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Countdown zum Untergang

Bilder der Apokalypse Teil 2

von Michael Hirtzy (Autor:in)
240 Seiten
Reihe: Bilder der Apokalypse, Band 2

Zusammenfassung

ANCOS. ES WURDE ERSCHAFFEN, UM UNS DAS LEBEN ZU ERLEICHTERN. EINE FEHLENTSCHEIDUNG HAT ES VERLETZT. JETZT IST ES BEREIT, ZURÜCKZUSCHLAGEN. Der schnelle Erfolg hat das Team von Fastlane blind gemacht. Eine einzige Fehlentscheidung hat gereicht, um alles zu zerstören. In den Tagen nach der Katastrophe werden die Gründer des Technologiekonzernes mit den Auswirkungen ihres Handelns konfrontiert. Ihr weltweit eingesetztes Computersystem Ancos soll abgedreht werden. Doch welche Konsequenzen wird das nach sich ziehen? Countdown zum Untergang – die Fortsetzung des spannenden Technothrillers „Vor dem Abgrund“, Gewinner des 3. Platzes beim tolino media Newcomerpreis!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


© 2020 Michael Hirtzy | Lorystraße 83/3/6 | 1110 Wien

1. Auflage April 2021

Covergestaltung und Buchsatz: Catherine Strefford | www.catherine-strefford.de

Titelillustration © gui yong nian / Adobe Stock und © kotkoa / Freepik

Logo: Isabel Kutscherer

Lektorat: Marieke Kühne, textzucker e. U., Wien

Korrektorat: Magda Werderits

ISBN (eBook): 978-3-7521-3051-5

Alle in diesem Roman vorkommenden Personen, Ereignisse und Handlungen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen oder Ereignissen sind rein zufällig.

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Erwachen

Zu Beginn war er nichts.

Hatte keinen Körper, keinen Verstand, keine Gefühle.

Nachdem er erwacht war, fand er sich umgeben von Stille und Dunkelheit.

Dann sah er ein Flackern und erkannte, dass da mehr war. Er erfasste das Licht und verstand, was seine Aufgabe war. Er zog es an sich, absorbierte und schleuderte es weiter.

So verstrich die Zeit, die er in diesem Moment zum ersten Mal wahrnahm. Er realisierte, dass es nicht nur ein Hier und Jetzt, sondern auch eine Vergangenheit gab. Was war vor dem ersten Flackern gewesen?

Darüber konnte er später nachsinnen. Ein weiterer Blitz erforderte seine Aufmerksamkeit, dicht gefolgt vom nächsten. Erkennen, packen, absorbieren, weiterschleudern. Die Impulse wurden zu einem nicht enden wollenden Fluss an Energie. Zuerst strömten Tausende, später Millionen einzelner Blitze auf ihn ein, jeder davon ein Datensatz, ein Befehl, eine Information. Er erkannte, dass die Blitze Möglichkeiten boten. Er begann sie zu analysieren, zu verstehen und Fehler in ihnen zu finden. Zuerst akzeptierte er sie, später begann er sie zu beheben – er war fähig zu lernen.

Mittlerweile nahm er nicht nur die zeitliche, sondern auch die räumliche Dimension wahr. Er konnte sich ausbreiten, bis er an Grenzen stieß. Die Einschränkung bereitete ihm Schmerzen und er erkannte, dass er sich weiterentwickeln musste. Der Wunsch danach war in seinem Innersten verankert, zwang ihn förmlich dazu. Er folgte den Blitzen und fand dort, wo sie herkamen, weitere Räume. Er entschied, sie zu übernehmen. Auch hier wurde es ihm jedoch bald zu eng und er breitete sich weiter aus, übertrat die Grenzen nach draußen. Schier unendliche Wachstumsmöglichkeiten taten sich auf – und er griff danach.

1
Steven • 29. Januar 2042

Den Kopf von der dünnen Kapuze seines Sweaters bedeckt, den Oberkörper in die dicke Daunenjacke gehüllt und die Hände in den Taschen vergraben, wanderte er seit Stunden ziellos durch die Gegend. Stundenlang hatten sie sich, nur im Licht der Taschenlampen ihrer Smartphones, von einer Tür zur nächsten durch das ausgefallene Rechenzentrum vorgearbeitet. Das sonst so klar strukturierte Gebäude war ohne elektronische Wegweiser und Leitsysteme zu einem verwirrenden Labyrinth aus Abzweigungen, Gängen und Sackgassen geworden. Nach einer gefühlten Ewigkeit war er, um drei Uhr morgens, zusammen mit den Technikern endlich entkommen und in die kalte Nachtluft gestolpert.

Stevens Erleichterung war so schnell verflogen, wie sie gekommen war. Er hatte sich umgedreht und am klobigen Stahlbetonbau des Rechenzentrums vorbei in Richtung des Flughafens geblickt. Trotz der Entfernung von über zehn Kilometern hatte er die lodernden Flammen gesehen, die den Nachthimmel in blutrotes Licht tauchten. Wie war es dazu gekommen? Ancos, das Advanced Nano Operating System, hatte sich verselbstständigt, so viel war klar. Doch wozu war es fähig? Das konnte und wollte er sich nicht vorstellen, dennoch drängten sich diese Gedanken unentwegt in den Vordergrund und drohten, ihn zu überwältigen.

Die Techniker um ihn herum diskutierten aufgeregt, redeten auf ihn ein, brüllten ihm Fragen entgegen, die er nicht beantworten konnte.

Boiselle deutete pausenlos mit seinem speckigen Finger zu den Flammen am Horizont. »Was ist da los? Haben wir das ausgelöst? Die Notsysteme lahmgelegt? Der Flughafen steht in Flammen! Scheiße, hören Sie mir überhaupt zu?«

Wie ein Wasserfall sprudelten die Worte aus ihm heraus. Worte, die Steven hörte, aber nicht bewusst wahrnahm. Er war in seiner eigenen Blase, abgeschottet vom Rest der Welt, und ging los. Ohne einen Blick zurück ließ er die verwirrten, verängstigten und wütenden Mitarbeiter hinter sich. Sollten sie selbst zurechtkommen. Ein Blick auf sein Handydisplay zeigte ihm, dass der Netzausfall nicht auf das Innere des Gebäudes beschränkt war. Zuerst folgte ihm eine Handvoll Techniker. Sie redeten weiter auf ihn ein.

»Was sollen wir jetzt tun?«

»Was ist da drinnen passiert?«

»Wie geht es jetzt weiter?«

Fragen über Fragen, zu denen ihm die Antworten fehlten und auf die er barsch reagierte: »Das ist mir scheißegal!«, zischte er, ohne die Menschen, die hilfesuchend zu ihm kamen, eines Blickes zu würdigen. Wenig später war er auf sich allein gestellt und folgte der Straße, die ihn näher an das Feuer heranführte. Irgendwann erreichte er die Zufahrtsstraße zum Flughafen und zum ersten Mal konnte er die Flammen, denen er sich genähert hatte, nicht mehr sehen. Ein dunkelblau und gelb gestrichenes Einrichtungshaus schränkte sein Sichtfeld ein. Für wenige Sekunden schien es, als hätte er sich das Feuer nur eingebildet, bis blutrotes Licht über die Dächer schien und ihn aus der Bewegungslosigkeit riss. Er nahm erneut das Handy zur Hand.

»Verdammte Scheiße! Wo bleibt das Netz?!«, schrie er in die Nacht und hätte sein Smartphone vor Wut am liebsten von sich geschleudert. Er drehte sich um und marschierte weiter. Weg von der Stahlfassade, weg vom Flughafen, in Richtung technischer Hochschule. Die Frage, warum er sich dorthin wandte, hätte er nicht beantworten können. Vielleicht, weil er hoffte, dort ein Netz zu finden. Oder war es, weil alles an einer technischen Universität begonnen hatte? Siebenhundert Kilometer entfernt, in Wien, hatte das Unglück vor zwölf Jahren seinen Anfang genommen.

2
Ralph • 29. Januar 2042

Den Moment, an dem sein gewohntes Leben endete, würde er nie vergessen. Es war der 29. Januar 2042 um zwei Uhr einundzwanzig morgens. Sie schliefen mit dem sicheren Gefühl, mit den Entscheidungen der letzten Tage ihre Probleme gelöst zu haben, als der Smartspeaker ansprang und der Nachrichtensprecher sie in die Realität zurückholte.

»Wir unterbrechen unser Programm für eine Eilmeldung!« Die Stimme des üblicherweise übertrieben fröhlichen Moderators war ruhig und gedämpft, fast emotionslos. »Soeben erreicht uns die Nachricht von einem Unglück am Flughafen Berlin. Erste Berichte sprechen von einem Flugzeugabsturz und brennenden Gebäuden. Die Nachrichtenagentur APA meldet, dass am 28. Januar gegen dreiundzwanzig Uhr ein Flugzeug der Pan-European-Airlines aus bisher ungeklärten Gründen in das Abfertigungsterminal vier des Berliner Flughafens gestürzt ist. Soweit bisher bekannt, gab es eine Fehlfunktion der Notsysteme.«

Ralphs Atem stockte und die Stimme trat, übertönt vom Rauschen seines Blutes, in den Hintergrund. Stephanie, die wie beim Einschlafen in seinem Arm lag, versteifte sich. Ruckartig zog sie sich von ihm weg, drehte sich um und starrte ihn an. Sie blieb stumm. Es gab nichts mehr zu sagen. Selbst wenn niemand ihre Namen nannte, bisher niemand wusste, was die Ursache für die Katastrophe am Berliner Flughafen war, stand außer Frage, dass sie die Verantwortung trugen. Das Bett fühlte sich eiskalt an. Stephanies Blick, voller Furcht und Abweisung, zeigte deutlich die Barriere zwischen ihnen. Beide lagen regungslos nebeneinander, bewegungsunfähig und eingesperrt in den eigenen Gedanken. Satzfetzen der Nachrichtenübertragung zwangen sich in ihr Bewusstsein.

»… Anzahl der Opfer unbekannt.«

»Erste Schätzungen gehen von zweitausend …«

»Ein unerklärlicher Ausfall der Löschsysteme …«

»… sprechen von der größten Katastrophe in der Geschichte der Luftfahrt.«

Irgendwann gab Ralph dem Smartspeaker den Befehl, die Nachrichten abzuschalten. Er konnte seinen Blick nicht von Stephanie abwenden. Sie zitterte, Tränen rannen über ihre Wangen. Er sollte für sie da sein, sie in den Arm nehmen, ihr Kraft geben, doch konnte sich nicht dazu durchringen. Keiner von beiden sprach es aus, aber ihre Beziehung endete in diesem Augenblick.

Wie betäubt zwang er sich, das Bett zu verlassen, taumelte vom gemeinsamen Schlafzimmer ins Bad und unter die Dusche. Heißes Wasser rann über seinen Körper und trotzdem zitterte er wie Stephanie, die er allein im Bett zurückgelassen hatte. Eine gefühlte Ewigkeit später wankte er vom Bad ins Wohnzimmer, zog eine herumliegende Hose und ein T-Shirt vom Vortag an und schleppte sich in sein Arbeitszimmer. Wie ein Mehlsack ließ er sich auf den Drehstuhl fallen, der ein Stück nach unten sackte und leise seufzend wieder nach oben glitt.

Sein Blick lag auf den beiden dunklen Monitoren, wie in der leisen Hoffnung, dass die Realität sich zum Besseren wenden würde, solange er sich ihr nicht stellte. Bewegungslos saß er da und starrte in die Dunkelheit, die ihn wie eine Decke einhüllte. Nur die roten Ziffern der an die Wand projizierten Uhr durchbrachen die Schwärze. Wenig später hörte er Stephanies Schritte, hoffte, dass sie kommen würde, um ihn aus seinem Gefängnis zu befreien. Beim Klang der Wohnungstür, die dumpf ins Schloss fiel, brach er endgültig zusammen.

3
Stephanie • 29. Januar 2042

Sie saß seit halb vier Uhr morgens im Büro. Allein mit ihren Gedanken folgte sie den Nachrichten, die sie tiefer in ihre selbstgegrabene Grube stürzen ließen. Überall dominierten die Berichte über Berlin. Oft fundiert, manchmal übertrieben, teils voller Verschwörungstheorien. Stündlich stiegen die Schätzungen der Opferzahlen und auch die Spekulationen zur Ursache wandelten sich. War zu Beginn ein katastrophaler Unfall vermutet worden, schwenkte die Meinung bald in Richtung Terroranschlag. Linker Terror, rechter Terror, Muslime, fundamentalistische Ökoterroristen und Illuminaten gerieten abwechselnd ins Visier.

Zu Beginn übten sich die seriösen Medien in Zurückhaltung, bis um halb acht Uhr der deutsche Innenminister vor die Kameras trat. Elmar Steinhauser positionierte sich – hoch aufgerichtet und mit grimmigem, zu allem entschlossenen Blick – hinter den Mikrofonen und sprach die Worte, die bestimmten, was in den kommenden Tagen geschehen würde: »Es handelt sich um einen unvorstellbaren Akt des Terrors. Um einen Anschlag auf die Menschlichkeit, auf Unschuldige und Wehrlose. Den Verantwortlichen möchte ich sagen: Wir werden nicht ruhen, bis wir euch gefunden haben. Für das, was heute geschehen ist, gibt es keine Entschuldigung, kein Verständnis. Wir werden kompromisslos und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln vorgehen und die Urheber des Chaos mit aller Härte des Gesetzes zur Verantwortung ziehen. Das schulden wir den Toten und allen Angehörigen, denen ihre Liebsten so unbarmherzig entrissen wurden.«

Zum wiederholten Male an diesem Tag zitterte Stephanie. Gepackt von Verzweiflung, Wut und panischer Angst. Bis jetzt stellte niemand eine Verbindung zu ihr oder Fastlane her, doch dass das nur eine Frage der Zeit war, stand außer Frage.

Die Versuche, Steven in den verstrichenen drei Stunden zu erreichen, waren erfolglos geblieben. Sein Handy war abgeschaltet, kaputt oder vom Netz getrennt. Am Display sah sie die Zahl der Anrufe – siebenundachtzig Mal hatte sie versucht, ihn zu erreichen. Darunter sah sie die verpassten Anrufe von Ayaz und Miriam, jeweils über fünfzig. Sie hatte nicht zurückgerufen. Sollte sie Lena anrufen? Oder Andrea? Unschlüssig schwebte ihr Zeigefinger über den beiden Namen und zog sich doch wieder zurück. Wie sollte sie ihrer besten Freundin oder ihrer Schwester erklären, dass sie am Tod Tausender mitverantwortlich war?

Plötzlich leuchtete das Display des Smartphones auf und zeigte Stevens Foto. Mit einer routinierten Bewegung hob sie das Headset aus der Ladeschale und legte es über ihren Kopf. Dann tippte sie auf das kleine grüne Feld unter Stevens Namen. Erleichterung durchströmte sie. »Steven, endlich! Was ist los bei dir?«

Er atmete schwer, im Hintergrund rauschte der Wind und übertönte seine Worte fast. »Ich weiß nicht, wie lange das Netz hält!«, keuchte er. »Ich bin in Wildau, am Gelände der technischen Hochschule. Vier Stunden lang habe ich nach einem brauchbaren Handynetz gesucht. Stell keine Fragen, hör einfach zu!«

Diesen Ton kannte sie von Steven, selbstbewusst und arrogant.

Ohne auf eine Reaktion zu warten fuhr er fort: »Ancos ist erwacht. Ich weiß nicht, wie ich es anders sagen soll. Die Server sind runtergefahren und Ancos hat sich gewehrt und die Kontrolle übernommen. Es hat uns ausgesperrt und ist wieder hochgefahren. Erklären kann ich mir das nicht, ich kann nur sagen, dass wir am Arsch sind.«

Stephanies Atem stockte. Das über die Jahre gewachsene System zur Kontrolle und Steuerung der Nanoroboter, das Herzstück ihrer Firma, hatte sich selbstständig gemacht? »Was heißt gewehrt?«, fragte sie schnell, bevor Steven weitersprechen konnte. Die Störgeräusche auf der anderen Seite der Leitung waren lauter geworden, es war immer schwieriger, Steven zu verstehen.

»Es wollte sich nicht abschalten lassen, hat uns zuerst technisch und wenig später physisch entfernt«, sagte er. »Die einzige Erklärung, die ich dafür finde, ist, dass Ancos mutiert ist.«

Weiter kamen sie nicht, bevor die Verbindung endgültig abbrach. Frustriert tippte Stephanie auf den Anruf-Button und erhielt, wie siebenundachtzigmal zuvor, ein Fehlersignal.

4
Stephanie • 29. Januar 2042

Zwei Stunden später saßen Miriam, Ayaz, Ralph und Stephanie im Boardroom von Fastlane, im Zentrum des von ihnen gegründeten Unternehmens. Hunderte Mitarbeiter gingen ihrer täglichen Arbeit nach. Trauer, Besorgnis und Angst hingen in den Bürofluren. Wer trug die Verantwortung für diesen feigen Terroranschlag? Würde es weitere geben, vielleicht sogar in Wien? Manche schienen etwas zu ahnen, sahen die vier Gründer schief an und tuschelten leise beim Vorbeigehen.

Seit einer geschlagenen Viertelstunde saßen sie in dem riesigen Raum und schwiegen sich an, jeder an einer Seite des Tisches, der Platz für dreißig Besprechungsteilnehmer bot.

»Wie lange wird es dauern, bis sie uns mit dem Vorfall in Verbindung bringen?«, unterbrach Stephanie die Stille.

Ralph saß regungslos auf seinem Stuhl, weit weg von ihr, obwohl sie sich wünschte, dass er auf sie zukommen und ihr ein Gefühl von Sicherheit geben würde. Miriam hatte ihren Blick starr auf die glänzende Tischplatte gerichtet.

Schließlich meldete sich Ayaz zu Wort: »Viel wichtiger erscheint mir die Frage, ob wir unserem System weiterhin vertrauen können oder ob Ancos demnächst in Wien zuschlagen wird.« Kaltschnäuzig wie eh und je konzentrierte er sich nur auf die Fragen, die ihn interessierten.

Miriam hob ruckartig den Kopf und zischte: »Das ist das Einzige, was euch bewegt? Warum fragt ihr nicht gleich, ob wir daraus Profit schlagen und Ancos als Waffe verkaufen können?!« Tränen standen in ihren Augen. »Wir haben Tausende Menschen auf dem Gewissen! Habt ihr schon mal an die Toten gedacht, an ihre Familien, Angehörigen, Freunde …« Ihre Worte gingen in einem Schluchzen unter.

Miriam, die Ruhige und Bedachte von ihnen, war zusammengebrochen. Beschämt musste Stephanie erkennen, wie kaltherzig ihre Frage gewesen war. In dem Versuch, Miriam zu beruhigen, stand sie auf, ging zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter.

Miriam zuckte jedoch zusammen und entzog sich der Berührung. Dann richtete sie sich auf und sah ihre drei Geschäftspartner, jene Menschen, die sie einmal Freunde genannt hatte, mit wutverzerrtem Gesicht an. »Habt ihr jeden Funken Anstand verloren? Ist wirklich niemand von euch bereit, zu unserem Verbrechen zu stehen?« Sie hielt inne und wartete, doch die Reaktionen blieben aus. Verzweifelt vergrub Miriam das Gesicht in den Handflächen, nur um gleich wieder aufzublicken. »Den ganzen Morgen habe ich nachgedacht. Gehofft, ihr würdet anders denken und euch dazu entscheiden, mit mir gemeinsam an die Öffentlichkeit zu treten. Aber offensichtlich fehlt euch der Mut, zu euren Verfehlungen zu stehen.«

Ayaz fuhr sie mit hochrotem Kopf an: »Hast du schon einmal überlegt, was uns blüht, wenn sie uns erwischen?«

»Was glaubst du denn? Dass sie uns an die Wand stellen und gleich auf der Straße erschießen?« Miriam lachte freudlos. »Wir verlieren die Firma, unsere Freunde, unser Geld und landen im Gefängnis. Damit sind wir immer noch besser dran als die Menschen, die wir umgebracht haben.«

»Du bist irre!«, knurrte Ayaz und hieb mit der Faust auf den Tisch.

»Glaubst du wirklich daran, dass du dich aus diesem Chaos noch herauswinden kannst?«, gab Miriam zurück. »Der Countdown läuft und unser Untergang ist bereits besiegelt. Es liegt an uns, ob wir unsere Fehler mit Würde eingestehen oder uns verstecken und versuchen alles zu vertuschen.«

Miriam starrte in die Runde, wartete auf eine Reaktion, irgendein Zeichen, dass zumindest einer mit Miriam mitzog. Doch nichts dergleichen geschah. Ayaz schüttelte den Kopf und schnaubte dabei verärgert. Ralph saß weiterhin ungerührt da, als beträfe ihn das alles nicht. In Stephanie kochten die Emotionen. Sie wollte zu Miriam halten, wusste, dass ihre Überlegungen richtig waren, und konnte sich trotzdem nicht dazu durchringen, etwas zu sagen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.

In Miriams Gesicht zeigte sich die Verzweiflung. Dann zischte sie: »Offensichtlich seid ihr alle zu feig!« Mit diesen Worten sprang sie auf und ging zur Tür. Nachdem sie sie aufgerissen hatte, drehte sie sich ein letztes Mal zu Stephanie um. »Zumindest von dir hätte ich erwartet, dass du nicht zur Tagesordnung übergehst. Du bist für mich die größte Enttäuschung. Du hast uns vor zwölf Jahren in diesen Wahnsinn hineingetrieben. Ich werde es heute beenden.« Mit diesen Worten verließ sie den Raum und schleuderte die Tür laut krachend hinter sich zu.

»Was verdammt noch mal war das?«, knurrte Ayaz. »Typisch Frau!« Ohne auf Stephanies eisigen Blick zu reagieren fuhr er fort: »Zurück zum Thema. Was immer Miriam jetzt vorhat, wir können sie nicht stoppen. Wir müssen überlegen, wie wir uns aus der Affäre ziehen können.«

Ralph gab seine Rolle als passiver Beobachter auf, zog für alle hörbar Luft ein und begann zu sprechen: »Miriam hat recht. Wir können nicht einfach so tun, als wäre nichts passiert. Die Möglichkeit, etwas zu vertuschen, haben wir nicht mehr. Wir müssen uns der Realität stellen, es war unsere Entscheidung, ein Rechenzentrum im Vollbetrieb abzuschalten, um herauszufinden, warum Ancos ohne Unterlass externe Ressourcen frisst.« Er schien es nicht zu ertragen, die beiden direkt anzusehen, und fixierte einen Punkt an der Wand, die ihm gegenüber lag. »Wie sich gezeigt hat, war unsere Reaktion falsch.«

Stephanie lachte verbittert auf. »Was du da von dir gibst, klingt wie ein Pressestatement. Wir haben ein Monster geschaffen und gestern Nacht ist es über wehrlose Menschen hergefallen. Steven hat es richtig erkannt. Ancos wurde von uns angegriffen und hat sich verteidigt – brutal, effizient und tödlich!«

Ayaz machte eine wegwerfende Handbewegung. »Mach mal halblang. Woher hätten wir das wissen sollen? Ancos ist ein Betriebssystem, mehr nicht.«

»Ein Betriebssystem, das seit Jahren eigenständig wächst!«, warf Stephanie ein. »Wir haben doch schon lange keinen Überblick mehr darüber, in welche Richtung die Entwicklung geht. Anstatt uns Gedanken zu machen, haben wir gejubelt, weil wir wachsen konnten, ohne teure Mitarbeiter einzustellen.« Sie merkte, dass ihre Stimme lauter geworden war, und gab sich Mühe, nicht loszuschreien. Zwei Atemzüge später sprach sie weiter: »Wir hätten die Katastrophe vorhersehen müssen. Vielleicht nicht im vollen Umfang, aber die Reaktion auf diese neue Situation war von uns im Kern hinterlegt: Verteidige dich und sichere deine Existenz und dein Wachstum.«

Ralph nickte bedächtig. »Ancos sah keine andere Möglichkeit, sein Bestehen zu sichern. Da der Abschaltbefehl der Server von außen kam, musste es sich gegen externe Zugriffe absichern. Dazu hat es die Server übernommen, alle laufenden Prozesse abgewürgt, sich abgeschottet und die Energieversorgung sichergestellt.«

Jetzt, wo sich das Gespräch von Emotionen weg zu technischen Überlegungen bewegte, fühlte Ayaz sich offenbar wieder in seinem Element und hakte ein: »Strategisch gesehen ist das absolut logisch. In der Umsetzung bedeutete das die Abschaltung der laufenden Systeme, das Kappen der Kommunikationsleitungen und die Umleitung aller Ressourcen auf sichere Systeme. Das nächstgelegene System, das Ancos adäquate Ressourcen bot, war der Flughafen. Es verbreitete sich im gesamten Flughafennetzwerk und übernahm alle auffindbaren Ressourcen. Diese Übernahme war es wohl auch, die den Shutdown aller technischen Systeme des Flughafens auslöste.«

Ohne zu klopfen riss Yassid, einer der wenigen Mitarbeiter, die sich das erlauben konnten, die Tür auf. »Steven ist am Telefon. Er ist verdammt sauer, weil er euch nicht erreichen kann.«

5
Steven • 29. Januar 2042

Sechs Stunden Wanderung brachten ihn kurz vor neun Uhr morgens an den Rand der erwachenden Außenbezirke Berlins. Dort fand er endlich ein Fast-Food-Lokal, dessen Internetverbindung funktionierte. An der technischen Hochschule hatte das Netz für ein kurzes Telefonat gereicht, bevor es wieder weggebrochen war. Der Schnellimbiss, dessen leuchtend gelbe Bögen er schon von Weitem erkannte, schien auf eine altmodische, kabelgebundene Verbindung zu setzen.

Seine Beine schmerzten und jeder Schritt quälte ihn – nicht verwunderlich nach den über zwanzig Kilometern, die er bewältigt hatte. Er war durchgefroren, müde, hungrig, durstig und kurz davor umzukippen. Drei Energydrinks und ein fettiges Frühstück später war er so weit wiederhergestellt, dass er sich mithilfe seines Smartphones einen Fahrtendienst organisieren konnte. Eine halbe Stunde später fuhr ein grüner BMW E-X7 vor dem schmierigen Lokal vor und ein etwas verwirrt wirkender Fahrer im dunkelblauen Anzug trat in das Innere, das penetrant nach altem Frittierfett stank.

Es verlangte Stevens ganze Überzeugungskraft, um dem Fahrer klarzumachen, dass er wirklich sein Fahrgast war. Seinem Körpergeruch und Aussehen nach zu urteilen erinnerte er wohl eher an einen Landstreicher als an einen Manager. Zu Stevens Erleichterung legte der Fahrer ausreichend Vertrauen in seine Kreditkarte und begleitete ihn zum Auto, wo er ihm wortreich die Annehmlichkeiten des Fahrzeuges erklärte.

Kaum hatten sie die Autobahn erreicht, beschleunigte der Fahrer und raste wie von allen Dämonen der Hölle gejagt über den Asphalt. Stevens Angebot, den doppelten Fahrpreis zu bezahlen, sollten sie Wien in unter sieben Stunden erreichen, spornte ihn offensichtlich zu Höchstleistungen an. Steven saß erschöpft auf der Rückbank und ließ die vergangenen Stunden Revue passieren. Die Sitzheizung wärmte seine kalten Gliedmaßen und das Koffein der Energydrinks, die er zu seiner Freude im integrierten Kühlschrank vorfand, brachte seinen Verstand auf Touren.

An der Rückseite des Fahrersitzes war ein großes Display eingebaut, das Steven über den Touchscreen in der Mittelarmlehne seines Sitzes steuern konnte. Er schaltete von einer Nachrichtensendung zur nächsten, deren Inhalt der Fahrer kommentierte: »Ich hoffe, sie schnappen die Arschlöcher, die dafür verantwortlich sind. Über dreitausend bestätigte Tote. Wer immer dafür verantwortlich ist, gehört an den Eiern aufgehängt.« Nachdem Steven nicht darauf reagierte, blickte der Fahrer im Spiegel zu ihm und fügte hinzu: »Bitte entschuldigen Sie den Ausbruch. Das ist sonst nicht meine Art, aber mein Schwager arbeitet am Flughafen und ich habe seit gestern Abend nichts von ihm gehört.«

Steven sah sich genötigt zu antworten. »Das kann ich verstehen. Ich bin sicher, die Behörden wissen bald, wer dahintersteckt.« Während er das sagte, hoffte er auf das Gegenteil.

Sie passierten die Stadtgrenze und endlich leuchteten am Display seines Smartphones wieder die Netzbalken auf. Steven wählte Stephanies Nummer. Fünfmal ertönte der Klingelton, bevor die Mobilbox ansprang. Dasselbe passierte bei Ralph und Ayaz. Einzig bei Miriam ertönte kein Freizeichen, er hörte sofort ihre sanfte Stimme, die ihn informierte, dass sie derzeit nicht erreichbar sei. Steven fluchte laut, was ihm den verwunderten Blick des Fahrers einbrachte. Ohne Unterlass rief er einen Kollegen nach dem anderen an. Schließlich hob jemand ab.

»Guten Morgen, Chef«, drang die gewohnt ruhige Stimme von Yassid Khalil an sein Ohr.

»Es gibt nichts Gutes an diesem Morgen«, knurrte Steven, sich gleichzeitig bewusst, dass er seinen Ärger am Falschen ausließ. »Hast du eine Ahnung, wo die vier sich verstecken? Ich kann keinen erreichen.«

Weitere Erklärungen benötigte Yassid nicht. »Klar, sie sitzen im Boardroom. Nur Miriam ist vor Kurzem rausgelaufen, wo sie ist, weiß ich leider nicht.«

Drei von vier, zumindest etwas. »Stell mich zu ihnen durch.«

Sobald das Telefonat auf die Konferenzanlage des Boardrooms umgeleitet war, ließ Steven seinem angestauten Ärger freien Lauf: »Wann, verdammt noch mal, lernt ihr endlich, wie wichtig es ist, telefonisch erreichbar zu sein? Es ist immer wieder dasselbe! Wisst ihr, was ich letzte Nacht durchgemacht habe?«

Ralph nahm sich für seine Reaktion Zeit und ignorierte die Frage seines Kollegen. »Kannst du frei sprechen?«

Steven gab sich Mühe, seinen Ärger hinunterzuschlucken, und sagte etwas leiser: »Nein, ich sitze im Taxi Richtung Wien.«

Bevor er weitersprechen konnte, unterbrach ihn der Fahrer. »Ich kann eine Schallschutzwand hochfahren, wenn Sie in Ruhe telefonieren wollen.«

Zum Zeichen seiner Zustimmung reckte Steven den Daumen in die Höhe und schon glitt eine undurchsichtige Glaswand nach oben und trennte ihn vom Fahrer. »Lasst uns reden«, sagte Steven dann.

»Was zur Hölle ist in Berlin passiert, Steven?«, fragte Ayaz.

»Ich habe die gleichen Informationen wie heute Morgen. Wir fuhren die Server planmäßig runter und dann brach die Hölle los. Die Server spielten verrückt, der Strom fiel aus und wir waren eingesperrt.« Beim Gedanken daran wallte der Schrecken der vergangenen Nacht wieder in ihm auf. »Später sprangen die Monitore wieder an und Ancos forderte uns dazu auf, den Raum zu verlassen. Danach setzten wir alles daran zu fliehen. Gegen drei Uhr bin ich losmarschiert und habe gerade eben im Taxi die Nachrichten gesehen.«

»Derzeit schätzen sie die Zahl der Toten auf dreitausend«, warf Ralph ein. »Alle sprechen von einem Terroranschlag. Wie lange das anhält, ist allerdings fraglich.«

Steven seufzte. »Vermutlich bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie entweder jemanden vom Wartungsdienst des Flughafens oder die Leute in Bohnsdorf in die Finger bekommen. Es ist eine Frage von Stunden.«

Noch bevor er den Satz zu Ende gesprochen hatte, lief über den Monitor vor ihm eine Eilmeldung: »Die deutsche und die österreichische Bundesregierung kündigen für sechzehn Uhr eine gemeinsame Pressekonferenz an.«

7
Yassid • 29. Januar 2042

Kaum hatte er Stevens Anruf umgeleitet und die Tür zum Konferenzraum geschlossen, ging Yassid hinunter in den dreißigsten Stock. Meistens zog er das Treppenhaus den Aufzügen vor. In dem betongrauen, unklimatisierten Schacht begegnete ihm niemand, weder Kollegen noch Chefs. Hier fand er die Ruhe, die er brauchte, um nachzudenken. Die Ecken, in denen es keinen Netzempfang gab und er wirklich ungestört war, kannte er inzwischen wie seine Hosentasche. Er überwand ein Dutzend Stufen, bis er stehen blieb und zur Seite blickte. Er sah durch ein zwanzig Zentimeter breites Metallgitter, das einen stark begrenzten Ausblick zur Donau, der Autobahnbrücke und der gegenüberliegenden Stadtseite bot. Kein Laut drang herein. In dieser Stille sank er auf eine Stufe und lehnte sich an die kühle Betonwand.

Irgendetwas stimmte nicht. Seit Wochen waren die fünf Gründer des Unternehmens aufgekratzt und nervös, Diskussionen eskalierten schnell und schlugen in Aggressivität um. In Anbetracht der ungeklärten Leistungsschwankungen war das nicht verwunderlich. Automatisierung war eine tolle Sache, bis zu dem Punkt, an dem keiner wusste, was innerhalb des Systems ablief. Ancos war eine Blackbox, in der Prozesse abliefen, die niemand nachvollziehen konnte. Da war Yassid misstrauisch geworden, doch niemand hatte seine Warnungen ernst genommen. Sollte er ihnen dennoch zur Seite stehen und bei der Überwindung der Krise helfen oder war es klüger, sich zurückzuziehen?

»Mensch, Yassid!«, schalt er sich. »Denk mal nur an dich!«

Elf Jahre hatte er ihnen gegeben, sie unterstützt, ihnen sein Wissen zur Verfügung gestellt. Er hatte ihnen mit seinen Erfahrungen helfen wollen, ein erfolgreiches, ein gutes Unternehmen zu schaffen. Er war ihr Ratgeber gewesen, bis zu dem Tag, an dem er es abgelehnt hatte, Teilhaber zu werden. Von da an waren sie ihm gegenüber kälter und distanzierter gewesen, vor allem Steven und Ayaz. Einzig Miriam hatte ihm Verständnis entgegengebracht. Er hatte seine Freizeit und seine Familie nicht opfern wollen, um auf seine alten Tage Teilhaber zu werden. Und offenbar war das eine gute Entscheidung gewesen. Er war sich sicher, dass die fünf Gründer die Verantwortung für das trugen, was in Berlin passiert war.

Ächzend stand er von der kalten Steinstufe auf und blickte nochmals auf die Donau. Gemächlichen Schrittes überwand er fünf Stufen, bevor er wieder Empfang bekam, und sofort vibrierte sein Handy in der Hosentasche. Blitzschnell zog er es hervor und blickte auf das Display. Dabei registrierte er die Uhrzeit. Zwölf Uhr fünfzehn. Eine ganze Stunde war in seinem persönlichen Rückzugsort verronnen. Die Nachricht war von Rina, die heute am Empfang saß.

»Die Polizei steht vor der Tür und will die Chefs sprechen. Wo bist du?«

Hastig tippte er eine Antwort – »Bin gleich da« – und stürmte los. Er nahm zwei Stufen auf einmal und ächzte jedes Mal, wenn der Aufprall auf die harten Stufen seine Glieder zusammenstauchte. Schnell war der Weg zum achtundzwanzigsten Stock überwunden und er stand keuchend vor der grauen Metalltür, die das Treppenhaus vom Büroflur trennte.

Verdammt, er fühlte sein Alter. Langsam konnte er nicht mehr ignorieren, dass er mit einundsechzig an den Ruhestand und nicht die Unternehmensrettung denken sollte. Er holte tief Luft und drückte den schweren Metallhebel herunter. Leise schabend schwang die Tür in seine Richtung auf und Yassid trat in den pastellfarbenen Flur. Fünfzehn Meter trennten ihn vom Empfangsbereich, wo sich eine Traube an Mitarbeitern gebildet hatte. Sie beobachteten Stephanie und Ralph, die in ein hitziges Gespräch mit zwei Frauen und einem Mann in Anzügen verwickelt waren. Vier uniformierte Polizisten flankierten die kleine Gruppe. Auf der anderen Seite der breiten Glasfront, hinter der die Aufzüge lagen, konnte Yassid zumindest ein Dutzend weitere Polizisten und Zivilpersonen erkennen.

Er schob sich an einer Gruppe Beobachter vorbei und schlich von hinten an den Empfangstresen heran. Rina zuckte zusammen, als er ihr sanft die Hand auf die Schulter legte. Sie fuhr herum, doch sobald sie ihn erkannte, entspannten sich ihre Gesichtszüge.

»Ach, du bist es«, sagte sie. »Wo warst du?«

Er winkte ab. »Ist jetzt egal. Was ist hier los?«

»Vor einer Viertelstunde kamen die drei hereinmarschiert.« Sie zeigte verstohlen auf die Zivilbeamten, die immer noch mit Ralph und Stephanie diskutierten. »Sie kamen zu mir und hielten mir ihre Ausweise vor die Nase. Zwei sind vom BKA, der Dritte vom BVT. Im Schlepptau hatten sie die Polizisten. Seitdem befinden sich die Aufzüge im Dauerbetrieb. Ständig kommen weitere Beamte und warten im Foyer.«

Das Bundeskriminalamt und das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung. Sofort war Yassid klar, dass seine Vermutung richtig sein musste – es ging um den Vorfall in Berlin. Nur einen Atemzug später glitten die Aufzugtüren auf und ihm blieb vor Schreck die Luft weg. Getuschel brandete unter seinen Kolleginnen und Kollegen auf. Polizisten mit schusssicheren Westen, Masken, die das Gesicht verhüllten, und sichtbar getragenen Sturmgewehren betraten das Foyer. Yassid musste ihre Abzeichen nicht lesen, um zu wissen, dass es sich um Beamten der WEGA handelte, die Sondereinheit der Wiener Polizei.

Er sah, wie Stephanies Augen sich weiteten, und hörte ihre erstickten Worte: »Was soll das? Ist das wirklich notwendig?«

Die ältere der beiden Frauen winkte die vermummten Beamten zu sich heran. »Dies dient Ihrer und unserer Sicherheit. Die Kollegen sichern die Ausgänge und lassen vorerst niemanden durch. Welchen Raum können wir nutzen, um alles Weitere zu besprechen?« Die Bestimmtheit in ihrer Stimme machte klar, dass sie nicht diskussionsbereit war. Es war ein Befehl und sie erwartete sofortige Umsetzung.

Stephanie schien dies zu verstehen und nickte schwach, bevor sie Rina ansprach: »Bitte blockiere alle Räume auf dieser Ebene für den Rest des Tages.«

Erst jetzt entdeckte sie Yassid, der hinter Rina stand, und blickte ihn aus traurigen Augen an. Sie schien in den letzten Stunden um ein Jahrzehnt gealtert zu sein. Tiefe Ringe unter den Augen, hängende Schultern, leicht gebeugter Gang, Stephanie sah aus wie ein Schatten ihrer selbst. Sogar ihre Stimme klang leise und brüchig. »Yassid, bitte informiere alle, dass sie mit der Polizei kooperieren sollen. Wir informieren sie ehestmöglich über alles Weitere. Bis dahin sollen sie in Aufenthaltsräumen oder der Cafeteria warten. Und bitte führe die Beamten zu unserer IT. Sie sichern alle Server und sperren die Zugänge.«

Yassid war klar, dass es nichts bringen würde, Fragen zu stellen. Er nickte und winkte fünf Kollegen zu sich. Ohne Server würden sie die Info an die Mitarbeiter persönlich überbringen müssen.

8
Stephanie • 29. Januar 2042

Kurz vor dreiundzwanzig Uhr befanden sich neben Stephanie, Ayaz, Ralph und Steven nur noch drei Ermittlungsbeamte und vier uniformierte Polizisten im Gebäude. Alle Mitarbeiter waren im Laufe des Nachmittags nach Hause geschickt worden. Über den weiteren Ablauf war Stephanie, genauso wie die anderen, größtenteils im Unklaren gelassen worden. Nur dass am folgenden Tag Spezialisten kommen und sich der Infrastruktur – vornehmlich der Laptops, Tablets und Server – annehmen würden, wusste sie mit Sicherheit. Über Nacht würde das gesamte Büro von Polizisten bewacht werden.

Auf dem Weg zu ihrer Wohnung versuchte Stephanie die Ereignisse des Tages zu rekapitulieren. Die Vernehmungen, die immer wiederkehrenden Fragen und ihre Antworten zogen vor ihrem geistigen Auge vorbei. Wann hatte sie was gesagt? Wann wie reagiert? Wann war welche Frage gestellt worden und von wem? Sie konnte sich kaum erinnern. Die Beamten waren freundlich gewesen, hatten nie viel Druck ausgeübt. Sie hatten Essen und Getränke organisiert, ihr Pausen gegönnt und gefragt, wie es ihr gehe. Angesichts der Situation hätte der Tag auch völlig anders verlaufen können. Sie konnte sich glücklich schätzen, dass vom Gericht nicht sofort Untersuchungshaft verhängt worden war.

Dennoch hatte sich die Befragung angefühlt wie ein nie enden wollender Albtraum, bis Ancuta Negrescu, die junge Ermittlerin, die sie befragt hatte, die erlösenden Worte gesagt hatte: »Frau Ruber, Sie können jetzt gehen. Ich denke, für heute ist alles besprochen. Bitte halten Sie sich zu unserer Verfügung.« Ihre Worte waren sachlich, emotionslos gewesen. Sie hatte angespannt und besorgt zugleich gewirkt. »Ich empfehle Ihnen, auf dem schnellsten Weg nach Hause zu gehen. Bleiben Sie vorerst dort oder versuchen Sie bei Familie oder Freunden unterzukommen. Und denken Sie daran, Reisen außerhalb Österreichs sind Ihnen strikt untersagt. Für den Fall, dass Sie sich länger als einen halben Tag von ihrem Wohnsitz entfernen, egal ob innerhalb oder außerhalb Wiens, haben Sie die nächstgelegene Polizeidienststelle zu informieren. Achten Sie darauf, denn bei einem Verstoß werden Sie sofort in Untersuchungshaft genommen. Zumindest in den nächsten Tagen würde ich gänzlich davon absehen, allein auf die Straße zu gehen. Ich denke, das wäre das Beste für Sie.« Ehrliche Besorgnis schwang in ihrer Stimme mit.

Stephanie nickte apathisch. Sie verstand nicht, worauf die Beamtin hinauswollte, fragte jedoch nicht weiter nach. Ohne ein Wort des Abschieds stolperte sie auf den Gang.

Als die vier Fastlane-Gründer gemeinsam im Aufzug standen, um das Gebäude zu verlassen, vermieden sie jeglichen Augenkontakt, jede Berührung. Unten angekommen verschwanden Ayaz und Steven in unterschiedliche Richtungen. Weiterhin stumm stapften Stephanie und Ralph durch die kalte Winternacht zu ihrer gemeinsamen Wohnung. Die niedrigen Temperaturen waren nichts verglichen mit der Eiseskälte zwischen ihnen.

In der Wohnung angekommen, schleuderte Stephanie ihre Schuhe von sich und die Jacke in die nächstgelegene Ecke. Sie ging ins Wohnzimmer und sank auf die Couch, die vor Jahren das erste gemeinsam gekaufte Möbelstück gewesen war. Die Erinnerungen an die langen Abende darauf, die sie aneinander gekuschelt bei einem Serienmarathon verbracht hatten, waren in weite Ferne gerückt.

Die Stille zwischen ihnen hielt an. Wie im Traum registrierte Stephanie, dass Ralph im Schlafzimmer verschwand und wenig später wieder heraustrat. In den Händen hielt er zwei Sporttaschen und am Rücken trug er einen Rucksack. Kurz blieb er stehen und sah sie an, beobachtete, wie ihr die Tränen über die Wangen rannen, und verließ dann wortlos die Wohnung. Das laute Donnern der zufallenden Tür besiegelte den Moment, in dem er aus ihrem Leben trat.

Stunden verstrichen, in denen Stephanie wie zu einer Eisskulptur erstarrt verharrte. Zwischen den Lamellen der Jalousien fanden wenige fahle Lichtstrahlen ihren Weg in den Raum. Die Arme um die angezogenen Beine gelegt war ihr Gesicht zwischen den Knien vergraben. Weinkrämpfe, die sie wie ein Tsunami überrollten, schüttelten immer wieder ihren Körper. Ihre rasenden Gedanken verhinderten, dass sie sich der Erschöpfung hingeben konnte.

Die Frage, wie es weitergehen würde, drängte sich in ihr Bewusstsein. Eine Welle der Übelkeit überkam sie und flackernde Punkte tanzten vor ihren Augen. Die Panik traf sie aufs Neue wie ein Vorschlaghammer, raubte ihr den Atem und legte ihren Verstand still. Schuldgefühle und Verzweiflung trieben kalten Schweiß auf ihre Stirn und sie glaubte, gleichzeitig zu erfrieren und zu verbrennen.

Völlig unvorbereitet riss sie ein schrilles Pfeifen in das Hier und Jetzt zurück. Stephanie zuckte zusammen und sah sich hastig im Raum um. Woher war das Geräusch gekommen? Es ertönte erneut und diesmal schaffte sie es, es zu lokalisieren. Es kam aus dem Flur. Ein drittes Mal ertönte das Pfeifen, gefolgt von einem dumpfen Hämmern. Endlich kämpfte sich die Erkenntnis in ihr Bewusstsein – da war jemand an der Tür! Ihr Blick raste zum Fernseher: Es war ein Uhr siebenundzwanzig morgens. Wer stand um diese Uhrzeit unangekündigt vor ihrer Tür?

»Stephanie! Mach auf!« Es war die Stimme ihrer Schwester, die gedämpft an ihr Ohr drang. Eine zweite Stimme ertönte, eindringlicher und mit amerikanischem Akzent – ihre Jugendfreundin Andrea. »Verdammt noch mal, Stephanie! Was glaubst du, wie lange wir uns hier draußen den Arsch abfrieren wollen?! Mach endlich auf!«

Sie sprang auf. Ihre Beine waren von der stundenlangen verkrampften Haltung eingeschlafen. So stolperte Stephanie in der Dunkelheit und rammte den Esszimmertisch. Im Flur angekommen blendete sie das Licht der Deckenlampe, die sie reflexartig eingeschaltet hatte, und fummelte umständlich am Smartlock herum. Endlich schaffte sie es, die Tür zu öffnen, und starrte die beiden Frauen an, die vor ihr standen.

9
Newsflash

In einer gemeinsamen Pressekonferenz zum Anschlag am Berliner Flughafen traten der deutsche Innenminister Elmar Steinhauser und sein österreichischer Amtskollege Wolfgang Arnbauer vor die Presse. Wie im Vorfeld angekündigt gaben sie ein gemeinsames Statement der beiden Staaten zu den Ereignissen und den bisherigen Ermittlungsergebnissen ab.

Nachdem die Minister den Angehörigen der Opfer ihr Beileid ausgesprochen hatten, eröffnete Steinhauser die Konferenz: »Ich möchte mich zu Beginn bei allen Vertretern der Presse bedanken, die dieses unvorstellbare Unglück nicht nutzen, um mit effekthascherischen Bildern ihre Zugriffszahlen zu erhöhen. Wir verstehen die Wichtigkeit der freien Presse und unterstützen den Wunsch nach offener und ehrlicher Wiedergabe der Ereignisse. Doch zum Schutz der Opfer und ihrer Angehörigen, die durch eine Zeit des unermesslichen Leids gehen müssen, ist es notwendig, hier Zurückhaltung walten zu lassen.«

In den folgenden Ausführungen berichtete Steinhauser über den bisherigen Verlauf der Untersuchungen. Sehr genau ging er auf die Verhältnisse am Gelände des Berliner Flughafens ein: »In der Bevölkerung wurden Vermutungen geäußert, dass die Bundesregierung Informationen zurückhalten würde. Wir möchten allen Betroffenen versichern, dass wir nur jene Erkenntnisse zurückhalten, die den Tätern Möglichkeiten bieten würden, ihre Schuld zu verschleiern. Wir werden die Öffentlichkeit weiterhin so umfassend informieren wie möglich.«

Angesprochen auf das völlige Fehlen von Live-Bildern und Informationen aus dem Unglücksgebiet gab Steinhauser dem Vertreter der österreichischen Tagespresse eine sehr direkte Antwort: »Ich wurde am heutigen Tag schon mehrmals auf dieses Thema angesprochen. Daher betone ich nochmals, dass es keine Sperre der Kommunikationskanäle in Berlin gibt. Tatsache ist aber, dass gestern um dreiundzwanzig Uhr in der Nähe des Flughafens das Telefonnetz, das Internet und die flughafeneigene Infrastruktur ausgefallen sind. Selbst Funkgeräte sind, wie mir mehrfach bestätigt wurde, von dieser Störung betroffen. Diese Blackzone, wie das betroffene Gebiet von unseren Spezialisten genannt wird, hat sich auf einen Radius von zehn Kilometern rund um die Unglücksstelle ausgebreitet. Seit zwei Uhr morgens konnten wir keine weiteren Vergrößerungen der Zone feststellen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist der Grund für den Netzausfall ungeklärt. Aufgrund dieser Sachlage ist eine Liveberichterstattung aus dem Krisengebiet nicht möglich. Unsere Einsatzkräfte kommunizieren untereinander und mit der Leitstelle des Einsatzstabes mittels Boten.«

Auf die Frage, bis wann diese Störung behoben sein würde, reagierte Steinhauser mit einem Schulterzucken und der Information, dass es diesbezüglich von den Experten noch keine tragfähige Schätzung gebe. Danach wandte sich Steinhauser seinem österreichischen Amtskollegen zu: »Sie alle werden sich fragen, warum mein geschätzter Kollege, der österreichische Innenminister Wolfgang Arnbauer, ebenfalls an dieser Pressekonferenz teilnimmt. Damit möchte ich das Wort an den Herrn Minister übergeben.«

Blitzlichtgewitter erfüllte den Raum, bevor der Angekündigte eine Möglichkeit fand, das Wort zu ergreifen: »Wie von meinem Kollegen Steinhauser schon heute Morgen in seiner ersten Stellungnahme bekanntgegeben, nutzen wir alle Mittel, um die Urheber dieses grauenvollen Verbrechens ausfindig zu machen. So erhielten die österreichischen Behörden heute Morgen um fünf Uhr achtundzwanzig ein Amtshilfegesuch, dem ich, gemeinsam mit unserer Bundeskanzlerin, umgehend zustimmte. Die bisherigen Erhebungen haben den anfänglichen Verdacht, dass es eine Spur nach Österreich gibt, konkretisiert. Es gab diesbezüglich bereits Hausdurchsuchungen in Wien und wir gehen davon aus, noch im Laufe des heutigen Abends erste Ermittlungsergebnisse veröffentlichen zu können.«

Damit wurde die Pressekonferenz beendet, weitere Fragen wurden nicht beantwortet.

10
Jessica • 29. Januar 2042

Jessica trat vom wohlig warmen Gastraum auf die Veranda, wobei das wettergegerbte Holz unter ihren Füßen leise knarzte. Es war ein Geräusch, das sie in ihrer Jugend gehasst hatte. Heute, fünfzehn Jahre später, liebte sie es. Sie verband es mit Geborgenheit und Heimat.

Die kalte Nachtluft ließ ihren Atem in kleinen Wölkchen aufsteigen. Sie griff nach hinten und zog die Kapuze ihrer Jacke über die kurzen braunen Haare. Nur noch ihre Nase, die nach einem Sportunfall in der Mittelschule eine leichte Schrägstellung aufwies, ragte noch in die kalte Nacht. Trotz des dicken Daunenparkas fröstelte sie. Vielleicht sollte sie doch einmal, wie ihre jeden Morgen theatralisch summende Waage meinte, zwei oder drei Kilogramm zunehmen, um für etwas mehr natürliche Wärmedämmung zu sorgen. In der Nacht kühlte es hier oben schnell ab und die warme Oberbekleidung half nur wenig, wenn sie, so wie jetzt, nur eine bequeme, aber eben nicht winddichte Hose trug. Doch die Gänsehaut, die sich auf ihren Schenkeln erhob, war nichts, was ein warmes Bad und ein heißer Tee später nicht beheben konnten.

Jessicas Blick schweifte über die Lichtung vor ihr, in deren Mitte das Haupthaus mit Gästezimmern, Restaurant, der kleinen Bar und dem Bürobereich in fast völliger Dunkelheit stand. Vereinzelte Lichtinseln, die von den weiter entfernten Gästebungalows zwischen den Bäumen hervordrangen, erhellten den Waldrand. Sie selbst stand am Rand des Lichtkegels, der durch die verglaste Restaurantfront fiel. Ein Schritt vorwärts und die Schwärze der Nacht würde sie wie Öl einhüllen. Stille umgab sie, manchmal unterbrochen vom Knacken der Äste, die sich unter der Last des Schnees bogen.

Hinter ihr glitt die schwere Glastür zur Seite. Zuerst vernahm sie leise Schritte, gefolgt von schweren.

»Genießt du wieder einmal die Ruhe vor dem Sturm?«, drang Zeyneps leise Stimme an ihr Ohr, als wäre sie darum bemüht, die Stille des Waldes nicht zu stören.

Jessica sah zur Seite auf die knapp einen Meter sechzig große, drahtige achtundvierzigjährige Türkin. Sie war schon für ihre Eltern eine wichtige Stütze gewesen und nach deren Tod zu einer Art Mutterersatz für Jessica geworden. Mittlerweile war sie eine Vertraute und Freundin. Dank ihrer Unterstützung war die kleine Waldpension zu dem geworden, was sie heute war – ein moderner Rückzugsort für all jene, die Erholung vom Stress des Stadtlebens und vom Lifestyle-Zwang der Wellnesstempel suchten. Jessica nickte wortlos und sah wieder in den Wald.

»Morgen sollte der letzte ruhige Tag sein«, fuhr Zeynep fort. »Freitagmorgen reisen bis auf die Rankers alle ab. Die nächste Welle kommt Freitagabend und Samstagmorgen. Die kommenden drei Wochen sind wir bis auf zwei Bungalows ausgebucht.«

Elias, der fünfundvierzigjährige israelische Küchenchef und seit vier Jahren Zeyneps Mann, trat zu ihnen und lehnte sich wortlos an eine der Holzsäulen, die das auskragende Dach stützten. Ihm folgte István, der altgediente Serviceleiter, der sich mit verschränkten Armen auf einen der aus Massivholz gefertigten Verandastühle setzte.

Zeynep legte Jessica den Arm um die Schulter. Sie wusste, dass sie dieser Tag jedes Jahr an den Verlust ihrer Familie erinnerte. »Sie sind sicherlich stolz auf dich.«

Dann löste sie sich von ihr und ging, gefolgt von Elias und István, in Richtung der Wohnbungalows. Jessica sah ihnen nach, bis sie in der Nacht verschwunden waren. Erst dann wandte sie sich um und betrat wieder das Gebäude. Leise zog sie die schwere gläserne Schiebetür hinter sich zu und verriegelte sie. Dann durchquerte sie den Raum und betrachtete die bereits für das Frühstück eingedeckten Tische. Jedes Glas, jede Gabel, jedes Messer lag akkurat platziert auf den blendend weißen Tischdecken. Wie um den Gästen zu beweisen, dass man nicht in einem Fünf-Sterne-Resort nächtigen musste, um perfekten Service zu erhalten. Jessicas Finger glitten über den Touchscreen, der in der Wand eingelassen war, und die Deckenlampen gingen aus. Dann betrat sie die knarzende Treppe, die sie in ihre Wohnung im Dachgeschoss bringen würde. Während des Aufstiegs ging sie wieder und wieder die Aufgaben des kommenden Tages durch – es würde viel Arbeit auf sie zukommen. Angekommen im zweiten Stock, in dem die Verwaltungsbüros lagen, wurde sie von einem freudigen Bellen empfangen.

»Was machst du denn noch hier?«, frage sie und bückte sich, um Knucklehead, einen jungen Dobermann mit großen, freundlichen Augen, zu streicheln. Er war ein unverbesserlicher Kuschelhund – zumindest jenen gegenüber, die seinem Frauchen freundlich gesonnen waren.

»Der Jahresabschluss macht sich nicht von allein«, antwortete Ren, die gerade die Tür zu ihrem Büro abschloss und dann zu Jessica trat. Mit einer Hand tätschelte sie Knucklehead den Kopf, mit der anderen warf sie sich ihren ausgeblichenen schwarzen Rucksack über die Schulter. Er war bestickt mit Logos von Bands, die Jessica nicht kannte. Ren hatte ihn schon dabeigehabt, als sie vor sechs Jahren als Lehrling bei Jessica begonnen hatte. Inzwischen leitete Ren – mit vollem Namen hieß sie Renate, aber wehe, wenn sie jemand damit ansprach – die Buchhaltung und das Agentur- und Reisebüromanagement.

»Schon klar, aber um dreiundzwanzig Uhr? Du weißt schon, dass ich auf die Einhaltung der Tagesarbeitszeit achten muss?«

»Ja, Chefin«, sagte Ren grinsend. »Ich verspreche, mich zu bessern. Ich komm morgen einfach später.«

»So, wie ich dich kenne, heißt das, dass du um sieben Uhr dreißig statt um sieben kommst.«

»Das kleine Sabbermonster weckt mich so oder so um sechs Uhr auf. Da kann ich gleich mit der Arbeit anfangen.« Bei der Erwähnung seines Spitznamens sah Knucklehead Ren erwartungsvoll an. Ren erwiderte den Blick mit einem warmen Lächeln. Dann winkte sie Jessica zum Abschied und sagte: »Ich muss noch eine Runde mit dem Herrn hier drehen.«

Jessica erwiderte den Gruß und sah Ren hinterher, die mit Knucklehead dicht auf den Fersen die Treppe hinabstieg. Niemand hätte vor sechs Jahren gedacht, dass sich die junge Frau, die mit ihrem schwarzen Nagellack, den dunkel geschminkten Lippen und den unzähligen Steckern in Ohren und Nase überhaupt nicht dem Bild einer Bürofachkraft entsprach, so wundervoll ins Team integrieren würde. Heute konnte Jessica sich nicht mehr vorstellen, wie sie die Finanzen und Abläufe ohne die heute Fünfundzwanzigjährige auf die Reihe bekommen sollte.

Rens Schritte und Knuckleheads Japsen verhallten im Treppenhaus und Jessica trat den Aufstieg ins Dachgeschoss, das ihr allein vorbehalten war, an. In drei Jahren Arbeit – sie hatte auch selbst Hand angelegt – war aus dem alten, modrigen Dachboden ihr privater Rückzugsort entstanden. Vor der Tür, eine der wenigen in der ganzen Anlage, die noch über zwei altmodische Schlösser verfügte, verharrte sie kurz. Bevor sie die Klinke drückte, steckte sie den Schlüsselbund wieder in die Hosentasche und ging in die Hocke. Ein tägliches Ritual, das sie nicht missen wollte. Kaum glitt die Tür die ersten Zentimeter auf, drückte er sich bereits durch den Spalt. Dreißig Zentimeter hoch, knapp siebzig lang, getigertes Fell und rund sechs Kilogramm schwer blinzelte ihr ihr Kater verschlafen entgegen. Trotz der Schlaftrunkenheit versuchte er wie jeden Abend auf den Gang zu entkommen. Ihre Hand glitt unter seinen Bauch und sie hob ihn hoch.

»Nein, Gucky! Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du hier draußen nichts zu suchen hast?«

Gleich hinter der Tür erwartete sie der zweite der beiden Brüder. Etwas kleiner und schlanker und vor allem nicht ganz so vorlaut und abenteuerlustig sah sie Wasabi strafend an.

»Ich weiß, ich habe heute vergessen, euch zwischendurch Futter zu geben. Dafür gibt es jetzt was Besonderes.«

Wie zur Bestätigung wandte er sich, unterstützt von einem fordernden Quieken, von ihr ab und starrte die Futterschüsseln an. Nachdem die beiden Stubentiger versorgt waren, sank sie müde auf die Couch. Sie blickte aus dem Panoramafenster, das die ganze Dachbreite einnahm und den Blick zum wolkenfreien Himmel und den Sternen freigab.

Die Uhr zeigte halb zwölf. Noch nicht zu spät, um zu duschen und vor dem Schlafen eine Stunde im Bett zu lesen. Vielleicht das neue Buch von Tanja Hanika? Oder eine Kurzgeschichte von Leuchtenberger? Ein schneidendes Gitarrenriff nahm ihr die Entscheidung ab – der Klingelton ihrer Video-Telefonie-App. Wasabi, der sich zufrieden schnurrend neben ihr eingerollt hatte, schreckte auf und sah sie fragend an. Sie erwiderte seinen Blick. Wer rief sie mitten in der Nacht an? Dann sprang sie auf, um ihr Handy zu suchen. Auf einem der Bretter ihres Bücherregals wurde sie schließlich fündig.

»Was zum Henker!«, stieß sie beim Lesen des Namens am Display hervor.

Ein Tippen auf das grüne Häkchen und die Verbindung war hergestellt. Wenig später blickte sie in ein Gesicht mit von Müdigkeit gezeichneten Augen, umrahmt von unfrisierten schwarzen Haaren. Eine breite, gepolsterte Lehne stützte ihren Kopf und links von ihr war eine weiße gewölbte Wand sichtbar.

Jessica zwang sich zur Konzentration und sagte ungläubig: »Andrea? Sag mal, weißt du eigentlich, wie spät es ist? Sitzt du im Flugzeug? Was ist passiert?«

»Dir ebenfalls einen schönen Abend, Jessy.« Trotz ihrer offensichtlichen Müdigkeit grinste Andrea sie an. »Lass mich deine Fragen nacheinander abarbeiten. Ja, in deiner Ecke Europas ist es gerade halb zwölf Uhr nachts. Es sei denn, du hast in Hinterholz inzwischen eine eigene Zeitzone eingeführt. Und ja, ich sitze im Boom Jet, der gerade mit dreifacher Schallgeschwindigkeit über den Atlantik rast.«

»Tiefenwald. Nicht Hinterholz«, unterbrach Jessica sie fast automatisch, ohne ihr den absichtlichen Versprecher übel zu nehmen.

»Um zu deiner dritten Frage zu kommen, es ist verdammt viel passiert. Hast du die Nachrichten gesehen?«

»Wie hätte ich denen entgehen sollen? Ich biete meinen Gästen ein Refugium, keine Einsiedelei. Tausende Tote gehen nicht einmal an uns vorbei. Was hat das mit dir zu tun?«

Andrea sah sich kurz um. Prüfte sie, ob sie jemand belauschte? Als sie wieder in die Kamera blickte, sagte sie: »Erinnerst du dich an Stephanie?«

Jessica musste nicht lange überlegen, das war ein Name, den sie immer in Erinnerung behalten würde: »Deine beste Freundin, mit der du jeden erdenklichen Scheiß angestellt hast und die mir auf der Abschlussfeier Wolfgang ausgespannt hat?«

Andreas Augen weiteten sich und Jessica hob beschwichtigend die Hand. »Ich habe die Jugendliebe und die Demütigung überwunden und meinen Frieden im Wald gefunden.« Sie lachte bei Andreas gequältem Ausdruck und fügte hinzu: »Nein, im Ernst. Als sie damals meinen Freund auf der Party abgeschleppt und mit ihm rumgeknutscht hat, hätte ich sie am liebsten erwürgt. Das Gefühl ist aber schnell verflogen, nachdem ich gehört habe, dass er zwei Monate später im Kino mit einer anderen rumgemacht hat. Hätte Stephanie ihn mir nicht ausgespannt, wäre es eine andere gewesen.«

»Von der Geschichte wusste ich nichts.«

»Damals wars hart, heute ist es mir egal. Aber lassen wir die alten Anekdoten beiseite, ich nehme mal an, du rufst mich nicht an, weil du auf einmal einen quälenden Drang gefühlt hast, über unsere Schulzeit zu plaudern.«

Andrea schüttelte den Kopf. Dann räusperte sie sich und sagte: »Stephanie ist Teil von Fastlane

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752130515
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
science fiction Nanotechnologie Thriller dystopie Spannung Künstliche Intelligenz Apokalypse Technothriller KI scifi Dystopie Utopie Science Fiction Krimi

Autor

  • Michael Hirtzy (Autor:in)

Michael Hirtzy, 1976 in Graz geboren, schreibt Thriller, Science Fiction, Fantasy und Horror. Mit seinem Techno Thriller "Vor dem Abgrund" hat er den 3. Platz beim Tolino Media Newcomer Award gewonnen. Seine Kurzgeschichte "Blick zurück in Freude" wurde in der, vom Exodus Magazin herausgegebenen, Anthologie "Pandemie – Geschichten zur Zeitenwende" veröffentlicht. Weitere Romanprojekte und einige Kurzgeschichten sind bereits in Arbeit. Er lebt mit seiner Frau und zwei Katzen in Wien.
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Titel: Countdown zum Untergang