anschickte, im Meer zu versinken, verließ Karen Winter das Haus, in dem sie untergebracht war. Glücklich darüber, dass sie nicht mit den anderen Biologiestudenten zusammen wohnen musste. Mit Studienkollegen aus aller Welt, die hier in Blåvand und Umgebung für ihre Dissertation forschten und auf gewisse Zeit ein Team bildeten. Sie hatte den Zeitpunkt gut gewählt. Susanne von der Touristinfo hatte längst Feierabend gemacht. Die Häuser in der Umgebung waren allesamt unbeleuchtet und nur ein paar Strandgänger trieben sich hier noch herum. Niemand würde sich um die dunkel gekleidete Person kümmern.

Die Tür des altersschwachen Autos knarrte verdächtig, als sie ihren schweren Rucksack auf dem Beifahrersitz deponierte. Ohne weitere Geräusche zu verursachen, huschte sie um den Wagen herum. Kurz darauf verließ das Auto den Hof der Vogelstation, um über die abgelegensten Wege und Straßen den Ort in Richtung Esbjerg zu verlassen.

Das Radio funktionierte schon lange nicht mehr. Ausreichend Zeit, sich über die vergangenen und kommenden Tage Gedanken zu machen. Seit nahezu drei Monaten befand sie sich nun hier in Blåvand. Viel zu lange, wie sie fand. Auch wenn sie sich hier gut eingelebt hatte und ihre Tarnung rundum perfekt war, wuchs die Wahrscheinlichkeit, dass man durch irgendeinen dummen Zufall herausfand, wer sie wirklich war. Die Leute beim BKA und bei Europol waren beileibe keine Stümper. Eines Tages würde einem von ihnen auffallen, dass ihre Identität mehr Fragen als gewöhnlich aufwarf. Vielmehr, dass die Person, für die sie sich ausgab, seit vielen Jahren in Südostasien verschollen war. Zudem hinterfragte sie sich in letzter Zeit immer öfter, ob ihr Handeln überhaupt etwas am Lauf der Welt veränderte. Das Leid, das diese Monster verursachten, wurde nicht weniger. Sie fühlte sich manches Mal erschreckend müde, ausgebrannt und leer. Diese brennende Flamme des Hasses auf die Unmenschen, die sie beseitigte, flackerte manchmal erschreckend schwach. Und doch …

Sie raffte sich auf und konzentrierte sich auf den Verlauf der Straße. Wer sollte diese Elemente sonst in ihre Schranken verweisen? Diese angesehenen, berühmten, mächtigen Menschen, die meinten, weit über Gesetz und Recht zu stehen. Diese Bestien in der Gestalt von Gutmenschen, die in der Nacht auszogen, um die Kraft und das Leben von unschuldigen Kindern zu zerstören. Von fröhlichen Kindern, wie sie einst auch eins gewesen war. Bis Onkel Arno kam, um seine kleine Prinzessin zu verwöhnen. Onkel Arno, der Wohltäter von Bremen-Vegesack, dem die Leute im Nachhinein sogar nachsahen, dass er ein Kinderschänder war. Arno war der Erste einer ganzen Reihe von Ungeheuern, die den letzten Kontakt mit ihr nicht überlebt hatten. Selbst heute grenzte es immer noch an ein Wunder, dass man die kleine Tamara nie als Täterin verdächtigt hatte. Die Unscheinbarkeit wurde letztendlich ihr Erfolgsmodell. Ein Mädchen, eine junge Frau, die man ihr Leben lang immer wieder übersah. Wie wäre ihr Leben verlaufen, hätte sie das Glück gehabt, normal aufzuwachsen? Einen Beruf zu haben, den sie liebte. Einen liebevollen Mann, Kinder …

»Verflucht!« Ihre Faust schlug auf das unschuldige Lenkrad. »Sieh zu, dass du deinen Job endlich hinter dich bringst!«

Dieser ›Job‹ hieß seit Monaten Jesper Hyrde-Englund. Erfolgreicher Geschäftsmann, bekannter Politiker und, wenn man den letzten Wählerprognosen vertraute, hoffnungsvoller Kandidat für den Posten des Ministers für Ernährung und Fischerei. Soweit die offizielle Auffassung, die Hyrde-Englund weit oben sah. Ein charmanter, einnehmender Mann, wie sie selbst fand. Er hatte vor vier Wochen sogar mit der kleinen Serviererin gescherzt, die ihm auf dem Geburtstagsempfang des Parteivorsitzenden ein Glas Champagner über das Jackett gekippt hatte. Leider war Jespers hochnäsige Ehefrau dazwischengetreten. Dabei wäre es so einfach und sauber gewesen. Und für sie ohne ein großes Risiko. Ein schleichendes Kontaktgift, das ihm vierundzwanzig Stunden Gelegenheit gegeben hätte, seine Sünden zu bereuen. Todbringend und qualvoll, wie das, was er seinen Opfern angetan hatte. Einen Tag später wäre bei der Polizei und der Presse das Dossier eingetroffen und sie längst auf den Weg nach Sri Lanka.

Als die Frau sich und ihre anstehende Aufgabe erneut wahrnahm, befand sie sich mit dem Wagen längst auf dem Zubringer nach Esbjerg. Sie hatte diesen Umweg über Sædding bewusst gewählt. Der große Parkplatz am Sædding-Center war rund um die Uhr zugänglich und auch über Nacht parkten dort mehrere Autos, sodass ihr Wagen nicht auffallen würde.

Zu ihrer Rechten zog soeben das Fiskeri- og Søfartsmuseet an ihr vorbei. Jetzt hieß es, sich zu konzentrieren. Der Hjerting Strandvej lag vor ihr. Leider waren die Grundstücke auf der Seite zum Meer hin nicht so leicht einzusehen, wie sie es sich gewünscht hätte. Sie würde also verhältnismäßig dicht an ihr Ziel herankommen müssen. Zudem musste sie in Betracht ziehen, dass Hyrde-Englund seinen Personenschützer auch privat in seiner Nähe hatte und die hiesige Polizei häufig Streife fuhr.

Die Grundstücke der Luxusvillen und Häuser reichten meist bis an das Wasser herunter. Vom Strand her schien es schier unmöglich, die Villa von Hyrde-Englund unter Beschuss zu nehmen. Kaum öffentliche Strandzugänge. Kein einziger davon in der Nähe der Villa. Den Gedanken, vom Boot aus zu operieren, hatte sie ebenfalls gleich am ersten Tag zu den Akten gelegt. Dafür hätte sie eines mit einem leistungsstarken Motor benötigt und das wiederum wäre über das Küstenradar schnell nachzuverfolgen gewesen. Nein, zuschlagen und sofort verschwinden; das war immer ihre Devise gewesen. Ein geländegängiges Motorrad fiel dagegen kaum auf. Innerhalb kürzester Zeit wäre sie in alle Himmelsrichtungen verschwunden. So weit war ihr eigentlicher Plan gediehen.

Nun aber war etwas eingetreten, das sie bislang nicht in ihre Planungen hatte hineinfließen lassen. Die Herbstferien! Sie ließ wirklich nach. Wenn es Nachbarn ihrer Zielperson gab, die in den Urlaub fuhren, würde sie bedeutend näher an ihn herankommen. Das wäre die Chance, die sie brauchte. Ihr ›Kunde‹ würde zudem in den folgenden Tagen daheimbleiben. Sofern sich sein Terminkalender nicht veränderte, fügte sie im Geiste hinzu. Der heutige Trip hierher würde sie in ihrem Job ein gutes Stück voranbringen.


Kapitel 7

Mads Lynggaard schlug die Augen auf und sah blinzelnd durch das Fenster über sich in den strahlend blauen Himmel hinein. Der Gedanke daran, warum er damals das komplette Dach verändert hatte, nur um vom Bett aus einen direkten Blick in den Nachthimmel zu bekommen, war heute nicht mehr erdrückend. Das war Geschichte. Heute war Sonntag, die Sonne schien und Mikkel war bei ihm. Was konnte ihm das Leben Schöneres bieten?

Aus dem Zimmer nebenan war ein leises Poltern zu vernehmen, dazu die Krallen des Hundes, der über den Holzfußboden wetzte. Von Weitem vernahm Mads das Schlagen der Glocke von Oksby Kirke. Zeit, sich um das Frühstück zu kümmern. Nur hatte er nicht mit seinen beiden Mitbewohnern gerechnet. Bellend und jubelnd kamen sie zu ihm in sein Schlafzimmer gestürmt und tobten durch die Betten. Überflüssig zu sagen, dass der Herr des Hauses eifrig dabei mitmischte.

»Far, ich bin so froh, dass ich bei dir und Teddy sein darf.« Mikkel ergriff die Hand seines Vaters und sah mit ihm durch das riesige Dachfenster in den Himmel. »Siehst du nachts viele Sternschnuppen am Himmel?«

»Hm, ich weiß nicht. Ich denke, ja. Manches Mal sehe ich welche.«

»Und was wünschst du dir dann?«

»Wünschen?«

»Ja, für jede Sternschnuppe, die man sieht, darf man sich etwas wünschen«, berichtete Mikkel und fügte nachdenklich hinzu: »Man darf nur nicht darüber reden.«

Mads lächelte still in sich hinein. Er hatte in der Nacht in der Tat den Schweif eines Meteoriten gesehen. Nur war der einzige Wunsch, der ihm urplötzlich durch den Kopf schoss, so surreal, dass er sich jeden Gedanken daran verbot. »Ich denke, wir sollten langsam aufstehen, wollen wir etwas vom Tag haben. Und als Erstes lassen wir Teddy raus. Der hat bestimmt gelbe Augen.«

***

Silje hatte eine wilde Nacht hinter sich gebracht. Ein Traum hatte den nächsten abgelöst. Einer war intensiver als der andere. Trotzdem hatte sie am Morgen die Augen aufgeschlagen und sich ausgeschlafen gefühlt. Rundum zufrieden mit sich. Jetzt nur nicht an das Zusammentreffen mit ›Mister Braunauge‹ denken, dann wäre alles in bester Butter. Heute gelang es ihr sogar, über ihr gestriges Erlebnis zu schmunzeln. Vor allem darüber, dass sie sich dabei wie ein Backfisch verhalten hatte. Dabei war der Mann so jung, dass er definitiv ihr Sohn hätte sein können.

Ihr Lächeln bröckelte zusehends, als sie an Rafael, ihren Sohn, dachte. Nein! Sie hatte alles hinter sich gelassen. Ihr unmöglicher Spross gehörte, wie alles, was sie in Hamburg zurückgelassen hatte, zu ihrem alten Leben. Die Versagerin Silje Nehrmann gab es nicht mehr. Für niemanden!

»So, und zur Feier des Tages wirst du zum Bäcker fahren und dir Brötchen und einen leckeren, völlig übersüßen Kuchen holen«, murmelte sie zu sich selbst. Ja, eine richtige Kalorienbombe. Susanne, ihre neue Bekannte, würde heute am Turm Dienst haben. Genau der Anlass, um am Nachmittag dort vorbeizufahren und die neue Freundschaft zu vertiefen.

Kurz darauf hielt Silje auf dem Parkplatz gegenüber der Blåvand Bageri und staunte nicht schlecht, dass sie sich halbwegs draußen in der Warteschlange anstellen musste. Na, wenn sie da man noch was abbekam.

Erschrocken blickte sie an sich herunter, als etwas an ihrem Bein entlangstrich. »Oh, hallo.« Sie lächelte den süßen Hund mit seinen dunklen Knopfaugen liebevoll an. Der wiederum musterte sie mit schiefgelegtem Kopf. Seine Betrachtung schien positiv zu verlaufen, wie sie am Schwanzwedeln erkennen durfte. »Wer bist du denn, mein Hübscher?« Sie beugte sich zu dem Vierbeiner hinab und streichelte ihm über das samtweiche, hellbraune Fell.

»Hans navn er Teddy.«

Silje blickte auf und versank in dem klaren Blick des Jungen. Sie erkannte ihn sofort wieder. »Hallo, junger Mann. Haben wir uns nicht gestern schon kennengelernt?«

Der Junge nickte scheu und fummelte an der Leine, um sie vom Fahrradständer zu lösen.

Silje biss sich sachte auf die Lippen und flüsterte leise: »Undskyld, men min dansk er forfærdelig.« Im Grunde genommen war das ihr gesamtes dänisches Repertoire, das sie besaß. Das erste, das Susanne ihr gestern beigebracht hatte. »Entschuldige, aber mein Dänisch ist gruselig.«

Der Junge strahlte sie an. »Mein Deuts ist auk nikt godt.«

»Na, da haben wir ja etwas gemeinsam.« Sie sah sich um. Es war ihr egal, dass sich immer mehr Kunden vor sie schoben. »Bist du mit Teddy allein hier?«

Nun sah er sie wieder scheu an und versuchte zugleich, die Brötchentüte und eine Zeitung an seinem Rad festzuklemmen.

»Undskyldt, ich wollte nicht neugierig sein. Ich kenne nur nicht viele nette Menschen hier.«

Mikkel sah die hübsche Frau nachdenklich an. In Deutsch zu sprechen war für ihn schwer. Far konnte es sehr gut. Und Farmor war, glaubte er, sogar in Deutschland geboren. Mikkel nahm all seinen Mut zusammen. »Bist du Merida?«

Silje stutzte. Sie wusste wenig mit Merida anzufangen, obwohl das für den Jungen offenbar sehr wichtig schien. »Meine Freunde nennen mich Sil…« Es schmerzte sie ungemein, dass sie ihm gegenüber mit einer Notlüge aufwarten musste. »Meine Freunde nennen mich Sybille.«

»Mikkel.« Seine Hände wanden sich mehrmals um die lange Hundeleine. »Nu skal jeg gå. Min Far venter.« Ein schüchternes Winken, dann schwang er sich auf sein Rad und fuhr die Straße hinunter.

Silje erhob sich aus der Hocke und sah dem Jungen hinterher. Sie wusste nicht, was es war, aber irgendetwas an ihm berührte ihr Herz. Und das war verdammt nicht so einfach abzustellen.

»Was bist du heute so ruhig?« Mads belegte seine letzte Brötchenhälfte mit zwei dicken Scheiben Rullepølse und biss herzhaft hinein. »Bist du traurig, dass Mutter nicht mit dir in den Urlaub geflogen ist?«

Mikkel schüttelte stumm den Kopf und widmete seine Aufmerksamkeit ganz dem Hund, der wie ein Bodyguard an seiner Seite saß und darauf achtgab, dass kein Krümel den Boden erreichte.

Wie leicht wäre es nun gewesen, über Kirsten herzuziehen. So wie sie es oft und gern über ihn tat. Doch so war er nicht gestrickt. »Höre mal, Mikkel. Es ist für Eltern manchmal nicht einfach, alle Termine unter einen Hut zu bringen. Ich denke, es ist nun wichtig, dass sie für Jørgen als Partnerin da sein muss. Obwohl sie ganz bestimmt viel lieber mit dir in den Urlaub geflogen wäre.«

»Ich mag Jørgen nicht. Er ist manchmal echt blöde.«

Mads schloss die Augen und fühlte sich mit einem Male unendlich schwach. Was sagte man einem Kind, ohne dass es zwischen diese Mahlsteine geriet, die getrennte Eltern sehr leicht um den Hals trugen. Seine eigene Abneigung Jørgen gegenüber sollte Mikkel keinesfalls beeinflussen. »Ich denke, dass Jørgen deine Mutter sehr gern hat und dich auch. Er hat selbst keine Kinder. Und manches Mal, denke ich, ist es nicht leicht für ihn, ein Vorbild und Freund für dich zu sein. Genau wie es für dich manchmal kompliziert ist, einen anderen Mann an Mutters Seite zu sehen.«

»Könnt ihr euch denn nicht wieder liebhaben?«

»Das hatte ich früher einmal gedacht. Aber nein.« Mads schüttelte den Kopf und ergriff die Hand seines Sohnes. »Mor und ich, wir haben uns nicht mehr viel zu sagen. Wir haben uns auseinandergelebt.«

»Kann ich denn nicht bei dir leben?«

Mads lächelte, obwohl ihm eher danach war zu weinen. »Das würde schwerlich gehen. Ich muss tagsüber arbeiten und du wärst oft allein. Da gibt die Behörde kein Okay.«

»Und wenn du nun auch eine andere Frau findest?«

Mads verfiel in ein heftiges Lachen und strich Mikkel über den Kopf. »Nein.« Ein weiteres dementierendes Lachen. »Ich denke nicht, dass es eine neue Frau bei mir aushält … oder ich mit ihr.«

Mads erhob sich und begann den Frühstückstisch abzudecken, während sich sein Sohn zu Teddy auf den Boden hockte und dem Hund etwas verschwörerisch zuflüsterte. Ein aufgekratztes, bestätigendes Bellen war die Antwort des Tieres.

»Sag mir lieber, was du gern mit mir heute unternehmen möchtest. Wollen wir heute oder in den nächsten Tagen nach Billund ins Legoland?«

Mikkels Augen leuchteten. »Ja, sehr gerne. Geht es denn heute noch?«

»Komm, wenn wir uns beeilen, werden wir einen schönen Tag haben.«

***

Mit dem Kransekager hatte Silje ins Schwarze getroffen. Der durchgehende Sonnenschein lockte die Touristen eher an den Strand als in die Information. So hatten die Frauen genug Zeit, um sich bei Kaffee und Kuchen näher kennenzulernen. Damit nicht genug, sollte Silje an diesem Nachmittag einer weiteren Landsmännin begegnen.

Susanne sah um die Ecke, um zu schauen, wer ins Haus kam. »Hej Karen, du kommst gerade richtig.« Susanne erhob sich und trat an die kleine Küchenzeile. »Der Kaffee ist fertig und einen Kransekager haben wir auch. Komm, du musst Sybille kennenlernen. Sie kommt wie du aus Hamburg.«

Silje winkte mit einem schüchternen Lächeln zu der jungen Frau, die um die Tür herumschaute und unschlüssig schien, Susannes Einladung anzunehmen. »Hallo, du kommst auch aus Deutschland?«

»Ja, das ist Karen Winter, sie ist manchmal nur ein bisschen schüchtern.« Susanne ergriff die junge Frau und zog sie zu sich in den Raum hinein. »Aber so sind unsere Vogelmenschen meistens. Karen ist hier, um den Vogelflug zu erforschen.«

Silje sortierte die Aussage ihrer neuen Freundin und begann zu schmunzeln. »Du willst sagen, dass sie Ornithologin ist.« Sie schnitt ein großes Stück vom Kranzkuchen ab und schob es auf den Teller, den Susanne ihr reichte. »Das ist ja faszinierend. Komm Karen, darüber musst du erzählen. Ich darf dich doch so nennen?«

Mit dieser Begrüßung hatte Silje bei der bedeutend jüngeren Frau einen Stein im Brett.

Unnötig so erzählen, dass die drei Frauen an diesem Nachmittag noch lange beieinandersaßen.


Kapitel 8

Als Peder am Montagmorgen in sein Büro kam, blinkte das rote Licht des Anrufbeantworters hektisch auf. Sein untrügliches Gefühl sagte ihm, dass es sich bei dem Anrufer nur um eine bestimmte Person handeln konnte. Unbeeindruckt, wie die Mutter aller Gelassenheit, begab er sich zur Kaffeemaschine und setzte sich einen extrastarken Kaffee auf. Erst dann trat er ans Telefon und rief die Gespräche ab. Bingo! Wie war das noch mal mit dem Hellsehen?

»Herr Wieland«, sprang ihn ihre betont vibrierende Stimme vom Band her an. »Dieses Badezimmer bringt mich an den Rand des Wahnsinns! Die Hälfte der Beleuchtung ist kaputt und ich traue mich nicht, das selbst zu reparieren. Außerdem gibt es hier keine Glühbirnen, die kann der Elektriker gleich mitbringen. Danke schön für die zügige Abarbeitung.« Das Band schaltete ab und rief den nächsten Anrufer auf. »Ich bin es noch mal. Bitte schicken Sie mir bloß nicht diesen ungehobelten Patron vom Samstag.« Das nächste Gespräch lief an. »Jetzt bin ich es schon wieder!« Ein nervöses, kaum beherrschtes Lachen. »Jetzt ist auch noch dieser Toilettendeckel hinüber! Glauben Sie es oder glauben Sie es nicht, aber das Ding hat sich selbstständig gemacht und ist aus der Verankerung herausgebrochen. Als wenn ich hundertfünfzig Kilo wiegen würde. Das Haus hier ist eine lebensgefährliche Bruchbude!«

Als Mads Lynggaard das Büro seines Freundes betrat, saß dieser mit vor das Gesicht geschlagenen Händen da und brabbelte kaum verständlich: »Diese Frau. Sie macht mich irre, diese Frau. Ich werde irre. Im nächsten Leben werde ich Leuchtturmwärter oder Totengräber. Nur nichts mit Telefonen oder Ferienhausvermietung.«

»Madame Lykkebo?« Mads steckte sich einen der Bonbons in den Mund, die Peder immer in einer großen Schale auf dem Tresen aufbewahrte.

Statt einer Antwort spulte Peder das Band des Anrufbeantworters zurück und startete es erneut.

Ferienhausvermieter musste in der Tat ein gefährlicher Job sein, ergründete Mads für sich. Peder sah echt nicht gut aus. Nebenher ließ er ihre Anrufe ungerührt über sich ergehen.

»Und nun? Soll ich einen Elektriker anrufen? Und den Klempner?«

»Nej.« Mads trollte sich kopfschüttelnd.

»Ja, was dann?«

»Nichts, ich fahre selbst hin.«

»Mads, hast du mitbekommen, dass sie dich nicht sehen will?«

»Ja.« Die Tür fiel ins Schloss und ließ den Freund mit der Frage zurück, ob er das Haus in Kürze neu vermieten könne.

»Far? Hast du Peder gefragt, ob wir heute Abend grillen wollen?«

Mads sah Mikkel an, als würde er ihn erst jetzt wahrnehmen. »Stimmt, das habe ich vergessen.« Er nahm sein Handy und betätigte die Kurzwahl. Peder war sofort dran. »Du kommst heute Abend zum Grillen. Ach, und ruf bitte Ove an.« Peder schien irgendwelche Einwände zu haben, die Mads rigoros beiseite wischte. »Mikkel und ich besorgen alles, wenn wir von Skallingen zurück sind.« Peder setzte erneut zu einer Entgegnung an, ohne dass er ihm die Chance gab. »Kriegsrat, es ist wichtig.«

Wie wichtig dieses Gespräch zwischen den Freunden werden würde, ahnte zu diesem Zeitpunkt niemand.

»Wollten wir nicht nach Skallingen, Far?« Mikkel verfolgte wie sein Vater auf den Hof fuhr und vor der Werkstatt hielt.

»Gleich«, versprach Mads seinem Sohn. »Ich muss kurz noch etwas reparieren. Es geht schnell.« Mit einem wachsenden Groll, für den er selbst keine Erklärung fand, stapfte Mads Lynggaard zur Werkstatt, um das nötige Werkzeug zu holen.

Mikkel sah ihm verständnislos hinterher und rief seinen Berater zu Hilfe. »Teddy, was hat Vater denn plötzlich?«

Diesmal wusste Teddy auch keine Antwort. Also musste Mikkel abwarten. Far fuhr zu Lykkebo, dem Ferienhaus, das seine Eltern besaßen. Er war sehr gern dort. Dort gab es sogar eine Schaukel auf dem Grund. Obwohl er eigentlich schon viel zu alt dafür war.

»Du und Teddy, ihr bleibt am besten im Auto«, wies Mads seine Mitfahrer an und trat an das Heck, um sein Werkzeug herauszuholen.

Mikkel sah ihm hinterher und wartete, bis er mit der Kiste im Haus verschwand. Für ihn hieß ›im Auto bleiben‹ einfach in Sichtweite sein.

Diese peinliche Situation, in die er letztens geraten war, war Mads in Erinnerung geblieben. Bevor er seinen Schlüssel hervorholte, hämmerte er lieber wie ein Berserker gegen das Türblatt der Haustür. Das schien Madame diesmal gehört zu haben. Durch die eingelassene Scheibe konnte er sehen, wie sie zielstrebig über den Flur kam und kurz davor stoppte. Ihr Lächeln verwischte sich zu einer angestrengten Maske.

Sie öffnete die Haustür und sah herausfordernd zu ihm auf. »Gibt es in ganz Blåvand nur einen Handwerker?«

»Nein«, erwiderte er ihr mit einem herausfordernden Lächeln. »Es gibt nur einen, der den Mut hat, sich in Ihre Nähe zu trauen.«

Entgegen seiner Erwartung fing sie an zu lachen. »Auf den Mund sind Sie zumindest nicht gefallen.« Sie trat zur Seite und deutete ins Bad. »Hat Herr Wieland Ihnen gesagt, welche Schäden hier aufgetreten sind?«

»Wir reden über nichts anderes mehr.« Er trat sich die Füße ab und suchte das Bad auf.

»Bin ich wirklich so schlimm?«

Ohne sich lange aufzuhalten ging er daran, sich um die in den Spiegel eingelassene Lampe zu kümmern. Dabei entging ihm kaum ihre Reaktion. Sie wirkte auf ihn ehrlich bedrückt. »Ich denke, Sie wissen, was Sie wollen«, bemühte sich Mads freundlich zu sein. »Peder will auswandern. Aber das will er mindestens einmal die Woche.«

Oh mein Gott, sie sah wirklich attraktiv aus, spürte er ganz tief in sich einem Gefühl nach, das er längst verloren geglaubt hatte. Nein, das durfte nicht geschehen. Betont selbstbewusst entschied er: »Ich werde den Anschluss auseinandernehmen müssen. Wenn Sie mir nun nicht im Weg stehen wollen.« Er wandte sich ihr in dem engen Raum zu und sah auf die um fast einen Kopf kleinere Frau herab. Sie waren sich noch nie so nahe gekommen, flüsterte etwas in ihm. Ihre süßen Sommersprossen, die sie unter einem leichten Make-up zu verbergen versucht hatte, sprangen ihm entgegen. Im Schein des schwachen Restlichts erahnte er die kleinen Fältchen um ihre Augen herum. Sie war bestimmt kein junges Mädchen mehr, sondern einfach eine attraktive und sehr selbstbewusste Frau. »Ich … ich muss die Sicherung entfernen.«

Silje riss sich mit Gewalt von diesem Moment los, der alles in ihr in Aufruhr versetzt hatte. Das durfte nicht geschehen! Dieser Mann war viel zu jung und zudem ganz bestimmt verheiratet. Unmöglich! Klar, und einen puterroten Kopf musste sie sicherlich auch schon haben. »Ja, ich denke, dann gebe ich Ihnen noch einmal die Chance, Ihre Arbeit vernünftig zu beenden.«

Sie ging ihm aus dem Weg und eilte durch die Wohnung. Auf der Flucht vor diesen übersprudelnden Gefühlen und dem Erkennen, welch zweideutige Bemerkung ihr wieder einmal über die Lippen gekommen war. Hinaus auf die in der Sonne liegende Terrasse. Manches Mal bedauerte sie es, vor Jahren mit dem Rauchen aufgehört zu haben. Das wäre jetzt ein Moment, um zur Zigarette zu greifen.

Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie nicht allein war. Das Quietschen in ihrer Nähe stammte von der Schaukel, die sich außerhalb der umfriedeten Terrasse auf dem Naturgrundstück befand. Die Neugier trieb sie an den Zaun und ein Lächeln legte sich auf ihr Gesicht. Vergessen war dieser unmögliche, freche Mensch.

»Hej Mikkel.« Sie ging auf die andere Seite des stabilen Holzzauns und begrüßte Teddy, der ihr schwanzwedelnd entgegenkam. »Hej Teddy.«

»Hej«, kam es fröhlich aus Richtung der Schaukel. Mikkel stoppte die Vorwärtsbewegung und sah ihr interessiert entgegen. »Hej, Sybille. Wohnst du hier?«

»Ja, ich freue mich, dich zu sehen. Sag, wohnst du auch hier? Bist du vielleicht mein Nachbar?« Silje setzte sich zu ihm auf die zweite Schaukel.

Mikkel schüttelte den Kopf und deutete zum Haus. »Min Far … er muss … reparere.«

Erschrocken sah Silje von dem Jungen zum Haus hin. »Du meinst, der Mann da drinnen ist dein Vater?«

Mikkel nickte und strahlte übers ganze Gesicht. »Ja, det er min Far Mads. Er kann alles reparere. Und wenn er fertig ist, wollen wir nach Skallingen fahren.« Mikkel äugte skeptisch zu ihr herüber. Die Frau war plötzlich so still und weiß im Gesicht. »Har du det okay?«

»Wie?« Silje hatte das Gefühl, aus allen Wolken zu fallen. Und niemand war in der Nähe, der sie auffing. Es fiel ihr so unendlich schwer weiter zu atmen, zu agieren, zu reagieren. Mikkel war tatsächlich sein Sohn. Der Blick huschte zum Haus hin, wo sich der attraktive Mann einen Kampf mit der Elektrik lieferte, und zurück zu dem Jungen. Kein Wunder, dass sie sich in die Augen verguckt hatte. Mikkel hatte dieselben dunkelbraunen Augen wie sein Vater. Und sie saß hier und bildete sich sonst was ein! Blöde pubertierende Trine.

»Ah, Mikkel. Hier bist du.« Plötzlich stand der Mann vor ihnen, ohne dass sie es wahrgenommen hatte.

»Hej Far, det er ikke rart, at vi mødte Merida.«

Hilflos sah Silje zwischen Vater und Sohn hin und her. Beide lächelten auf eine Art, die sie völlig verunsicherte.

»Mein Sohn, es ist nicht höflich, im Beisein von netten Menschen in einer Sprache zu sprechen, die sie nicht verstehen«, belehrte der Mann den Jungen. Auch wenn das herausfordernde Grinsen dabei ihr galt. Was Mikkel jedoch gesagt hatte, verschwieg er. Stattdessen erklärte er ihr unpersönlich: »Das Licht sollte wieder in Ordnung sein. Was den Toilettensitz betrifft, muss ich erst einen neuen in Oksbøl besorgen.«

»Der war aber schon kaputt«, rutschte es Silje heraus.

»Das denke ich auch. So ein Pummelchen sind Sie nun auch wieder nicht.« Sein Lächeln vertiefte sich.

Sie stemmte ihre Fäuste in die Hüften und verstellte ihm mit funkelnden Augen den Weg. »Warum müssen Sie sich jeden Pluspunkt, den Sie sich verdienen, gleich wieder mit irgendwelchen zweideutigen Bemerkungen kaputtmachen?«

Statt sich von ihr einschüchtern zu lassen, packte er sie an den Hüften und trug sie wie ein Fliegengewicht zwei Schritte beiseite, wo er sie lächelnd auf ihre Füße stellte. »Weil ich weiß, was geschehen würde, wenn ich es nicht tue.« Er zwinkerte ihr frech zu und wandte sich Mikkel und Teddy zu. »Kommt Männer, es wird Zeit.«

***

Hyrde-Englunds Nachbarn waren in die Ferien gefahren. Wie so einige Familien in der Straße. Eine bessere Chance, ihrem Ziel unbemerkt näher zu kommen, würde sie kaum erhalten.

Das Schloss an der Hintertür der Nachbarvilla war ein Kinderspiel gewesen. Ebenso die lächerliche Alarmanlage. Die Frau wanderte bedächtig durch das Haus, das einer wohlhabenden Familie gehörte. Designermöbel, wohin man sah. Ein Kinderzimmer, das einem Jungen gehörte. Im Schlafzimmer eine wahre Lustwiese. Dazu ein exklusiv eingerichtetes Bad, in dem kein Wunsch offenblieb. Im begehbaren Kleiderschrank hing ausschließlich Luxuskleidung. Was für Profilneurotiker! Doch das sollte nicht ihr Problem sein. Wichtig war, dass die Bewohner die nächsten Tage über fortblieben. In der geräumigen Küche wurde sie endlich fündig. Das Bestätigungsschreiben eines Wellness-Resorts auf Seeland lag in ihrer behandschuhten Rechten. Frühestens in vier Tagen würden die Bewohner zurückkehren. Genug Zeit, um zu planen.

Karen Winter trat an das große, von schneeweißen Gardinen verhängte Fenster und schaute vorsichtig durch einen Spalt auf das still daliegende Nachbarhaus. Freies Schussfeld auf die ausladende Terrasse bis tief in den dahinterliegenden Wohnraum hinein. Es wäre eine Alternative und alle Male besser als ein Distanzschuss vom Strand, den sie vorgestern in Betracht gezogen hatte. Trotzdem behielt sie diese Option im Sinn.

Urplötzlich schaltete ihre Aufmerksamkeit auf den Jagdmodus um. Selbst wenn sich ihr Herzschlag dabei nur geringfügig verstärkte. Der Kombi, der in diesem Moment die Auffahrt des Nachbargrundstücks befuhr, ließ sie kombinieren. Man bestellte sich keinen Partyservice, wenn man nicht gewillt war, in Kürze anzureisen.

Ein Blick auf ihre Armbanduhr. Ärgerlich, sie musste zurück. Man würde bereits auf sie warten. Bjarne Thomsen war daran gelegen, einen guten Kontakt zu seinen Studenten zu haben. Langsam drohte die Geschichte mit ihrem vermeintlichen Lover ohnehin aufzufliegen. Für einen angeblichen Liebesurlaub musste ihr Traummann aber noch herhalten. Mit etwas Glück würde sie danach gar nicht mehr nach Blåvand zurückkehren.

Niemand sah, wie die junge Frau das Grundstück verließ und sich in Richtung des öffentlichen Parkplatzes entfernte, auf dem sie den alten Toyota geparkt hatte. Eine Zeit lang blieb sie auf einer der wenigen Parkbänke sitzen und genoss die wärmenden Strahlen der Oktobersonne. Hinter ihren halb geschlossenen Augen arbeitete es jedoch ununterbrochen.

Örtliche Gegebenheit. Wie sein Name aussagte, zog sich der Hjerting Strandvej über Kilometer immer in Meeresnähe durch den Ort. Zum Strand hin lagen die Villen und Häuser der Wohlhabenden. Verborgen hinter einer nahezu durchgehend grünen Mauer aus hohen Bäumen und Büschen. Die wenigen offiziellen Parkmöglichkeiten an dieser Straße waren so gelegen, dass sie einen Weg von nahezu dreihundert Meter zurückzulegen hatte, um ihr Auto zu erreichen. Eine ziemliche Strecke, auf der eine Frau mit einem MR 308 über der Schulter jedem auffiel. Das Parken mit dem Pannenblinker war noch augenfälliger. Dänische Autofahrer waren sehr hilfsbereit, das hatte sie gleich am ersten Tag erfahren. Blieb nur die Alternative, den Wagen am Sædding-Center abzustellen und von dort aus mit der Enduro zu fahren. Auf den Parkplätzen des großen Einkaufszentrums standen in der Nacht genug Fahrzeuge herum, sodass eines mehr nicht auffiel. Das Motorrad ließe sich dagegen problemlos zwischen den Bäumen verstecken.

Zufrieden mit sich und den Fortschritten ihrer Planung bestieg sie den Wagen, um schnellstens nach Blåvand zurückzukehren. Sie würde zu Bjarne und den anderen stoßen und in Lise’s Pub ausgelassen feiern. So sehr, dass ihr mindestens drei Tage lang speiübel wäre.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752117899
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
Dänemark Attentäter Gefühl Young&Adult Landhauskrimi Beziehung Ermitteln Blavand Strand Regionalkrimi Krimi Thriller Spannung Liebesroman Liebe

Autor

  • Katharina Mohini (Autor:in)

Katharina Mohini, Jahrgang 1961, lebt mit ihrer Ehefrau in im südlichen Schleswig-Holstein. „Dünenflimmern – Schleier der Vergangenheit“ ist bereits ihr vierter Roman den sie im Genre: Adult-Romance veröffentlicht. Bei diesem, ihrem letzten Werk, betritt sie erstmals die Bühne des Cosy Krimis, ohne jedoch von den einschneidenden Erlebnissen und Gefühlen ihrer Protagonisten abzulassen.
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Titel: Dünenflimmern