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Millionen neuer Lügen

von Victoria Scheer (Autor:in)
455 Seiten

Zusammenfassung

“Hör mir nun gut zu.”


Lady Winter sprach ruhig aber bestimmt. “Deine Mutter war wie ich, kleine Eve. Leider ist sie zu früh gestorben, um dir alles selbst erklären zu können. Sie hat mir ein Geheimnis anvertraut, welches ich nun an dich weiterreiche.”


Was würdest du tun, wenn von einem Tag auf den anderen deine Welt auf den Kopf gestellt wird? Was, wenn du eine ganze Welt aufgeben müsstest, nur um denjenigen zu retten, der dir am meisten bedeutet? Was, wenn hinter jedem Satz eine Lüge steckt? Und was, wenn alles was du geglaubt hast zu kennen, ein Geheimnis birgt?


Eve Cort ist ein junges Mädchen im frühen siebzehnten Jahrhundert, nur fasziniert von der Musik. Doch eines Tages ändert sich ihr ganzes Leben. Geheimnisse kommen ans Licht und bedrohen jene, die Eve am nächsten stehen. Bei dem Versuch diese zu retten, wird sie in eine Welt gerissen, in der Magie kein Fremdwort ist.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

 

Prolog                              Kapitel 20

Kapitel 1                        Kapitel 21

Kapitel 2                        Kapitel 22

Kapitel 3                        Kapitel 23

Kapitel 4                        Kapitel 24

Kapitel 5                        Kapitel 25

Kapitel 6                        Kapitel 26

Kapitel 7                        Kapitel 27

Kapitel 8                        Kapitel 28

Kapitel 9                        Kapitel 29

Kapitel 10                        Kapitel 30

Kapitel 11                        Kapitel 31

Kapitel 12                        Kapitel 32

Kapitel 13                        Kapitel 33

Kapitel 14                        Kapitel 34

Kapitel 15                        Kapitel 35

Kapitel 16                        Kapitel 36

Kapitel 17                        Kapitel 37

Kapitel 18                        Kapitel 38

Kapitel 19                        Epilog            

 

1

 

Die Erde, 1623 n. Chr.

 

Es war schon eine Weile her, dass Adam einen so schönen Morgen gehabt hatte. Gewöhnlich gab es bereits Streit, bevor er sich zum Frühstück mit seiner Familie gesellte. Emylia, seine ältere Schwester, fand jeden Morgen jemand neuen, dem sie das Leben zur Hölle machen konnte, während die Zwillinge Lionell und Lioness sich täglich zusammen mit Vater über das Wetter oder irgendeine andere banale Kleinigkeit beschwerten. Es war geradezu unerträglich. Doch an diesem Tag war alles anders. Adam war bereits kurz nach Sonnenaufgang aus dem Haus geschlichen, um seine Freundin zu besuchen. Verima Eliot war jung und bildhübsch. Sie hatte kurze blonde Locken und ihre strahlend blauen Augen waren von dicken schwarzen Wimpern umrandet. Sie roch stets nach Birnen und Vanille und hatte die Figur einer Göttin. Kein Wunder also, dass nicht nur Adam Hals über Kopf in sie verliebt war. Auch Lioness hatte es schwer getroffen, weshalb Adam seine Freundin heimlich besuchte. Er wollte nicht noch mehr Streit in der Familie anfangen. Doch im Moment machte er sich darum wenig Sorgen, denn niemand hatte ihn gehen sehen und als er nun durch den Garten zurückkam, war ohnehin jeder mit anderen Dingen beschäftigt. Bereits von weitem konnte Adam die lieblichen Klänge von Eves Lieblingsstück hören, welche seine kleine Schwester auf dem Klavier spielte. Wie sehr er Eve doch liebte. Er kannte niemanden, der so gutherzig und liebevoll war wie sie. Ihr Herz war viel zu groß für ihren kleinen Körper, aber eines Tages würde sie dadurch großes bewirken können, da war er sich sicher.

Plötzlich wurde das Stück durch wildes Geklimper unterbrochen. Das musste Emylia gewesen sein, vermutete Adam.

“Emylia, war das wirklich nötig?”, hörte er Eve fragen, als er die Stufen zur Terrasse hinaufstieg. Dort gab es eine Tür, die direkt ins Wohnzimmer führte, wo sich gerade ein Streit zwischen den beiden Schwestern anbahnte.

“Aber natürlich, Süße“, flötete Emylia, welche Eve abgrundtief hasste. “Ich wollte doch unbedingt das ganze Stück hören. Jetzt musst du leider wieder von vorn anfangen, Elisa.” Es spielte keine Rolle, ob Emylia den Anfang des Stücks mitbekommen hatte oder nicht. Sie hasste Eve und das würde sich nie ändern. Deswegen unterbrach sie ihre kleine Schwester beim Spielen und nannte sie nie bei ihrem richtigen Namen.

Als Adam die Terrassentür öffnete, murmelte Eve leise etwas vor sich hin. Vermutlich ihren Namen, dachte Adam.

„Entschuldige, was hast du gesagt? Du musst lauter reden, Elisa“, sagte Emilya, die sich offensichtlich über Eve lustig machte. Doch Eve war das gewohnt und reagierte dementsprechend ruhig.

“Ich heiße Eve“, sagte sie mit etwas Nachdruck, sah jedoch nicht von den schneeweißen Klaviertasten auf. Sie wusste, was Emylia damit bezwecken wollte. Sie wollte erreichen, dass Eve die Fassung verlor, das versuchte sie jeden Tag, doch Eve war stärker.

„Du hältst dich wohl für etwas Besseres, nur weil Mutter dich nach der ersten Frau benannt hat? Du bist ja beinahe schlimmer als Adam“, bemerkte Emylia schroff, wohl wissend, dass Adam sie hören konnte. Doch er machte sich nichts daraus, denn Emylia hatte ihn nie besonders interessiert. Stattdessen verteidigte er lieber Eve, die ein wenig hilflos aussah.

„Mutter hat früher immer gesagt, sie wäre etwas Besonderes“, erklärte er deshalb. Ihre Mutter war eine so kluge Frau gewesen, doch leider hatte sie sehr früh das Zeitliche gesegnet. Eve war damals gerade sechs Jahre alt gewesen und Adam war sich nicht sicher, ob sie das je richtig verarbeitet hatte. Jetzt drehte sie sich zu ihm um und lächelte ihn dankbar an.

„Ach hör doch auf sie zu verteidigen, Adam. Sie ist nicht besser, als wir“, schimpfte Emylia und lief beleidigt davon.

“Das habe ich auch nicht gesagt“, bemerkte Adam, doch das hörte sie sicher schon gar nicht mehr. “Mach dir nichts daraus, sie ist nur neidisch“, sagte er und wand sich damit wieder an Eve, welche ihn verwirrt aus ihren froschgrünen Augen ansah.

“Neidisch worauf, Adam?”, fragte sie. Einen langen Moment, bevor er sich neben sie setzte und auf ein paar einzelne Tasten drückte, sah Adam seine Schwester einfach nur an. Sie war noch sehr jung, aber trotzdem schon sehr viel hübscher, als Emylia jemals sein könnte. Sie hatte lange kastanienbraune Haare und ihre freundlichen froschgrünen Augen strahlten eine Güte aus, die Emylia niemals haben würde.

“Auf deine natürliche Schönheit“, sagte er, um Eves Frage zu beantworten. “Wir wissen beide, dass sie Puder und all die schönen Dinge im Wert von einer Millionen Blutrosen bräuchte, um dir je das Wasser reichen zu können und da bist du gerade einmal dreizehn.” Adam konnte sich nicht vorstellen, wie Eve in ein paar Jahren aussehen würde, wenn sie eine Frau war und nicht mehr nur seine kleine süße Schwester. Sie war jetzt schon wahnsinnig hübsch und wenn sie erstmal alt genug war, würde sie den Männern sicher den Kopf verdrehen.

“Das ist süß, aber nicht wahr“, stritt Eve ab und spielte eine Tonleiter, um Adams schreckliches Geklimper zu beenden. Sie hatte ihm noch nie geglaubt. Sie dachte wohl, dass er das nur sagte, weil er ihr großer Bruder war, aber er meinte, was er sagte.

“Doch, das ist es. Du hast alles, was Emylia je wollte und eines Tages vielleicht noch viel mehr. Du hast volle Lippen, große Augen und die wunderschönen langen Haare, die sie sich erträumt hat, seit sie ein Kind war. Das alles hat sie nicht. Deswegen ist sie so neidisch auf dich“, erklärte Adam ihr mit einem Lächeln. Er erinnerte sich noch gut an die Zeit, bevor Eve geboren war, als er und Emylia sich noch nahestanden. Emylia war das einzige Mädchen und wollte immer so sein wie Mutter. Sie hatte ihr immer die Haare machen wollen, da ihre eigenen nicht besonders lang wurden. Aber je älter Emylia wurde, desto schlimmer wurde es. Zuerst wurde sie eifersüchtig auf Mutter und dann auf Eve.

“Danke, Adam“, sagte Eve leise.

“Für meine kleine Schwester doch immer.”

“Wo warst du eigentlich?”, fragte Eve plötzlich und in ihren froschgrünen Augen spiegelte sich pure Neugier. “Ich habe dich nicht in den Garten gehen sehen, aber trotzdem bist du von dort gekommen.” Adam konnte ein zufriedenes Grinsen nicht unterdrücken. Geistesabwesend wischte er imaginären Staub von den Klaviertasten, während er an seinen Morgen mit Verima dachte.

“Komm mal mit“, sagte er und stand auf. Er konnte Eve unmöglich hier davon erzählen, da entweder Vater oder Lionell sie hören und Lioness umgehend davon erzählen würden. Lionell saß zwar auf der Couch und war scheinbar in ein Buch vertieft, aber Adam war sich sicher, dass er ihn trotzdem hören würde. Und so sehr Vater auch in das Bücherregal vertieft sein mochte, welches er zum dritten Mal diese Woche neu sortierte, auch er würde Adam und Eve über Verima sprechen hören. Das konnte er nicht riskieren, also wollte er mit Eve eine Runde durch die Stadt spazieren gehen.

*****

Ohne ihr zu sagen, was er vorhatte, stand Adam einfach auf und ging aus dem Wohnzimmer in den Flur. Eve fragte sich, warum er nicht einfach ihre Frage beantwortete. Es war doch so eine simple Frage gewesen und Eve hatte nicht einmal eine ausführliche Erklärung erwartet, sondern eine genauso simple Antwort. Aber stattdessen war er einfach aufgestanden und losmarschiert und Eve blieb nichts anderes übrig, als seiner Bitte nachzukommen und ihm zu folgen, wenn sie die Antwort wissen wollte. Also stand sie ebenfalls auf, ließ ihr geliebtes Klavier zurück und folgte ihrem Bruder bis in den Flur, wo dieser sich bereits die Schuhe anzog.

“Wohin gehen wir?”, fragte sie verwundert. Es kam nicht oft vor, dass sie das Haus verließ. Sie war kein Kind wie alle anderen und das war ihr sehr wohl bewusst. Die meiste Zeit verbrachte sie am Klavier oder mit dem Lesen eines guten Buches. In ihren Lieblingsbüchern ging es meist um unsterbliche Liebe und Eve konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als dies einmal selbst zu erleben. Wenn sie könnte, würde sie diese Bücher immer wieder lesen, aber es gab noch so viele andere Bücher, die sie gerne lesen wollte, dass sie einfach nicht die Zeit dazu hatte. Das war auch der Grund, warum sie das Haus nur für die Bücherei verließ und sich daher umso mehr freute, als Adam ihr mitteilte, wo sie hingingen.

“In die Stadt“, erklärte Adam. “Du musst auch mal rauskommen. Los, zieh dir deine Schuhe an.” Darauf hielt er ihr zwei verschiedene paar Schuhe hin. Das eine weiß mit zwei kleinen schwarzen Schleifen und das andere rot mit weißen Punkten, woran man wieder einmal merkte, dass Adam nicht die geringste Ahnung hatte, was zusammenpasste und was nicht. Natürlich entschied Eve sich für die weißen Schuhe, da diese auch viel besser zu ihrem weißen Kleid passten und dann folgte sie Adam auf die Straße, wo sie gemeinsam Richtung Stadt liefen.

“Also, wo warst du vorhin?”, fragte Eve ihren Bruder noch einmal, da es nicht so schien, als hätte er noch vor, ihr zu antworten. Er lächelte wieder genauso, wie am Klavier, kurz bevor er aufgestanden war und Eve vermutete bereits, dass es um ein Mädchen ging.

“Bei Verima Eliot“, sagte er schließlich und Eve freute sich, dass sie Recht gehabt hatte.

“Wer ist das?”, fragte sie, denn natürlich wollte sie genaueres wissen. Was brachte ihr schon ein Name?

“Meine Freundin“, gab Adam mit einem Lächeln zu, während er Eve durch eine schmale Gasse führte. Eve war sich sicher, dass Adam die Wände zu beiden Seiten berühren konnte, wenn er nur die Arme ausstrecken würde.

“Und zu ihr gehen wir jetzt?”, fragte Eve neugierig nach. Sie würde dieses Mädchen zu gern einmal kennenlernen, schließlich hatte sie ihrem liebsten Bruder einfach so den Kopf verdreht und Eve fragte sich, was für ein Mädchen dies wohl geschafft hatte. Doch Adam begann nur zu lachen.

“Nein“, sagte er schließlich. “Ich konnte nur zuhause nicht über sie reden.” Eve runzelte die Stirn. Wieso sollte Adam nicht im Haus über Verima reden können? Sie war sicher ein nettes Mädchen aus gutem Hause, also gab es doch eigentlich keinen Grund, nicht über sie sprechen zu können.

“Warum nicht?”, hakte sie also nach.

“Du stellst ganz schön viele Fragen, Kleine. Lyoness ist in sie verliebt. Wenn er wüsste, dass wir zusammen sind, würde zuhause die Luft brennen“, erklärte Adam wenig begeistert. Verständlich. Adam mochte seine Brüder sehr, das wusste Eve, auch wenn sie es nicht tat. Sie liebte nur Adam, denn er war immer nett zu ihr gewesen und hatte ihr geholfen, wenn Emylia sie in Schwierigkeiten gebracht oder sie sonst irgendwie geärgert hatte.

“Achso“, murmelte Eve, als sie um eine Ecke bogen und auf einen großen Platz kamen. Eve war noch nie hier gewesen, aber dennoch wusste sie, dass es der Stadtplatz war. In der Mitte befand sich ein großer Springbrunnen, der heute mit vielen Blumen dekoriert war. Auf der Wiese um den Springbrunnen waren große bunte Schleifen an Holzpfählen festgebunden und auch von den Ästen der Bäume hingen Girlanden. Es sah sehr hübsch aus, doch Eve fragte sich, wozu es gut sein sollte. “Warum ist hier alles so bunt?”

“Man trifft Vorbereitungen für das Stadtfest nächste Woche. Wir können hingehen, wenn du möchtest“, schlug Adam ihr vor. Eve wusste nicht, was man bei so einem Fest machte, doch sie unternahm so gerne etwas mit Adam, dass sie zustimmte.

“Lass und doch ein Stück Kuchen essen gehen“, schlug Adam vor und Eve war sofort hellauf begeistert. In dieser Hinsicht war sie wohl doch wie jedes andere Kind, denn sie liebte Kuchen. Adam führte Eve quer über den dekorierten Stadtplatz zu einem gut besuchten Eckcafé. Draußen waren große Schirme aufgestellt, um Schutz vor der heißen Sommersonne zu bieten und auf jedem der kleinen Holztische stand eine Vase mit verschiedenen Lilien und ein grünes Tischdeckchen. Es sah richtig schön aus und Eve freute sich riesig, als sie die Theke mit den vielen Kuchen sah. Während sie an der Schlange anstanden, sah Eve sich noch ein wenig im Inneren des Cafés um. Es war im Großen und Ganzen genauso eingerichtet, wie draußen und durch die großen Fenster fiel genügend Licht, sodass es richtig freundlich aussah. Eve fragte sich gerade, warum sie nicht öfter herkam, als ihr ein paar Leute an einem der Tische in ihrer Nähe auffielen. Da war eine unheimlich aussehende Frau mit langen schwarzen Haaren, welche ihre Begleiter mit strengem Blick ansah. Drei Männer saßen bei ihr, ein rothaariger älterer mit Vollbart, ein junger herzhaft lachender mit einer großen runden Brille und ein Anzugträger mit Glatze, welcher zu Eve herübersah.

“Hey Joe ist das nicht die Kleine aus dem Cort Haus?“, fragte er plötzlich in die Runde und zeigte in Eves Richtung, welche sofort erschrocken wegsah. Doch Eve war ein neugieriges Mädchen und hörte aufmerksam zu, was über sie gesprochen wurde.

“Glaube schon. Warum?”, antwortete dieser Joe. Er klang sehr nachdenklich, so als wäre er sich nicht sicher.

“Glaubst du, die ist auch so versessen auf die Blutrosen?“, fragte der Glatzköpfige, was Eve hellhörig machte.

“Shht! Bist du wahnsinnig, Emanuel?“, hörte sie die Frau zischen. Sie hatte Recht. Blutrosen waren kein Thema, worüber man einfach so sprach und schon gar nicht in der Öffentlichkeit.

“Was denn? Wir könnten sie einweihen“, bemerkte dieser Emanuel in einem leicht beleidigten Tonfall.

Vorsichtig sah Eve wieder zu dem Tisch herüber, als der dritte Mann - der mit der Brille - sagte: “Jetzt ist er völlig übergeschnappt!“

“Nein das ist gar nicht mal so dumm“, meinte nun der Rothaarige, von dem Eve vermutete, dass er Joe war.

“Wieso?“, fragte die Frau plötzlich sehr interessiert.

“Denk doch mal nach. Eine Spionin im Cort-Haus! Das wär‘s doch!“, schlug Emanuel begeistert vor und Eve traute ihren eigenen Ohren kaum. Sie als Spionin? Was dachten die sich eigentlich? Eve war noch ein Kind! Das war absurd.

“Hey Eve!”, rief Adam schließlich laut und Eve sah ihn verwirrt an.

“Was ist denn?”, fragte sie.

“Ich habe schon drei Mal deinen Namen gesagt“, bemerkte er lächelnd. “Wo warst du nur wieder mit deinen Gedanken? Was für ein Stück Kuchen möchtest du?” Jetzt war Eve diejenige, die lächelte.

“Zitrone, bitte.” Eve liebte Zitronenkuchen, denn er war anders, als der meiste Kuchen. Kuchen war gewöhnlich darauf ausgelegt süß zu schmecken, doch Eve liebte den säuerlichen Zitronengeschmack in der Sahne viel mehr, denn er war etwas Besonderes.

 

 


2

 

Draußen war es noch dunkel, als Eve am nächsten Morgen aufwachte, was keine Seltenheit war. Gewöhnlich las sie dann ein Buch oder ging ans Fenster, um sich den Sonnenaufgang anzusehen. So stand sie auch an diesem Morgen auf und lief zum Fenster, denn es würde sicher gleich soweit sein. Nur leise musste sie sein, denn seit sie denken konnte, teilte sie sich ein Zimmer mit Adam und sie wollte ihn nicht wecken. Als sie schließlich ans Fenster trat, begann es in der Ferne bereits zu dämmern und Eve wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis ihre Familie aufstand. Sie sah hinaus auf die leere Straße. Alles schien so ruhig zu sein, bis schließlich eine schwarze Kutsche vorbei fuhr und ein paar Meter neben dem Haus der Familie anhielt. Eve fragte sich, wer um diese Zeit schon unterwegs war. Kurz darauf stieg ein Mann aus der Kabine und lehnte sich an die Kutsche, gerade so, als würde er auf etwas warten. Als Eve genauer hinsah, erkannte sie den glatzköpfigen Anzugträger aus dem Café vom Vortag, in welchem sie Emanuel vermutete. Sie fragte sich, was er in dieser Gegend wollte und beschloss, es herauszufinden. Vorsichtig schlich sie zur Tür und drückte die Klinke hinunter. Mit einem lauten Quietschen ging sie auf. Eve hielt einen langen Moment inne und wartete darauf, dass Adam aufwachte, doch nichts passierte. Mit einem erneuten Quietschen schloss sie die Tür wieder und schlich weiter durch das Haus. Wenn das erste Quietschen der Tür Adam nicht geweckt hatte, dann dieses mit Sicherheit. Eve huschte den Gang entlang und lief so leise wie möglich die alte Holztreppe hinunter. Es war fast geschafft. Bevor sie das Haus verließ, zog sie sich noch ihre roten Pantoffeln an und bemerkte leider zu spät, dass es für ihr weiß geblümtes Nachthemd eigentlich noch zu frisch war. Doch das machte nichts, denn sie hatte eh nicht vor, besonders lange draußen zu bleiben. Sie blieb auf der Treppe vor der Haustür stehen und wartete auf eine Reaktion des Anzugträgers. Es dauerte auch nicht lange, bis dieser sie entdeckte und zweimal gegen das Holz der Kutsche schlug, woraufhin der rothaarige Mann aus dem Café, den Eve für Joe hielt, vom Kutschbock stieg. Neben Emanuel sah er ein wenig wie ein Obdachloser aus, fand Eve. Emanuel trug Anzug, Fliege und Hemd, Joe dagegen nur eine beliebige Hose, ein ausgeleiertes Shirt und eine schäbige alte Wolljacke, die vermutlich noch von seinem Urgroßvater stammte. Dazu kamen noch die ausgelatschten Schuhe eines einfachen Mannes und die strubbeligen in alle Richtungen abstehenden roten Haare - kein Wunder also, dass Emanuel Eve sympathischer erschien. Die beiden Männer kamen mit langen zügigen Schritten auf Eve zu und ließen sie dabei keine Sekunde aus den Augen. Es schien ihnen sehr ernst zu sein, doch noch wusste Eve nicht, worum es überhaupt ging.

“Hallo Kleine, schon so früh auf den Beinen?”, fragte Emanuel ganz beiläufig, als hätte er nicht am Nachmittag zuvor vorgeschlagen, Eve als Spionin einzusetzen. Doch Eve zuckte nur mit den Schultern und fragte sich, ob er sie tatsächlich für so dumm hielt.

“Wir haben uns gefragt, ob du uns helfen könntest. Unsere Kutsche ist liegen geblieben und wir bräuchten Hilfe“, meinte Joe. Was war er doch für ein Idiot. Sah eine Dreizehnjährige vielleicht aus, als könnte sie eine Kutsche reparieren? Emanuel schien das sofort zu bemerken, schüttelte den Kopf und gab seinem Kollegen einen Hieb in die Seite, woraufhin dieser sich vor Schmerz krümmte.

“Was mein Kollege hier meint ist, dass wir nach dem Weg fragen wollten. Wir dachten du könntest uns vielleicht den Weg beschreiben und uns sagen, wo wir hinmüssen?”, log nun Emanuel, wobei er versuchte, so freundlich und vertrauenswürdig wie nur möglich zu lächeln, doch Eve war sich sicher, dass sie nicht hergekommen waren, um nach dem Weg zu fragen. Sie mussten Eve für sehr naiv halten, also beschloss sie, Klartext zu sprechen.

“Es ist fünf Uhr morgens und ihr erwartet ernsthaft, jemanden zu finden, der euch den Weg zeigt? Diese Lüge ist fast noch dümmer, als die Tatsache, dass ihr eine Dreizehnjährige bei eurer Kutsche um Hilfe bittet. Ich weiß sehr genau, wer ihr seid und ich weiß, dass ihr nicht gekommen seid, um nach dem Weg zu fragen“, erklärte Eve, um den Lügen ein Ende zu bereiten. Joe sah Emanuel ratlos an, doch dieser zuckte nur mit den Schultern.

“Na gut. Ich bin Emanuel und das ist Joe“, stellte er sich und seinen Kollegen vor. Er konnte ja nicht ahnen, dass Eve das bereits wusste.

“Ich weiß“, antwortete sie knapp, was Joe nur noch mehr aus der Fassung zu bringen schien.

“Tatsächlich“, bemerkte Emanuel resigniert. “Du bist Eve, richtig?”, fragte er, als Joe weiterhin voller Erstaunen schwieg. Eve nickte nur. “Gut. Wir haben ein Angebot, dass du unmöglich ausschlagen kannst, doch zuerst wollen wir wissen, was du über die Blutrosen weißt.” Eve beschloss, diese Frage mit der Wahrheit zu beantworten. Etwas anderes würde sie vermutlich ohnehin nicht weit bringen.

“Ich kenne ihren Wert und ihre Macht. Meine Familie ist schon sehr lange auf der Suche nach diesen Blumen, wie ihr wisst“, erklärte sie und Joe schienen beinahe die Augen aus dem Kopf zu fallen, so erstaunt war er über Eves Wissen, dabei war diese Information allgemein bekannt. Sie zögerte kurz und überlegte, wie klug es wohl war, ihnen zu erzählen, dass sie wusste, warum sie gekommen waren. Doch am Ende des Tages war sie doch nur ein naives kleines Mädchen und beschloss, ihnen nichts als die Wahrheit zu erzählen, denn sie glaubte, so würde sie am weitesten kommen. “Ich weiß auch, dass ihr mich als Spionin wollt. Ich wüsste jetzt gerne, warum und wer die Frau im Café war.”

“Die Kleine stellt ganz schön hohe Ansprüche“, meinte Joe, der nun offenbar seine Stimme wiedergefunden hatte.

Emanuel wand sich ihm zu und sprach mit gedämpfter Stimme: “Schon okay. Wenn sie für uns arbeiten soll, muss sie diese Dinge sowieso erfahren.” Dann wand er sich Eve zu, beantwortete mit seinen Worten jedoch keine von Eves Fragen: “Wir geben die Blutrosen, die wir finden, den Übernatürlichen. Es gibt nicht mehr viele und die wenigen verbleibenden sind nicht gefährlich.” Er versuchte sich in einem Lächeln, welches Eve aufmuntern sollte, doch es endete eher in einer Grimasse. Vermutlich hatte er vorher nicht mit sonderlich vielen Kindern gesprochen. Obwohl er Eves Fragen nicht beantwortete hatte, waren seine Worte nicht vollkommen unnütz gewesen.

“Warum steht ihr auf der Seite der Übernatürlichen?”, fragte sie ihn, denn das war nicht nur ungewöhnlich, sondern Eve hatte bisher noch nie davon gehört, dass Menschen auf der Seite von Übernatürlichen standen.

“Damit kommen wir zu deiner zweiten Frage, denn die Frau im Café war unser Boss. Sie ist sozusagen der Kopf der ganzen Organisation. Sie kam eines Tages zu uns und bat uns um Hilfe. Alle Blutrosen sollten aufgespürt und zu ihr gebracht werden, um die Übernatürlichen zu schützen. Du musst wissen, dass sie selbst eine Übernatürliche ist und Kenntnis von allen Übernatürlichen hat“, erklärte Emanuel ausschweifend.

“Ach, tut sie das?”, fragte Eve skeptisch. Sie bezweifelte, dass jemand alle Übernatürlichen kannte und wenn doch, hätte dieser Jemand sicher längst etwas unternommen.

“Ja, das tut sie. Wir haben ihr damals vertraut und arbeiten seither für sie“, berichtete Joe stolz.

“Und was hätte ich davon, wenn ich für euch arbeiten würde?”, fragte Eve nun neugierig. Diese Leute konnten ihr nichts bieten, jedenfalls nichts was sie benötigt hätte.

“Wenn wir die Blutrosen vor der Cort-Familie, also deiner Familie finden, behältst du dein Leben. Wenn deine Familie zuerst an eine dieser Rosen kommt, stirbst du und das weißt du auch“, erklärte Emanuel trocken. Und dann drehte er sich um, als hätte er Eve gerade von etwas so Nebensächlichen wie dem Wetter erzählt und dass er noch etwas erledigen musste. Er ging zurück zur Kutsche, gefolgt von Joe, welcher ein wenig verwirrt aussah. Eve konnte den beiden nur erstaunt hinterher sehen. Sie hatte nicht gewusst, dass Emanuel so gut über sie Bescheid wusste. Die beiden Männer stiegen in die Kutsche, wendeten und fuhren erneut an ihr vorbei.

“Wir kommen morgen wieder und erwarten eine Antwort“, rief Joe vom Kutschbock und damit ließen sie Eve allein auf der Straße zurück.

 

 


3

 

Adam war nicht der einzige gewesen, der bemerkt hatte, dass Eve bereits früh am Morgen das Haus verlassen hatte. Lyoness war ebenfalls durch das Quietschen von Adam und Eves Zimmertür geweckt worden. Er hatte ihr gleich hinterherlaufen und sie beschimpfen wollen, wieso um Himmels Willen sie um diese Zeit hinaus auf die Straße lief und mit fremden Männern sprach. Doch Adam hatte ihn dazu bringen können, im Flur auf sie zu warten und sie gesittet zu fragen, was da draußen los war. Adam selbst hatte sich ans obere Ende der Treppe gesetzt, wo er alles aus sicherer Entfernung beobachten und einschreiten konnte, falls Lyoness es übertrieb.

Und schließlich öffnete sich die Haustür. Eve trat in ihrem rosa geblümten Nachthemd hindurch und schloss sie geistesabwesend hinter sich. Erst, als sie sich umdrehte und begann ihre roten Pantoffeln auszuziehen, bemerkte sie Lyoness, der mit verschränkten Armen vor ihr stand und sie unschlüssig ansah.

“Wer war das?”, fragte er schließlich.

“Nur zwei Männer, die nach dem Weg fragen wollten“, antwortete Eve und sah schließlich hinauf zu Adam. Vermutlich hoffte sie, dass er ihr helfen würde, doch dieses eine Mal konnte er das nicht. Er wusste, dass Eves Antwort eine Lüge war und er war sich sicher, dass auch Lyoness das wusste.

“Um fünf Uhr morgens?”, widersprach dieser auch gleich. Eve wand ihren Blick wieder von Adam ab und sah zu Lyoness.

“Ja, warum nicht?”, meinte sie mit fragendem Gesicht. Sie war noch so jung und unschuldig. Vielleicht wusste sie ja wirklich nicht, was die Männer gewollt hatten. Andererseits war Adam schon ein paar Mal darüber gestolpert, wie klug sie war.

“Eine ungewöhnliche Zeit, findest du nicht?”, hakte Lyoness noch einmal nach, doch Eve zuckte nur mit den Schultern. “Geh zurück in dein Zimmer Eve und schlaf noch ein bisschen“, sagte er schließlich emotionslos und wand sich dann der Küche zu. Eve verdrehte die Augen und trottete schließlich die Treppe hinauf, vorbei an Adam und ging in ihr gemeinsames Zimmer. Adam folgte ihr, schloss die Tür hinter ihnen und lehnte sich schließlich dagegen. Eve hatte sich im Schneidersitz auf ihr Bett gesetzt und sah ihn nun erwartungsvoll an. Adam war sich nicht sicher, ob es etwas bringen würde sie erneut nach den Männern auf der Straße zu fragen oder ob er ihr lieber gleich erklären sollte, wie gefährlich solche Leute waren. Müde rieb er sich die Augen. Es war noch viel zu früh für so ein Gespräch. Er fragte Eve noch einmal, was die Männer von ihr gewollt hatten, doch sie tischte ihm nur die gleiche Lüge auf, wie zuvor Lyoness. Adam wusste, dass es keinen Zweck hatte sie noch weiter zu löchern. Stattdessen warf er sich auf sein Bett und gab ihr noch einen gut gemeinten Rat.

“Diese Männer sind gefährlich, Eve. Ich bitte dich nur, dich von ihnen fernzuhalten.”

“Warum sind sie gefährlich?”, fragte Eve natürlich prompt, anstatt es einfach hinzunehmen. Sie war so ein neugieriges Kind. Doch Adam konnte ihre Frage unmöglich mit der Wahrheit beantworten. Ihr Vater hatte gesagt, dass diese Männer seine Frau umgebracht hatten und Adam brachte es nicht über sich, seiner kleinen Eve zu sagen, wer ihre Mutter umgebracht hatte. Er überlegte sehr lange, was er ihr sagen würde und als er sie schließlich ansah, machte sie einen Gesichtsausdruck, als hätte sie bereits gar keine Antwort mehr erwartet.

“Ich weiß es nicht, aber was das angeht, vertraue ich Vater“, erklärte er ihr müde. Eve sagte nichts mehr und Adam schloss die Augen, denn er brauchte noch ein bisschen Schlaf, bevor der Tag losging.

*****

An diesem Abend saßen sie alle gemeinsam beim Abendbrot. Es gab Schweinerouladen mit Kartoffelmus und Brokkoli - Emylias Lieblingsgericht. Wie gewöhnlich herrschte allgemeines Schweigen, da niemand großartig etwas mitzuteilen hatte, oder es schlicht vorzog, die Geschehnisse des Tages für sich zu behalten, wie es bei Eve der Fall war.

“Elisa?”, fragte Emylia schließlich mit tückischem Grinsen auf dem Gesicht und obwohl es nicht Eves Name war, reagierte sie trotzdem darauf. Sie wusste natürlich, dass ihre Schwester wieder irgendetwas angestellt hatte, um ihr das Leben zur Hölle zu machen. Andernfalls würde sie jedenfalls sicher nicht so zufrieden Grinsen.

“Ja, was gibt's?”, fragte Eve nun interessiert und sogar ihr Vater Travis sah von seinem Teller voller Brokkoli auf, denn auch er wusste, dass die Situation nun schnell eskalieren konnte, wenn Emylia Eve zu sehr verletzte.

“Nun, ich finde, dass du wirklich fantastisch Klavier spielst“, begann Emylia und Eve war sich sicher, dass sie bereits diesen Satz nicht ehrlich meinte. “Ich dachte mir, dass jeder in der Stadt Zeuge von diesem großartigen Talent werden sollte und das Stadtfest ist doch die perfekte Gelegenheit dafür.” Eve wusste noch nicht so recht, worauf Emylia hinaus wollte und auch die Männer der Familie runzelten nur die Stirn.

“Und weiter?”, hakte sie daher nach, obwohl sie bereits vermutete, dass Emylias Antwort sie nicht besonders freuen würde.

“Also habe ich dich für das Programm angemeldet“, erwiderte Emylia und Eve konnte die Hinterlistigkeit und den Hass in ihren Augen funkeln sehen. Doch den Gefallen konnte sie ihr dieses Mal nicht tun. Eve hatte schon so lange vor einem Publikum spielen wollen und nicht nur im Wohnzimmer des Hauses, wo ihr niemand zuhörte, außer vielleicht Adam, wenn er hin und wieder da war. Während die Männer bereits erschrockene Blicke tauschten, begann Eve zu lächeln uns nun war es an Emylia die Stirn zu runzeln.

“Das ist ja wunderbar! Ich wollte ohnehin endlich mal vor Leuten spielen. Vielen Dank Emylia!”, antwortete Eve glücklich und als Emylia bei ihren Worten das Gesicht einschlief, erschien auf Adams Gesicht ein zufriedenes Grinsen.

“Ich finde auch, dass das eine wunderbare Gelegenheit ist“, meldete sich nun ihr Vater zu Wort und der Rest der Familie schwieg. “Und ich habe auch gute Neuigkeiten.” Selbst Emylia, die Eve eben noch böse Blicke zugeworfen hatte, schenkte ihre ganze Aufmerksamkeit nun ihrem Vater. “Es gibt Gerüchte über eine Blutrose. Sie soll sogar ganz hier in der Nähe sein.”

“Wirklich Vater?”, fragte Emylia sehr interessiert und das Dilemma um Eve und das Stadtfest schien bereits vergessen zu sein.

“Ich weiß noch nichts Genaues“, beschwichtigte Travis sie gleich wieder. “Aber sobald meine Kontaktmänner etwas in Erfahrung bringen können, werdet ihr diejenigen sein, welche die Blutrose in ihren Händen halten werden“, erklärte er zufrieden und Eve lief bereits ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Schließlich sah ihr Vater sie an. “Vielleicht wirst auch du unsere Begeisterung dann endlich teilen, Eve.” Sie wusste genau, dass sie das nie würde, doch sie würde es genauso niemandem erzählen können. Bei den Worten ihres Vaters wurde ihr schließlich bewusst, dass sie keine Wahl hatte. Sie musste auf das Angebot von Emanuel und Joe eingehen, denn ihr Leben hing davon ab. Wenn ihre Familie sie mit diesen Leuten erwischen würde, war ihr Wohlergehen zwar genauso in Gefahr, doch ihre Chance zu überleben, war mit diesen Leuten wesentlich größer. Wenn ihre Familie die Blutrose in die Finger bekommen würde, würde das Eves sicheren Tod bedeuten und das konnte sie nicht riskieren. Denn was ihre Familie nicht wusste, war, dass Eve selbst eine Übernatürliche war. Es war nie besonders schwer gewesen, das vor ihnen zu verbergen, da sie nicht wusste, was ihre Fähigkeit war. Hinzu kam noch, dass ihre Familie so sehr auf die Blutrosen fixiert war, dass sie eine Übernatürliche wahrscheinlich nicht einmal wahrnehmen würden, wenn sie es ihnen offen zeigen würde. Sie setzte ein Lächeln auf, bevor sie zu ihrem Vater sprach.

“Ja, vielleicht werde ich das“, antwortete Eve ihrem Vater um den Schein vorerst zu wahren. Wer wusste schon, wie lange das noch möglich sein würde.

 

 

 


4

 

Bereits am nächsten Morgen log Eve ihren Vater erneut an. Sie sagte, sie würde eine Runde spazieren gehen, doch in Wahrheit wollte sie nur Joe und Emanuel treffen, denn ihre Entscheidung hatte sie längst getroffen. Sie hatte ihre Familie nie hintergehen wollen, doch nun hatte sie keine Wahl mehr. Sie half ja nicht nur diesen Leuten, sondern hauptsächlich sich selbst und sie wusste, dass ihre Mutter es nicht anders gewollt hätte. Ihre Mutter war wie sie gewesen, dessen war Eve sich immer sicher gewesen, obwohl sie sich kaum an sie erinnern konnte. Nie hätte sie zugelassen, dass ihr kleines Mädchen gestorben wäre, nur um ihrer Familie treu zu bleiben.

Also trat Eve direkt nach dem Frühstück hinaus auf die Straße. Adam hatte angeboten mit ihr zu kommen, doch sie hatte dankend abgelehnt und war allein hinausgegangen. Sie sah sich nicht um, denn sie wusste bereits, dass die schwarze Kutsche, in welchem die beiden Männer am Vortag gekommen waren, am Ende der Straße stand. Sie stieg die Stufen hinab und wand sich dann in die andere Richtung. Natürlich wäre es das einfachste gewesen, einfach hinzugehen und sie anzusprechen, doch Eve war sich sicher, dass wenigstens Adam am Fenster stand und ihr nachsah, also lief sie stattdessen weg von der schwarzen Kutsche und hoffte, dass die Männer ihr einfach folgen würden, ohne Verdacht zu erregen. Eve lief um ein paar Häuserecken und blieb schließlich stehen, als sie weit genug von ihrem Haus entfernt war und sich halbwegs sicher fühlte. Kaum hatte sie sich umgedreht, bog die schwarze Kutsche auch schon um die Ecke und hielt schließlich neben ihr an. Joe saß wieder auf dem Kutschbock und lehnte sich zu ihr hinüber.

“Falls du versucht hast, uns abzuhängen“, begann er. “So funktioniert das nicht.” Eve konnte nur mit den Augen rollen. Sie war sehr klug für ihr Alter und scheinbar deutlich klüger als diese beiden.

“Ich wüsste da noch etwas, das so nicht funktioniert“, erklärte Eve. “Ihr könnt doch nicht jedes Mal einfach vor meinem Haus auftauchen. Meine Familie ist nicht dumm, wisst ihr.”

“Natürlich. Du hast Recht“, entgegnete Emanuel aus der Kabine, deren Tür er eben geöffnet hatte. Joe sah sie eingehend an, als könnte er ihr ihre Entscheidung ansehen.

“Ich hoffe du hast die richtige Entscheidung getroffen“, bemerkte er.

“Das habe ich. Ich werde euch helfen, doch ich tue es nicht für euch“, erklärte Eve.

“Wie du meinst“, erwiderte Joe und kritzelte etwas auf einen Zettel, den er eben aus seiner Tasche geholt hatte. Er riss das beschriebene Stück ab und hielt es Eve entgegen. Darauf stand eine Adresse. “Wenn du Hinweise auf Blutrosen erhältst, seien sie auch noch so klein, dann kommst du…”

Eve unterbrach ihn sofort: “Aber ich habe bereits Hinweise, sonst wäre ich nicht hier. Ich will mit der Frau reden.” Unsicher blickte Joe durch ein kleines Fenster in der Kutsche zu Emanuel in die Kabine. Dieser zuckte nur mit den Schultern, woraufhin Joe den Zettel wieder an sich nahm und alles in der Tasche seiner Wolljacke verstaute.

“Steig ein, Mädchen. Wir bringen dich zu ihr“, sagte er schließlich. Eve sah sich vorsichtig um. Weit und breit war niemand zu sehen, also stieg sie zu Emanuel in die Kabine der Kutsche und schloss die Tür hinter sich. Ihr Vater hatte sie immer gewarnt mit Fremden mitzugehen, doch irgendwie hing nun ihr Leben davon ab, eben diesen Männern zu vertrauen. Sie fuhren durch die ganze Stadt, vorbei an duftenden Bäckereien, welche in Mehlwolken versanken, einer Parfümerie vor der die Menschen Schlange standen und quer durch den Stadtpark bis sie schließlich in ein Viertel kamen, in welchem Eve noch nie gewesen war. Es schien düster zu sein und nicht besonders belebt. Eve fragte sich, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, mit den Männern mitzugehen. Was, wenn sie all das doch nur erfunden hatten? Aber das konnte nicht sein. Oder etwa doch? Eve versuchte, nicht darüber nachzudenken, denn nun war es ohnehin zu spät. Die Kutsche kam zum Stehen, Joe stieg vom Kutschbock herunter und öffnete die Tür der Kutsche. Mit der Luft kam auch eine Wolke des üblen Gestanks der Gegend herein. Es roch muffig und alt, irgendwie seltsam nach Verwesung und Ratten. Zudem hingen dicke Staubwolken in der Luft und auf dem Boden lagen diverse Haufen von Pferdeäpfeln, welche Eve beim Aussteigen gekonnt versuchte zu umgehen. Sie musste den Rock ihres Kleides hochheben, damit er nicht im Dreck schliff und ihre Familie nachher auf ihren Ausflug aufmerksam machte. Sicher kannte Vater sich gut in der Stadt aus und nirgends sonst war es so dreckig. Eve lief langsam auf das Haus zu, vor welchem sie gehalten hatten. Es schien verlassen zu sein. Einige Fensterläden hingen nur noch an einer Verankerung, Efeu rankte sich die Wände hinauf und machte auch vor den Fenstern nicht halt. In der Nähe musste es irgendwo Wasser geben, denn Nebelschwaden versuchten das Haus zu verstecken. Eve war sich nicht sicher, ob sie dieses Haus wirklich betreten sollte und das Mädchen, welches die Eingangstür öffnete, als Eve die Stufen hinauf stieg und auf den ersten Blick aussah wie ein Geist, verbesserte ihren Eindruck der Gegend nicht gerade. Sie musste etwa zwei Jahre älter sein als Eve und schien asiatischer Herkunft zu sein, was Eve aus der Form ihrer Augen schloss. Doch ihr Haar war nicht schwarz, sondern schneeweiß und ebenso ihre Haut. Eve hatte nie zuvor etwas Ähnliches gesehen und sie fragte sich, ob das Mädchen vielleicht eine Übernatürliche war und wenn ja, ob ein Zusammenhang zwischen ihrer Fähigkeit und der Farbe ihrer Haare und ihrer Haut bestand. Doch das war nicht das einzige seltsame an dem Mädchen. Sie trug ein weißes Kleid, das deutlich kürzer war, als jedes, das Eve je gesehen hatte. Es schien für Eve am ehesten die Funktion eines Nachthemdes zu erfüllen.

“Marilin! Du sollst doch nicht so herumlaufen!”, schimpfte Joe plötzlich hinter Eve. “Du erschreckst damit die Leute nur unnötig.” Eve wunderte sich, wie gerade er das sagen konnte, wo er doch aussah wie der hauseigene Obdachlose.

“Entschuldigt meinen Aufzug, aber es gibt Leute, die um diese Zeit eigentlich noch schlafen“, erklärte das Mädchen, welches Joe gerade Marilin genannt hatte. “Ich musste mich ziemlich beeilen nach eurer sehr kurzfristigen Besuchsinformation, also habe ich mir einfach das nächstbeste Kleidungsstück übergeworfen und bin hergekommen.” Nun ja, eben so sah es auch aus. “Nebenbei bemerkt siehst du nicht besser aus, Joe.” Bei diesen Worten musste Eve lächeln. Das Mädchen schien sympathisch zu sein, auch wenn ihre Erscheinung etwas geisterhaft war.

“Genug der Freundlichkeiten“, bemerkte Emanuel harsch. “Marilin, würdest du bitte unseren Gast zu Lady Winter bringen?” Das war also der Name der mysteriösen Frau aus dem Café.

“Natürlich“, erwiderte Marilin und trat beiseite, sodass Eve das Haus betreten konnte. Die beiden Männer folgten ihr nicht ins Innere, sondern schlossen lediglich die Eingangstür. Im Inneren des Hauses sah es deutlich freundlicher aus, als draußen. Die Eingangshalle des Hauses war hell erleuchtet durch einen pompösen Kronleuchter, welcher von der hohen Decke hing. Eve fragte sich, wie sie das von außen nicht hatte sehen können und als sie sich umsah bemerkte sie, dass die Fenster mit dicken roten Vorhängen verhangen waren, welche kein Tageslicht hindurch ließen. Ansonsten war die Eingangshalle - bis auf einen roten Teppich, der die breite Treppe hinauf führte - leer.

Marilin führte Eve die Treppe hinauf und fragte sie schließlich nach ihrem Namen.

“Mein Name ist Eve Cort.”

Du bist Eve Cort?”, fragte Marilin erstaunt und blieb abrupt stehen.

“Ja, was ist daran so ungewöhnlich?”, hakte Eve nach.

“Naja, ich hätte einfach nicht gedacht, dass sie dich kriegen. Das ist alles“, erklärte Marilin und lief weiter. Ihr Weg führte sie einen langen schmalen Gang entlang, der in einer großen Tür mündete. “Ich meine, du giltst als das vertrauenswürdigste Mitglied dieser Familie und da hätte ich wirklich nicht gedacht, dass du sie hintergehen würdest.”

“Ich hintergehe sie nicht“, unterbrach Eve das Mädchen. ‘Hintergehen’ klang so falsch in Eves Ohren. “Ich rette lediglich mein eigenes Leben.”

“Süße, du hast wirklich keine Ahnung von all dem hier oder?”, hakte Marilin nach und sah sie skeptisch von der Seite her an.

“Ich weiß, dass ich sterbe, wenn ich meiner Familie helfe“, erklärte Eve ihr tatsächlich geringes Wissen über die Übernatürlichen. Und dann blieb Marilin erneut stehen. Eve sah sie nur fragend an.

“Okay Eve, ich sage dir jetzt mal was. Das Ganze hier endet so oder so mit deinem Tod, egal ob du deiner Familie oder diesen Leuten hilfst. Der einzige Unterschied besteht darin, was danach geschieht. Schau mich an! Ich habe eine dieser Blutrosen berührt. Die Menschen denken, ich bin daran gestorben, aber es ist kein wirklicher Tod. Lady Winter wird dir das sicher erklären.” Eve konnte nicht glauben, was das fremde Mädchen da erzählte. Sie würde sterben und das in jedem Fall? Aber was brachte ihr all das dann, wenn ihr Tod ohnehin gewiss war? Und was meinte das Mädchen damit, dass es kein wirklicher Tod sei?

“Was meinst du mit ‘kein wirklicher Tod’?”, fragte Eve irritiert.

“Man kommt in eine andere Welt. Das was du hier von mir siehst, ist nur eine magische Projektion. Ich stehe nicht wirklich neben dir“, erklärte sie und schuf damit nur noch mehr Rätsel und ungelöste Fragen.

“Was ist eine Projektion?”, fragte Eve verwirrt.

“Das kann ich dir nicht erklären“, erwiderte Marilin und lief weiter den Gang entlang. “Das ist viel zu kompliziert und du stellt viel zu viele Fragen, als dass ich sie dir alle beantworten könnte.” Eve folgte ihr schweigend. Sie musste das erst einmal verarbeiten. Sie würde also nicht wirklich sterben, wenn sie eine dieser Blumen berührte? Aber warum wussten die Menschen nichts davon? Warum machte man so ein Geheimnis daraus?

Sie erreichten die große Tür am Ende des Ganges und Marilin klopfte, woraufhin ein junger Mann die Tür öffnete. Er hatte dunkles Haar und trug eine große runde Brille. Eve erkannte ihn als den dritten Mann aus dem Café wieder. Aber warum brachte Marilin Eve hierher? Hatte sie nicht den Auftrag gehabt, Eve zu Lady Winter zu bringen?
“Mr. Winter, Eve Cort ist hier. Ich soll sie zu ihrer Frau bringen“, erklärte Marilin und alles ergab einen Sinn. Der junge Mann musterte Eve kurz und lächelte dann.

“Hallo Eve, komm doch rein. Lady Winter erwartet dich schon“, begrüßte er Eve. Ein wenig verunsichert sah Eve sich nach Marilin um, welche ihr ein aufmunterndes Lächeln zuwarf.

“Geh ruhig, ich warte hier auf dich“, versicherte sie und Eve betrat das Zimmer hinter der Tür. Sie sah sich ein wenig um, während Mr. Winter die Tür schloss. Nur wenige der Wandlampen an den vertäfelten Wänden, waren auch entzündet worden, was den Raum nur in schummriges Licht tauchte und auch hier waren die Fenster mit dicken roten Vorhängen bestückt. Trotzdem konnte Eve erkennen, dass es sich um ein Büro handelte. In der Mitte des Raumes stand ein großer Schreibtisch, wie sie ihn von ihrem Vater kannte mit zwei Stühlen auf der einen Seite und einem Bürosessel auf der anderen.

Rechts vom Schreibtisch ging eine Tür auf und die Frau aus dem Café trat schließlich herein. Sie sah nach wie vor unheimlich aus. Ihr langes schwarzes Haar hing in dicken Wellen über ihrer Schulter und verdeckte den Großteil des verzierten Kragens, welcher zu einem bodenlangen roten Mantel gehörte. Ihre Kleidung war ungewöhnlich, doch nicht so ungewöhnlich wie die des asiatischen Mädchens. Sie ging zum Schreibtisch und setzte sich elegant in den Bürosessel, wo ihr strenger Blick schnell einem freundlichen Lächeln wich.

“Setz dich doch“, sagte sie und bot Eve einen der freien Stühle an. Also tat sie eben dies und wartete dann erst einmal ab.

“Es kommt selten vor, dass jemand mit solcher Dringlichkeit nach mir verlangt. Besonders jemand, der noch so neu ist wie du.” Es klang wie eine Drohung und in Eve kam das plötzliche Gefühl auf, sich für etwas zu entschuldigen.

“Es tut mir leid, ich -”, begann sie, doch Lady Winter sprach einfach weiter.

“Das finde ich gut. Es zeigt mir, dass du wirklich Interesse hast an dem, was wir tun. Und jetzt erzähl mir, warum du mit mir sprechen wolltest.” Obwohl dies nicht wie eine Drohung klang, stellten sich bei Eve doch die Nackenhaare auf, bei dem Gedanken dieser Bitte nicht auf der Stelle nachzukommen. Also erzählte sie, was sie am Vorabend erfahren hatte.

“Mein Vater erzählte gestern Abend von Gerüchten über eine neue Blutrose. Ich weiß leider noch nichts Genaues, aber ich dachte trotzdem, dass sie dies wissen sollten. Er hat all seine Männer auf die Suche angesetzt und sobald diese genauere Informationen bekommen, wird er alles daransetzen, die Blutrose in seinen Händen zu halten.” Der Blick in Lady Winters Augen änderte sich. Sie wirkte plötzlich sehr angespannt, als würde sie alle möglichen Folgen abwägen.

“Hör mir nun gut zu, Eve“, sprach sie ruhig aber bestimmt. “Wir müssen diese Blutrose unter allen Umständen eher bekommen als dein Vater, andernfalls werden grausame Dinge passieren. Verstehst du mich?”, fragte Lady Winter mit einer Dringlichkeit, die Eve zusammenzucken ließ. Sie verstand nicht, was ihr Vater für grausame Dinge mit der Blutrose anstellen konnte, denn sie glaubte nach wie vor an das Gute in den Menschen, vor allem in jenen die sie ein Leben lang kannte. Doch sie nickte, denn sie war sich sicher, dass Lady Winter noch nicht fertig war mit ihrer Erzählung. “Gut. Du musst wissen, die Blutrosen sind ebenso übernatürlich wie du und ich. Berührst du eine dieser Rosen mit dem Wissen, was sie tun und wo sie dich hinbringen kann, gibt sie dir die Kraft in die Schattenwelt zu reisen und unter deinesgleichen zu leben. Doch jede Rose funktioniert nur einmal. Danach verliert sie ihre Kraft und stirbt. Berührst du die Rose nicht freiwillig oder ohne dieses Wissen, bringt sie dich um, weshalb so viele von uns sterben.” Eve wusste nicht recht, was sie mit dieser Information anfangen sollte. Sie war dreizehn Jahre alt und hatte noch nie über den Tod oder ähnliche Umstände nachgedacht. Und wenn sie ehrlich war, warfen Lady Winters Worte mehr Fragen auf, als sie beantworteten. Doch Eve beschloss, vorerst nur eine zu stellen, nämlich jene, die am längsten in ihrem Kopf kreiste.

“Das ist alles sehr interessant, aber auch sehr viel auf einmal. Ich werde in Ruhe darüber nachdenken müssen“, beschloss sie. “Darf ich Ihnen eine Frage stellen?”

“Natürlich, jederzeit“, erwiderte Lady Winter mit einem Lächeln.

“Wie haben sie mich gefunden?”, fragte Eve unsicher. Die Frage beschäftigte sie bereits, seit Joe und Emanuel vor ihrem Haus gewisse Andeutungen gemacht hatten. “Ich meine, ich habe nie jemandem gesagt oder gar gezeigt, was ich bin und doch wussten sie es. Woher?”

“Das ist meine spezielle Fähigkeit. Ich kann jeden Übernatürlichen aufspüren, aber nur in dieser Welt. Deswegen bin ich auch keine Projektion wie Marilin. Würde ich in der Schattenwelt leben, könnte ich die Übernatürlichen in dieser Welt nicht aufspüren und sie alle würden sterben“, erklärte Lady Winter und für Eve ergab das tatsächlich Sinn. Es gab alle möglichen verschiedenen Fähigkeiten, also warum nicht auch diese? Und jede Fähigkeit hatte nun mal ihre Grenzen. “Deine Mutter war wie ich, kleine Eve. Sie half mir früher dabei, die Übernatürlichen aufzuspüren. Leider ist sie zu früh gestorben, um dir alles selbst erklären zu können. Aber sie hat mir ein Geheimnis anvertraut, welches ich nun an dich weiterreiche.” Unsicher spielte Eve mit dem Stoff ihres Kleides. Sie hatte Geheimnisse nie für gut befunden und es war schwer genug für sie, ihre Familie zu belügen und ihnen zu erzählen, sie würde in der Stadt spazieren gehen, wo sie nun eigentlich hier bei einer fremden Frau saß, die ihr etwas über ihre Mutter erzählte. Doch wenn ihre Mutter tatsächlich übernatürlich wie sie gewesen war und sie ein Geheimnis bewahrt hatte, musste das einen Grund gehabt haben und den würde Eve gern erfahren. Lady Winter winkte ihren Mann aus dem Raum, damit sie allein sein konnten. Offensichtlich durfte nicht einmal ihr Mann von diesem Geheimnis erfahren.

“Lilian sagte mir, dass du nicht die einzige Übernatürliche in deiner Familie bist. Als dein Bruder noch nicht geboren war, kam sie hierher und bat mich um Rat. Sie wusste bereits, dass ihr Sohn übernatürlich sein würde, doch sie spürte auch, dass er anders sein würde. Adam ist kein gewöhnlicher Übernatürlicher wie du, sondern ein Verborgener.” Eves Gedanken begannen zu rasen. Adam konnte nicht sein wie sie. Das war unmöglich! Und doch schenkte Eve der Frau Glauben. “Das bedeutet, er weiß nicht, dass er ein Übernatürlicher ist, da seine Fähigkeit nicht in Erscheinung tritt. Aus diesem Grund sind es auch fast immer die Verborgenen, welche durch die Blutrosen sterben. Damit das nicht geschieht, musst du unbedingt die Blutrose vor deinem Bruder berühren, falls es soweit kommt.” Das durfte nicht wahr sein! Wenn Adam die Blutrose vor Eve fand und berührte, würde er sterben. Das konnte sie nicht zulassen! Doch das alles war zu viel für das kleine Mädchenherz und plötzlich versank alles in Dunkelheit.

 

 


5

 

Als Eve wieder zu sich kam, befand sie sich in einem anderen Raum. Die rote Couch, auf der sie lag, schien schon sehr alt zu sein und allgemein sah der Raum in dem sie sich befand nicht gerade ansprechend aus. Die Fenster hatten zerbrochene Scheiben und in den Ecken des Raumes hingen Spinnenweben.

“Bitte entschuldige, wie es hier aussieht“, sagte plötzlich die Stimme des asiatischen Mädchens und Eve sah sich hektisch um. Marilin stand hinter der Couch und schien ein Buch in der Hand zu halten, welches Eve jedoch nicht sehen konnte. Vermutlich wurde es nicht mit in diese Welt übertragen. Zumindest vermutete Eve, dass diese seltsame magische Projektion so funktionierte. “Die meisten Räume hier werden nicht genutzt und wurden daher nie renoviert.” Eve nickte, während Marilin das unsichtbare Buch beiseite legte.

“Was ist passiert?”, fragte Eve, während sie sich aufsetzte. Sie konnte sich nicht mehr recht erinnern. Alles schien irgendwie verschwommen.

“Du hast mit Lady Winter gesprochen und bist in Ohnmacht gefallen“, erklärte Marilin mit einem Lächeln. Und da fiel es Eve auch schon wieder ein. Das Geheimnis, welches Lady Winter ihr erzählt hatte, war zu viel für sie gewesen.

“Wie lange ist das her?”, fragte sie, als ihr klar wurde, dass die Ohnmacht wohl eine Weile gedauert hatte. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Familie noch nichts bemerkt hatte, schließlich hatte sie gesagt, sie würde nur spazieren gehen.

“Etwa eine Stunde schätze ich.” Oh nein! Eve musste so schnell wie möglich los. Wie vom Blitz getroffen sprang sie auf und lief zur Tür. Ihre Familie suchte sicher schon nach ihr. “Wo willst du denn hin?”

“Es tut mir leid, aber ich muss gehen“, rief Eve. “Ich bin schon viel zu lange weg und meine Familie wird nur Fragen stellen, wo ich gewesen bin.” Sie lief aus der Tür und befand sich unten in der Eingangshalle. Von hier aus war der Weg nach draußen und schließlich nach Hause ein leichtes.

“Versprich mir wenigstens, dass du wiederkommst!”, rief Marilin ihr hinterher. Es schien, als hätte sie Probleme, Eve zu folgen.

“Ich verspreche es“, erwiderte Eve, bevor die Eingangstür hinter ihr ins Schloss fiel. Jetzt musste sie nur noch nach Hause kommen. Der Weg mit der Kutsche am Morgen war ein langer gewesen, doch sie konnte nicht riskieren mit eben dieser Kutsche gesehen zu werden, also rannte sie los. Laufen kam nicht in Frage, da sie nur noch mehr Zeit verschwenden würde und das konnte sie sich nicht leisten. Ihre Familie würde nur misstrauischer werden.

Der Weg war wirklich lang und als Eve zuhause ankam, war sie völlig außer Atem. Sie musste eine Minute warten, bevor sie ins Haus ging, um wieder zu Atem zu kommen. Schließlich betrat sie das Haus und auf den ersten Blick schien es leer zu sein, doch im Wohnzimmer fand Eve schließlich zumindest ihre Brüder. Die Zwillinge saßen auf der Couch mit einem Buch und Adam war draußen im Garten und pflückte von einem der Apfelbäume einen Apfel.

“Wo warst du so lange?”, fragte Lyoness genervt, als Eve das Wohnzimmer betrat. Vermutlich hatten die Brüder sich wegen irgendeiner Kleinigkeit in den Haaren gehabt und nun ließ er seinen Frust an ihr aus.

“Ich war nur spazieren“, erwiderte Eve auf die kindlichste und unschuldigste Weise, die sie hervorbringen konnte. Ihre Familie dachte, sie wäre noch ein Kind, doch sie hatte sehr früh erwachsen werden müssen. Von dem Tage an, an welchem ihre Mutter gestorben war, hatte sie auf sich selbst aufpassen müssen und da war sie gerade einmal sechs Jahre alt gewesen. Sie hatte schnell gelernt, dass man niemandem anvertrauen konnte, dass man übernatürlich war und dass man alles tun sollte, um dieses Geheimnis zu wahren. Der einzige, auf den sie sich je gestützt hatte, war Adam gewesen, doch auch ihm hatte sie nichts von ihrer Fähigkeit erzählt.

“Fast zwei Stunden lang?”, fragte ihr Bruder skeptisch. Das war gar nicht gut. Jetzt musste sie sich eine Ausrede einfallen lassen.

“Ja, ich war im Wald und habe ein bisschen die Zeit vergessen. Entschuldige bitte.” Leider war dies das Beste, was dem kleinen Mädchen auf die Schnelle einfiel.

“Achte das nächste Mal besser darauf“, erwiderte er mürrisch und wollte sich bereits wieder seinem Buch zuwenden.

“Warum hast du so schlechte Laune?”, fragte Eve vorsichtig. Es war immer schwierig, wenn Lyoness schlechte Laune hatte, denn dann konnte es schnell passieren, dass er ausflippte und das ein oder andere Buch durch den Raum flog.

“Das verstehst du noch nicht.” Er nahm sein Buch, stand von der Couch auf und verschwand in Richtung Küche. Also ging es wohl um ein Mädchen und nicht nur irgendein Mädchen. Er hatte sicher von Adams Liaison erfahren und die beiden hatten sich gestritten. Sie dachte nicht weiter darüber nach und setzte sich ans Klavier, ohne zu wissen, was sie spielten sollte. Ihre Finger fuhren sanft über die Tasten und spielten eine Tonleiter. Es beruhigte sie ungemein und war genau das, was Eve im Moment brauchte. Laut Lady Winter war Adam ein Verborgener und würde sterben, sobald er eine Blutrose anfasste. Eve wollte das unbedingt verhindern, doch wie sollte sie ihm das erzählen? Er würde ihr ohnehin nicht glauben, egal wie sehr er sonst zu ihr stand.

“Worüber denkst du nach?”, fragte Adam in diesem Moment und setzte sich neben sie. Einen sehr langen Moment sah Eve ihren Bruder einfach nur an. Er hatte keine Ahnung, was er war oder in welcher Gefahr er schwebte und Eve konnte das vermutlich nicht ändern. Sie konnte nur versuchen, ihn zu beschützen. Sie sah wieder zurück auf das Klavier.

“Hast du dich jemals gefragt, wie es wäre, ein Übernatürlicher zu sein?”, fragte sie, während sie leise eine Melodie spielte.

“Warum sollte ich das tun? Ich bin ein Mensch“, erwiderte Adam.

“Ja schon, aber wenn du es nicht wärst. Hast du dir je vorgestellt, wie das Leben dann sein würde?”

“Nein. Warum stellst du so seltsame Fragen Eve?”, hakte er nach. “Ist es wegen den Männern von neulich?”

“Nein“, erwiderte Eve so ruhig, wie sie nur konnte, denn eigentlich hatte er damit ja den Nagel auf den Kopf getroffen. Schnell beschloss sie, dass sie das Thema wechseln sollte. “Wo sind Vater und Emylia?”, fragte sie also, denn das hatte sie ohnehin interessiert.

“Sie sind in der Stadt und hören sich wegen der Blutrose um. Es gibt einen Informanten, der ziemlich zuverlässig zu sein scheint. Wer weiß, vielleicht hältst du bald schon deine erste Blutrose in der Hand.” Und es würde wohl auch ihre letzte werden.

****

Zwei Tage später machte Eve sich wieder auf den Weg. Der Informant ihres Vaters hatte nähere Hinweise auf die Blutrose gegeben und diese hatte er mit der Familie am Abendbrottisch besprochen. Eve wäre beinahe in Panik ausgebrochen, da nun der nächste Schritt war, nach dieser geheimnisvollen Blume zu suchen und dann würde Adam sterben. Das konnte sie um keinen Preis zulassen. Sie hatte sogar vortäuschen müssen sich am Abendessen verschluckt zu haben, um nicht aufzufallen. Und nun war sie auf dem Weg zu Lady Winter, um ihr von all dem zu erzählen und sie um Rat zu fragen, wie sie Adam retten sollte. Ihrer Familie hatte sie erzählt, sie würde in die Bücherei gehen und sich neue Noten für das Klavier kaufen. Natürlich hatte Adam sie begleiten wollen und es war nicht leicht gewesen, ihn davon abzubringen. Am Ende hatte er doch zugegeben, dass er sich eigentlich mit Verima treffen wollte und dies vielleicht wichtiger war, als die kleine Schwester in die Bücherei zu begleiten.

Nun trat Eve die Stufen zur Eingangstür des alten verlassenen Hauses hinauf und klopfte. Wie auch zwei Tage zuvor öffnete Marilin ihr die Tür und sah seltsamer aus, als am ersten Tag. Zwar trug sie diesmal kein weißes Kleid und ihre Haare waren zu einem hohen Dutt zusammengebunden, weshalb sie nicht wie ein Hausgeist aussah, doch sie trug Hosen wie ein Mann und ein seltsames rotes Oberteil, das im Entferntesten vielleicht einem Hemd ähnelte.

“Was trägst du da?”, rutschte es aus Eve heraus, wofür sie sich gleich darauf schämte, doch Marilin lächelte zufrieden.

“Das kannst du noch nicht verstehen, befürchte ich. Die Schattenwelt ist der Erde unendlich voraus. Wir tragen keine Kleider wie ihr, aber das wirst du sicher auch bald verstehen, wenn du zu uns kommst“, erklärte sie und ließ Eve dann herein. “Ich muss zugeben, dass ich nicht geglaubt habe, dich so schnell wiederzusehen“, bemerkte Marilin, während die beiden durch die Eingangshalle zur Treppe gingen.

“Ich habe es doch versprochen“, erwiderte Eve daraufhin. “Des Weiteren habe ich neue Details über die Blutrose erfahren.” Auch wenn es so klang, so war sie doch nicht glücklich darüber. Diese Informationen würden entweder Adams oder ihren Tod bedeuten, zumindest in dieser Welt.

“Lady Winter ist in ihrem Büro“, erklärte Marilin und sah kurz die Treppe hinauf. Sie folgte Eve nicht, als sie die ersten Stufen hinauf ging und diese runzelte die Stirn. “Ich komme nicht mit, ich muss noch etwas erledigen. Meinst du, du kannst nachher noch ein wenig bleiben?” Marilin schien so hoffnungsvoll und Eve tat es unglaublich leid ihre Hoffnungen auf diese Weise zerstören zu müssen.

“Ich würde wirklich gern bleiben“, begann sie. “Aber meine Familie wird sehr schnell misstrauisch, wenn ich zu lange wegbleibe.” Ihr Lächeln verschwand.

“Schon okay.” Damit verschwand sie im Halbdunkel der Eingangshalle und Eve blieb nichts anderes übrig, als ihren Weg fortzusetzen und zu Lady Winters Büro zu laufen. Dort angekommen klopfte sie ungeduldig. Erneut öffnete Mr. Winter die Tür und sah Eve erstaunt an.

“Kleine Eve, was willst du denn hier?”, fragte er erstaunt.

“Es ist sehr dringend. Ich muss wegen der Blutrose mit ihrer Frau sprechen“, erklärte Eve und lief an Mr. Winter vorbei. Lady Winter saß an ihrem Schreibtisch und unterzeichnete gerade ein Papier, dessen Herkunft und Anliegen Eve leider nicht erkennen konnte. Sie lief schnurstracks zu dem Stuhl am Schreibtisch und setzte sich Lady Winter gegenüber.

“Es ist unhöflich, bei jemandem so einzudringen“, bemerkte Lady Winter ohne den Blick zu heben, was Eve einen kalten Schauer über den Rücken sandte.

“Nun, ich wurde hereingelassen“, erklärte Eve und als Lady Winter darauf nicht reagierte fügte sie noch hinzu: “Und es ist dringend.” Schließlich hob die mysteriöse Dame doch den Kopf und sah Eve interessiert an.

“So sprich, Kind und erzähle mir, was du weißt.”

“Der Informant meines Vaters hat gesagt, die Blutrose befände sich in den Wäldern in der Nähe der alten Mühle. Morgen schon begeben sie sich auf die Suche und Adam will unbedingt mit ihnen gehen!”, sprudelte es aus Eve hervor. “Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Adam würde mir niemals glauben, wenn ich ihm die Wahrheit erzählen würde.” Einen sehr langen Moment schwieg Lady Winter. Sie sah Eve eingehend an, so als würde sie im Inneren noch abwägen, ob das kleine Mädchen, welches vor ihr saß, der Aufgabe gewachsen sein würde, die sie ihr gleich stellte.

“Wenn du mich fragst, gibt es nur einen Weg dieses Problem zu lösen, kleine Eve. Leider habe ich zurzeit nicht genügend Männer, da wir von einer zweiten Blutrose wissen. Ich möchte, dass du deine Familie begleitest. Am besten gehst du speziell mit Adam mit, damit er die Blutrose keinesfalls vor dir berühren kann. Ich weiß, dass ich damit sehr viel von dir verlange, denn du wirst dein Leben in dieser Welt verlieren und das tut mir unendlich leid. Ein Mädchen, dass so jung ist wie du, sollte nicht von ihrer Familie getrennt werden, doch dies ist der einzige Weg, deinen Bruder zu beschützen.” Eve hatte bereits geahnt, dass Lady Winter ihr das sagen würde, doch sie hatte gehofft, dass die Dame vielleicht eine bessere Lösung kannte. Leider war das nicht der Fall.

“Ich weiß“, erwiderte Eve leise. “Aber mein Vater wird mich niemals mitgehen lassen, dafür will er mich zu sehr beschützen.

“Täusche ihm Interesse vor, zeige ihm, wie sehr du mitgehen willst und ich bin sicher, er wird dich mitnehmen. Falls nicht, musst du ihnen heimlich folgen“, erklärte sie. Dann öffnete sie die Schublade ihres Schreibtischs und holte eine Metallkugel heraus - etwa in der Größe eines Tennisballs. In Großbuchstaben war Marilins Name darauf eingraviert und schien förmlich vor Magie zu leuchten. “Ich möchte dir dies als Geschenk geben, für den Fall, dass in der Zwischenzeit noch irgendetwas passiert. Damit kannst du Marilin jederzeit erreichen und ihr mitteilen, was passiert.” Eve nahm die Metallkugel in die Hand. Sie war leichter, als sie aussah und doch fühlte sie sich sehr schwer in Eves kleinen Händen an.

“Dankeschön. Eine Frage habe ich allerdings noch. Wenn ich mein Leben morgen verliere, wer beschützt Adam dann vor zukünftigen Blutrosen?” Das freundliche Lächeln auf dem Gesicht von Lady Winter schien zu schwinden und durch Trauer ersetzt zu werden.

“Ich fürchte, das kann nur er selbst. Aber du kannst versuchen, es ihm zu erklären - vielleicht glaubt er es eines Tages.”

*****

Eve war nach Hause gegangen ohne noch einmal mit Marilin zu sprechen. Es tat ihr sehr leid, denn das Mädchen schien in ihrer Beschäftigung auf der Erde sehr einsam zu sein und Eve wäre wirklich gerne noch geblieben. Doch wäre sie geblieben, hätte sie Zeit verloren und ihre Familie wäre sehr schnell auf sie aufmerksam geworden. Also war Eve gegangen, hatte, wie in ihrer Lüge erzählt, in der Bücherei Halt gemacht und ein paar Noten mitgenommen und war dann nach Hause gelaufen.

Nun, sie hatte sich umsonst Sorgen gemacht, denn von ihrer Familie war niemand daheim. Ihr Bruder war vermutlich noch bei Verima und der Rest ihrer Familie traf letzte Vorbereitungen für die Jagd nach der Blutrose am nächsten Tag. Eve lief hinauf in ihr Zimmer, legte die Noten zusammen mit der seltsamen Metallkugel auf den Schreibtisch und ließ sich auf ihr Bett fallen. Was sollte sie nur tun? Dies würde vermutlich ihr letzter Tag auf Erden sein und sie wusste nicht, was sie mit ihm anfangen sollte. Sie interessierte sich nicht für die meisten ihrer Familie und derjenige, der ihr wirklich wichtig war, war bei seiner Freundin und würde sicher so schnell nicht nach Hause kommen.

“Was gibt’s?”, fragte Marilins Stimme plötzlich und jagte Eve einen riesigen Schrecken ein. Sie setzte sich aufrecht hin und sah Marilins Projektion in der Mitte des Zimmers stehen.

“Was machst du denn hier?”, fragte sie hektisch. Marilin runzelte die Stirn.

“Du hast mich gerufen. Soll ich wieder gehen?” Marilin schien nicht gerade bester Laune zu sein. Kein Wunder, denn Eve hatte sie einfach zurückgelassen!

“Nein! Bleib ruhig“, forderte Eve. Sie hatte ohnehin mit Marilin sprechen wollen. “Tut mir leid, dass ich vorhin einfach so gegangen bin.”

“Ist schon okay. Ich verstehe das“, erwiderte Marilin und setzte sich auf den Boden. “Das Leben auf der Erde ist ja nicht gerade einfach.” Eve lächelte. Sie konnte sich vorstellen, dass es in der Schattenwelt auch nicht unbedingt einfacher war, vor allem für Neulinge. Wenn sie sich ansah, was Marilin für Sachen trug, dann musste sehr viel anders sein in dieser neuen Welt.

“Erzähl mir davon!”, bat Eve freundlich, denn sie wollte gerne wissen, in was für eine Welt sie gelangen würde, auch wenn sie vermutlich nichts wirklich darauf vorbereiten können würde. “Es muss unglaublich sein.” Nun war es an Marilin, zu lächeln.

“Am Anfang ist es das. Aber mit der Zeit gewöhnt man sich daran. Hier sind wir alle gleich und keiner wird verfolgt. Es gibt hier keine Menschen und auch keine Könige. Eigentlich ist gar nichts hier, wie es auf der Erde ist. Aber eines Tages wirst du das auch sehen. Wenn wir uns ab jetzt öfter unterhalten, dann kann ich dir ja ab und zu etwas erzählen.” Marilin schien sehr zuversichtlich zu sein. Anscheinend wusste sie nicht, was Eve Lady Winter zuvor erzählt hatte. Eves Lächeln verschwand.

“Nein. Ich werde die Erde vermutlich bereits morgen verlassen. Meine Familie kennt den Standort einer der Blutrosen und morgen gehen wir sie suchen. Wenn wir die Blutrose also finden, werde ich morgen schon ein Teil deiner Welt sein“, erklärte Eve und obwohl sie sich darüber noch nicht freuen konnte, rang sie sich ein schwaches Lächeln ab.

“Für dich mag es morgen sein, doch für mich vergeht ein ganzer Monat in dieser Zeit“, bemerkte Marilin und Eve runzelte die Stirn. Wie konnte das möglich sein? “Die Zeit verläuft in der Schattenwelt anders als auf der Erde. Du musst dir die Zeitlinie von der Erde als eine Gerade vorstellen und daneben eine Zeitlinie, die in Schlaufen verläuft. Diese ist unsere und verläuft nur einmal im Monat gleich mit eurer. Für euch vergeht in dieser Zeit nur eine Nacht, aber für uns vergehen dreißig Tage.” Es war unmöglich für Eve, sich dies auch nur ansatzweise vorzustellen. Als würde man versuchen, sich die Größe des Universums vorzustellen.

“Das ist unglaublich.” Dies war alles, was Eve dazu sagen konnte. Nicht nur, weil sie keine Worte fand, sondern auch, weil im nächsten Moment die Tür zu ihrem Zimmer aufging. Blitzschnell war die magische Projektion von Marilin verschwunden und Adam trat schließlich herein.

“Was ist das?”, fragte er, als er die Metallkugel auf dem Schreibtisch sah. Ein wenig geschockt und noch sehr überrascht sah Eve von ihrem Bruder zur Metallkugel und wieder zurück. Auf die Schnelle fiel ihr keine besonders gute Lüge ein, obwohl sie darin nun eigentlich schon ein wenig Übung haben sollte.

“Das gab es gratis zu den Noten. Ist wohl eine Art Dekoration“, stammelte sie zusammen. Mit Skepsis trat Adam an den Schreibtisch heran und betrachtete das Objekt genauer.

“Das soll Dekoration sein?”, fragte er ungläubig.

“Ja, aber von Kunst hast du ja keine Ahnung, oder?”, hakte Eve nach. Eigentlich war sie sich dessen sicher aber wer wusste schon, wofür Verima sich womöglich interessierte. Vielleicht war sie ja an Kunst interessiert und er hatte sich darüber informiert, um sie zu beeindrucken. Seine Antwort bewies allerdings das Gegenteil.

“Es sieht seltsam aus“, bemerkte er und er hatte Recht, denn etwas Ähnliches hatte Eve nie gesehen.

“Ich finde es hübsch“, erwiderte sie sofort. Es war eine Lüge, doch wen kümmerte das in dieser Situation schon?

“Warum steht da Marilin?”, hakte Adam nun nach und zwang Eve damit sofort zu einer neuen Lüge.

“Nun, ähm… das ist der Name der Künstlerin“, log Eve und war von ihrem eigenen Einfallsreichtum wahrlich begeistert.

“Ganz schön eingebildet“, erwiderte Adam und kümmerte sich dann zum Glück nicht mehr darum. Viel mehr Fragen hätte Eve auch nicht ausweichen können.

 

 

6

 

In dieser Nacht tat Eve kein Auge zu. Ihre Gedanken rasten und ließen ihr keine Ruhe. Wenn sie Adam doch nur irgendwie sagen könnte, in welcher Gefahr er schwebte. Doch das stand gar nicht zur Debatte. Er würde ihr niemals glauben und zeigen könnte sie es ihm auch nicht. Sie kannte ihre Fähigkeit nicht und hatte nur einmal versehentlich Magie angewendet. Eve erinnerte sich, dass ihre Mutter einmal eine Tasse fallen gelassen hatte. Eve selbst war damals vier Jahre alt gewesen und hatte die Tasse durch Magie aufgefangen, bevor sie am Boden zersprungen wäre. Sie wusste damals nicht, dass ihre Mutter eine Übernatürliche war und auch nicht, dass man sich vor den Menschen verstecken musste. Es war nun sieben Jahre her, dass sie gestorben war und Eve erinnerte sich gerade noch daran, dass sie ihr gelehrt hatte sich zu verstecken.

“Sag mal, erinnerst du dich noch gut an Mutter?”, fragte Eve nun ihren Bruder. Sie liefen seit etwa einer halben Stunde durch den Wald, auf der Suche nach der Blutrose. Es hatte viel Überredungskunst gekostet, ihren Vater zu überzeugen, dass sie mitgehen durfte, aber irgendwie hatte sie es geschafft. Ihr Vater war mit seinem Informanten auf die Suche gegangen und hatte seine Kinder in zwei Gruppen aufgeteilt: die Zwillinge sollten im Norden suchen und Adam, Emylia und Eve im Süden des Waldes. Das machte es nicht gerade einfacher, aber zumindest durfte Eve noch ein bisschen bei Adam sein. Sie hatte gewartet, bis sie ein Stück hinter Emylia zurückgefallen waren, bevor sie ihrem Bruder diese Frage gestellt hatte, denn ihre Schwester konnte Ablenkung nicht leiden - schon gar nicht, wenn sie von Eve kam.

“Ja natürlich, ich kannte sie ja etwas länger als du. Was möchtest du gerne wissen?”, fragte er freundlich. Eve hätte ihm tausend Fragen stellen können, doch jene, welche ihr am wichtigsten war, musste sie für sich behalten. Also stellte sie eine andere, ähnliche Frage in der Hoffnung, dass Adam vielleicht so auch die andere beantworten würde.

“Ich habe mich gefragt, was sie über die Blutrosen gedacht hat“, erklärte Eve. Viel lieber wollte sie jedoch wissen, ob ihre Mutter durch eine solche gestorben war, denn dann bestünde vielleicht die Chance, sie in der Schattenwelt wiederzusehen.

“Sie war genau wie du“, meinte Adam lächelnd. “Sie hat Vaters Wunsch, eine dieser Rosen zu besitzen, nie befürwortet. Vielmehr hat sie versucht, ihm einzureden, dass diese Rosen nur eine Legende sind. Ich glaube sogar, sie wollte den Übernatürlichen helfen. Sie war eine herzensgute Frau und wahrscheinlich wollte sie deshalb Frieden mit den Übernatürlichen schließen. Leider starb sie bei dem Versuch.”

“Wie ist sie denn gestorben? Was ist damals passiert?”, fragte Eve nun neugierig nach. Adam sah traurig in die Ferne. Natürlich war es nicht leicht für ihn, darüber zu sprechen, doch Eve musste es einfach wissen, auch wenn sie es vielleicht nicht verkraften würde.

“Ein Fanatiker, der keinen Frieden wollte, hat sie mit einem Pfeil erschossen. Sie starb, noch bevor jemand Hilfe rufen konnte. Danach hat nie wieder jemand versucht mit den Übernatürlichen Frieden zu schließen“, erklärte Adam traurig. Eine Träne rollte über Eves Gesicht. Sie hatte so sehr gehofft, dass ihre Mutter durch eine Blutrose gestorben war und sie sie in der Schattenwelt wiedersehen könnte. Doch ihre Mutter war wirklich und endgültig tot.

“Das wusste ich nicht“, erwiderte Eve leise.

“Vater wollte dich nicht damit belasten, also hat er uns verboten, mit dir darüber zu sprechen.” Das sah ihrem Vater durchaus ähnlich, auch wenn er sich sonst kaum um Eve kümmerte.

“Warum erzählst du es mir dann jetzt?”, hakte Eve erstaunt nach. Ihr Vater konnte es jetzt unmöglich erlaubt haben.

“Du bist alt genug. Ich fand, du solltest es erfahren“, erwiderte Adam und warf ihr ein kleines Lächeln zu. “Und jetzt lass uns lieber Emylia helfen, sie wird sonst nur unnötig sauer.” Adam hatte natürlich Recht. Emylia würde sauer werden, doch Eve wusste auch, dass dies nicht Adams einziger Grund war. Er selbst war ziemlich ambitioniert diese Blutrose zu finden und Eve wünschte sich, es wäre nicht so.

Sie liefen stundenlang durch den Wald ohne auch nur den geringsten Hinweis auf eine Blutrose zu finden. Es schien geradezu aussichtslos und Eve wusste nicht, ob sie das nun gut oder schlecht finden sollte. Einerseits wäre Adam zumindest für den Moment in Sicherheit, wenn sie die Blume nicht finden würden und auch ihr eigenes Leben würde noch einen Tag länger gehen. Andererseits

würden weitere schier endlose Tage folgen, an denen sie durch den Wald laufen und Emylias Gemecker ertragen müssten. Andauernd beschwerte Eves Schwester sich, dass sie nicht richtig suchen würden und wenn sie ehrlich war, dann tat Eve das auch nicht. Sie wollte die Blutrose nicht finden. Außerdem war es auch nicht einfach, im Dickicht des Waldes etwas zu finden. Ständig stolperte man über eine hervorstehende Wurzel oder blieb an den Dornen eines Brombeerstrauches hängen - doch von einer Blutrose gab es keine Spur.

“Das bringt doch nichts, Emylia!”, maulte Adam schließlich und Eve war wirklich froh, dass sie das nicht gesagt hatte, denn Emylia würde deswegen sicher gleich ausrasten. Schlagartig blieb sie stehen und drehte sich zu Adam und Eve um.

“Wie bitte? Diese Blume ist das wertvollste Objekt, dass die Welt zu bieten hat und du willst mir erzählen, dass das nichts bringt? Bist du noch ganz bei Trost?”, fragte sie hysterisch und reagierte damit vollkommen über.

“Aber wir sind hier schon gewesen und haben alles abgesucht“, erklärte Adam.

“Dann waren wir wohl nicht gründlich genug“, beschwerte Emylia sich. Eve verdrehte die Augen und entdeckte schließlich den winzigen roten Fleck zwischen all dem Grün und Braun. Sie erstarrte. Das durfte doch jetzt nicht wahr sein! Gerade wo sie gedacht hatte, dass sie die Blume nicht mehr finden würden, tauchte sie doch noch auf? Sie hatte gedacht Adam wäre in Sicherheit, doch nun musste sie alles dafür tun, dass er die Blutrose auf keinen Fall berührte. Und sie selbst musste sich von dieser Welt verabschieden. Sie würde ihren Vater und ihre Brüder niemals wiedersehen, denn die drei waren weit weg. Sie konnte sich nicht einmal von ihnen verabschieden.

“Was starrst du denn so, Elisa? Das ist unhöflich. Hat Mutter dich denn gar nichts gelehrt?”, fragte Emylia plötzlich und Eve wünschte, sie hätte nicht so angestrengt auf die Blutrose gestarrt. Emylia folgte Eves blick und sah schnell, was auch Eve gesehen hatte. “Ach deswegen.” Emylia schien sich auf einmal überhaupt nicht mehr für Eve zu interessieren und lief stattdessen zur Blutrose. “Du bist ja doch zu etwas gut, Elisa.” Eve ignorierte den Seitenhieb und versuchte sich selbst zu beruhigen. Es war Zeit zu gehen und ihr Herz schlug schneller, als das kleine Mädchen für möglich gehalten hätte. Emylia stutzte das Gras um die Blume herum, sodass man sie in voller Pracht sehen konnte.

“Darf ich sie abschneiden?”, fragte Adam, der vollkommen in ihren Bann gezogen war.

“Nein!”, rief Eve sofort dazwischen, bevor ihr überhaupt klar war, was sie da tat. Skeptisch sahen ihre Geschwister sie an und sie musste sich schnell etwas einfallen lassen. “Ich meine, ... naja, ich würde sie gern abschneiden. Also nur wenn ich darf.” Adam sah von seiner kleinen zu seiner großen Schwester.

“Vater würde das sicher befürworten“, bemerkte er. Mürrisch holte Emylia das Messer aus ihrer Tasche.

“Na von mir aus“, erwiderte sie und streckte Eve das Messer widerwillig entgegen. Eve ging zu ihr, nahm das Messer vorsichtig entgegen und kniete sich dann vor die Blume. Ihre Geschwister standen hinter ihr. Gleich würde Eve die Blutrose berühren und in die Schattenwelt übergehen. Sie würde die Erde und ihre Familie für immer verlieren. Sie würde Adam heute das Leben retten, in der Hoffnung, dass er eines Tages entdecken würde, wer er war. Tränen begannen über Eves Wangen zu laufen und sie verstand schließlich wie schwer es war, einen geliebten Menschen zurückzulassen.

“Es tut mir leid, Adam“, flüsterte Eve. Ihre Finger waren nur noch wenige Zentimeter von den Blütenblättern der Blutrose entfernt und sie begann zu zittern. Reiß dich zusammen, Eve! Diese Menschen hier lieben dich nicht! Wenn sie erst sehen, was du bist, werden sie dich hassen. Also was hält dich noch? Adam. Vielleicht wird er eines Tages auch in die Schattenwelt gelangen und du siehst ihn wieder.

“Was hast du gesagt?”, fragte Adam. Er musste ihr Flüstern gehört, jedoch nicht verstanden haben. Eve hatte dicke Tränen in den Augen, als sie sich zu ihm umdrehte und ihn ansah. Er öffnete erschrocken den Mund, als wollte er etwas sagen, doch kein Ton kam heraus.

“Es tut mir leid, Adam“, wiederholte Eve, bevor sie die Blüte der Blutrose schließlich mit ihren zittrigen Fingern berührte. Wie ein Stromschlag schoss die Magie der Blutrose durch Eves Finger und durch ihren ganzen Körper. Sie konnte fühlen, wie die Magie ihren Körper schwächte - nicht jedoch ihren Geist. Das musste es gewesen sein, wovon Lady Winter gesprochen hatte! Der Geist der Übernatürlichen ging in die Schattenwelt über und schuf sich dort einen neuen Körper, während die meisten der Verborgenen vollständig starben, da ihr Geist nicht Bescheid wusste und der Magie keinen Widerstand leisten konnte.

“Was passiert hier?”, fragte Adam geschockt und sah Hilfe suchend zu Emylia.

Diese knirschte nur mit den Zähnen und sagte: “Offensichtlich ist sie kein Mensch.” Eiseskälte und tiefe Abscheu lag in ihrer Stimme. “Sie gehört zu diesem übernatürlichen Abschaum!” Emylia hatte Eve immer gehasst, also machte Eve das nichts aus. Schließlich gaben ihre Arme nach, auf welche sie sich gestützt hatte und sie fiel ins weiche Gras des Waldbodens. Sie konnte sehen, wie sich in Adams Augen Tränen sammelten, über die er selbst erstaunt zu sein schien. Er hätte wohl nicht gedacht, dass er wegen einer Übernatürlichen weinen könnte und Eve fragte sich, ob es nur daran lag, dass er selbst ein Verborgener und somit übernatürlich war oder daran, dass sie seine Schwester war, die er liebte.

“Ich verstehe das nicht“, sagte Adam hilflos mit Tränen auf den Wangen und kniete sich neben Eve. Sie versuchte zu lächeln, doch sie konnte spüren, wie knapp ihre Zeit wurde. Ihre Augenlider wurden schwer und sie musste sich zwingen Adam anzusehen.

“Es tut mir so leid, Adam“, sagte sie erneut, während ihre Atmung schwach wurde. Gleich würde alles vorbei sein. Ihr blieb nicht viel Zeit.

“Nein! Du darfst nicht sterben“, rief Adam verzweifelt und zog seine kleine Schwester auf seinen Schoß, doch diese hörte ihn nur noch wie aus weiter Ferne. Sie wusste nun, dass er sie wirklich geliebt hatte.

“Ich hatte keine Wahl“, erklärte sie leise. Ihre Augenlider fielen schließlich zu und sie wusste, dass ihr keine Zeit für lange Erklärungen blieb. Plötzlich kam ihr die hässliche Dekoration in den Sinn und sie konnte sich ein schwaches Lächeln abringen. “Frag Marilin. Ich liebe dich“, sagte Eve mit ihrem letzten Atemzug. Von da an war alles schwarz.

 


7

 

Die Schattenwelt, 48527 Jahre nach Beginn der Zeitrechnung

 

Fünf Jahre waren vergangen, seit Eve die Blutrose berührt hatte, um ihren Bruder zu retten. Er hatte damals nicht gewusst, dass er sterben würde, sie jedoch nur in eine andere Welt kam. Eve hatte zuerst nicht verstanden, warum sie die Schattenwelt genannt wurde, denn hier musste sich niemand verstecken und niemand lebte in den Schatten, wie sie es Zuhause gesehen hatte. Doch diese Welt existierte nur im Schatten einer anderen und wurde deshalb die Schattenwelt genannt. Anderen mochte es seltsam erscheinen, dass Eve die Erde immer noch als ihr Zuhause ansah, obwohl sie nun in der Schattenwelt ein Leben hatte. Doch ihre Familie und vor allem Adam waren immer noch auf der Erde. Ihr älterer Bruder war auf der Erde immer ihr bester Freund gewesen und sie vermisste ihn schrecklich, denn sie wusste, dass sie ihn nie wiedersehen würde. Vermutlich hatte er längst eine der Blutrosen berührt und war dabei ums Leben gekommen, weil er nicht wusste, was er war. Denn dies war der wahre Grund für den Namen der Blutrosen: Es waren nicht die Übernatürlichen im Allgemeinen, die daran umkamen, sondern die Verborgenen. Adam würde vermutlich nie von dieser Welt oder dem, was er war, erfahren. Selbst wenn Lady Winter es ihm erklären würde, so würde er es doch nicht glauben, da es ihm niemand beweisen konnte. Es war traurig, dass sein Leben auf diese Weise ein Ende finden würde. Denn letzten Endes konnte niemand den Verborgenen helfen - sie mussten sich selbst helfen.

“Hey, was machst du hier draußen?”, fragte Nate und riss Eve aus ihren Gedanken. Nate war der erste gewesen, der mit Eve gesprochen hatte, nachdem sie die Schattenwelt betreten hatte. Sie hatte eine Woche im Koma gelegen und man hatte sie bereits aufgeben wollen, da sie kein Anzeichen von Überlebenswillen gezeigt hatte. Da hatte sie angefangen Nate in ihren Gedanken zu hören. Er hatte mit ihr gesprochen, ohne zu wissen, ob sie ihn hören konnte und es hatte funktioniert. Er hatte ihr gesagt, dass sie aufwachen musste, weil die Ärzte sonst ihr Leben im Koma beenden würden. Das war Nates Fähigkeit. Er konnte anderen seine Gedanken mitteilen, ohne sie auszusprechen, doch er konnte die der anderen nicht hören, was er immer wieder bedauerte.

Und dann war Eve aufgewacht und war in eine völlig neue Welt gekommen. Sie hatte die Erde im Mittelalter verlassen, wo sie Pferdekutschen, lange voluminöse Kleider und die Gier nach Macht und Geld gewohnt war. Die Schattenwelt war da völlig anders. Frauen wie Männer trugen hier Hosen und Shirts. Auch Eve hatte es versucht, doch das war nichts für sie. Sie war schnell zu Kleidern zurückgekehrt, auch wenn diese hier etwas anders aussahen, als jene, die sie gewohnt war. Auch in jeder anderen Hinsicht war die Schattenwelt besonders. Sie wurde nicht von einem König, sondern vom Ältestenrat regiert. Es gab kein Geld und niemand gierte nach Macht. Jeder war gleichberechtigt und es gab hier Telefone, Computer, Fernseher. Eve hatte sehr lang gebraucht, sich daran zu gewöhnen, doch mit der Zeit hatte sie Vertrauen in all das gefunden.

“Nachdenken“, erwiderte sie schließlich auf Nates Frage. Sie lag auf der Wiese vor der Schule und genoss die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht und die Ruhe um sich herum. Die Schule war hier ein Ort des Wissens und der Lehre. Lärm war nicht verboten, doch er tauchte auch nicht auf, da die meisten hier die Nase in ein Buch steckten. Für alles andere gab es den Park am anderen Ende der Stadt.

“Worüber denn?”, hakte Nate nach und ließ sich neben sie ins Gras fallen.

“Ach naja, dies und das“, erwiderte Eve. “Ein wenig über die Vergangenheit und über Adam.” Eigentlich brauchte Nate diese Frage nicht mehr zu stellen, denn meistens bekam er die gleiche Antwort. “Manchmal sehe ich ihn abends vor mir und tue so, als wäre alles wie früher. Ich stelle mir vor, dass ich immer noch seine kleine Schwester bin und er mir in unserem Zimmer einen Vortrag hält, weil ich wieder irgendwas angestellt habe. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sage, aber ich vermisse das.”

“Es tut mir so leid, dass du ihn verloren hast“, bemerkte Nate mitfühlend. Und im selben Moment meldete sich Marilin zu Wort. Die drei waren sehr schnell beste Freunde geworden.

“Du wirst vermutlich bis in alle Ewigkeit die einzige Übernatürliche sein, die ihre Familie vermisst“, stellte Marilin fest. Eve konnte ihre Silhouette an die Mauer vor dem Schulgarten gelehnt sehen.

“Nur, weil ihr niemanden wie Adam hattet. Er stand immer zu mir, doch eure Familien wollten euch nur loswerden“, erklärte ich ihr, wie schon tausende Male zuvor. Marilin wollte gern Recht behalten und deswegen hatten sie diese Diskussion schon so oft geführt.

“Ja genau, so wie alle Menschen“, erwiderte sie. Eve stützte sich nun auf ihre Ellenbogen und sah Marilin an. Es war unfassbar, dass sie ihr das schon wieder erklären musste.

“Aber genau das ist doch der Punkt, Lin. Adam ist kein Mensch, sondern ein Verborgener.” Marilin hasste es, wenn sie jemand bei ihrem vollen Namen nannte, weshalb alle sie nur Lin nannten.

“Und trotzdem denkt er wie ein Mensch“, gab sie Eve zu bedenken. Vermutlich hatte sie damit Recht, denn Adam wurde mit dem Denken der Menschen erzogen und würde vielleicht nie lernen so zu denken wie sie. Aber was für eine Rolle spielte das schon, wenn er doch sowieso nie hierherkommen würde?

“Lasst uns nach Hause gehen“, beschloss Eve daher. “Ich bin für heute echt fertig.” Sie setzte sich langsam auf und packte ihre Sachen ein. Nate sah sie betrübt von der Seite an.

“Hast du wieder nicht geschlafen?”, fragte er.

“Nein“, erwiderte sie. Als sie sah, wie besorgt ihre Freunde sie daraufhin ansahen, fügte sie noch etwas hinzu. “Jedenfalls nicht besonders viel.” Sie wollte nicht, dass die beiden sich Sorgen machten, also sagte sie ihnen nicht, dass sie in Wahrheit kein Auge zugetan hatte. Vor ein paar Jahren war sie deshalb zum Arzt gegangen, doch jeder Arzt hatte ihr nur sagen können, dass sie an einer unbekannten und daher nicht heilbaren Form der primären Insomnie litt - einer Schlafstörung ohne eine ihr zugrunde liegende psychische oder physische Erkrankung.

“Dann lasst uns gehen. Du brauchst deinen Schlaf“, bemerkte Nate, doch Eve bezweifelte, dass sie tatsächlich schlafen würde. Das konnte sie fast nie.

Etwa vier Stunden später erwachte Eve aus einem Alptraum. Sehr oft träumte sie vom Feuer und anderen Katastrophen. Es war grauenvoll, doch auch dagegen konnte sie nichts tun. Es schien gerade so, als wären die Alpträume ein Teil ihrer Insomnie. Die Nacht hatte gerade erst begonnen, als Eve aus ihrem Bett stieg, sich ein schlichtes dunkelblaues Kleid überwarf und hinaus auf die Veranda trat. Sie kam oft hierher, setzte sich auf die Bank und beobachtete die Sterne. Sie liebte die Sterne, denn sie waren in ihrer großen Ferne so wunderschön und machten irgendwie alles ein bisschen besser. Doch an diesem kühlen Sommerabend saß bereits ein Junge auf Eves Bank. Zuerst dachte sie, es wäre Nate, doch er war es nicht.

“Du hast Recht, ich bin nicht Nate“, bemerkte der Junge aus der Dunkelheit. Erschrocken machte Eve das Licht an, um zu sehen, wer da saß. Der Junge hatte blondes Haar und sah Eve verunsichert an.

Woher weiß er, dass ich dachte, er wäre Nate?

“Mein Name ist Bellamy Preston und ich kann die Gedanken anderer hören“, sagte der Junge und beantwortete damit Eves stumme Frage. Einen Moment lang sah Eve ihn einfach nur verwirrt an. “Tut mir leid, ich sollte nicht so in deinen Kopf eindringen.” Es dauerte einen Moment, bis Eve klar wurde, wovon er sprach. Letztes Jahr in der Schule hatten sie gelernt, dass nur sehr wenige diese Fähigkeit besaßen. Es gab drei Abstufungen der Gedankenmanipulation - Nate hatte die schwächste. In Stufe zwei konnte man die Gedanken anderer hören und in der stärksten Form konnte man sie tatsächlich kontrollieren. Diese kam erst ein einziges Mal vor und die zweite Stufe ging immer mit den Fähigkeiten der Sukkuben und Inkuben einher.

“Du bist ein Inkubus!”, rief Eve aufgeregt. Der Junge - Bellamy - lächelte verlegen und nickte. “Und was machst du auf meiner Veranda?”, hakte sie nach. Bei dieser Frage verschwand sein verlegenes Lächeln wieder und er sah stattdessen betreten zu Boden.

Was hat er denn? Das ist doch nur eine einfache Frage. Ist ja nicht so, als würde ich ihn gleich dafür verurteilen, dass er hier ist. Plötzlich sieht er wieder auf und lächelt erneut schwach. Warum lächelt er denn jetzt wieder? Könnte er nicht erstmal… Oh. Er hat schon wieder in meinen Kopf gesehen. Eve verdrehte die Augen und sah ihn dann erwartungsvoll an, in der Hoffnung noch eine Antwort zu bekommen.

“Ehrlich gesagt, wollte ich auf deiner Bank schlafen“, gab er betreten zu und nun fiel Eve auch die Decke auf, die er hinter sich zu verstecken versuchte. Doch sie verstand nicht warum. Jeder in der Schattenwelt bekam sozusagen als Willkommensgeschenk ein Haus geschenkt.

“Aber wieso denn?”, hakte sie also nach.

“Ich habe kein Zuhause. Nicht jeder bekommt ein Haus geschenkt, wenn er hierherkommt“, erklärte Bellamy leise.

Aber ich dachte, die Ältesten geben allen ein Haus, die in die Schattenwelt aufgenommen werden.

“Genau das ist der Haken. Ich wurde nicht in die Schattenwelt aufgenommen. Ich kam hierher, doch ich wurde nicht akzeptiert, weil sie Angst vor meinen Fähigkeiten hatten.”

“Aber was ist so schlimm daran, die Gedanken anderer zu hören?”, unterbrach Eve ihn.

“Ich hätte die größten Geheimnisse des Ältestenrates auf diese Weise erfahren können, aber das meine ich gar nicht“, erklärte Bellamy und dann wurde Eve klar, dass er vom Inkubus sprach. “Die Ältesten haben befürchtet, dass ich sie mit den Fähigkeiten des Inkubus alle töten könnte. Natürlich würde ich das nicht tun, doch sie hatten Angst und haben mich wie einen Fremdkörper behandelt. Das einzige, was ich von ihnen bekam, war das Ritual, welches auch du nach deiner Schule durchlaufen wirst. Diese durfte ich übrigens auch nicht besuchen.”

“Was für ein Ritual?”, platzte es aus Eve heraus. Zugegeben war ihre Konzentration meistens auf ein Minimum reduziert, da sie aufgrund ihrer Krankheit meist dem Drang zu schlafen widerstehen musste. Doch von so einem wichtigen Ereignis hätte sie doch sicher gehört.

In einem Monat ist die Schule vorbei und ich bin schon so lange hier. Wie kann es sein, dass ich nicht weiß, wovon er spricht?, fragte Eve sich selbst in Gedanken.

“Bei diesem Ritual wirst du gezeichnet und die Schattenwelt erkennt deine wahren Fähigkeiten. Auf diese Weise wollte der Ältestenrat verhindern, dass ich mit jemandem in Kontakt komme.”

“Warum um alles in der Welt habe ich noch nie davon gehört?”, fragte Eve nun laut, da sie nicht glaubte, dass der Junge ihre Frage vorher gehört hatte. Bellamy zuckte nur lächelnd mit den Schultern.

“Weil du erstaunlich wenig über die Schattenwelt weißt, dafür dass du vermutlich schon viel länger Kenntnis von deinen Fähigkeiten hast als die meisten anderen.”

Er hat Recht., dachte Eve, sagte jedoch nichts.

“Danke“, erwiderte Bellamy grinsend.

Und arrogant ist er auch noch, dabei kann er sich das gar nicht leisten.

Daraufhin wurde sein freches Grinsen nur noch breiter.

“Und wo lebst du dann, wenn du gar kein Haus hast?”, fragte Eve neugierig. Er konnte unmöglich jede Nacht auf fremder Leute Bänke schlafen ohne jemals entdeckt zu werden.

“Ach, hier und da“, erklärte Bellamy beiläufig. “Eigentlich habe ich mir ja ein kleines Zuhause im Heiligen Wald aufgebaut, aber diese verdammten Waldgeister treiben da gerade ihr Unwesen, also kann ich da im Moment nicht hin.” Eve stand nach wie vor an der Verandatür. Ihre Höflichkeit und ihre Erziehung gebot es eigentlich, sich zu Bellamy auf die Bank zu setzen, doch irgendetwas hielt sie zurück. Stattdessen versuchte sie das Gespräch voranzutreiben, denn sie wollte unbedingt mehr erfahren über diesen außergewöhnlichen Jungen in einer Welt, in der alles außergewöhnlich war.

“Und stattdessen schläfst du einfach auf jemandes Bank?”, hakte sie also nach.

“Gewöhnlich schlafen alle anderen schon, wenn ich komme und schlafen noch, wenn ich wieder gehe.”

“Tja, alle anderen haben auch einen geregelten Schlafrhythmus und leiden nicht an unheilbarer Insomnie“, warf Eve ihm entgegen und verriet damit mehr über sich, als sie eigentlich gewollt hatte. Man verriet solche Dinge nicht an Wildfremde. Aber vielleicht hätte sie es vor diesem Jungen ohnehin nicht geheim halten können. Und zu wissen, dass alle anderen die ganze Nacht durchschlafen konnten, während sie an guten Tagen geradeso vier Stunden am Stück schaffte, machte die Sache nicht gerade leichter.

“Unheilbare Insomnie?”, fragte er erstaunt und stand schließlich von der Bank auf. “Das tut mir sehr leid. Vielleicht solltest du lieber versuchen zu schlafen. Ich suche mir einfach eine andere Bank.” Er faltete seine Decke zusammen und lief zu den Stufen der Veranda. So konnte doch keiner leben! Immer von Bank zu Bank zu ziehen, in der Hoffnung, dass man nicht entdeckt wurde - das war doch kein Leben. Eve rang noch mit sich selbst, als die Worte bereits aus ihr hervorsprudelten.

“Du kannst hier schlafen!”, rief sie. Wie erstarrt blieb der Junge stehen und drehte sich dann erstaunt um.

“Ist das dein Ernst?”, fragte er. “Hast du denn gar keine Angst vor mir?”

“Nein“, gestand sie. Angst war es nicht, die sie verspürte und die auf Distanz hielt, sondern schlicht der Respekt vor seinen Kräften.

Außerdem habe ich dank meiner Insomnie das Gefühl, als wäre ohnehin schon kein Fünkchen Lebensenergie in mir, also was soll er mir schon groß tun. Bei diesem Gedanken begann Bellamy zu lächeln und Eve wusste, dass sie dringend eine Regel aufstellen musste.

“Eine Regel gibt es aber: Halt dich aus meinem Kopf raus!”


8

 

Eve hatte Bellamy ein provisorisches Bett auf ihrer Couch eingerichtet, wo er sehr schnell eingeschlafen war. Sie selbst hatte alle Bücher über Magie zusammengesucht, die sie besaß und hatte sich in ihr eigenes Zimmer im ersten Stock zurückgezogen. Dort hatte sie die ganze Nacht die Bücher nach Informationen über Inkuben durchforstet und alles aufgeschrieben, was sie nur finden konnte. Sie musste Bellamy unbedingt fragen, was davon wahr war. Inzwischen war der nächste Morgen längst angebrochen und Eve leerte ihren etwa fünften Kaffee an diesem Tag. Die Bücher lagen aufgeschlagen über ihr Bett verstreut und auch sonst sah es im Allgemeinen ziemlich wüst in ihrem Zimmer aus. Plötzlich klingelte es an der Tür. Während Eve zum Fenster ging, fragte sie sich, wer das wohl sein könnte. Sie schob die hellblauen Gardinen beiseite und sah hinunter in den Vorgarten. Dort standen Nate und Marilin und unterhielten sich. Eve fiel es sofort wie Schuppen von den Augen - sie hatte sich mit den beiden zum Lernen für die Abschlussprüfung verabredet und es total vergessen. In Windeseile schlug sie die Bücher zu, warf sie alle unters Bett und schnappte sich ihre leere Kaffeetasse. Dann rannte sie die Treppe hinunter und öffnete die Tür genau in dem Moment, als ihre Freunde erneut klingelten.

“Hey, ist es wirklich schon zehn?”, fragte Eve erstaunt. Ein wenig verunsichert sah Nate noch einmal auf die Uhr und nickte dann zustimmend.

“Kommt sie dir auch so komisch vor?”, fragte Marilin an Nate gewandt, während sie ihre Jeansjacke an die Garderobe hing. Eve war die ganze Nacht wach gewesen und verstand nicht mal im Ansatz, worauf ihre Freundin hinauswollte. Sie erinnerte sich noch an den ersten Tag, an dem sie Marilin gesehen hatte. Sie hatte ein - aus ihrer damaligen Sicht - seltsames weißes Nachthemd getragen und leichenblass ausgesehen. Heute wusste Eve, dass die blasse Haut und die schneeweißen Haare von Marilins Albinismus kamen und nicht von ihrer Fähigkeit, wie sie damals gedacht hatte. Jedoch hatte Marilin mit der Zeit das Make-Up für sich entdeckt und sah inzwischen ziemlich normal aus. Vor einem Jahr hatte sie sich ein Pony schneiden lassen und trug ihre Haare seitdem meist in einem Dutt oder hohen Pferdeschwanz. Auch sonst hatte sie einen ziemlich eleganten Stil entwickelt. An diesem Tag trug sie zum Beispiel Jeans, eine weiße Bluse und darüber eine Jeansjacke. Eve selbst war natürlich auch älter geworden, doch sie hatte sich zumindest vom Aussehen her kaum verändert. Ebenso Nate, welcher seit Eve ihn kannte, jeden Tag ein Hemd getragen hatte.

“Du hast Recht. Sie ist heute so… wach!”, bemerkte er geradezu bestürzt und holte Eve aus ihren Gedanken zurück in die Realität.

“Ach das ist nur der Kaffee“, gab sie zufrieden zurück. “Wollt ihr auch einen?”

“Wenn er mich so aufgekratzt macht wie dich, dann nein“, erwiderte Marilin, während Nate nur den Kopf schüttelte.

“Okay, aber ich brauche noch einen. Wieso geht ihr nicht schon einmal hoch und ich komme gleich nach?”, schlug sie vor, da Bellamy im Wohnzimmer schlief und sie sich nicht vorstellen konnte, dass er unbedingt in Kontakt mit anderen Leuten geraten wollte. Sie schloss derweil die Haustür und hoffte, dass die anderen beiden einfach nach oben gehen würden.

“Das Wohnzimmer ist doch viel besser geeignet“, bemerkte Marilin und setzte sich in Bewegung.

Nate folgte ihr mit den Worten: “Stimmt, da ist auch viel mehr Platz.”

“Ja, nein, ähm… also das ist keine gute Idee, weil…”, stammelte Eve, doch sie fand auf die Schnelle keine passende Ausrede.

“Was ist denn los? Versteckst du vielleicht etwas vor uns?”, fragte Marilin amüsiert, als Nate die Tür öffnete. Oh Gott, bitte lass Bellamy nicht mehr auf der Couch liegen. Bitte mach, dass er einfach weg ist. Zu Eves Überraschung war das Wohnzimmer leer. Nur Bellamys Decke, welche noch auf der Couch lag, deutete darauf hin, dass überhaupt jemand da gewesen war, doch sie könnte genauso gut auch einfach schlichte Unordnung sein.

“Hier ist doch gar nichts“, stellte Nate enttäuscht fest. Diesmal fiel Eve deutlich schneller eine passende Lüge ein.

“Ich, ähm, habe mir eine Katze zugelegt und wollte nicht, dass sie durch die Wohnzimmertür entwischt.”

“Tja, dann hättest du wohl auch die Verandatür schließen sollen“, bemerkte Marilin amüsiert. Noch ein wenig verwirrt sah Eve zur Veranda. Sie stand tatsächlich offen. Vermutlich war Bellamy gleich nach dem Morgengrauen gegangen und hatte vergessen sie zu schließen. Andererseits hatte er seine Decke dagelassen, also war er vielleicht ziemlich kurzfristig gegangen.

“Ja“, erwiderte Eve erleichtert und lief zur Verandatür, um diese zu schließen. “Ich gehe sie später suchen.” Sie spähte noch kurz nach draußen, um so zu tun, als würde sie nach der Katze Ausschau halten und hätte fast laut aufgeschrien, als sie Bellamy an die Hauswand gepresst sah. Sie deutete mit einer Handbewegung auf ihr Gartenhaus und schloss dann die Verandatür. Dann ging sie in die Küche und sah, dass eine frische Kanne Kaffee gerade fertig geworden war. Hatte Bellamy die etwa für sie gemacht? Einerseits wollte sie nicht, dass er in ihren Kopf sah - und anders hätte er nicht von ihrem Bedürfnis nach Kaffee wissen können - andererseits war sie doch sehr dankbar, dass der Kaffee bereits fertig war und sie nichts weiter tun brauchte, als ihn in ihre Tasse zu gießen und zu trinken. Sie ging zurück zu den anderen ins Wohnzimmer, wo sie ihre Tasse Kaffee auf dem Tisch abstellte und sich dann in den Sessel fallen ließ. Marilin hatte sich auf der Couch breit gemacht, von wo aus man das Bücherregal perfekt im Blick hatte. Sie war ein sehr ordentlicher Mensch und wusste selbst in Nates und Eves Haus, was wo seinen Platz hatte. Eve konnte also nur hoffen, dass Marilin das leere Regalbrett nicht auffallen würde, wo gewöhnlich die Bücher über Magie standen. Das würde nur unnötige Fragen aufwerfen, von denen Eve sicher war, dass sie diese nicht beantworten sollte. Sie wusste nicht warum, doch sie hatte so ein Gefühl, dass Bellamy nicht wollte, dass Eves Freunde von ihm erfuhren. Eve vertraute ihnen natürlich, doch vielleicht würde es für Bellamy zu riskant sein. Auf jeden Fall sollte Eve schnellstmöglich mit ihm darüber reden.

“Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?”, fragte Marilin plötzlich etwas lauter. Es dauerte einen Moment, bis Eve die derzeitige Situation wieder bewusst wurde und sie Marilin verwirrt ansah.

“Entschuldige, ich war etwas abgelenkt“, erwiderte Eve. “Was gibt’s?”

“Wenn du deine Abschlussprüfung bestehen willst, solltest du uns vielleicht zuhören“, gab Marilin zu bedenken. Sie hatte ja Recht. Man hatte die Abschlussprüfung mit achtzehn und die beiden waren bereits neunzehn und zwanzig, weshalb sie die Prüfung schon hinter sich gebracht hatten. Und da kam Eve eine Idee. Vielleicht wussten sie ja auch etwas über das Ritual, von dem Bellamy gesprochen hatte.

“Habt ihr schon einmal etwas von einem Ritual gehört, bei dem man irgendwie gezeichnet wird?”, fragte sie also. Die beiden sahen Eve irritiert an und sie befürchtete schon, dass sie das irgendwie erklären musste.

“Natürlich“, bestätigte Nate schließlich. “Deine Lehrer sollten schon längst davon gesprochen haben.”

“Ich weiß nicht. Vielleicht habe ich einfach nicht richtig zugehört“, vermutete sie und das war noch nicht einmal unwahrscheinlich. Manchmal war Eve so müde, dass sie, von dem was ihre Lehrer sagten, nicht ein Wort verinnerlichte.

“Woher weißt du es dann überhaupt?”, hakte Marilin nach. Mist, daran hatte Eve nicht gedacht.

“Ähm, das habe ich bei ein paar anderen Schülern aufgeschnappt“, log sie. Eve hasste es, zu lügen, doch in diesem Fall blieb ihr keine Wahl. Sie konnte ihren Freunden nicht einfach so von Bellamy erzählen.

“Bei diesem Ritual tritt das in Erscheinung, was dich übernatürlich macht. Um das dann für alle sichtbar zu machen, wird dir eine Art Kontrastmittel gespritzt, welches eine Pigmentstörung hervorruft. Diese Pigmentstörung beinhaltet immer ein Symbol, wie bei mir das Gehirn als Symbol für die Gedanken“, erklärte Nate.

“Erinnerst du dich an die Hand mit der schwebenden Feder auf meiner Schulter? Dieses Symbol steht für die Telekinese“, fügte Marilin hinzu. Eve erinnerte sich noch sehr gut an den Tag, an dem sie das Symbol auf Marilins Schulter das erste Mal bemerkt hatte. Vor einem Jahr waren sie gemeinsam schwimmen gegangen und Eve hatte es für ein verwelktes Blatt gehalten. Auf Marilins bleicher Haut hob sich das Braun der Pigmentstörung sehr stark ab und die filigranen Linien der Feder sahen aus gewissen Blickwinkeln aus, wie die Leitstrukturen eines Blattes. Marilin hatte Eve schnell erklärt was es wirklich war, doch Eve hatte es inzwischen längst nicht mehr im Kopf gehabt, bis zu diesem Moment.

“Ich frage mich, was mich übernatürlich macht“, sagte Eve leise. Sie erinnerte sich an den einen Tag mit ihrer Mutter, als sie die Tasse aufgehalten hatte. “Als ich klein war, habe ich mal eine Tasse aufgehalten, bevor sie am Boden zerschellte, aber das konnte ich nie wieder.”

“Das ist ganz normal. In der Kindheit weiß dein Körper noch nicht so richtig wohin mit der ganzen Energie. Ich bin versehentlich mal durch eine geschlossene Tür gelaufen, als ich noch klein war“, meinte Marilin. Und die Freunde begannen zu lachen.

“Das sieht deiner geisterhaften Erscheinung auch ähnlich, Lin“, witzelte Nate grinsend.

*****

Etwas später an diesem Tag, als Nate und Marilin bereits gegangen waren, saßen Bellamy und Eve in ihrem Zimmer, da das der einzige Ort war, wo so schnell niemand hereinplatzen konnte. Bellamy saß auf der Kommode und lehnte mit dem Rücken gegen den Spiegel, während seine braunen Augen aufmerksam jedes Detail in Eves Zimmers aufnahmen. Seine weizenfarbenen Haare, die im Sonnenlicht, welches durch das Dachfenster hereinfiel, golden glänzten, waren etwas zu lang und fielen ihm in die Stirn und Eve fragte sich, ob sie je zuvor eine so seltene Kombination gesehen hatte. Es hatte etwas Magisches an sich, denn obwohl das Braun seiner Augen hervorstach und ihn auf eben diese zu reduzieren schienen, hatte Eve, wenn sie Bellamy ansah den Eindruck, als hätte sie nie etwas Schöneres gesehen, als die seltsame Harmonie zwischen Braun und Weizengold. Sie selbst hatte sich im Schneidersitz auf ihrem Bett niedergelassen - weit außer Reichweite von Bellamy, denn sie musste zugeben, dass sogar sie sich ein wenig vor seinen Kräften fürchtete. Sie mochte zwar nichts zu befürchten haben, da es kaum Lebenskraft gab, die er ihr stehlen könnte, doch das machte es nicht weniger beängstigend.

“Weißt du, was ich mich gefragt habe?”, begann Eve plötzlich und lenkte damit Bellamys Aufmerksamkeit von den Bildern an der Wand, die er betrachtet haben musste, auf sich. Natürlich war diese Frage vollkommen überflüssig, da er mit Sicherheit wusste, worüber sie nachdachte, aber sie stellte sie dennoch. “Warum hast du das Ritual durchlaufen, als du in die Schattenwelt kamst? Es ergibt für mich einfach keinen Sinn. Nate und Marilin haben es erst mit 18 nach der Schule durchlaufen, lange nachdem sie herkamen. Also warum war es bei dir anders?”, fragte sie, obwohl sie sich beinahe sicher war, dass Bellamy ihre Frage bereits gekannt hatte, jedoch nicht gegen ihre Abmachung verstoßen wollte.

“Als ich vor drei Jahren hierherkam, war ich bereits achtzehn, deswegen habe ich das Ritual direkt nach dem Koma durchlaufen. Nate und Marilin waren viel jünger, als sie herkamen, weswegen sie das Ritual erst nach der Schule durchlaufen haben, so wie du es in ein paar Wochen wirst“, erklärte er, doch sein Blick kam Eve seltsam bedrückt vor. Da war etwas, dass er ihr verschwieg, doch sie traute sich nicht nachzufragen. Eve nahm ihren Stift zur Hand und notierte diese Information auf einem der zahlreichen Blätter der vorangegangenen Nacht.

“Was tust du da?”, wollte Bellamy wissen. Eve sah von ihren Notizen auf und bemerkte Bellamys irritierten Blick. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihm von ihrer Recherche über die Inkuben erzählen sollte. Als jedoch ein freches Grinsen auf seinen Lippen erschien, wusste sie, dass sie das gar nicht brauchte. Verärgert stand sie vom Bett auf und machte ein paar Schritte auf Bellamy zu, bis sich die Spitze ihres Zeigefingers in seinen Brustkorb bohrte.

“Du sollst dich doch verdammt nochmal aus meinem Kopf raushalten!”, rief sie aufgebracht, was Bellamys Grinsen jedoch nur noch breiter machte.

“Das ist nicht so einfach. Ich kann nicht kontrollieren, welche Stimmen ich höre. Deswegen bin ich gewöhnlich auch alleine, da ich die Stimmen der anderen nicht hören möchte. Ich kann auch deine Stimme nicht einfach stumm schalten, nur weil du es gerne so hättest“, versuchte er zu erklären, doch Eve verstand kaum, was er ihr zu sagen versuchte. Sie hatte in den letzten Tagen so wenig geschlafen, dass ihre Muskeln längst hätten versagen müssen und es begann langsam sich auf ihren Verstand auszuwirken, doch sie versuchte das abzuschütteln. Sie hatte jetzt wichtigeres zu tun. “Willst du deinen Zeigefinger nicht vielleicht von meiner Brust nehmen, es tut langsam weh“, bemerkte Bellamy und sah hinunter auf Eves Hand, die sich noch immer an derselben Stelle befand. Peinlich berührt, von der Tatsache, dass sie ihn so lange berührt hatte, zog Eve ihre Hand weg, als Bellamy die Stirn runzelte. “Was ist das?”, fragte er.

“Was ist was?” Eve hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon er sprach und sie hatte auch nicht das Gefühl, dass sie es ohne ein paar Stunden Schlaf noch verstehen würde.

“Ich meine deine Hand, diese Linien.” Eve sah auf ihre Hand hinab, wo sich ein filigranes Muster spinnennetzartiger Linien auf ihren Fingerspitzen abzeichnete. Das Narbengewebe hob sich farblich zwar nur schwach von ihrer eigenen Hautfarbe ab, aber dennoch hatten Nate und Marilin es genauso schnell entdeckt, wie Bellamy.

“Es sind Narben. Ich weiß nicht, woher sie stammen. Ich weiß nur, dass sie plötzlich da waren, als ich aus dem Koma erwachte. Ich denke, die Blutrose hat sie verursacht und ich sehe sie gerne als Erinnerung an die Erde und alles, was ich dort hatte“, erklärte Eve, während ihr Tränen in die Augen stiegen und ihre Kehle zuschnürten. Sie dachte an Adam und daran, wie schrecklich sie ihn vermisste. Es war nicht fair, dass sie ihn niemals wiedersehen würde.

“Was hattest du denn auf der Erde?”, fragte Bellamy und Eve sah ihm an, dass er genauso dachte wie Marilin. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und schüttelte den Kopf.

“Ich will nicht darüber reden. Was ist mit dir?”, fragte sie stattdessen. “Wie war dein Leben auf der Erde und wie bist du hergekommen?” Ein dunkler Schatten viel über Bellamys hübsche braune Augen, als er an die Vergangenheit zurückdachte und Eve bereute bereits, ihn gefragt zu haben.

“Wie bei fast allen Übernatürlichen, war mein Leben nicht gerade einfach bevor ich herkam. Meine Familie hat schnell herausgefunden, was ich bin und sie haben angefangen mich zu hassen. Als ich elf Jahre alt war, lief ich weg und eine Frau wollte mir sogar helfen. Leider starb sie bei dem Versuch und ich kannte nicht einmal ihren Namen. Meine Familie fand mich danach sehr schnell und es war nichts mehr wie früher. Sie behandelten mich nicht mehr wie ein Familienmitglied, sondern wie einen Sklaven, bis ich eines Tages erneut ging. Damals war ich dreizehn. Ich habe mich fast vier Jahre lang versteckt, bis Lady Winters Leute mich irgendwann fanden und ich erstmal bei Ihnen unterkam. Zu dieser Zeit gab es sehr lange keine Blutrosen und ich glaubte nicht mehr daran, die Erde noch lebend verlassen zu können“, erklärte er und starrte traurig aus dem Fenster. Nun verstand Eve endlich auch Marilin und Nate. Sie hatte die beiden nie nach ihrer Vergangenheit auf der Erde gefragt, da sie wusste, dass die beiden nicht darüber sprechen wollten und nun verstand sie auch warum. Bellamy hatte Schreckliches durchlebt und Marilin und Nate musste es nicht anders gegangen sein. Entgegen ihres Wissens und der leisen warnenden Stimme in ihrem Kopf überkam Eve plötzlich das Bedürfnis, Bellamy zu umarmen und ihn zu trösten. Also schlang sie die Arme um ihn und drückte ihn an sich.

“Das tut mir so leid“, sagte sie. Bellamy versteifte sich zuerst, denn auch er wusste, wie gefährlich diese kleine Umarmung sein konnte, doch dann erwiderte er schließlich die Umarmung und schloss erleichtert seine Arme um Eve. Wie lange musste er diese Bürde mit sich herumgetragen haben, bevor er es endlich jemandem hatte erzählen können?

 

 


9

 

Marilin hatte schon lange nicht mehr für die Ältesten als Projektion gearbeitet, doch gegen Mittag war ein Eilbrief durch ihre Tür geflogen, dass sie dringend gebraucht wurde und auf der Stelle ins Ratsgebäude im Zentrum der Stadt kommen sollte. Zwar hatte Marilin den Übernatürlichen auf der Erde gern geholfen, doch sie musste zugeben, dass sie ihren Job in den letzten Monaten nicht vermisst hatte. Die Prozedur bereitete ihr jedes Mal Kopfschmerzen und in den meisten Fällen diente sie nur zum Zeitvertreib der Übernatürlichen oder sie stritt sich mit Joe und Emanuel. Kein Wunder also, dass sie nun wenig begeistert in dem gläsernen Raum saß, während die Ärztin Theresa Elektroden an ihre Schläfen, ihre Arme und ihre Beine klebte. Zu Beginn hatte Marilin sich oft in den Kabeln verheddert oder versehentlich beim Herumlaufen eine Elektrode abgerissen, was die Projektion auf der anderen Seite unvollständig gemacht hatte. Später hatte sie das zum Spaß getan, um die Menschen auf der Erde zu erschrecken, doch als Lady Winter das mitbekommen hatte, hatte sie vom Ältestenrat Strafarbeit dafür bekommen, weshalb sie es nicht mehr tat.

“Warum jetzt?”, fragte Marilin aus einem Gedanken heraus. Sie wurde so lange nicht gebraucht, also warum denn jetzt?

“Was meinst du, Marilin?”, fragte Theresa. Sie war Mitte vierzig und Marilin mochte sie sehr, denn sie hatte sie immer gut behandelt und mit ihr gescherzt, wenn es die Zeit erlaubte. Was sie jedoch nicht mochte war, dass Theresa sie nach wie vor Marilin nannte.

“Ich heiße Lin“, sagte sie daher mit einem Unterton in der Stimme, der keine Widerrede duldete. Theresa hatte das nie gekümmert und Marilin auch nicht. “Und ich wollte wissen, warum ich so plötzlich wieder gebraucht werde.”

“Du wirst immer gebraucht, Lin, das werden wir alle. Manchmal mehr und manchmal weniger. Jemand von der Erde hat versucht, dich zu kontaktieren“, erklärte Theresa. Marilin runzelte die Stirn.

“Mich? Wie soll das gehen?”, fragte sie verwirrt. Normalerweise kontaktierte Lady Winter einfach irgendwen, der gerade bereit war, aber noch nie hatte sie speziell nach ihr gefragt.

“Erinnerst du dich an die DTC, über die die kleine Eve Cort dich damals kontaktieren konnte?”, fragte Theresa und Marilin nickte. DTC stand für Direct Transmitting Connection und bezeichnete eine kleine Metallkugel, die immer nur direkt zu einer bestimmten Person in der Schattenwelt führte. “Ihre Familie wird Eves Eigentum inzwischen verkauft haben und ein Übernatürlicher oder ein Verborgener muss die DTC gefunden haben. Und da heute die Tage parallel verlaufen, musst du heute mit ihm sprechen.”

“Okay, wie heißt die Person?”, fragte Marilin, denn sie hasste es, ohne Wissen auf die Erde zu gehen. Es gefiel ihr einfach nicht, unvorbereitet zu sein.

“Wir wissen es nicht. Du warst nicht zu erreichen, also hat er eine anonyme Nachricht hinterlassen. Leider habe ich sie nicht gesehen, aber er soll wohl explizit nach dir verlangt haben. Ich werde die Projektion jetzt starten. Bist du bereit?”, fragte sie mehr aus Höflichkeit.

“Spielt das denn eine Rolle?”, fragte Marilin, während Theresa den gläsernen Raum verließ und sich an das Kontrollpult begab, dessen Knöpfe in bunten Farben leuchteten. Marilin stand von ihrem Stuhl auf, da sie vermutlich sonst in der Luft sitzen würde, wenn ihre Projektion auf der Erde erschien. Theresa drückte ein paar Knöpfe und wenige Sekunden später begann der Strom durch die Elektroden zu fließen. Es war ein schwacher Strom, aber trotzdem konnte nicht jeder das ertragen. Ein Flackern und Marilin stand in einem Raum auf der Erde. Sie hatte die Prozedur einmal bei einem anderen beobachtet und es sah aus, als würde man mit sich selbst reden, da nur man selbst die Menschen und die Erde sah. Marilin sah sich kurz in dem Raum um und ihr fiel gleich auf, dass sie schon einmal hier gewesen war. Es sah anders aus als damals, aber doch erinnerte sie sich daran. Damals hatten zwei Betten und zwei kleine Schränke daringestanden. Es hatte Blumen und hübsche rote Vorhänge gegeben. Überall hatten Zeichnungen und Gemälde von der Familie gestanden und an der Zimmertür hatte ein großer runder Spiegel gehangen. Nun war der Spiegel zerbrochen, die roten Vorhänge hingen nicht mehr und auch ein Bett und ein Schrank waren verschwunden. Die Blumen waren verwelkt und die Zeichnungen und Gemälde der Familie waren durch neue ohne die Tochter ersetzt worden. Auf dem verbliebenen Bett saß ein Junge mit schwarzen Haaren, der sie aus leuchtend hellbraunen Augen anstarrte. Marilin befand sich in Eves altem Zimmer und der Junge musste Adam sein. Hieß das etwa, dass er endlich erfahren hatte, was er war? Oder sollte sie es ihm erzählen?

“Bist du Marilin?”, fragte der Junge.

“Ja“, antwortete sie, obwohl sie den Namen hasste. “Du bist Adam, nicht wahr?” Die Augen des Jungen wurden geradezu riesig, als sie das sagte.

“Woher weißt du das?”, fragte er erstaunt.

“Ich war schon einmal hier. Deine kleine Schwester Eve, ist meine beste Freundin. Damals habe ich mit ihr gesprochen“, erklärte Marilin zufrieden.

“Was meinst du mit ‘sie ist deine beste Freundin’? Eve ist seit zwei Monaten tot“, sagte Adam schockiert. Er schien ziemlich fertig zu sein und irgendwie konnte Marilin das verstehen. Die letzten beiden Monate mussten der Horror gewesen sein. Sie schüttelte den Kopf und setzte sich vor Adam auf den Boden. Das war die einfachste Methode um mit den Elektroden und den Kabeln klarzukommen.

“Nein, sie lebt. Sie ist wie ich in die Schattenwelt übergegangen, als sie die Blutrose berührt hat, denn sie ist eine Übernatürliche“, sagte sie, doch Adam sah sie mit einem Blick an, der klar machte, dass er ihr nicht glaubte. “Das ist sicher schwer zu verstehen, aber es gibt eine Welt, die für die Menschen unerreichbar ist. Sie wird die Schattenwelt genannt und wenn ein Übernatürlicher wissend und aus freiem Willen eine Blutrose berührt, geht er in die Schattenwelt über und kann dort ein neues Leben in Frieden beginnen.”

“Das heißt also, Eve geht es gut?”, fragte Adam. Was sollte Marilin darauf nur antworten? Rein materialistisch gesehen, ging es Eve blendend und es fehlte ihr an nichts. Sie hatte ein eigenes Haus, Freunde und konnte zur Schule gehen und über all die Geheimnisse der Welt lernen. Doch physisch ging es ihr ganz und gar nicht gut. Sie war krank und schlief kaum, nicht zu vergessen, dass sie Adam schrecklich vermisste. Nein, seelisch ging es Eve auch nicht gut, aber konnte Marilin Adam die Bürde dieses Wissens tragen lassen?

“Ja, so gut, wie es ihr eben gehen kann. Sie vermisst dich sehr, weißt du?” Marilin lächelte. Sie hatte Eve immer beneidet, denn sie hatte nie jemanden wie Adam gehabt. “Sie spricht jeden Tag von dir und fragt sich, wie es dir geht. Weißt du, die Zeit vergeht hier anders. Eve ist sehr viel älter geworden und in all den Jahren ist nicht ein Tag vergangen, an dem sie dich nicht wenigstens erwähnt hat.” Traurig sah Adam auf Marilin hinab.

“Ich wünschte, ich könnte sie sehen. Kann sie auch auf diese Weise mit mir sprechen?”, fragte er hoffnungsvoll, doch nun war Marilin diejenige, die ihn traurig ansah.

“Nein, das kann sie nicht. Sie ist nicht stark genug dafür“, erklärte sie. Sie konnte Adam nicht die Wahrheit über Eves Krankheit sagen. Das würde ihn zerstören und das brachte Marilin einfach nicht fertig. Er schien sich tatsächlich um Eve zu sorgen und vielleicht war er ja wirklich so, wie Eve ihn immer beschrieben hatte. “Aber du kannst sie sehen - eines Tages.”

“Ich verstehe nicht“, sagte Adam und runzelte die Stirn. “Sie lebt in einer anderen Welt und ist nicht stark genug für eine Projektion.” In diesem Moment wurde Marilin bewusst, dass Adam keine Ahnung hatte, dass er ein Verborgener war.

“Ich werde dir eine Adresse geben. Zu der gehst du, am besten noch heute. Die Leute dort werden dir alles erklären und du musst ihnen glauben. Meinetwegen kannst du auch mich nochmal rufen, aber schiebe es auf keinen Fall auf. Jeder Tag der für dich vergeht, ist ein Monat, der für mich und Eve vergeht.”

“Ich verstehe nicht“, sagte Adam erneut.

“Lady Winter wird es dir erklären, wenn du zu ihr gehst“, bemerkte Marilin. Sie gab ihm noch die Adresse und dann verschwand sie, zurück in ihre eigene Welt. Sie war nicht lange bei Adam gewesen, doch es bereitete ihr bereits jetzt Kopfschmerzen. Nachdem die Projektion beendet war, setzte sie sich wieder auf den Stuhl und wartete darauf, dass Theresa hereinkommen und ihr die Elektroden abnehmen würde. Sie stützte ihre Arme auf die Knie und legte ihren Kopf in ihren Händen ab. Sie sollte Eve so schnell wie möglich davon erzählen. Sie brauchte diese Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihrem Bruder so dringend, dass Marilin am liebsten gleich zu ihr gegangen wäre.

“War das wirklich Adam, mit dem du da gesprochen hast?”, fragte Theresa unsicher, als sie den gläsernen Raum wieder betrat. Marilin sah sie erstaunt an. Sie schien blass zu sein und wirkte, als hätte Marilin gerade das Unmögliche möglich gemacht.

“Ja, das war Eves Bruder. Er weiß noch nicht, dass er ein Verborgener ist, aber ich habe ihn zu Lady Winter geschickt. Eve wird sich wahnsinnig freuen, wenn sie davon erfährt. Sie hat ihn immer so sehr vermisst“, sagte sie mit einem Lächeln, während Theresa begann, ihr die Elektroden abzunehmen.

“Nein“, sagte sie ernst. “Eve darf nichts davon erfahren.”

“Aber wieso nicht? Sie ist immer so traurig. Ein bisschen Hoffnung würde ihr da sicher guttun.”

“Und was ist, wenn Adam Lady Winter nicht glaubt? Oder es keine Blutrose gibt, durch die er die Schattenwelt betreten kann. Sie würde vergeblich auf ihn warten. Vielleicht ist sie schon eine alte Frau, wenn er eines Tages endlich herkommt und nach wie vor ein Junge ist. Glaubst du, das könnte sie ertragen?”, fragte Theresa und als Marilin darüber nachdachte, wusste sie, dass Theresa Recht hatte. Zwar hätte Eve verdient, davon zu erfahren, aber Marilin war sich auch sicher, dass sie nicht damit leben könnte, wenn Adam seinen Weg in die Schattenwelt dann doch nicht finden würde.

“Nein, das könnte sie nicht“, sagte Marilin traurig. Sie wollte ihrer besten Freundin so gerne helfen, doch sie konnte es nicht.

“Ich weiß, du möchtest sie gern wieder glücklich sehen, aber auf diesem Weg wird das vielleicht nie geschehen. Deswegen bitte ich dich, ihr nichts zu erzählen.”

“Na gut. Ich werde ihr nichts erzählen. Aber ich möchte, dass alles versucht wird, um Adam hierher zu bringen“, erwiderte sie.

“Glaub mir, das möchte ich auch“, sagte Theresa leise. Marilin fragte sich, warum es Theresa so wichtig war, doch sie fragte nicht nach. Sie war zu erschöpft, um sich damit zu beschäftigen. Ihr Kopf dröhnte und sie wollte nur noch nach Hause.

*****

Es dauerte nicht lange, bis Eve schweißgebadet und hellwach in ihrem Bett saß. Sie schlief schon lange nicht mehr ruhig - träumte vom Tod ihrer Mutter, dem Verlust ihres Bruders oder einer Welt die im Chaos versank. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, allerdings weniger, um die Schweißperlen zu entfernen, sondern mehr, um sich sicher zu sein, dass alles nur ein Traum gewesen war und sie nicht eine Axt im Schädel stecken hatte. Sie wusste, dass all dies Teil der Insomnie war und manchmal wünschte sie sich nur noch, dass es enden würde. Die Krankheit wurde schlimmer, denn noch vor wenigen Monaten hatte sie diese Alpträume nicht gehabt. Langsam glaubte sie, dass ihre Krankheit sie eines schönen Tages umbringen und sie von ihrem Leiden befreien würde. Doch im nächsten Moment hasste sie sich jedes Mal für diesen Gedanken. Das Leben war ein Geschenk und sie wollte genießen, was sie davon hatte.

Nachdem sie aufgestanden war und sich eine heiße Dusche gegönnt hatte, ging sie hinunter in die Küche. Die Sonne war bereits untergegangen und so schlich Eve im Dunkeln durch das Wohnzimmer, um Bellamy nicht aufzuwecken. Doch als sie die Küchentür öffnete, brannte dort bereits Licht und Bellamy saß vor einer dampfenden Tasse Tee. Als Eve die Küche betrat, sah er erstaunt von der alten Zeitung auf, die er laß.

“Wieso bist du wach?”, fragte er sie und sie fragte sich, ob die Frage ernst gemeint war. “Oh richtig, die Insomnie.”

“Wieso bist du noch wach?”, fragte sie die Gegenfrage.

“Ich gehe nie besonders früh schlafen. Viele gehen erst relativ spät zu Bett und da ich erst dann bei ihnen schlafen kann, bin ich daran gewöhnt, lange wach zu sein“, erklärte Bellamy und Eve verspürte einen Hauch von Mitleid. Sie wollte Bellamy unbedingt helfen. Er konnte nicht für immer auf ihrer Couch schlafen, denn irgendwann würde er entdeckt werden. “Mach dir keine Sorgen, ich komm schon klar“, sagte er plötzlich. Er hatte wieder in ihren Kopf gesehen, aber vielleicht war das auch gut so. Eve war sich nicht sicher, ob sie aussprechen konnte, was sie dachte. Sie ging zum Kühlschrank und öffnete ihn. Sie sah nur hinein. Was sie wollte, wusste sie nicht so richtig. Für gewöhnlich kochte sie sich Tee und setzte sich dann in ihr Arbeitszimmer, wo sie malte. Aber Bellamy saß neben dem Wasserkocher und sie traute sich nicht so richtig in seine Nähe.

“Wenn du möchtest, kann ich dir etwas von meinem Tee abgeben. Ich habe eine ganze Kanne gemacht“, bemerkte er. Eve schämte sich dafür, dass sie seine Fähigkeiten fürchtete und dass er dies auch noch in ihren Gedanken hören konnte. Er konnte ja nichts dafür und er tat auch niemandem etwas Böses. “Ist schon okay. Du gehst sehr viel besser damit um, als die meisten anderen. Viele hätten gleich die Wachen des Ältestenrates gerufen, wenn sie mich auf ihrer Bank entdeckt hätten.” Eve war sich nicht sicher, ob sie ihm das glauben sollte oder ob er das nur sagte, damit sie sich besser fühlte.

“Wirklich?”, fragte sie deshalb nach und schloss den Kühlschrank wieder, da sie sich ohnehin nichts daraus nehmen würde.

“Ja. Es müsste mehr Leute wie dich geben. Leute, die trotz ihrer Angst vor dem Unbekannten noch rational denken können.”

“Vielleicht gibt es die ja irgendwo“, überlegte Eve laut. “Ich glaube ich nehme eine Tasse Tee“, fügte sie mit einem vorsichtigen Lächeln hinzu, nahm sich eine Tasse aus dem Schrank, welche sie zu Bellamy hinüberschob und setzte sich dann auf den Stuhl gegenüber von ihm.

“Also, was tust du gewöhnlich, während deiner schlaflosen Nächte?”, fragte Bellamy, als er Eve eine Tasse Tee eingoss.

“Manchmal gehe ich spazieren und versuche den Kopf frei zu kriegen, aber meistens male ich“, erklärte sie lächelnd und nahm zufrieden die heiße Tasse Tee entgegen.

“Du malst?”, fragte Bellamy erstaunt. “Darf ich mal was sehen?”

*****

Es dauerte eine Weile, bis Eve ihm antwortete. Sie dachte nach, aber Bellamy konnte sie nicht klar hören. Da waren nur wirre Phrasen, keine ganzen Sätze. Trotzdem wusste er, dass sie sich nicht sicher war, ob sie ihm ihre Gemälde zeigen sollte.

“Du musst mir nichts zeigen, wenn du nicht willst“, sagte er deshalb. Er wollte sie nicht unter Druck setzen, denn er begann, sie wirklich zu mögen. Sie war sehr hübsch, doch das war es nicht. Die Art, wie sie versuchte ihn nicht zu sehr zu fürchten, faszinierte ihn. Er hätte niemals gedacht, dass irgendjemand so wie sie handeln würde, alle Sorgen über Bord werfen würde und ihn einfach umarmen würde, nur um ihn zu trösten. Er hatte ihre Müdigkeit gespürt, aber das war nicht alles. In jedem Übernatürlichen steckten zwei Arten von Energie - die, die jeden am Leben hielt und die, die seine Fähigkeit hervorrief. Eves Lebensenergie war schwach, aber da war etwas in ihr, das sehr viel stärker war, als alles was er je gespürt hatte. Er glaubte, dass dies ihre Fähigkeit war und dass sie vielleicht sogar stärker sein könnte als seine. Er befürchtete sogar, dass auch sie beim Ritual verstoßen werden könnte.

Plötzlich stand Eve mit der Tasse Tee auf und ging zur Tür. Verwirrt sah Bellamy ihr hinterher und fragte sich, ob sie in den letzten Minuten, die er mit nachdenken verbracht hatte, etwas gesagt hatte.

Kommst du?, hörte er sie denken und begann zu lächeln, dann folgte er ihr. Sie gingen die Treppe hinauf und dann in das Zimmer gegenüber von ihrem. Es gab ein großes Fenster und es standen ein paar Leinwände herum - sowohl leere, als auch bemalte. Die meisten zeigten den Sternenhimmel in seiner vollen Pracht. Bellamy hatte nicht gewusst, dass man ihn selbst hier in der Stadt noch so gut sehen konnte. Er beobachtete Eve, wie sie einen Pinsel vom Boden aufhob und damit ihre kastanienbraunen Haare in einem Knoten zusammensteckte. Dann ging sie zu dem Regal neben dem großen Schreibtisch und zog eine Mappe heraus, welche sie auf den Boden legte und sich davorsetzte. Bellamy setzte sich ihr gegenüber und betrachtete das oberste Gemälde. Es zeigte einen Jungen in seinem Alter, mit dunklen Haaren und hellbraunen Augen. In den Gesichtszügen ähnelte er Eve sehr und Bellamy vermutete, dass der Junge ihr Bruder war. Auch die meisten der nächsten Zeichnungen und Gemälde zeigten ihn. Einige der anderen zeigten den Sternenhimmel und wieder andere zeigten Eve selbst, ein asiatisch angehauchtes Mädchen, mit blonden Haaren und einen Jungen, der aber nicht Eves Bruder war. Eine Zeichnung fiel ihm jedoch besonders ins Auge. Sie zeigte die Schattenwelt, die in Flammen unterging. Übernatürliche schienen panisch umherzulaufen, Gebäude brannten und das Ratsgebäude im Hintergrund war in seine Einzelteile zerfallen. Mittendrin stand eine weibliche Figur, mit dem Rücken zum Betrachter, die in Statur und Haarfarbe Eve sehr ähnelte.

“Was ist das?”, fragte er Eve. Hastig nahm sie das Bild an sich und hielt es sich gegen den Brustkorb.

“Das sollte da eigentlich gar nicht drin sein. Ich habe das vor kurzem geträumt“, erklärte sie, doch eigentlich hatte sie noch viel mehr zu sagen und das konnte sie nicht vor Bellamy verbergen. Ich habe so oft geträumt, wie die Schattenwelt untergeht. Manchmal sterbe ich und manchmal nicht, aber jedes Mal bin ich der Auslöser für alles.

“Das muss grauenvoll sein“, sagte er und wollte sie eigentlich nur trösten und in den Arm nehmen, aber er wusste, dass sie ihn nicht so in ihre Nähe lassen würde. Sie stand auf und steckte das Bild in eine andere Mappe.

“Möchtest du Karten spielen?”, fragte sie unvermittelt.

“Ja, warum nicht“, antwortete Bellamy ihr mit einem Lächeln. Es war nicht viel, aber auf diese Weise konnte er Zeit mit ihr verbringen und sie besser kennenlernen. Einen Moment später kam Eve mit einem Stapel Karten zurück zu ihm und setzte sich ihm gegenüber.

“Kannst du Rommé?”, fragte sie und er nickte nur zur Antwort. Die Art, wie sie ihn ansah, erinnerte ihn daran, wie seine Tante ihn angesehen hatte, nachdem sie erfahren hatte, was er war. Zwar war sie noch immer freundlich gewesen, aber doch sehr distanziert und er hatte das gehasst. Er wünschte, Eve würde ihn jetzt nicht so ansehen. Der Blick seiner Tante sprach von Abscheu, doch in Eves Augen sah Bellamy nur Furcht, die sie zu verbergen versuchte, jedes Mal, wenn sie ihm Karten gab. Die Karten waren wunderschön und sahen aus, wie von Hand gemalt. Er hatte bereits eine Herz-Dame, einen Peak-König und ein paar Zahlen auf der Hand und anstelle der Figuren, trugen die Karten je eine Krone, wobei die der Dame etwas zierlicher war.

“Hast du die gemalt?”, fragte Bellamy. Er sah wie sie errötete und durch ihre Gedanken wusste er, dass sie die Karten noch nie jemandem gezeigt hatte. “Sie sind wunderschön“, sagte er und sie begann zu lächeln. Sie spielten eine Weile wortlos - Eve gewann oft und Bellamy freute sich über das eine Mal, bei dem er nicht verlor - bis Eve schließlich das Eis brach.

“Wie stellst du dir deine Zukunft vor?”, fragte sie. Bellamy verstand nicht ganz was sie meinte. Seine Zukunft war klar: Eines Tages würde er entdeckt werden und die Ältesten würden Gott weiß was mit ihm anstellen.

“Was meinst du?”

“Naja, wovon hast du geträumt, als du noch kleiner warst und all das hier - die Schattenwelt, die Übernatürlichen und die Ältesten - noch keine Rolle gespielt hat?”, fragte sie. Bellamy musste einen Moment nachdenken. Er konnte sich nicht erinnern, als Kind darüber nachgedacht zu haben, aber manchmal hatte er sich vorgestellt, wie sein Leben sein könnte, wenn die Schattenwelt seine Fähigkeit akzeptieren würde.

“Ich würde gerne studieren und Lehrer werden, am liebsten für die Grundschule. Und wenn ich älter bin, hätte ich gerne eine Familie. Eine hübsche Frau, die weiß, wie sie alle für sich gewinnen kann, einfach weil sie gütig und freundlich zu allen ist. Und zwei Kinder, einen Sohn und ein kleines Mädchen, das von ihrem großen Bruder beschützt werden kann“, erklärte er Eve.

“Das klingt wunderbar. Ich hoffe, du erreichst das irgendwann“, antwortete sie mit einem traurigen Lächeln, denn wie auch er wusste sie, dass er vermutlich niemals die Chance dazu bekommen würde.

“Was ist mit dir? Wie stellst du dir deine Zukunft vor?”

“Ich habe keine Zukunft, Bellamy. Die Krankheit wird mich schon sehr bald umbringen und dann gibt es keine Zukunft mehr“, erklärte sie. Sie war fest davon überzeugt, dass die Insomnie sie eines Tages umbringen würde und das machte Bellamy sehr traurig. Vielleicht würde es ja doch eines Tages eine Heilung geben.

“Aber wenn du nicht an Insomnie leiden würdest, wie sähe deine Zukunft dann aus?”, hakte er nach. Einen langen Moment sah sie bloß auf ihre Karten hinab, ohne ein Wort zu sagen.

“Ich glaube, ich wäre gerne eine Malerin. Ich weiß man kann davon nicht leben, aber es wäre mein Traum. Früher wollte ich Pianistin werden, aber ich habe so lange nicht mehr gespielt, es scheint mir eine Ewigkeit her zu sein.” Sie lächelte. “Vielleicht sollte ich es mal wieder versuchen.”

 

 


10

 

Und plötzlich war sie verschwunden, fast wie Eve, als sie aus seinem Leben getreten war. Alles was jetzt noch geblieben war, war ein Zettel mit einer Adresse und der kalte Raum. Adam hasste dieses Zimmer, seit sein Vater Travis die Sachen seiner Schwester daraus entfernt und verbrannt hatte. Alles was geblieben war, war die kleine silberne angebliche Dekoration. Adam hatte zu Travis gesagt, dass sie nur Kunst war und obwohl sie Eve gehört hatte, hatte Travis sie nicht verbrannt, denn er liebte und sammelte Kunst. Die Dekoration war auf dem Fensterbrett verstaubt und Adam hatte für eine ganze Weile vergessen, dass sie existierte. In seinen Gedanken war nur Trauer gewesen, bis er vor einer Woche an Eves letzte Worte gedacht hatte. “Frag Marilin. Ich liebe dich“, hatte sie damals gesagt und dann war ihm die Dekoration in den Sinn gekommen. In den ersten Tagen hatte er nach der Künstlerin gesucht, die natürlich nicht existierte, wie er nun wusste. Als er bereits am Verzweifeln war, hatte er einen Knopf an der Dekoration entdeckt und so eine Nachricht an Marilin gesendet. Das war gestern und heute stand sie dann plötzlich vor ihm - nur eine Projektion, aber doch real - und sie hatte gewusst, wer er war, obwohl er in der Nachricht keinen Namen genannt hatte. Er war sich noch gar nicht sicher, was er tun wollte, als er vom Bett aufstand und die Treppe hinunterlief, um sich anzuziehen. Einige Minuten später stand er auf der Straße und schlug wahllos irgendeine Richtung ein. Er wollte einen klaren Kopf kriegen und lief einfach drauf los.

Er konnte einfach nicht glauben, was Marilin erzählt hatte, doch wenn es stimmte, würde das bedeuten, dass Eve am Leben war. Gott, wie sehr hatte Adam sich jeden Tag gewünscht, dass seine kleine Schwester lebte. Doch wenn sie lebte und Marilin die Wahrheit sagte, dann bedeutete das auch, dass Eve nicht mehr dreizehn war. Er fragte sich, wie alt sie wohl inzwischen war und wie es ihr ergangen war. Für sie war so viel mehr Zeit vergangen, als für ihn. Vielleicht hatte sie ihn ja bereits vergessen. Marilin hatte gesagt, Eve würde jeden Tag von ihm sprechen und er hoffte inständig, dass dies die Wahrheit war und nicht nur irgendeine erfundene Geschichte, damit er ihr glaubte.

Er blieb stehen, als er schließlich vor einem alten, verlassen aussehenden Haus ankam. Er hatte nicht geplant, zu der Adresse zu gehen, die Marilin ihm gegeben hatte und doch war er nun hier. Er kannte dieses Haus. Viele Male war er daran vorbei gegangen in dem Glauben, dass niemand darin lebte und dies auch noch für geraume Zeit so bleiben würde. Nie hätte er geahnt, dass Übernatürliche darin lebten geschweige denn, dass er es jemals betreten würde. Er sah sich kurz um, doch weit und breit war niemand zu sehen, also beschloss er, hinein zu gehen.

Er stieg langsam die alten Stufen zur Eingangstür hinauf. Die Tür stand offen, also machte er sich keine Gedanken darum, zuerst zu klingeln oder sich anderweitig anzukündigen und ging stattdessen einfach hinein. Drinnen war es dunkel, kaum ein Sonnenstrahl fiel durch die dicken roten Vorhänge, welche die Fenster schmückten. Nachdem sich Adams Augen an das schummrige Licht gewöhnt hatten, fand er auch einen Lichtschalter und schließlich erleuchtete ein riesiger Kronleuchter die Eingangshalle. Zu beiden Seiten gingen einige Türen ab und in der Mitte führte eine breite Holztreppe ins obere Stockwerk. Er schaute sich um, unwissend wohin er nun gehen sollte. Plötzlich hörte er Schritte aus der oberen Etage und am Ende der breiten Holztreppe erschien eine Frau mit langen schwarzen Haaren. Sie war eine eindrucksvolle Erscheinung und das wusste sie auch, aber etwas schien sie zu verunsichern.

“Wer bist du?”, fragte sie. Zuerst war Adam sich nicht sicher, ob er ihr einfach blind vertrauen sollte, aber Marilin hatte ihn schließlich hierhergeschickt und das musste einen Grund gehabt haben.

“Mein Name ist Adam“, erklärte er und auf dem Gesicht der Frau erschien ein Ausdruck von Erstaunen. “Wer sind Sie?”

“Wie hast du hierher gefunden, Adam Cort?”, fragte sie, ohne seiner Frage auch nur die geringste Beachtung zu schenken.

“Woher wissen Sie, wer ich bin?”, fragte Adam verwirrt.

“Beantworte die Frage!”, sagte die Frau in einer solchen Tonlage, dass man sich keinen Widerspruch erlaubte.

“Eine junge Frau schickte mich her. Ich bin sicher, dass Ihr sie kennt. Sie heißt…”, doch da wurde er bereits unterbrochen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783948286002
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (März)
Schlagworte
Schattenwelt Blutrose Fantasy 17.Jh Übernatürliche

Autor

  • Victoria Scheer (Autor:in)

Victoria Scheer ist eine junge deutsche Selfpublisherin, welche neben ihrem Biologiestudium an der Technischen Universität Dresden Jugend- und Fantasy-Romane schreibt. Bereits mit fünfzehn Jahren fing sie an, im Geheimen erste längere Geschichten zu schreiben, bis sie schließlich 2018 ihr erstes Buch ‘Millionen neuer Lügen’ veröffentlichte. Die Bücher ihrer Reihe ‘Match of Survival’ werden von ihr selbst illustriert.
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Titel: Millionen neuer Lügen