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Zwitschernde Fische

von Andreas Séché (Autor:in)
170 Seiten

Zusammenfassung

Lies nicht dein Leben – schreib es!


Seltsam – eigentlich kennt Yannis die Altstadt von Athen wie seine Westentasche. Aber diese verlassene Gasse ist ihm noch nie aufgefallen. Und als er dort in einem verwunschenen, alten Buchladen der geheimnisvollen Buchhändlerin Lio begegnet, geht sein Herz sofort in Flammen auf. Merkwürdig nur, dass all die Romane in den Regalen nicht zu verkaufen sind. Doch je tiefer Lio ihn bei Tee und Kerzenschein in die Welt der Literatur entführt, desto mehr füllt sich auch Yannis‘ Alltag mit Poesie und märchenhaften Erlebnissen. Nur das schönste aller Märchen, die Liebe, scheint für den schüchternen Bücherwurm unerreichbar.
Aber wer ist Lio wirklich? Noch bevor er ihr Geheimnis lüften kann, ist sie plötzlich verschwunden und der Buchladen verwüstet …


»Zauberhaft« (Madame)


»Andreas Séchés grandioser Roman bereitet pures Leseglück. Mit seinen Zwitschernden Fischen liefert er ein Paradebeispiel für Literatur mit schürfendem Tiefgang.« (Nürnberger Nachrichten)


»Es gibt diese Bücher, die einen nicht mehr loslassen, die man verschlingt. Jeder, der Literatur liebt, wird diesen kleinen, zutiefst poetischen Roman lieben.« (medienprofile)


»Ein phantastischer Roman, der seinen Lesern den Mut verleiht, in der realen Welt zu bestehen.« (Vogue Japan)

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Andreas Séché

Zwitschernde Fische

 

 

 

 

 

Erster Teil

Lio

 

Athen, heute

 

 

Ausgerechnet im Buchladen fing er Feuer. Und so hatte er seine wundersamsten Erlebnisse an einem Ort, wo manche das Abenteuer gar nicht erst suchten, obwohl er doch voll davon war.

Natürlich wollte er eigentlich ein Buch kaufen oder vielleicht sogar zwei. Stattdessen entdeckte er ein neues, schwindelerregendes Kapitel seiner eigenen Lebensgeschichte. Dort, wo er sich todesmutig einem weiteren Roman hatte stellen wollen, zog ihn etwas noch viel Aufregenderes in den Bann, und es war von so betörendem Zauber, dass er es kurzerhand für Liebe hielt.

Das soll nicht heißen, dass Bücher und Liebe sich ausschließen und man sich immer für eines von beidem entscheiden muss. Zwar darf man, wenn man ein Buch kauft, deshalb nicht auch gleich die Liebe der Buchhändlerin erwarten. Wenn man sich aber in eine Buchhändlerin verliebt, bekommt man, wenn alles gut geht, auch die Bücher dazu. Manchmal allerdings geht das Leben sehr wunderliche Wege, und dann ist die Art von Liebe, der man in einem Buchladen begegnet, von ganz anderer und noch viel märchenhafterer Natur. Aber davon ahnte der Mann natürlich noch nichts.

An diesem Morgen war er besonders früh aufgestanden. Denn immer, wenn er ein Buch kaufen wollte, machte er daraus eine kleine Zeremonie. Ein gutes Buch, dachte der Mann, hat es einfach verdient, dass man den Tag, an dem man es in seiner Büchersammlung willkommen hieß, mit einem üppigen Frühstück beginnt. Bücherkauf und Frühstück, das war nicht nur beides Nahrung, das war auch der leidenschaftliche Beweis dafür, dass man noch genießen konnte. Und Lesen ist ja nichts anderes als Essen mit den Augen. Dass nicht jedes Buch den Hunger stillt, ist eine andere Sache.

Wenn der Mann zu Hause irgendein Buch aus seinem Regal zog, konnte er dazu stets auch eine Frühstücksgeschichte erzählen. »Das war das Frühstück mit den Kirschen und der Ananas«, sagte er dann vielleicht, wenn er Krieg und Frieden hervorzog. Oder: »Die Liebe in den Zeiten der Cholera, das hab ich im Herbst gekauft, denn ich erinnere mich an das Maronenfrühstück.« An dem Tag, als er losgezogen war, um Der Alchimist zu kaufen, hatte er vorher sogar spanische Oliven und Schafskäse besorgt, nachdem er in einer Literaturkritik gelesen hatte, dass das Buch von einem andalusischen Schäfer handelte. Doch meistens wusste er vorher noch nicht, welchen Roman er kaufen würde. Und schon gar nicht, was für Geschichten ihn darin erwarteten.

Auch an diesem Morgen hatte der Mann gefrühstückt wie ein König. Wie ein König frühstücken bedeutet nicht zwangsläufig, dass man viel isst, außer vielleicht in Amerika. Man muss nur intensiv essen. Diesmal waren das frische Brötchen, Äpfel und Pflaumen aus dem Garten, Salami aus Ungarn mit Basilikum, Saft aus Orangen und Kaffee mit Milch. Danach war der Mann aus dem Schlafanzug geschlüpft und hatte sich für eine Stunde in die Badewanne gelegt, sich mit geschlossenen Augen ausgemalt, welches Buch er wohl kaufen würde, sich dann ordentlich frisiert und das Gesicht nass rasiert. Für das neue Buch wollte er gut aussehen.

Um die Sache noch etwas hinauszuzögern, hatte der Mann auf dem Weg zum Buchladen seinen rituellen Umweg gemacht. Er war durch den Stadtpark spaziert, wo er eine Weile ein Kaninchen von unscheinbarer Farbe beobachtet hatte, das gelangweilt im Gras kauerte und widerstandslos den Rest seines möglicherweise freudlosen Lebens erwartete. Danach hatte er noch mit einer älteren Frau geplaudert und ein paar junge Mütter mit ihren Babys beobachtet. Der Mann war einunddreißig, da dachte man schon mal versuchsweise über Babys nach.

Aber um eine Familie zu gründen, fehlte ihm noch die richtige Frau, und darum hatte er sich eine Weile auf eine alte Parkbank aus schneeweißem Granit gesetzt und sich vorgestellt, er würde dort gerade auf die größte Veränderung seines Lebens warten, und in wenigen Minuten stünde die Veränderung vor ihm und fragte ihn mit gerötetem Gesicht, ob er Yannis sei. Sie könnte vielleicht nach frischem Kaffee riechen, weil sie bis eben noch in dem kleinen Café in der Nähe des Parks gearbeitet hatte, wo er ihr eine Blüte und eine Art Schatzkarte, die sie zu dieser Bank führte, in eine leere Tasse hatte schmuggeln können. In diesem Café gab es Teetassen, die wie Blütenkelche geformt waren, wie kleine zeitbefreite Geschichten, die niemals verwelken würden. Und vielleicht wäre die Kellnerin so müde von der Arbeit, dass sie gleich auf dieser Parkbank ihren Kopf in seinen Schoß legen und sich ausruhen würde. Aber das waren natürlich nur Gedankenreisen, denn obwohl diese Kellnerin ihn schon ein paar Mal angelächelt hatte (was gut war), stürzte ihn die Frage, ob die Leidenschaft hinter ihrem Lächeln verliebter oder beruflicher Natur war, in stürmische Verwirrung (was nicht so gut war). Außerdem gehörte zum Fundus des Cafés noch dieser unausstehlich gutaussehende Gitarrenspieler mit dem langen Haarzopf, der ebenfalls an der Kellnerin interessiert zu sein schien und jeden Konkurrenten mit dem Klang seines Instruments an die Wand spielte, damit niemand auf die Idee kam, sich in die falsche Geschichte einzumischen. Also hatte Yannis sich schließlich auf den Weg gemacht, denn eigentlich wollte er ja nicht träumen, sondern ein Buch kaufen (oder vielleicht sogar zwei). Obwohl Träumen und Lesen zweifellos gewisse Berührungspunkte hatten.

Unter dem Arm trug er einen kleinen Sack, den man oben mit einer Kordel zuziehen konnte und der vielleicht früher einmal als Nikolaussack für Süßigkeiten gedient hatte oder als Seesack für besonders kleine Matrosen. Wofür genau der Sack einst gedacht gewesen war, wusste Yannis nicht, und genau deshalb hatte er ihn vor vielen Jahren auf einem Trödelmarkt gekauft: als einen Sack, der eine verborgene Geschichte in sich barg. Seitdem nahm er ihn immer zum Bücherkaufen mit. Erstens hätte man gut und gerne zwanzig Bücher hineinpacken können (und diese Vorstellung tröstete Yannis über eine Wirklichkeit hinweg, in der man eigentlich keine zwanzig Bücher auf einmal kauft). Und zweitens liebte er es, wenn eine Verkäuferin ein Buch in eine Papiertüte hüllte und er dann das Buch samt Tüte in den Sack stecken konnte – zu Hause verlängerte das die Zeremonie des Auspackens. Das war dann fast, als ob man ein Geheimnis lüftete. Wie ein Magier, der aus einem Zylinder einen weiteren Zylinder hervorzaubert und erst daraus das weiße Kaninchen. Yannis fand überhaupt, dass die Welt manchmal ziemlich magisch sein konnte.

Während er den Stadtpark verließ, dachte er, dass Bücher auch wie Zylinder voller Mysterien waren, und sein Traum war, eines Tages vielleicht selbst eine Geschichte zum Leben zu erwecken, Kapitel für Kapitel und Gedanke für Gedanke, und dann würde irgendwann eine richtige kleine Welt vor ihm liegen, von ihm gestaltet und mit liebevollen Details versehen, und er würde den Leser durch spannende Episoden führen und durch traurige Ereignisse, durch romantische Liebesgeschichten, verwegene Abenteuer und verschlungene Begebenheiten. Und natürlich würde der Held mutig seine Angebetete erobern und keine Schüchternheit kennen. Und wenn, dann nicht, wenn es darauf ankam. Und wenn, dann nur ein bisschen.

Plötzlich blieb Yannis wie angewurzelt stehen. Wo war er? Während er vor sich hingeträumt hatte, musste er irgendwie vom Weg abgekommen sein. Er stand in einer schmalen, menschenleeren Gasse, die er nie zuvor bemerkt hatte und die wie sein Büchersack allerlei Mysterien zu bergen schien. Seltsam, eigentlich kannte er die Gegend in- und auswendig. Er war sicher nur einmal falsch abgebogen, und schon stand er auf einem lauschigen Weg mit gemütlich wirkenden kleinen Häusern, knorrigen Bäumen, zwitschernden Vögeln – und einem alten Buchladen, der offenbar in dieser winzigen Gasse vor der Großstadt in Deckung gegangen war. Das gefiel Yannis. Bücher brauchten nicht unbedingt eine Hauptstraße, Bücher brauchten Leser. Ein paar Ladenbesitzer fanden allerdings, dass da ein Zusammenhang bestand.

Staunend ging Yannis auf den Laden zu. Die verwitterte Fassade hätte durchaus hundert Jahre alt sein können. Oder tausend. Oder zweitausend. Yannis wusste, dass es in Athen schon vor zweitausendfünfhundert Jahren ein Buchhändlerviertel gegeben hatte, und vielleicht hatte dieser Laden hier die Zeit irgendwie überdauert. Im Laufe mehrerer Epochen waren die Nachbarhäuser zerfallen und neue gebaut worden, und das Geschäft war unmerklich Teil einer anderen Zeit geworden, und dann wieder einer anderen, und dann wieder. Schließlich war das einundzwanzigste Jahrhundert angebrochen, und niemandem war aufgefallen, dass der Laden sich klammheimlich durch die Jahrtausende gemogelt hatte. Die Farbe des Hauses war von weiß auf beige und von beige auf erdfarben gewechselt, als wäre es ein Chamäleon, das möglichst wenig auffallen wollte. Die kleine Eingangstür war aus verwittertem, dunklem Holz mit einem alten, silbernen Drehknauf daran. Außerdem hatte der Laden ein Schaufenster, das natürlich keinesfalls zweitausendfünfhundert Jahre alt sein konnte, obwohl es so verschmutzt schien, dass nichts dahinter zu erkennen war. Statt eines reißerischen »Bestseller, Riesenauswahl, Schleuderpreise« stand auf dem Fenster in altmodischen Lettern einfach »Buchladen«. Fein, dachte Yannis und wollte nach dem Türknauf greifen.

 

London 1907

 

 

Im Jahr 1907 meinte das Schicksal es gut mit der Literatur. Astrid Lindgren, Daphne du Maurier und Yasushi Inoue wurden geboren, und Rudyard Kipling bekam den Nobelpreis für Literatur. Anatole France tüftelte am Leben der heiligen Johanna, James Joyce debütierte mit Kammermusik, Maxim Gorki veröffentlichte Die Mutter. Selma Lagerlöf rückte mit den Abenteuern des Nils Holgersson heraus, und im selben Jahr machten Bücher von Heinrich Mann, Ricarda Huch, Paul Heyse, Ludwig Thoma und Jack London die Welt ein kleines Stück vollkommener. Nur Johan August Strindberg, der das Kunststück fertigbrachte, ein Frauenhasser zu sein und dennoch dreimal zu heiraten, rotzte 1907 nach seiner dritten Scheidung rachsüchtig einen giftigen Roman in die Welt hinaus.

Es war die Zeit von Aldous Huxley, George Bernard Shaw und Alfred Döblin, der ein paar Jahre später seine Erzählung von der Ermordung einer Butterblume schreiben würde, in der ein Mann einer Blume den Kopf abhackt, eine scheinbar kleine Tat, die ins grenzenlose Chaos führt. Aber 1907 dachte Döblin vermutlich noch nicht über seine Blumengeschichte nach, vielleicht ein schwerwiegender Fehler, denn wäre die Novelle schon früher erschienen, hätte sie in London womöglich Schlimmeres verhindert. Immerhin nahm das impressionistische Kratzen an der Oberfläche in jener Zeit ein Ende, und die Schreiber schauten tiefer in die Abgründe der Menschheit. Damit konnten sie auch nicht früh genug anfangen. 1907 starb Klara Hitler, deren Sohn bald den Despotismus neu erfinden würde. Doch das Schicksal hat wohl ein Faible fürs Ironische, denn im selben Jahr brachte die Vorsehung dankenswerterweise Emilie Pelzl zur Welt, die später Oskar Schindler heiraten und mit ihm zusammen tausendzweihundert Juden vor Klaras Sohn retten sollte.

Anderswo setzte die Macht, die das Weltgeschehen lenkte, auf Beliebigkeit. In Rom eröffnete eine Frau namens Maria Montessori ihre erste Kinderstätte, in Norwegen starb Edvard Grieg. Österreich gönnte sich ab sofort das allgemeine Wahlrecht, und Stalin überfiel, um die bolschewistische Parteikasse aufzufüllen, einen Geldtransport der russischen Staatsbank. Gustav Mahler ging nach New York an die Metropolitan Opera. In Asien riss ein Erdbeben zwölftausend Menschen in den Tod. Die Welt steckte in einer wirtschaftlichen Krise, es gab Unruhen in Frankreich und Aufstände in Rumänien. Rasputin setzte hinterlistig seinen Fuß über die Türschwelle des Zarenhofes, und als sei all das noch nicht Überforderung genug, wandte sich Picasso dem Kubismus zu, wohl in dem Glauben, die Welt habe ausgerechnet jetzt auf Gegenmodelle zur klar strukturierten Zentralperspektive gewartet. Ein Mann namens August Musger führte erstmals die von ihm erfundene Zeitlupe vor, aber auch die konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Welt ein hektischer Ameisenhaufen war und die Vorsehung deshalb ihre Augen nicht überall haben konnte. Und so sah sie wohl gerade nicht hin, als im Königreich England ein Mann namens Arthur beschloss, seinen ehemaligen Freund Fletcher beim Abendessen zu vergiften.

Falls es wirklich eine alles übergreifende steuernde Kraft gibt, war sie an diesem Abend im Januar 1907 vielleicht erschöpft, oder sie ist von einer solchen Boshaftigkeit, dass Gott froh sein kann, wenn man ihm zugutehält, dass es ihn womöglich gar nicht gibt. Denn nichts, was über eine gewisse Anständigkeit verfügt, hätte zugelassen, dass Arthur sich wenige Tage nach Neujahr vornahm, seinen Ruf zu retten, indem er Fletcher vernichtete. Arthur fasste diesen Plan, während er mit getrübtem Blick auf eine leere Rotweinflasche starrte, und offensichtlich war auch sein Blick für die Folgen des Vorhabens getrübt, denn nicht eine Sekunde lang kam ihm in den Sinn, dass er mit der Ermordung Fletchers im Grunde nur einen Teil des Problems in den Griff bekommen würde. Nein, an jenem besonderen Abend war keine Kraft zugegen, die Arthur zuflüsterte, dass dieser Mord konsequenterweise zu einer weiteren, noch viel ruchloseren Tat führen musste, wollte er wirklich sein Ziel erreichen. Arthur war vielleicht auch nicht philosophisch genug veranlagt, um zu überblicken, dass Handlungen andere Handlungen nach sich zogen; dass zwar das Leben eines Einzelnen aus einer begrenzten Anzahl Kapitel bestand und man im letzten durchaus ermordet werden konnte, dass aber das Leben an sich weiter und weiter Kapitel an Kapitel reihte und keine Aktion ohne Reaktion ließ. So konnte eine geköpfte Butterblume schnell das Ende allen Seins bedeuten.

Daran dachte Arthur nicht. Nicht an diesem Abend und auch nicht an den letzten Tagen, bevor er sich auf den Weg zu Fletchers Haus machte. Stattdessen überlegte er, wie er Fletcher am besten vergiften konnte. Natürlich gab es auch andere Tötungsarten, und mit Mord kannte Arthur sich wirklich gut aus – aber er war schließlich Arzt, und was lag angesichts seines beruflichen Wissens näher, als Fletcher mit einem Nerventonikum aus dem Leben zu reißen? Zumal sich die Ermittlungsbehörden von einem Messer im Rücken mit deprimierend hoher Wahrscheinlichkeit zu dem Verdacht hinreißen lassen würden, dass eine Gewalttat vorlag. Ein kompetent ausgewähltes, unsichtbares Gift erschien Arthur eher geeignet, die postmortalen Untersuchungen zu entkrampfen. Schon ein paar Tage zuvor hatte Arthur in einer Apotheke ein Opiumpräparat gekauft. Jetzt musste er nur noch dafür sorgen, dass es Fletcher zugeführt wurde, und er wusste auch schon, wer ihm dabei helfen würde.

Im Jahr 1907 meinte das Schicksal es gut mit der Literatur, aber schlecht mit Fletcher.

 

Athener Altstadt

 

 

Mit einem leisen Knarren öffnete sich die alte Holztür. Und vielleicht auch ein neues Leben, denn wenn man durch eine Tür tritt, weiß man nie, welche Veränderungen einen dahinter erwarten. Es sind schon Kinder durch Türen gegangen und als Erwachsene zurückgekehrt. Hinter Türen können Narren zu Weisen werden, Ziellose zu Menschen mit einer Bestimmung und Ungläubige zu Gläubigen. Aber auch Gesunde zu gebrochenen Seelen, Unschuldige zu Schuldigen und Vernünftige zu Wahnsinnigen. Hinter jeder Tür wartet eine Möglichkeit. Leider weiß man vorher nicht immer, welche.

Seltsam, dachte Yannis, blickte kurz über seine Schulter hinweg die verlassene Straße hinunter und dann wieder auf den Eingang. Er war fest davon überzeugt, dass er den Knauf gar nicht berührt hatte. Kurz bevor seine Hand das alte Silber umfassen konnte, schien die Tür wie von selbst nach innen zu gleiten, so langsam, als sei sie schwer von Begriff und müsse sich ihrer Funktion erst erinnern. Yannis beschlich das Gefühl, dass die Tür vielleicht ein gigantischer Buchdeckel war, der sich auf rätselhafte Weise nicht nach außen, sondern ins Buch hinein öffnete. Verwundert starrte er ins Innere und spürte, dass der wachsende Spalt eine Einladung war, die tief in seinem evolutionären Erbe uralte Begierden aus dem Schlaf riss.

Als Yannis über die Schwelle trat, fühlte er einen kurzen und sanften Luftzug im Gesicht und ein ahnungsvolles Wehen, wie es vielleicht auch Neil Armstrong gespürt hatte, als er seinen Fuß auf den Mond setzte. Vielleicht, dachte Yannis, betrete auch ich gerade Neuland, denn für gewöhnlich trennten Schwellen unterschiedliche Welten voneinander. Vorsichtig berührte er mit der Schuhspitze den Boden des Ladens. Doch nichts passierte. Kaum aber war er unsicher in den Laden getreten, glitt die alte Tür wie von Geisterhand bewegt hinter ihm ins Schloss zurück. Es war schummrig. Die große Fensterscheibe der Ladenfront war fast blind und außerdem mit Bücherstapeln so zugestellt, dass kaum Sonne in den Laden drang. Fast so, als wollte jemand mit aller Macht den Blick nach draußen versperren.

Oder nach drinnen.

Es gab auch kein elektrisches Licht. An der Decke baumelte ein alter Kronleuchter, und auf tropfendem Wachs leckten kleine Flammen an der Dunkelheit. In den Regalen entdeckte Yannis weitere Kerzen. Offenes Feuer neben Abertausenden Seiten Papier ließ auf einen Ladenbesitzer schließen, der entweder ziemlich sorglos war oder eine besondere Vorliebe für jene herausfordernden Momente des Lebens hatte, in denen sich Romantik mit einem kleinen Taumeln in eine Feuersbrunst verwandelte. Als ob es nicht schon genug wäre, dass in einem Buchladen die Wirklichkeit auf das Ausdrückbare reduziert wird, verringerte das fahle Licht noch das Sichtbare auf das Nötigste. Die kleinen Flammen flackerten in dem Windzug, der mit Yannis in den Laden geschlüpft war. Grotesk verzerrte Schatten huschten durch den Raum und verschwanden wieder wie namenlose Gestalten, die sich vor dem unerwarteten Besucher schnell in den verborgenen Winkeln und Nischen des Ladens verstecken wollten. Als die Feuerzungen zur Ruhe kamen, fand sich Yannis allein im Raum wieder.

Warum eigentlich? Hätte nicht der Ladenbesitzer auf ihn zutreten müssen? Oder wenigstens hinter der Kasse stehen und ihm zunicken sollen? Aber niemand war zu sehen. Eine Kasse konnte Yannis merkwürdigerweise auch nirgends entdecken. Nur ein altes Stehpult stand in der Nähe des Eingangs. Nichts lag darauf.

Im Laden roch es nach vergilbtem Papier, Holz, Leder und nach alten Zeiten. Irritiert bemerkte Yannis einen unergründlichen Duft, der ihn an einen Bach denken ließ. Die Wände waren bis unter die Decke mit morschen Bücherregalen verkleidet, und ein Stück weiter in den Laden hinein schmiegten sie sich nicht nur an die Wand, sondern standen mitten im Raum und schienen darauf aus, ein kleines, aber verwirrendes Labyrinth zu bilden. Yannis trat an eines der schweren Holzregale. Alte Bücher kehrten ihm den Rücken zu und standen in Reih und Glied wie Soldaten beim Appell, angetreten, um für eine höhere Sache ihre Haut hinzuhalten. Die Haut dieser Kämpfer des Geistes war aus Leder, und Yannis fragte sich kurz, wer eigentlich eines Tages auf die Idee gekommen war, ein Messer in die Hand zu nehmen, einem Tier die Haut abzuziehen und ein Buch darin einzuschlagen.

Nachdenklich starrte er die Bücher an, und die Bücher starrten zurück. Sie waren von unterschiedlicher Hautfarbe und doch ähnlich genug, um eine Gemeinschaft zu bilden. Für einen Moment kam Yannis Onkel Toms Hütte in den Sinn, ein Buch, in dem es um Menschen unterschiedlicher Hautfarbe ging, die es nicht schafften, in Gemeinschaft zu leben. Vielleicht, dachte Yannis, konzentrierten Menschen sich mehr auf ihre Unterschiede, und die Bücher in diesen Regalen besannen sich eher auf das, was sie verband. Dann schüttelte er den Kopf. So ein Unfug! Als ob Bücher ein Bewusstsein hätten.

Kantig waren ihre Rücken, und sperrig war bestimmt auch der Inhalt mancher Werke. Nicht jedes Buch trug eine Aufschrift. Ein Regal weiter waren die Buchrücken aus Papier. Hier standen Meisterwerke der Weltliteratur wild durcheinander. Shakespeare, Goethe, Hemingway, Dostojewski, Neruda, May, Faulkner, Christie, le Carré, Camus, Highsmith … Yannis lächelte, denn genauso chaotisch ging es in seinen eigenen Bücherregalen zu Hause zu. Er fand auch einen Garten, in dem alles durcheinanderwuchs, schöner als einen, in dem die Rosen im Rosenbeet trieben, der Schnittlauch im Kräuterbeet und der Rhododendron neben dem Rhododendron. Manchmal verdeutlichte Chaos die Vielfältigkeit der Dinge.

Yannis hob die Hand und ließ seine Finger langsam über die alten Buchrücken gleiten wie ein Verliebter, der seine Angebetete streichelt. Mit einer einzigen Bewegung fuhr seine Hand gleich über mehrere Jahrhunderte Literatur. Vielleicht, grübelte er, war es eine ziemlich unfaire Sache, dass irgendwo eine Frau oder ein Mann mehrere Jahre lang an einem Manuskript gesessen hatte – und herausgekommen war ein Buch, dessen Rücken im Regal nur wenige Zentimeter in Anspruch nahm und das man im Vorbeistreichen im Bruchteil einer Sekunde mit der Hand erfasst hatte. Aber um ein Buch mit dem Geiste zu erfassen, brauchte es tröstlicherweise mehr als einen Augenblick. Das hatte wohl damit zu tun, dass das Greifbare und das Anfassbare nicht immer dasselbe waren.

Nachdenklich blickte Yannis auf seine Hand – und bemerkte Staub an seinen Fingerspitzen. Merkwürdig. Anscheinend kam es nicht besonders häufig vor, dass ein Kunde den Laden betrat und sich mit den prachtvollen Büchern beschäftigte. Diese hier waren offensichtlich seit Jahren nicht mehr aus dem Regal geholt worden. Vielleicht war das auch gar nicht so gedacht. Die Bücher standen hier vermutlich so dicht, damit die Gestalten darin von Buch zu Buch und von Geschichte zu Geschichte huschen konnten. Hercule Poirot sprang zu Sherlock Holmes hinüber, um mit ihm zu fachsimpeln. Scharenweise stürmten hasenfüßige Ritter aus ihren eigenen Märchen davon, hinein ins Lied der Nibelungen, um von Siegfried ein paar Tricks abzukupfern, wie man Drachen tötet und Frauen verführt. Wenn man jetzt Quo vadis aus dem Regal zöge und aufschlüge, würde man vielleicht gar keinen Kaiser Nero darin vorfinden, weil der gerade in Shakespeares Drama Julius Caesar herumlungerte und mit dem römischen Diktator über Moral und Macht fachsimpelte und darüber, wie man das eine unterwandern kann, um das andere zu bekommen. In diesem Regal steckten der Handlungsreisende, Nathan der Weise und der Kaufmann von Venedig die Köpfe zusammen, kehrten ihren eigentlichen Geschichten den Rücken zu und jammerten über die traurigen Berufsaussichten im kaufmännischen Metier. Rudel von Wölfen waren hinter den unscheinbaren Lederrücken unterwegs, um gemeinsam neueste, kinderfreundliche Fresstechniken zu erörtern, zum Beispiel wie man eine ganze Großmutter verschlang, ohne sie dabei zu töten. Und dann würde einer stolz berichten, dass das ja noch gar nichts sei und er neulich höchstpersönlich eine halbe Herde Ziegenjunge vertilgt habe, und das ganz jugendfrei, nämlich ohne ihnen ein Haar zu krümmen, und alle würden mit den Augen rollen und ihn für einen Aufschneider halten. Nicht auszudenken, was geschähe, wenn einer der Wölfe den Weg in Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden finden und Selma Lagerlöfs putziger Winzling einen Moment lang nicht auf seine Wildgänse aufpassen würde. Wenn Rotkäppchen sich mit Mogli träfe und herumtratschen würde, dass Wölfe streng genommen Charakterschweine sind – die ganze Dramaturgie des Dschungelbuchs wäre im Eimer, und Rudyard Kipling hätte vielleicht nie den Nobelpreis für Literatur bekommen.

In diesem Laden fehlte die Kasse, weil die Bücher gar nicht hier waren, um gekauft zu werden. Sondern um sich auszutauschen. Wenn man das Ohr an die Buchrücken legte und genau hinhörte, konnte man vielleicht sogar das geschäftige Treiben und die werkübergreifenden Debatten all der schillernden Figuren … Yannis schüttelte den Kopf. Was für eine abenteuerliche Idee. Und natürlich vollkommen unsinnig. Seit er dieses Buchgeschäft betreten hatte, fühlte seine Fantasie sich offenbar zu verwegenen Abschweifungen berechtigt.

Nicht seiner Fantasie entsprang hingegen das deutliche Gefühl, nicht mehr alleine im Laden zu sein. Plötzlich fühlte er etwas sehr Lebendiges direkt hinter sich stehen.

 

London 1907

 

 

Als Fletcher fast zu Ende gegessen hatte, bemerkte er, dass etwas nicht stimmte.

Schon den ganzen Tag über hatten ihn seltsame Ahnungen geplagt. Ein leises Wispern in der Luft, ein kaum spürbares Vibrieren seiner Nerven, ein drückendes Vorgefühl im Bauch. Wie ein Gewitter, das man spürt, noch bevor es losbricht. Scheue Andeutungen, die kein konkretes Geständnis gewagt hatten, waren um ihn herum geflirrt. Nichts Greifbares, doch in den letzten Jahren hatte er Dinge erlebt, die noch viel unbegreiflicher waren und sich trotzdem nicht hatten verleugnen lassen. Die meiste Zeit hatte er an seinem Schreibtisch gesessen und darüber nachgedacht, was er tun sollte. Eine kleine Voodoo-Puppe aus Sackleinen, die auf seinem Tisch saß, hatte ihn dabei angestarrt, als wolle sie ihn dazu auffordern, ein paar Nadeln in sie hineinzustechen, gerade so, als könne man mit einem Ammenmärchen die Wirklichkeit beeinflussen. Draußen hatte der Wind um das Haus gewütet, hatte lose Äste und Blätter herumgewirbelt und gegen die Fensterscheibe geworfen, wie um Fletcher zu verhöhnen und mit Dreck nach ihm zu werfen. Wenn Fletcher zwischendurch hinausgeblickt hatte, konnte er die Raben sehen, die ihn jedes Mal an ein berühmtes Gedicht von Edgar Allan Poe erinnerten. Mit zerzaustem Gefieder hatten sie in den kahlen Bäumen gehockt und mit schwarzen Knopfaugen ins fahle Nichts gestarrt, so wie er selbst den ganzen Tag in die aussichtslose Düsternis seiner eigenen Zukunft geblickt hatte. Manchmal war Fletcher aufgestanden, vom Schreibtisch zum Bücherregal gelaufen, vom Bücherregal zum Fenster, und dann wieder zum Schreibtisch. Dabei hatte er leise vor sich hingemurmelt, als ließen sich Probleme leichter lösen, wenn man sie in Worte fasste. Als könne man Gefühle mit Spucke an Wörter kleben und einfach aus sich herausspeien. Doch die Verzweiflung hatte unbeeindruckt weiter an ihm genagt.

Fletcher hatte gespürt, dass sein Leben nach nur sechsunddreißig Jahren in eine Sackgasse geraten war, und nun wusste er nicht, wie er sich daraus wieder befreien sollte. Arthur hatte ihn auf eine Art und Weise hintergangen, die jedes Verzeihen unmöglich und alte Freunde zu ehemaligen Freunden machte. Und Fletcher wusste, dass er nicht einmal die ganze Wahrheit kannte. Irgendetwas lag noch in der Luft. Arthur hatte sich nicht nur dazu hinreißen lassen, Fletcher den Schlüssel für seine Zukunft zu nehmen, er verheimlichte ihm noch etwas.

Gladys war an diesem Tag beeindruckend still gewesen. Das war erholsam, aber ungewöhnlich. Nicht einmal zum Streiten schien sie aufgelegt, und wenn sie sich in der Küche oder im Wohnzimmer begegnet waren, hatte sie ihn durch die Fransen ihres Ponys hindurch angestarrt wie durch Gitterstäbe, als sei sie eine Gefangene ihrer selbst. Ab dem späten Nachmittag hatte Gladys dann vor dem Herd gestanden und am Abendessen herumhantiert. Es hatte sich nämlich ein Gast angesagt: Arthur.

Fletcher hatte das als böses Omen gewertet, an seinem Schreibtisch einen kurzen Brief geschrieben und ihn in einem seiner Bücher versteckt, nur für alle Fälle. Und dann hatte Fletcher sich tapfer vorgenommen, am Abend ein letztes Mal zu versuchen, Arthur zur Vernunft zu bringen und Gerechtigkeit einzufordern. Nicht, dass er es noch nicht oft genug versucht hätte. Genau genommen war kein einziger Monat vergangen, ohne dass Fletcher Arthur wütend aufgefordert hatte, der Öffentlichkeit die Wahrheit zu sagen. Doch für Arthur hatte zu viel auf dem Spiel gestanden, und so war er wenig geneigt gewesen, seine frevelhafte Tat ungeschehen zu machen. Fletcher hatte auch mit anderen Leuten über die bizarren Ereignisse der letzten Monate gesprochen, aber natürlich wollte ihm niemand seine unglaubliche Geschichte abnehmen. Auch Gladys, die er nächtelang bekniet hatte, hielt ihn für vollkommen verrückt. Aber Gladys hatte ohnehin zeit ihres Lebens nur an Tropfenfänger für Teekannen, geblümte Tischdecken und überhaupt an das leicht Entzifferbare geglaubt.

Jetzt saßen sie da, Fletcher, Gladys und natürlich Arthur, der unnachgiebig war und nicht im Traum daran dachte, irgendetwas zu tun, was seine eigene Zukunft und seinen Ruf zerstören könnte. Gladys hatte kaum etwas gegessen, und wenn sie das Besteck hielt, hatten ihre Hände gezittert. Sie hatte es vermieden, ihm in die Augen zu sehen, und sich gewissenhaft mit dem blassen Blumenmuster auf der Tischdecke beschäftigt. Zwischendurch war Arthur das Gemüse im Hals stecken geblieben, er hatte um ein Glas Wasser gebeten, und Fletcher war in die Küche geeilt und hatte ihm eins geholt, obwohl ihm der Gedanke gefallen hatte, dabei zuzusehen, wie Arthur sich an einer einfachen Erbse zu Tode hustete. Als er wiederkam, war Gladys blass, und ihre Augen waren unverwandt auf die Tischdecke gerichtet. Arthurs Husten war plötzlich wie weggeblasen.

Und nun breiteten sich in Fletchers Körper plötzlich verdächtige Lähmungen aus, die schnell in Hitze übergingen, und wenn er über den Tisch hinweg Arthur anblickte, sah er ihn doppelt und verschwommen.

»Was –«, stammelte Fletcher und blickte fassungslos erst auf seinen Teller, dann in Gladys’ schreckgeweitete Augen und schließlich wieder zu Arthur.

»Tut mir leid, mein Freund«, sagte dieser und zuckte mit den Schultern. »Wenn du es nicht für dich behalten kannst, sehe ich leider keinen anderen Ausweg. Du hast schon zu viel Aufsehen erregt.«

Gladys begann zu schluchzen. Das Besteck fiel ihr aus der Hand. Fletcher schob sich den Finger in den Hals und übergab sich auf den Fußboden.

»Das wird dir nichts nützen«, sagte Arthur und lächelte nachsichtig. Dann nahm er die Serviette von seinem Schoß, tupfte sich den Mund ab, legte sie ordentlich auf den Tisch und stand auf. »Ich kann nicht riskieren, dass du alles zerstörst.«

Fletcher fiel vom Stuhl. Die Tischdecke flatterte neben seinem Gesicht, aber um nichts in der Welt wollte er als letztes Bild vor seinem Tod alberne Blümchenmuster sehen. Wo war die Frau, die früher die Blume seines Lebens gewesen war?

»Gladys –«, keuchte er, aber es war wieder Arthur, der antwortete. »Gladys? Nun, mach dir um sie keine Sorgen. Ich sorge für ihr seelisches und körperliches Wohl. Genau genommen tue ich das ja ohnehin schon eine ganze Weile, aber das hast du dir ja vielleicht schon gedacht, oder?«

Das war es also, was Arthur verheimlicht hatte. Gladys’ häufige Reisen, angeblich zu einer alten Schulfreundin, hatten ihn gewundert, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass Arthur dahinterstecken könnte. Doch sie war ja nicht das Einzige, was Arthur ihm genommen hatte. Und nun nahm er ihm auch noch das Leben.

Fletcher hörte Gladys weinen, konnte sie aber nicht sehen. Draußen krächzte Poes Rabe. Auf dem Teppich liegend kämpfte Fletcher gegen die zunehmende Leblosigkeit seines Körpers, während Arthur auf ihn zutrat und vor ihm in die Hocke ging. »Laudanum«, sagte er und studierte mit medizinischem Interesse Fletchers Pupillen. »Kann man in der Obduktion nicht nachweisen. Sie werden es für Typhus halten.«

»Damit wirst du nicht durchkommen«, schluchzte Fletcher. »Ich habe es ihr gesagt, sie weiß alles und wird dir einen Strich durch die Rechnung machen!«

»Sie? Oh ja, sie!« Arthur schien kurz erschrocken, als ob Fletcher ihn auf eine Lücke in seinem Plan aufmerksam gemacht hätte. Dann tätschelte er Fletchers Wange. »Sie hätte ich fast vergessen. Hab sie lange nicht mehr gesehen. Gut, dass du mich daran erinnerst. Ich kümmere mich um sie.«

»Bist du wahnsinnig?«, stammelte Fletcher, der sein eigenes Sterben augenblicklich vergaß. »Du weißt nicht, was du tust. Du bringst alles in Gefahr!«

Dann spürte er, dass er nicht mehr atmen konnte.

 

Athener Altstadt

 

 

Yannis erstarrte wie ein Kaninchen, das vom Wolf gestellt worden war und sich die Situation nun schönredete, indem es darauf spekulierte, dass es unsichtbar wurde, wenn es sich nicht bewegte. Oder dass der eigene Stillstand auch den Rest der Welt anhielt.

Das Wesen stand direkt hinter ihm, und seine Blicke betasteten ihn so gewissenhaft, dass Yannis sie am ganzen Körper spüren konnte. Wie war es so dicht an ihn herangekommen? Er hatte keine Schritte gehört, kein Rascheln und kein Atmen. Doch eigentlich gab es keinen Grund, sich zu fürchten. Schon deshalb, weil eine Buchhandlung ein Ort nahezu grenzenloser Toleranz war und nichts und niemand die versöhnliche Duldsamkeit eines Ladens stören könnte, in dem selbst Karl May einen Platz bekommen hatte. Vielleicht aber auch, weil die Raumtemperatur plötzlich Herzenswärme annahm und dieser Duft in der Luft lag, den man sonst in der Nähe einer Wasserquelle wahrnahm, frisch und belebend und schwer zu deuten. Ohne sich umzudrehen wusste Yannis, dass das Wesen ihn keineswegs misstrauisch fixierte, sondern ihn wohlwollend und neugierig anblickte, und offensichtlich hatte es sich entschieden, keinen Ton von sich zu geben, solange er ihm den Rücken zuwandte. Ein zartes, wohliges Kribbeln zog durch seinen Bauch. Überrascht hielt er den Atem an. Wie konnte etwas, das er nicht sah, solche Empfindungen auslösen?

Dann drehte Yannis sich langsam um, und als er das Wesen im Schimmer der Kerzen direkt vor sich stehen sah, ging sein Herz in Flammen auf. Es waren ihre Pupillen. Kaum hatte Yannis die Frau erblickt, zogen sie ihn in ein geheimnisvolles, magisches Nichts hinein. Eine unbekannte und doch auf angenehme Weise vertraute Kraft sog Yannis’ Sehen, Denken und Fühlen an sich und ließ das gesamte Umfeld hinter einem Schleier fader Belanglosigkeit verschwinden. Sie blickte ihm direkt in die Seele, und er verlor sich irgendwo tief in ihren großen, dunklen Augen, die über Jahrhunderte hinweg aus einer beharrlich griechischen Abstammung hervorgegangen sein mussten. Sie hatte einen leichten Silberblick, der wohl daher rührte, dass er so dicht vor ihr stand, und ihre Pupillen tänzelten leicht hin und her, als könnten sie sich nicht entscheiden, in welches seiner beiden Augen sie schauen sollten. Als sie schließlich ihre Lider schloss und wieder öffnete, tat sie das mit der Langsamkeit eines Menschen, der noch nie in seinem Leben gehetzt worden war und es sich außerdem leisten konnte, die Augen eine Weile vor der Welt zu verschließen.

Die Haut um ihre Augen offenbarte ein gelachtes Leben und einen Menschen, der sich wenig um die feinen Falten der Erkenntnis scherte. Sie lächelte auch jetzt, als Yannis sich endlich aus ihren Pupillen befreite und ihr Gesicht erblickte, das sinnliche Antlitz einer Frau, die vielleicht die Tochter zweier griechischer Götter war, oder die als Meerjungfrau lange Jahre in den Tiefen der Meere mit den Delfinen um die Wette geschwommen und erst vor Kurzem neugierig an Land gekommen war. Oder sie hatte auf einem namenlosen Stern fernab menschlichen Verdrusses gelebt, wo es keine Kreuze zu tragen gab und überhaupt keinerlei Bürden, denn wie sonst hätte ein Mensch zu einem so sanften Gesicht kommen können. Vielleicht, dachte Yannis, war sie auch hinter seinem Rücken aus einem der alten Bücher herausgeschlüpft, in dem sie bis eben noch als Elfe oder gute Fee oder Einhorn gelebt hatte. Das würde zumindest erklären, warum sie plötzlich einfach hinter ihm gestanden hatte. Womöglich hatte er irgendeinen geheimen Zauber ausgelöst, als seine Hand so leichtfertig über die alten Buchrücken gestrichen war. Sie hatte schwarzes Haar, das in leichten Wellen über ihre Schultern fiel und sich über ein weißes Kleid schlängelte wie die Fühler einer sinnlichen Nacht, die sich sanft über den grellen Tag legten, um ihn zu beenden. Das Kleid erinnerte ein wenig an eine alte Tunika, schlicht und doch raffiniert. Ihre Arme hingen entspannt herab, und die Hände waren vor dem grazilen Körper gefaltet. Die Füße steckten in einfachen Sandalen.

»Schön, dass Sie hergekommen sind«, sagte sie lächelnd und legte den Kopf leicht zur Seite, um ein paar Locken aus dem Gesicht gleiten zu lassen, eine kokette Geste, die Yannis fast den Verstand raubte. Sie hatte mit der Stimme eines überirdischen und gutmütigen Geschöpfes gesprochen, klar wie der Nachhall einer hellen Glocke, und Yannis spürte, wie die Schwingungen ihrer Stimme sich tief in seinem Innern fortsetzten. Mit gleichsam gemalten Worten hatte sie einen kompletten Satz erschaffen, nur für ihn. Schön, dass Sie hergekommen sind – hatte die Welt jemals zuvor einen solch beachtenswerten Satz gehört?

Und überhaupt, wie war er gemeint? Hatte sie ihn etwa schon sehnsüchtig erwartet? Und vielleicht ihr ganzes Leben lang in diesem geheimnisvollen Buchladen ausgeharrt, nur weil sie das Gefühl gehabt hatte, dass er eines Tages genau an diesem Ort ihren Weg kreuzen würde? Oder war sie als Fabelwesen all die Jahre in einem der Bücher in irgendeiner Geschichte eingesperrt gewesen, weil ein Fluch sie dazu verdammt hatte, bis ein gewisser Yannis seine Finger über den Buchrücken gleiten ließ?

»Ich bin Lio«, sagte die Frau. »Und Sie?«

»Ynss«, stammelte Yannis, was die Tatsachen nur unzureichend wiedergab, aber wen interessierten schon Tatsachen, und Lio schien sich nicht sonderlich darüber zu wundern, dass ein Mann Ynss hieß. Er sah, wie sie ihre Hände voneinander löste und ihm die rechte hinhielt. Wie betäubt streckte er seine Hand aus, griff daneben, fand ihre schlanke Hand aber beim zweiten Versuch, was unter den gegebenen Umständen eine bemerkenswerte Leistung war. Langsam schüttelte er sie, und er fühlte ihre langen Finger, die sich sanft auf seine Haut legten. Dabei blickte sie ihn lächelnd an, und plötzlich bemerkte Yannis eine leichte, aber verräterische Röte in ihrem Gesicht, die in ihm ein Gefühl wachrief, das sich mit solchem Nachdruck noch nie zu Wort gemeldet hatte: Ergriffenheit.

»Yannis«, brachte er schließlich doch noch heraus, und sie sagte etwas, das er nicht verstand, weil er nicht damit gerechnet hatte, dass sie ihm noch einen zweiten Satz schenken würde, und als er sie nur hilflos anstarrte, wiederholte sie mit einem scheuen Lächeln: »Meine Hand. Wenn Sie mögen, behalten Sie sie einfach.«

»In Ordnung«, murmelte er abwesend, und erst dann wurde ihm bewusst, was er gerade gesagt hatte, und verlegen gab er ihre Hand endlich frei. Lio zog sie so zögernd wieder zurück, als hätte sie sich tatsächlich gewünscht, dass er sie nicht mehr hergeben würde, und mit Bedauern sah er, wie Lios schöne Hände sich wieder ineinanderlegten.

Das schummrige Kerzenlicht hatte Lios Pupillen inzwischen zu zwei schwarzen, geheimnisvollen Seen werden lassen, und während der ganzen Zeit hatte sie nicht ein einziges Mal zur Seite geblickt. Wenn sie wirklich aus einem der Bücher entsprungen war, wäre sie wohl doch eher eine Magierin, deren Gabe darin bestand, Menschen mit ihrem Blick zu verzaubern. Und Yannis war verzaubert, verwandelt, verlockt, geblendet, und noch nie hatte er es als einen solchen Genuss empfunden, Opfer zu sein. Sollte sein Herz doch den Flammentod sterben. Sollte sie ihn in ihren magischen Bann ziehen und niemals wieder freigeben. Sollte sein Leben sich hier und jetzt in Chaos verwandeln, es war bisher ohnehin bedeutungslos gewesen. Sollte doch das ganze Universum …

Mit einem Räuspern tastete Lio sich sachte in seinen Gedankentaumel hinein. »Sie lieben Bücher?«, fragte sie.

»Mh«, sagte er redegewaltig. Natürlich liebte er Bücher, er hätte nur viel lieber über eine ganz andere Liebe geredet. Aber weder für das eine noch für das andere fand er Worte. Momentan war sein Kopf nicht auf knifflige Literaturdiskurse aus, und für Aussprachen schien es ihm zu früh. Doch er durfte sie nicht einfach so dastehen lassen und anschweigen, also nahm er seinen Mut zusammen und versuchte sich an einem weiterführenden Satz: »Bücher sind Schöpfungen.«

Das war nicht eben das, was er sich vorgestellt hatte, denn eigentlich hätte er lieber etwas viel Magischeres gesagt, um dem Zauber der Situation gerecht zu werden. Aber es war ein kompletter, einwandfreier Satz, immerhin. Auch wenn er selbst nicht genau wusste, was er damit hatte sagen wollen.

Für einen Moment blitzten Lios Augen noch eindringlicher, und als sie anerkennend nickte, fielen ihr ein paar dunkle Locken ins Gesicht. »Wenn Bücher Schöpfungen sind, ist die Welt vielleicht das größte Buch«, sagte sie schließlich.

»Wer es wohl geschrieben hat?«, fragte Yannis, und gleichzeitig dachte er, dass nicht die Welt die größte Schöpfung sei, sondern Lio.

»Wer weiß?«, grübelte sie. »Vielleicht schreibt die Schöpfung sich einfach selbst fort.«

Sie hob eine Hand, strich damit die Locken aus dem Gesicht und klemmte sie hinters Ohr, und Yannis spürte einen weiteren Feuersturm durch seine Brust rasen. Am liebsten hätte er diesen Laden nie wieder verlassen, aber wenn er nicht bald hier rauskäme, würde er verlodern, und damit wäre niemandem geholfen.

»Ichalsoeswirdzeit«, sagte er und blickte kurz zur Tür, um seiner Aussage jene Entschlossenheit zu verleihen, die er selbst nicht hatte.

»Bitte kommen Sie bald wieder«, sagte Lio, und wieder stieg ihr eine leichte Röte ins Gesicht.

»Ja, das mache ich«, antwortete Yannis, während er bereits zum Ausgang taumelte. Erst als er auf der Straße stand und tief Luft holte, fiel ihm auf, dass Lio ihn überhaupt nicht gefragt hatte, ob er ein Buch kaufen wollte. Für eine Buchhändlerin war das ziemlich merkwürdig. Yannis schritt verwirrt die alte Gasse hinunter. Aus dem Augenwinkel glaubte er kurz eine große Gestalt zu sehen, die sich an eine Hauswand drückte und ihn beobachtete. Doch als er hinsah, war da nur eine Wand.

 

London 1907

 

 

Arthur rieb sich seinen Schnurrbart und blickte versonnen durch das Fenster hinaus in den grauen Regen, der seit Tagen im ganzen Land jedes Licht und jede Farbe gründlich fortwusch und den Ruf des Königreichs als Heimat klimatischer Einfallslosigkeit mit Macht erhärtete. Gladys werkelte in ihrer Küche herum, schob Teller durch die Gegend, schichtete Töpfe ineinander und packte Tassen von einem Schrank in den anderen und wieder zurück. Offensichtlich ließ sich Geschirr gefahrloser bewegen als Gedanken. In den letzten Tagen hatte sie nichts anderes getan. Seit sie Fletcher vergiftet hatten, sprach sie nur das Nötigste und hatte sich ansonsten darauf verlegt, die Kommunikation mit Arthur durch Blicke und fahrige Gesten aufrechtzuerhalten. Arthur war Arzt genug, um sie gewähren zu lassen.

Er legte seine Hand auf die kalte Scheibe und klopfte langsam mit den Fingerspitzen dagegen. Von draußen trommelten die Regentropfen zurück, als wären sie lauter kleine Zeugen seiner schäbigen Taten und würden sich nun wütend gegen das Fenster werfen, um zu ihm zu gelangen und ihn zur Verantwortung zu ziehen. Was er brauchte, war ein Plan. Mit Verbrechen kannte er sich aus, und wenn irgendjemand wusste, wie man eine Straftat vertuschte, dann er. Bei Fletchers Ermordung war das auch kein Problem gewesen, wie erwartet hatte der untersuchende Arzt als Todesursache Typhus in den Totenschein geschrieben. Doch hier ging es um etwas anderes, die ganze Sache war von einem Kaliber, das selbst für jemanden wie ihn kaum in den Griff zu bekommen war. Aber er hatte keine Wahl. Seine Reputation, vor Kurzem noch durch das Königshaus höchstpersönlich aufgewertet, stand auf dem Spiel, und da war er empfindlich.

Fletcher hatte recht gehabt: Es gab noch eine Mitwisserin. Und sie konnte ihm gefährlich werden. Nun stand Arthur vor zwei Problemen: Zunächst musste er wieder an sie herankommen, und das war nicht mehr so einfach, denn Fletcher hatte ihr schon vor fünf Jahren erzählt, was Arthur getan hatte, und seitdem hatte sie ihm jede Möglichkeit genommen, mit ihr in Kontakt zu treten. Das zweite, noch viel verzwicktere Problem war: Was sollte er tun, wenn er sie gefunden hatte? Sie genauso beseitigen wie Fletcher? Wäre das überhaupt möglich? Und wenn ja, was würde dann geschehen? Denn auch hier hatte Fletcher recht gehabt: Wenn Arthur sie aus dem Weg schaffen würde, könnten die Konsequenzen so ungeheuerlich sein, dass nicht einmal ein Mann wie er sie sich ausmalen konnte. Gut möglich, dass die Welt ins Wanken geriet, und nicht nur die von heute, sondern auch die der Zukunft und womöglich auch die der Vergangenheit. Aber wenn er nichts unternahm, wäre es bald sein eigenes Leben, das ins Wanken geraten würde. Hier mussten klare Prioritäten gesetzt werden, und für einen entschlossenen Mann konnte es keinen Zweifel geben, was Vorrang hatte. Außerdem hatte er als Arzt freiwillig am Burenkrieg teilgenommen, weshalb er annahm, dass er genug für die Welt getan hatte und es nun an der Zeit sei, dass die Welt auch einmal etwas für ihn tat.

Mit einem leisen Seufzer drehte Arthur sich um, trat an Fletchers alten Schreibtisch und setzte sich auf den Stuhl dahinter. An der Wand gegenüber war eine dieser leeren Stellen ohne Regal oder Bild, wie er sie auch in seinem eigenen Arbeitszimmer hatte. In den Tagen seit Fletchers Ermordung war Arthur vorerst bei Gladys geblieben, aber es war nicht ihretwegen. Es war dieser provozierenden Wand wegen. Tag für Tag hatte er mehrere Stunden in dem Raum verbracht und wütend auf die Mauer gestarrt, die sich wie ein Hindernis auf seinem eigenen Lebensweg vor ihm aufbaute.

 

Athen

 

 

Yannis stand in seinem Arbeitszimmer vor den Bücherregalen. Er hatte den Raum abgedunkelt und ein paar Kerzen angezündet, als stünde er noch in Lios Laden. Sein Blick war auf eine kleine Voodoo-Puppe aus Sackleinen geheftet, die er einmal in einem Scherzartikelladen gekauft hatte und die nun zwischen seinen Büchern im Regal saß. Wenn er sie jetzt berühren würde, spürte Lio vielleicht einen sanften Hauch durch ihre Haare wehen.

So oder so, Lio war noch da. Sie war zwar nicht hinter ihm.

Aber in ihm.

Wie in Lios Laden regierte in seinem Arbeitszimmer das Durcheinander. Denn auch in Yannis’ Regalen unterlagen die Bücher keinerlei System. Hier war kein heimlicher Katalogisierer am Werk, der seine Schützlinge nach Farbe sortierte, nach Gattung oder nach Höhe. Die Bücher waren nicht aufgestellt wie schlagfertige Gruppen, die riefen: Wir sind die Updikes. Oder: Wir sind die Pflanzenkundebücher. Nur hier und da konnte man eine gewisse Absicht vermuten und eine Neigung zu Humor: Ein Sammelband mit Kafka-Geschichten stand neben einem Buch über Psychiatrie. Hemingways Garten Eden neben einem Standardwerk über Depressionen. Simmels Es muss nicht immer Kaviar sein neben einem Ketchup-Kochbuch. Die kleine Raupe Nimmersatt neben einem Fachbuch über Schädlingsbekämpfung. Ansonsten galt: Alles stand irgendwo. Yannis kannte seine Bücher so gut, dass er auch ohne System wusste, wo er welches fand. So wie man den Weg zu einem guten Freund auch ohne Stadtplan immer wiederfindet.

Die Bücher standen senkrecht im Regal, aber zwischen den Buchoberkanten und dem jeweils darüberliegenden Regalboden hatte Yannis weitere Bücher waagerecht hineingelegt – obwohl an der Wand noch Platz genug für ein weiteres Regal war. Aber er gab sein Geld lieber für Bücher aus als für Bücherregale. Und manchmal, in jenen stillen Momenten, in denen er in seinem alten Ohrensessel in der Zimmerecke saß und versonnen seine Regale ansah, beschlich ihn das Gefühl, dass es eine gute Idee sei, diese freie Stelle an der Wand besser nicht zu verstellen. Nur wo Leere ist, dachte er dann, ist noch Platz für Entfaltung. Irgendwann würde die freie Stelle einen wichtigen Zweck in seinem Leben erfüllen.

Noch nie hatte Yannis einen Buchladen verlassen, ohne mindestens ein Buch mitzunehmen. Immer gab es irgendeinen Schatz zu bergen. Immer lag da ein Buch, das ganz offensichtlich auf ihn gewartet hatte. Und immer kam er als Hungernder und ging als Gesättigter. Diesmal hatte er einen Laden hungriger verlassen, als er ihn betreten hatte.

Das war ungewöhnlich. Außer, er hatte einen noch viel größeren Schatz gefunden.

Yannis schloss seufzend die Augen und versuchte, sich Lios sanftes Gesicht vorzustellen. Etwas durchflutete ihn. War es Ergriffenheit? Gar Liebe? Oder etwas ganz anderes?

Er hatte schon oft darüber nachgedacht, welcher Ort der Welt wohl der idealste wäre, um die Frau fürs Leben kennenzulernen. Und dafür hatte er zwei Plätze auserkoren. Der erste Ort war der Stadtpark. Hier gab es Sonne, die Licht in eine Sache bringen konnte, und Vögel, die mit ihren Flügeln die Leichtigkeit allen Seins zur Schau trugen. Und mit dieser Leichtigkeit würden Yannis und seine Frau fürs Leben ins Gespräch kommen (das war ja das Schöne am Träumen: Selbst sonst so komplizierte Dinge wie eine Frau anzusprechen bekamen diese Unbeschwertheit). Es gab auch immer eine alte Parkbank, auf der man sitzen konnte, und alte Parkbänke hatten schon viele Verliebte getragen und wurden umso gemütlicher, je verliebter man war. Außerdem bekam ein Treffen unter freiem Himmel und inmitten von Natur etwas so Ursprüngliches wie die erste Begegnung von Adam und Eva im Paradies. Und sich an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Zeit an einer bestimmten Stelle im Park über den Weg zu laufen, stehen zu bleiben und sich in die Augen zu blicken, war auch ein mächtiger Beweis für die Macht des Schicksals, das Menschen zusammenführen oder es sein lassen konnte.

Der zweite ideale Ort für die Begegnung mit der Traumfrau war natürlich ein stiller Buchladen. Hier konnte in Einsamkeit Zweisamkeit erblühen. Und die einzigen Beobachter waren die Bücher, stumme Zeugen, die jede denkbare Liebesgeschichte kannten, die deshalb für alles Verständnis hatten, keinen Dialog zu kitschig fanden und sich weise zurückhalten würden. Eine Frau, die man in einem Buchladen traf, würde auch Charaktereigenschaften haben, die Yannis wichtig waren, zum Beispiel würde sie die einfachen Dinge mögen, wie ein paar zusammengebundene Papierseiten mit massenhaft Buchstaben darauf. Und wer romantische und verwegene Geschichten mochte, der war tief in seinem Herzen sicher selbst romantisch und verwegen und versteckte das bescheiden unter der Oberfläche eines stillen Wassers, so wie eine Abenteuergeschichte sich unter einem Buchdeckel versteckte. In einem Buchladen konnte man über den Rand eines aufgeschlagenen Buches hinweg eine Frau anblicken und lächelnd einen schrecklich kreativen Satz sagen, wie: »In diesem Buch hier begegnen sich ein Mann und eine Frau in einem Buchladen. Wenn Sie um fünf in den Stadtpark zu der alten Parkbank kommen, erzähle ich Ihnen, wie die Geschichte ausgeht.« Oder: »Dieses Buch hat fünfhundert Seiten, genug für uns beide.« Oder: »Die Rezepte in diesem Kochbuch hier sind alle für zwei Personen berechnet.« Oder man las ihr einfach ein Gedicht vor. Man konnte auch Romeo und Julia kaufen, irgendeinen netten Satz und seine Telefonnummer hineinkritzeln, das Buch der Frau lässig in die Hand drücken und abwarten, was passierte.

So viel zur Theorie. Yannis trat vom Regal zurück und ließ sich in den alten Sessel fallen, dessen Bestimmung es war, ihn aufzufangen, wann immer er den Boden unter den Füßen zu verlieren drohte. Ja, in Träumen konnten schüchterne Menschen mutig werden. Das war es wohl, was Träume und Bücher miteinander verband.

Wenn er das Geheimnis hinter Lios Zauber erkunden wollte, sollte er vielleicht schnell in ein Buch hineinschlüpfen, in dem er ein beherzter Mann wäre, der nicht verlegen zu stottern anfing, wenn eine Frau mit zwei tiefen Seen in ihren Augen ihn ansprach. Aber möglicherweise war Yannis ja auch schon mittendrin in einem solchen Buch, und er musste einfach nur abwarten, wie jemand mit Einfluss auf den Verlauf der Geschichte die nächsten Seiten füllen würde.

 

Athen

 

 

Am nächsten Morgen öffnete Yannis verwirrt seine Augen. Er hatte das Gefühl, dass er nicht dort aufwachte, wo er eingeschlafen war. Verunsichert blickte er an die Zimmerdecke, und obwohl alles schien wie eh und je, war ihm, als sei sein Leben über Nacht vom Kurs abgekommen. Als hätte es sich, kaum hatte er eine Weile die Augen geschlossen gehalten, selbstständig für eine neue Richtung entschieden. Vielleicht, dachte Yannis, bin ich einfach in ein neues Kapitel gerutscht. Denn nicht immer konnte man vorhersehen, wann ein Abschnitt des Daseins abgeschlossen war und ein neuer begann. Möglich, dass er gerade auf Seite 36 seines Lebens eingeschlafen war, und über Nacht hatte das Schicksal eine Seite vorgeblättert, aber auf Seite 37 ging das Leben nicht einfach so weiter, sondern es hatte am Ende von Seite 36 kurz innegehalten, wie um auszuholen und dann auf der nächsten Seite neu anzusetzen. In Büchern durchbrachen Kapitel die Monotonie – womöglich verhielt es sich mit dem Leben genauso. Vielleicht nahm der Fluss der Dinge manchmal Schwung, um zu neuen Ufern aufzubrechen. Und Menschen schliefen nachts, damit ihnen nicht schwindelig wurde, wenn die Vorsehung energisch zum nächsten Kapitel umblätterte.

Langsam ließ Yannis seinen Blick im Schlafzimmer umherwandern. Nichts schien verändert. Nun gut, große Veränderungen machten sich schließlich nicht immer an Äußerlichkeiten fest. Und neue Wege ließen sich auch auf alten Pfaden beschreiten.

In der Nacht hatte er von einem sehr merkwürdigen Buchladen geträumt, aus dem er zwar kein Buch mitgebracht hatte, aber dafür etwas anderes, Tiefgreifenderes. Da war diese magische Frau gewesen. Sie hatte schwarze Augen gehabt. Sie hatte sich mit der Anmut eines Seepferdchens bewegt. Sie hatte mit elfenhafter Stimme gesprochen. Ein Traum?

Yannis setzte sich auf. Ja, auf der alten Parkbank hatte er vor sich hingeträumt, aber dann hatte er diesen ihm bisher unbekannten Seitenweg in der Altstadt entdeckt und darin Lios verwunschenen Laden. Normalerweise neigte Yannis nicht dazu, vom Weg abzukommen, aber gestern war er in diese Gasse geraten, die ihn weggeführt hatte von seinen gewohnten Pfaden – und geradewegs hinein in eine abenteuerliche Geschichte. Plötzlich hatten Wölfe, Schatten, Feen, Ritter und alle möglichen Romanfiguren sein Leben bevölkert. Sie waren natürlich nicht wirklich da gewesen, aber etwas in seiner Wahrnehmung hatte sich verändert. Vielleicht lag das daran, dass er so viel las. Lesen, dachte Yannis, öffnet Horizonte. Für ihn waren Bücher und die Geschichten darin eine Sammlung an Anregungen, wie man die Realität auch wahrnehmen konnte. Eine Beispielsammlung des Vorstellbaren. Eine Einladung, Dinge zu sehen, die hinter dem Erkennbaren verborgen lagen.

Da waren natürlich die sichtbaren Märchenfiguren. Die freundliche Verkäuferin in der kleinen Bäckerei zwei Straßen weiter, die jeden Sonntagmorgen wie eine Fee Yannis’ Wünsche erfüllte und drei Brötchen in eine geheimnisvolle Tüte packte, und zu Hause fand er dann doch wieder vier. Der Koch aus dem Restaurant am Bahnhof, der jeden Morgen über den Bahnhofsvorplatz ging und Essen, das vom Abend übrig war, an Obdachlose verteilte. Die Alte, die in der Fußgängerzone stand, ihren Zeigefinger auf vorübereilende Passanten richtete und sie mit unverständlichen, aber unzweifelhaft wütenden Worten angiftete wie eine Hexe. Der Mann im Zeitungskiosk, der mit seiner Hakennase, der alten Lesebrille und dem strengen Blick aussah wie ein böser Zauberer. Der Elektriker, der neulich mit seinen magischen Händen Yannis’ altes Radio wieder zum Leben erweckt hatte. Der kleine Junge, der manchmal vor der Haustür auf einem wackeligen Klappstuhl saß und selbstgemischte Limonade und alte Comic-Hefte an die Nachbarschaft verkaufte. Die Nachbarn, die zerfledderte Kinder-Comics kauften und ebenso überteuerte wie übersüßte Limonade hinunterspülten, um einem kleinen Jungen eine Freude zu machen. Der Wirt, der mit seiner kleinen Eckkneipe kaum überleben konnte und dennoch seinen Gästen gerne mal einen edlen Whisky spendierte. Der Weihnachtsmann, der jeden Dezember im Kaufhaus auf einem großen Thron saß wie ein König in Spendierlaune und wildfremde Kinder beschenkte. Die Tierärztin, die Hund und Katze auch dann behandelte, wenn ihre Besitzer kein Geld hatten, um die Rechnung zu bezahlen. Die alte Frau, die auf der anderen Straßenseite wohnte und jeden Morgen das Fenster im dritten Stock öffnete und ihre Bettdecke ausschüttelte, als sei sie Frau Holle persönlich. Und selbst diese Märchengestalten waren schon nicht mehr für jedermann erkennbar.

Um wie viel größer war die Herausforderung, all jene Märchenwesen wahrzunehmen, die sich noch viel versteckter hielten, nämlich außerhalb der Realität. Normalerweise waren sie in winzig kleinen, viereckigen Räumen zu Hause, deren Türen Buchdeckel waren. Bücher waren wie Termitenhaufen, warm, summend, pulsierend. Hinter der Fassade, da, wo mancher niemals etwas vermuten würde, wüteten im Verborgenen ganze Universen. Nur wer sehr aufmerksam war, konnte sehen, dass Bücher manchmal vibrierten, dass ein Buchdeckel sich kaum merklich anhob, dass oft merkwürdiges Gemurmel und Gewisper aus papiernen Seiten drang und zuweilen auch ein kurzer Schrei, der meist im Getöse der Realität verloren ging. Bücher glühten, bebten, hypnotisierten, lockten, lagen auf der Lauer, waren sprungbereit, und oft wirkten sie wie gespannte Mausefallen, die man nur mit größtem Respekt in die Hand nahm, weil sie jeden Moment zuschnappen konnten. Ja, für die Lesewilligen waren die Märchenwesen hinter den Buchdeckeln ebenso leicht zu erspüren wie die in der Wirklichkeit, und nicht immer konnte man sicher sein, wen von beiden man gerade vor sich hatte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739383002
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (April)
Schlagworte
Buchladenroman Cervantes Doyle Shakespeare Märchenwelt Literaturgeschichte Andersen Mut Muse Buchladen Liebesroman Liebe

Autor

  • Andreas Séché (Autor:in)

<p>Die Wiesen, Wälder, Seen und Flüsse des Niederrheins sind die Orte seiner Kindheit. Hier wuchs Andreas Séché auf und schrieb als Reporter für Tageszeitungen, bis er seine Heimat verließ, um Politik mit Medienwissenschaft und Jura zu studieren. Danach war er zwölf Jahre lang Zeitschriftenredakteur beim Verlagshaus Gruner + Jahr in München. Schließlich zog es ihn an den Niederrhein zurück, wo er nun lebt und Bücher schreibt.</p>
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Titel: Zwitschernde Fische