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Cheshires unmoralisches Angebot

Love is waiting

von Katherine Collins (Autor:in)
187 Seiten

Zusammenfassung

Ethan Coleridge, siebter Earl of Cheshire, ist nicht glücklich. Die Frau, die er liebt, heiratete einen anderen. Nun ist Lady Boulder Witwe und seine zweite Chance gekommen. Die Lady ist mittellos, ihre Eltern und ihre Schwiegerfamilie haben sie verstoßen und der Nachfolger ihres Mannes bedrängt sie. Anstatt ihr die Ehe anzubieten, überzeugt ihn sein Bruder, sie zu seiner Geliebten zu machen. William hofft, dass Ethan so von der Frau loskommt, die ihm nicht guttut. Allerdings wird Ethan mit jedem Tag klarer, dass er ohne Margarete nicht mehr leben will. Wie aber soll er es der abweisenden Lady sagen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

 

 

Cheshires

Unmoralisches

Angebot

 

 

 

von Katherine Collins

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

Erinnerungen

 

 

Edgecomb, Northumberland, 25.09.1820

 

Ethan Coleridge, siebter Earl of Cheshire, starrte auf seine eigene Handschrift hinab. Das Billett, welches bereits erste Anzeichen seines Alters und auch seiner Nutzung aufwies, steckte für gewöhnlich in seinem Revers und wurde hin und wieder noch herausgezogen und mit Inbrunst gelesen. Meist in Augenblicken tiefer Melancholie, in der er augenblicklich ebenfalls versank. Das Herz schwer vor Gram und in der freien Hand ein fast geleertes Glas guten schottischen Whiskys, gönnte Ethan sich den Luxus, an die Vergangenheit zu denken und sich der müßigen Frage hinzugeben, ob die Übergabe dieses Schreibens etwas geändert hätte.

Dass die Tür aufgerissen wurde und sein viel zu fröhlicher, leichtherziger kleiner Bruder hereinstürmte, störte ihn gewaltig, dennoch steckte er das Billett lediglich schnell zurück an seinen angestammten Platz und setzte sich gefasst gerade hin. »William, nanu.«

»Cheshire! Versinkst du schon wieder in Selbstmitleid?« Williams Strahlen war blendend, ebenso wie sein übersprudelndes Temperament. Er strebte direkt zu den schweren Vorhängen, die den Sonnenschein aussperrten, und riss sie auf.

Ethan hob die Hand, um seine Augen abzuschirmen, während er den Bruder beobachtete, der sich mit dem einen Fenster nicht begnügen wollte. Erst als er auch das letzte Fenster freigelegt und sich ein Glas Bourbon eingegossen hatte, kam er herüber zum Kamin, vor dem Ethan es sich bequem gemacht hatte. William warf sich auf den zweiten Ohrensessel und hing in unziemlicher Manier quer über der Sitzgelegenheit, wobei er Ethan zunächst zuzwinkerte und dann zum Toast das Glas hob.

Ethan seufzte gedehnt.

»Und?«

Erneut stieß Ethan ein Seufzen aus, sah aber ein, dass er seinen viel zu lebenslustigen Bruder nicht dazu brachte, ihn allein zu lassen – ob er nun Rede und Antwort stand oder nicht. »Nein«, beschied er. »Ich versinke nicht in Selbstmitleid, sondern in Erinnerungen.« Er hob die Brauen, sicher, dass seine Aussage zerpflückt werden würde.

William lachte, verschüttete dabei seinen Alkohol auf seine unordentliche Uniform und wischte achtlos über den daraus resultierenden Fleck.

»Angenehme?«

»Aber natürlich.« Er wollte es nicht als Lüge sehen, denn obwohl ihn der Gedanke an die längst vergangene Zeit schmerzte, so erfüllte er ihn doch auch mit bittersüßer Zufriedenheit.

William schnalzte, leerte sein Glas und griff nach der Whiskyflasche, die Ethan auf dem Beistelltisch platziert hatte, um sich den Weg zur Bar zu ersparen. »Lass mich raten: Du denkst an Margarete.«

»Lady Boulder«, korrigierte Ethan leise.

»Dowager Baroness of Boulder«, griff William auf. Der bedeutende Unterton in seiner Stimme ließ Ethan aufschauen. Dass besagte Lady verwitwet war, hatte er selbstredend bereits erfahren, aber letztlich hatte auch nicht ihr Gatte zwischen ihnen gestanden.

William nippte an seinem Glas. »Eine noch junge, hübsche Lady, die ganz allein auf der Welt ist.«

Ethan seufzte, sich bewusst, welches Bild er abgab. Gegenüber seinem Bruder war die Zurschaustellung seiner Schwäche gerade noch akzeptabel, auch wenn er sich außerhalb dieser vier Wände stets zusammenriss.

»Eine Lady mit zwei Kindern und anderen Verpflichtungen.« Er wollte sich gar nicht erst in einer »Was wäre wenn«-Runde mit seinem Bruder verlieren oder auch nur selbiges mit seinen eigenen viel zu sehnsüchtigen Gedanken, denn was auch immer er sich ersann, erbrachte nur weiteres Leid.

»Nicht mehr so vielen, wie ich hörte.«

Ethan horchte auf. Er spürte, wie sich sein Nacken versteifte und sich die Finger fester um das noch halb volle Glas schlossen. Er hatte sein Jackett und das Krawattentuch abgelegt, um es bequemer zu haben, und bereute es nun. Er gab offenbar ein so heruntergekommenes Bild ab, dass ihn sogar die eigenen Familienangehörigen mit Spott bedachten!

William feixte. Sein Blick trug die Aufforderung nachzuhaken, was Ethan sich streng verbat. Was immer im Kopf seines unbedachten Bruders vorging, es war besser, dies zu ignorieren. Leider war dem so gar nicht danach, Dinge ruhen zu lassen.

»Lady Margarete soll sogar sehr ungebunden sein … zukünftig.«

Ein Ruck ging durch Ethan, er beugte sich vor, stemmte die Ellenbogen auf den Knien ab und umfasste das Kristall mit beiden Händen. Faktisch war es für eine Witwe mit Kindern schwierig, tatsächlich ungebunden zu sein, solange sie sich an die Gepflogenheiten ihrer Gesellschaftsschicht hielt. Die besagten, dass sich eine Witwe, gleich welchen Alters, um die Kinder und die anderen weiblichen Familienmitglieder zu kümmern hatte. Da Margarete sowohl besagte Nachkommen hatte, jedoch unglücklicherweise zwei Mädchen, als auch eine Schwiegermutter samt zweier unverheirateter Tanten des verstorbenen Gatten, konnte er sich nicht vorstellen, dass Margarete irgendeine Form von Freiheit auszuleben vermochte.

»William, will ich wissen, was du mir damit sagen willst?«

»Du solltest hin und wieder ausgehen.« Er lehnte sich bequem zurück, um Ethan über den Rand seines Glases zu beobachten. Lange konnte er diese Scharade der Gleichgültigkeit jedoch nicht aufrechterhalten. »Also gut, ich verrate es dir!«

Nichts anderes hatte Ethan erwartet – oder befürchtet? Unruhe wühlte sich durch seine Eingeweide. Es gab einen Grund, warum er sich aus der Gesellschaft zurückgezogen hatte und nur noch für die Tagungen des Oberhauses in die Hauptstadt fuhr.

»William, bitte.«

»Lady Georgette Boulder schickt sie fort!«

Ethans Herz gefror. Von der Familie des verstorbenen Mannes fortgeschickt zu werden, sprach eine deutliche Sprache.

»Es heißt …«

Ethan sog den Atem ein, um den Bruder zu unterbrechen. Er wollte keine Gerüchte hören, wollte nicht, dass seine blütenreine Vorstellung seiner Margarete beschmutzt wurde, und konnte sich doch nicht dazu durchringen, seinem Bruder das Wort zu verbieten. Mit einem ungemütlichen Brennen in der Magengegend wartete er angespannt auf die Eröffnung.

»Sie soll Boulder schöne Augen machen.«

Im ersten Moment war Ethan verwirrt. Sie hatte Boulder schöne Augen gemacht, keine Frage, aber dies lag nun fast acht Jahre zurück. Dann fiel der Groschen. »Dem Erben?«

William ließ seine Brauen wackeln. »Er ist immerhin der Cousin zweiten Grades ihres verstorbenen Gatten.«

In Ethans Ohren rauschte es unheilvoll. Er kannte Henry Mullfort, den derzeitigen Baron Boulder, von den Sitzungen des Oberhauses und hatte daher einen ungefähren Eindruck von dem jüngeren Mann. »Er ist noch ein Kind!«

William brach in wildes Gelächter aus. »So?« Er schüttelte den Kopf mit den schwungvollen Locken und bedachte Ethan dabei mit einem zärtlichen Grinsen. »Dann liege ich wohl noch in den Windeln.«

Ethan sparte sich die Zustimmung. William war mit seinen dreiundzwanzig Jahren geschlagene sechs Jahre jünger als er selbst und wirkte durch seine offene, fröhliche Art häufig tatsächlich wie ein Kind.

»Deine Margarete ist auch erst fünfundzwanzig – damit ist sie ebenso alt wie Boulder.« Er hob die Brauen. Seine blauen Augen glänzten vor Schalk. »Und du …«

Ethan hob die Hände, um den unverbesserlichen Bruder zu unterbrechen. »Verschone mich.«

»… bist auch noch keine dreißig.« Er rutschte auf seinem Ohrensessel nach vorn und kopierte Ethans Haltung. »Und damit im besten Alter …«

»Verschone mich!«, wiederholte Ethan fester. »Mutter wird nicht müde, mich darauf hinzuweisen!« Von den gemeinsamen Schwestern wollte er gar nicht erst anfangen. Der Whisky war zu warm, deshalb schüttete er auch den Rest hinunter, um sich nachzuschenken. Den Blick auf die warmen, braunen Schlieren der Flüssigkeit geheftet, schob er die Vorstellung, eine Frau heimzuführen, weit von sich.

»Also schön«, gab William nach. »Bleiben wir bei Margarete.«

Obwohl er es nicht wollte, war er gleich wieder hellhörig. Er räusperte sich. »Sicher ist an den Gerüchten nichts dran.«

William zuckte die Achseln. »Wer weiß. Henry ist ein Charmeur.«

Ethan blieb der Mund offen stehen. Allein die Vorstellung, Margarete könnte Interesse für einen Mann aufbringen, der nicht ihr Gatte war, ließ ihn erschauern.

»Allerdings dachte ich an die positiven Aspekte der Geschichte.«

Die sich Ethan beileibe nicht erschlossen. Er schüttelte den Kopf, um sich zu fangen.

»Eine Lady in Nöten …«, soufflierte William bedeutungsvoll.

»Sicherlich ist an dem Gerücht nichts dran.«

»Cheshire, sie soll bereits aufs Land geschickt worden sein und ist definitiv seit zwei Wochen nicht mehr in London zu sehen gewesen.«

Aufregung mischte sich in Ethans Traurigkeit, bis er sich der Auswirkung bewusst wurde. »Mein Gott!« Er hob den Blick, um seinem Bruder direkt in die Augen zu sehen. »Wenn man sie verstößt …«

William nickte begeistert. »Herrlich, nicht wahr?«

Es klingelte in Ethans Ohren. »Von wegen! Herrje, William, wie kannst du so herzlos sein? Wenn die Bennetts ihre Tochter nicht wieder aufnehmen, steht sie auf der Straße!«

William nickte. »Man ist sich allgemein einig, dass sich die Bennetts gegen die Mildtätigkeit aussprechen werden, schließlich haben sie noch ein oder zwei Töchter zu verheiraten.«

»Zwei«, murmelte Ethan abgelenkt. Die Aussicht, dass seine Margarete ein solch unwürdiges Schicksal erleiden sollte, war niederschmetternd. In seinen Augen war sie immer schon unfehlbar gewesen. »Elizabeth und Caroline.«

»Richtig. Sie können es sich gar nicht leisten, Margarete aufzunehmen.« William zwinkerte bedeutend.

»Sie hat doch sonst niemanden«, wisperte Ethan für sich. Vor seinem inneren Auge drehte sich die Angebetete in den Armen ihres späteren Gatten in engen Walzerschritten – seine bei Weitem liebste Erinnerung, da ihre Wangen vor Freude gerötet gewesen waren und ihr anzusehen gewesen war, wie sehr sie den Abend genossen hatte.

»Richtig«, sagte William. Sein Grinsen war zu bedeutend, als dass er nicht etwas im Schilde führte. Ethan war sich nur nicht sicher, ob er in dessen Machenschaften verwickelt werden wollte. »Sie ist allein, schutzlos und sicherlich dankbar für jegliche Unterstützung.«

Ethan schluckte. Es klang unheilvoll.

»Daher dachte ich …«

Schnell hob er die Hände und spreizte so viele Finger ab, dass ihm das Glas aus dem Griff zu rutschen drohte. »Warte. Ich befürchte das Schlimmste.«

William lachte. »Cheshire, ich denke dabei nur an dich.«

Das wagte er doch zu bezweifeln.

»Ich mache mir nichts aus deiner Margarete. Ihr Schicksal ist mir völlig gleich.«

Ethan schluckte. »Sprich es aus.«

»Mach ihr ein Angebot.«

Er brauchte einen Moment, um das Gehörte zu verarbeiten. »Noch einmal? Bist du von Sinnen?« Ethan lehnte sich zurück und lenkte seinen Blick wieder in die schillernde Flüssigkeit. »Sie hat sich entschieden. Die Zeit wird nicht für mich gesprochen haben und …« Eine zweite Niederlage verkraftete er nicht.

»Sei kein Idiot.« William maß ihn mit spöttischer Miene. »Selbstverständlich steht es außer Frage, sich ihr zu erklären!«

Ethan blinzelte. Da blieb nur eine Art von Angebot, die er ihr unterbreiten könnte. »Sie ist eine anständige Lady und keine …« Er wischte die Bezeichnung für Liebesdienerinnen unausgesprochen beiseite. »Es wäre höchst unmoralisch.«

»Oh ja.« Sie sahen sich in die Augen.

»Lady Boulder wird einsehen, dass sie Margarete falsch einschätzt, und sie sicherlich wieder in den Schoß der Familie aufnehmen.« Es kam mit einem verräterischen Krächzen hervor. Die Aussicht, Margarete doch noch nahe zu sein, ließ seine Finger beben. Er hatte es sich in so vielen Nächten detailreich ausgemalt, wie es wäre, sie bei sich zu haben, ihre samtig weiche Haut zu berühren und jene Gefühle in ihren Augen zu lesen, die auch ihn umtrieben, sodass sie ungebeten auftauchten und drohten, ihm die Fassung zu rauben.

»Du hast recht, Cheshire, sicher wird man Margarete begnadigen, sobald Boulder seine Braut gewählt hat.« Auch dahinter schien mehr zu stecken, als der Bruder aussprach.

»Dann hat Boulder bereits eine Lady im Auge?«

Sein Grinsen wurde breiter. »Lady Catriona McDermitt.«

Ethan staunte nicht schlecht, schließlich war es für einen Baron aus der Provinz ein hübsches Unterfangen, die Tochter eines Herzogs einzufangen.

»Du siehst, woher der Wind weht?«

William war deutlich umsichtiger, als er es ihm zugetraut hatte. Ethan nickte bedächtig. »Margarete ist zu jung und zu hübsch. Boulder könnte durch sie zu sehr von der Herzogstochter abgelenkt werden oder auch nur den Anschein erwecken, ein zu großes Interesse an Margarete zu haben, sodass Lady Catrionas Mutter, die Duchess of Skye, eine solche Verbindung gleich untersagt. Immerhin ist er nicht gerade eine glänzende Partie.«

Der Bruder verdrehte die Augen. »Letztlich spielt dir alles in die Hände. Also, ich erwarte, dass du mich morgen zurück nach London begleitest und die Sache selbst in die Hand nimmst.« Er leerte sein Glas, stellte es ab und erhob sich geschwind. »Keine Widerrede, Cheshire. Du unterbreitest deiner unwiderstehlichen Lady ein höchst unmoralisches Angebot und kommst endlich aus deiner verqueren Melancholie heraus!«

 

Kapitel 1

 

Eine verfluchte Heimkehr

 

 

St. Ives, Land’s End, 18.09.1820

 

Lady Margarete Mullfort stieg aus der Kutsche. Obwohl ihr letzter Besuch in Epton Cottage einige Jahre zurücklag, hatte sich nichts geändert. Das zweistöckige Haus duckte sich an den Felsen, der es vor den Witterungen der Landzunge Land’s Ends nahe dem Küstenstädtchens St. Ives schützen sollte. Die kleinen Fenster waren mit Spitzengardinen vor Einblicken geschützt und die enge Tür stand offen, um zusätzliches Licht in die Stube zu lassen. Es war das Heim eines einfachen Geistlichen und unterschied sich beachtlich von dem, was sie in den letzten acht Jahren ihr Zuhause genannt hatte. Niemand eilte zu ihrer Begrüßung.

Margarete trat in den dunklen Flur. Zur Linken befand sich die Küche, zur Rechten der Wohnraum. Kein Salon, lediglich ein Zimmer mit längst ausgedienten Sitzgelegenheiten und einem großen Kamin. Der Vater schnarchte in dem einzigen Ohrensessel, wobei die Hand auf dem Buch – sicherlich der Bibel – in seinem Schoß lag und die Pfeife in seinem Mundwinkel hing.

Sie sog den Duft ein. Der Muff der Vergangenheit mischte sich mit dem Rauch des Kamins. Zwar war es Sommer, aber durch den ständigen Wind, der von der Küste aus über das Land strich, war es ganzjährig zugig und es empfahl sich stets, ein kleines Feuer im Gang zu halten.

»Reverend?« Sie hob die Stimme gerade so weit an, wie es nötig war. Der Vater hatte keinen tiefen Schlaf und schreckte für gewöhnlich bereits auf, wenn die Hauskatze mauzte. Wie erwartet riss der alte Mann die Lider auf. Ein Ruck ging durch ihn, wobei er die Bibel von sich schleuderte, die bis an den Rand des Feuers flog und eilig gerettet werden musste.

Margarete lachte auf. Sie lief durch den Raum, zog die alte Familienbibel aus dem Gefahrenbereich und fiel neben ihrem Vater auf die Knie, um nach seinen zittrigen Händen zu greifen.

»So achten Sie das Wort Gottes, Vater?«

Seine ehedem strahlend blauen Augen richteten sich auf sie, die buschigen Brauen zogen sich zusammen und sein Mund formte tonlose Worte. Margarete lächelte in der Erwartung, eine freundliche Begrüßung zu hören.

»Mrs Bennett? Ist es schon so weit?«

In ihrer Irritation runzelte sie die Stirn. »Vater?«

Reverend Bennett fasste sich an den Kopf und strich sich das abstehende Haar glatt. »Einen Kamm, Mrs Bennett, und meinen Talar.«

»Vater?« Verwirrt sah sie sich um. »Was hast du denn?«

Er erhob sich zittrig, fuhr sich durch das schüttere Haar, wodurch seine vorigen Bemühungen zunichtegemacht wurden, und drehte sich dann um die eigene Achse. »Wo ist denn Mr Calvin? Er muss doch die Orgel spielen, und wir haben die Auswahl der Stücke noch nicht getroffen.«

Margarete sperrte den Mund auf. Besagter Gehilfe war bereits seit mehreren Jahren tot. Sie streckte die Hand nach ihrem Vater aus, um ihn zu berühren. »Reverend …«

»Der alte Kauz wird zunehmend unzuverlässig.« Er hastete durch den Raum und verschwand im Flur. Margarete schaute ihm verdattert nach. Sie hockte noch immer vor dem knisternden Kamin, hatte die Hand erhoben und ausgestreckt, als wären nicht bereits unzählige Sekunden verronnen. Langsam ließ sie die Finger sinken und erhob sich, schließlich gab es keinen Grund, vor einem leeren Sessel zu hocken, und ihr Korsett schnürte ihr in der gebeugten Haltung zusätzlich den Atem ab.

Aus den Tiefen des Hauses erklang eine weitere Stimme, die sie als die der Mutter erkannte. Margarete strich sich über den Rock und fasste sich. Sicherlich war die Szene, die sie soeben beobachtet hatte, leicht zu erklären. Ihre Schuhe klackerten auf dem baren Holzboden, als sie den Flur betrat. Elizabeth, die zweitjüngste Tochter des Hauses, eilte auf Margarete zu und blieb stehen, als sie sie erkannte.

»Maggie?«

»Lizzy.« Sie bemühte sich, zu lächeln. »Was ist denn hier los?«

Die Schwester setzte sich wieder in Bewegung und drängte sich an ihr vorbei, um in die Küche zu gelangen. »Vater ist außer sich.«

Margarete folgte ihr. »Er sprach von Mr Calvin und …« Sie schüttelte den Kopf.

Elizabeth füllte Wasser aus dem irdenen Trog in den Kessel, um ihn auf dem Herdfeuer zu erwärmen. Aus alter Gewohnheit holte Margarete den Tee aus dem Regal und spülte auch den Becher aus, damit die Schwester ihrem Vater den Aufguss bereiten konnte.

»Hast du ihn aufgeregt?« Der Blick der achtzehnjährigen Miss Bennett war voller Tadel. »Was tust du hier eigentlich? Solltest du nicht dein sorgenfreies Leben in London genießen?«

Margarete stellte die Zuckerdose ab. »Wie sprichst du denn mit mir?«

Elizabeth zuckte die Achseln. Mit beladenem Tablett stapfte sie los.

»Lizzy!« Sie folgte ihr durch den engen, dunklen Gang hinauf in den ersten Stock, wo ihre Mutter mit ruhiger Stimme auf den Reverend einredete, der sich die Haare raufte.

»Die Messe findet statt, Mrs Bennett, herrje, wo kommen wir denn hin, wenn …«

»Es ist doch Montag, Reverend.« Sie folgte ihm, legte die Hände begütigend auf seiner Brust ab und verkniff die Lippen, als der alte Mann sich lediglich befreite und nach seinem Talar verlangte. »Um die Messe vorzubereiten, brauchst du doch deinen Talar nicht, Mr Bennett!«

»Der Tee.« Elizabeth huschte in das Schlafzimmer der Eltern, stellte das Tablett auf dem Bett ab und machte direkt wieder kehrt. »Und Lady Boulder.« Der Ton war bereits beredet, aber als die jüngere Schwester an ihr vorbeitrat, stieß sie auch noch gegen Margarete.

»Lady Boulder?« Mrs Bennett wandte sich um. Ihr Blick legte sich verständnislos auf sie.

»Wo habe ich denn nur meine Predigt gelassen? Gerade lag sie doch noch hier!«

Mrs Bennett presste die Lippen aufeinander. »Elizabeth, kümmere dich um den Reverend! Lady Boulder, bitte.« Sie deutete in den Flur.

»Mutter, was ist denn mit Vater los?«

Elizabeth drängte sich erneut an Margarete vorbei, nicht weniger ungehalten als Augenblicke zuvor. »Er reagiert nicht auf mich«, beschwerte sie sich. »Bitte, Mutter, Maggie hatte es bisher nicht eilig, mit uns zu sprechen, warum …«

»Du wirst tun, was ich dir sage, Elizabeth Bennett!«

Es stoppte die Beschwerde der Schwester, die lediglich weiter murrte und an die Seite des Vaters trat. »Reverend, es ist Teezeit. Setzen wir uns doch und …«

Mrs Bennett schob die älteste Tochter derweil durch den Gang und die Stufen hinunter. »Was verschafft uns die Ehre deines Besuchs, Margarete? Sicherlich nicht Elizabeths anstehender Geburtstag.«

Margarete sah über die Schulter zurück. »Tatsächlich möchte ich einige Tage bei euch bleiben und freue mich darauf, Lizzys neunzehnten Geburtstag …«

»Das ist ausgeschlossen.«

Margarete stockte auf der letzten Stufe. Sie drehte sich um und sah ihrer Mutter in das starre Gesicht. »Wie bitte?«

»Glaubst du, weil wir hier am Ende der Welt leben, bekommen wir nicht mit, was du in London treibst?« Sie hatte die Hände in der Hüfte abgestemmt und starrte sie mit verkniffener Miene an. Margarete rutschte das Herz bis hinunter in die Kniekehlen.

»Ich verstehe nicht …«

Mrs Bennett schnaubte. »Du hattest diese eine Aufgabe, Margarete, du solltest dich gut verheiraten und deinen Schwestern den Eintritt in die feine Gesellschaft ebnen.«

Eine Aufgabe, der sie nachgekommen war, trotzdem sparte sie sich die Verteidigung.

»Boulder war die perfekte Wahl, du kamst weg von dieser verfluchten Steilküste, du hast Schwägerinnen, die ebenfalls debütieren sollten, ein großes Stadthaus, um alle zu beherbergen …«

Margarete atmete tief durch. Sie brauchte keine Belehrung, schließlich hatte man ihr bereits seit ihrer Kindheit damit in den Ohren gelegen, welche wichtige Aufgabe sie für die Geschwister erfüllen musste.

»Stattdessen versagst du bei allem.«

Sie schluckte. Diese Anklage hörte sie nicht zum ersten Mal. Sie hatte häufig versagt, nicht nur als Tochter und Schwester. Als Ehefrau hatte sie die Bedürfnisse des Gatten nicht erfüllen können, und dem Anliegen der Familie, einen Erben zu gebären, war sie ebenfalls nicht nachgekommen. Als Schwiegertochter war sie zu aufsässig und als Mutter zu besorgt, schließlich wagte sie es, ständig um einen Besuch bei ihnen zu bitten, um für sie da sein zu können, ohne je die Erlaubnis zu erhalten, wenn sie nicht gerade ein Kind erwartete. Ganz gleich, wie man es bedachte, sie war eine Enttäuschung auf ganzer Linie.

Margarete nickte, schließlich ließen sich Tatsachen nicht leugnen.

»Du bist nutzlos. Schlimmer noch.« Sie sog den Atem ein. »Wir können dich hier nicht brauchen.«

»Ich weiß nicht«, gestand sie, »wo ich hingehen soll.«

Die Mutter lachte trocken auf. »Als wüsste ich nicht, warum du wirklich hier bist!«

»Lady Boulder schickte mich …«

»Fort aus London, weil du dem jetzigen Lord Boulder schamlos schöne Augen machst? Ja, das kam uns zu Ohren.« Mrs Bennett stieß sie an, sodass sie den Abstieg fortführte.

»Das entspricht nicht den Tatsachen.« Sie rang die Hände, während sie nach den richtigen Worten suchte. »Lady Boulder weiß, dass die Befürchtungen nicht zutreffen. Sie ist lediglich besorgt um den guten Ruf …«

»Und unser Ruf?« Der Grimm in der Stimme der Mutter deckte sich mit jenem in ihren Zügen. »Denkst du für einen Moment auch an deine Schwestern? Lizzy und Caro brauchen einen Gemahl, aber uns fehlen die Mittel. Der Reverend …« Sie brach ab und senkte den harten Blick. Für einen Moment huschte Schmerz über ihre Miene. »Wir können dich nicht beherbergen, bitte geh.«

Margarete ließ sich vor die Tür schieben, die dann mit einem Klappern zuschlug. Sie starrte eine kleine Ewigkeit lang auf den Türklopfer, lauschte dem Rauschen des nahen Meeres und den mannigfaltigen Geräuschen der Heimat.

Ihr Gepäck stand vor der Tür im Dreck und von der Kutsche war weit und breit nichts mehr zu sehen. Margarete seufzte und nahm die Taschen auf. Es war ein ganz schönes Stück Weg bis ins Dorf, wo es zumindest ein gutes Gasthaus gab, und ihr blieb nichts anderes übrig, als es zu Fuß zurückzulegen.

 

*

 

Fox and Pheasant, St. Ives, 28.09.1820

 

Ethan sah sich um und verfluchte William. Er hatte ihn aus dem Haus gelockt, aber anstatt nach London waren sie ans Ende der Welt gereist.

»Cheshire, kommst du?« Sein Bruder stand bei der Tür zum Gasthaus und gab ihm ein Zeichen, endlich zu ihm aufzuschließen. »Es ist spät.«

Tatsächlich drohte die Sonne am Horizont zu versinken. »Wo sind wir?«

»Im wunderschönen St. Ives.«

Ethan rann ein kalter Schauer über den Leib. Margarete stammte aus St. Ives. Er starrte seinen grinsenden Bruder an.

»Morgen schauen wir uns die Kapelle an und …«

Er schüttelte den Kopf, was William nur dazu anregte, erneut wie wild zu lachen. Es dauerte, bis er sich wieder beruhigt hatte.

»Was führst du im Schilde?«, fragte Ethan, nachdem er sich dazu durchgerungen hatte, die Kutsche stehen zu lassen und sich zu seinem belustigten Bruder zu gesellen. Sie traten in die Gaststube, wodurch er auf die Antwort noch länger warten musste. Es war laut und warm im Inneren, auch wenn sich die Gästezahl in Grenzen hielt. Erst als sie sich in dem abgetrennten Salon vor dem Kamin niederließen, in dem aufgrund der sommerlichen Temperaturen kein Feuer brannte, kamen sie wieder auf den Grund ihrer Reise zu sprechen.

»Nun wirst du mich einweihen?« Ethan streckte die langen Beine aus und schlug die Füße übereinander.

»Da Lady Boulder nicht in London ist, dachte ich, es sei müßig, dort vorbeizuschauen.« William fläzte sich in seinen Sessel. Er trug private Kleidung und nicht seine Uniform, wodurch er zumindest nicht ganz so verboten ungepflegt wirkte wie am Vortag in Ethans Arbeitszimmer. Leider zeigte William stets über seine Haltung und sein Auftreten, wie er zu einer Sache stand. Bei Familienfesten war er als Kind zumeist auf das Kinderzimmer zurückgeschickt worden, selbst, als er vom Alter her daran hätte teilnehmen dürfen. Auch während seiner Schulzeit hatten Ethan so häufig Beschwerden über Williams unangemessenen Gebrauch seiner Schuluniform nebst deren Zustand erreicht, dass er bereits Entschuldigungsschreiben vorsorglich aufgesetzt hatte, damit seine Mutter immer eins zur Hand hatte und Ethan nicht beständig damit konfrontiert werden musste, wie unbezähmbar William war.

»Das hast du vorher gewusst.«

»Ich hielt es für besser, dich im Ungewissen zu lassen.« William zuckte die Achseln. »Nun, es ist Zeit für das Dinner.« Er gähnte demonstrativ hinter vorgehaltener Hand, das Feixen ließ sich dadurch aber nicht verdecken. »Mensch, bin ich müde!«

Ethan klappte beinahe der Mund auf, als William sich erhob und streckte.

»Ich lasse dich dann mal allein, alter Junge.« Sein Zwinkern weckte gelinde Panik. Ethan erhob sich ebenfalls, nicht sicher, ob er den Bruder nicht zurückhalten sollte. »Wir sehen uns am Morgen.«

»Möchtest du nicht zu Abend essen?«, rief er seinem Bruder nach, als der im Begriff stand, den Raum zu verlassen.

»Keinen Appetit, lass dir Zeit!«, schlug er aus und verschwand.

Ethan sah ihm trotzdem noch nach. Die ganze Reise war völlig unsinnig. Schon in der letzten Nacht war er zu dem Entschluss gekommen, allerdings war es ihm nicht möglich gewesen, Williams Enthusiasmus zu dämpfen.

Langsam nahm er wieder Platz und starrte in den grauen Kamin. Das hatte er nun davon, dass er sich bei seinem kleinen Bruder nicht durchsetzte, er saß Meilen von daheim in einem leeren Salon. Er sog den Atem ein, legte den Kopf an die Lehne und schloss die schweren Lider.

Acht Jahre. Ethan versank in der Erinnerung. Es war das Jahr nach dem Tod des Vaters gewesen, sein erster offizieller Auftritt als Earl of Cheshire. Er war nervös gewesen, etwas neben der Spur, weil ihm die Mahnungen der Mutter und der beständige Ärger, den sich William im Internat einhandelte, an die Substanz gingen. Margarete war als Begleitung der Gattin ihres Cousins zweiten Grades vorgestellt worden und hatte ihn gleich in ihren Bann gezogen. Ihr Lächeln, ihre sanfte Stimme … Sie war ihm vom ersten Abend an nicht mehr aus dem Kopf gegangen.

»Oh!«

Ethan schreckte auf.

»Verzeihen Sie, ich wusste nicht …«

Ein Schauer rollte über seinen Leib, meinte er doch, die Stimme zu erkennen. Er sprang auf, schwankte und stützte sich dann wenig elegant an seinem Sessel ab. Er blinzelte, da er seinen Augen nicht trauen wollte.

»Mylady.« Seine Stimme war ebenso uneben wie der Boden unter seinen Füßen. »Guten Abend.« Ethan machte eilig einen Diener.

Lady Boulder hob die Brauen. Ihre blauen Augen glitten über ihn hinweg, was ihn den Atem anhalten ließ. Hatte er einen ähnlich bleibenden Eindruck hinterlassen, oder blieb er ein Fremder für sie?

»Verzeihung.« Sie schloss die Hände vor dem Bauch.

Ethan verbeugte sich erneut. »Cheshire, zu Ihren Diensten.«

Margaretes Lippen formten ein O, bevor sie knickste. »Wie unangenehm.« Sie sah zur Tür zurück. »Nun, verzeihen Sie, dass ich Ihre Privatsphäre missachtete.« Sie machte kehrt.

»Lady Boulder.« Er folgte ihr, blieb dann aber wieder stehen. Er wollte sie keinesfalls bedrängen, lediglich halten. »Ihre Gesellschaft wäre mir willkommen.«

Sie stockte, warf einen Blick zurück und runzelte die Stirn. »Das wäre nicht probat, Mylord. Wir sind einander nicht vorgestellt worden, und selbst dann wäre es nicht sonderlich schicklich, in Ihrer Gesellschaft zu bleiben.«

Ethan räusperte sich. »Tatsächlich sind wir uns vor Jahren bereits begegnet.«

Ihre Augen wurden groß und das Oh war zurück auf ihren schimmernden Lippen. »Verzeihung«, wisperte sie. Ihr Blick flog erneut über ihn. »Ich fürchte, ich kann Sie nicht zuordnen.«

So niederschmetternd es war, er konnte es ihr nicht übelnehmen. »Es war während Ihrer Saison, Mylady. Ich werde mich verändert haben.« Er räusperte sich. »Bitte leisten Sie mir doch beim Dinner Gesellschaft.« Er deutete zum rustikalen Tisch.

»Das …«

»Bitte.«

Sie atmete tief ein. »Also gut.« Margarete trat an den Tisch, und Ethan beeilte sich, ihr beim Platznehmen zu helfen und ihr den Stuhl heranzuschieben.

»Danke.«

Ethan suchte nach Worten, aber ihm mochte einfach kein Gesprächsthema einfallen.

»Nun, Lord Cheshire, was bringt Sie an unsere Gestade?« Margarete schaute zu ihm, ein leichtes Lächeln zierte ihre Lippen, auch wenn es starr wirkte.

»Mein Bruder.« Ethan biss sich auf die Zunge. Offenheit war hier fehl am Platz.

»Ah.« Sie sah ihn mit dieser Aufforderung in den herrlichen Augen an, die ihn dazu bringen sollte, weiterzusprechen, nur wusste er nicht, was er ihr als Erklärung sagen sollte. »Ihr Bruder hat … hier …«

»Er ist hier stationiert.« Ethan klappte den Mund zu.

»Ihr Bruder ist Soldat?«

»Er ist Dragoner.« Ethan rieb die Hände aneinander. »Es überrascht mich immer wieder, dass sie ihn noch nicht rausgeworfen haben.«

Margarete runzelte die Stirn.

»William ist …« Wieder fehlten ihm die passenden Worte, und der Druck wuchs, irgendetwas von sich zu geben. »Unbezähmbar.«

»Dann ist die Soldatenlaufbahn keine sonderlich gute Wahl.« Margarete legte den Kopf schräg. »Mein Onkel war jahrelang in Übersee stationiert und predigt immer noch gern über die Notwendigkeit des unabdingbaren Gehorsams.« Das Runzeln blieb auf ihrer Stirn. »Coventry, mein Cousin zweiten Grades …« Sie unterbrach sich mit einem schnellen Blick zu ihm. »Bitte verzeihen Sie, ich rede zu viel.«

Ethan, der an ihren Lippen gehangen hatte, drückte die Fingerspitzen in die Tischplatte. »Oh, bitte, erzählen Sie ruhig. Es tut gut, hin und wieder jemanden sprechen zu hören.«

Ihre Brauen hoben sich. »Sind Sie sich sicher? Mein Gatte war meines Geschwätzes stets überdrüssig.«

Er zuckte die Achseln. »Ich bin nicht Lord Boulder.« Und zumindest in diesem Moment war er verdammt froh darüber. »Und seit meine Schwestern ausgezogen sind, ist es zu Hause ungewohnt still.« Lediglich die Mutter war ihm zur Gesellschaft geblieben, und die machte sich einen Spaß daraus, all ihre Sprösslinge reihum zu besuchen.

»Was einem Gentleman doch gefallen dürfte.«

»Bisweilen«, gab er zu. »Aber mir fehlt die Leichtigkeit von früher, als jeder Winkel von Edgecomb mit Gelächter und Musik gefüllt war.« Nun hallte lediglich Einsamkeit durch die Hallen seines Landsitzes.

»Gelächter und Musik«, wiederholte sie mit einem Echo in der Stimme. »Das muss lange zurückliegen.« Sie seufzte schwer, wobei ein melancholisches Lächeln ihre Lippen zierte.

»Zu lange«, gestand Ethan ein. »Und ich vermisse es doch so.«

»Das kann ich nachempfinden. Früher waren meine Schwestern und ich unzertrennlich, aber die Zeit ändert Dinge offenbar.«

Die Stille, die sich nun auf sie legte, war durchdrungen von Verlust. Erst die Wirtsfrau unterbrach ihre nachhängenden, dräuenden Gedanken. Sie stellte eine dampfende Terrine auf den Tisch und rauschte dann wieder hinaus. Erst als auch Brot, Schüsseln und Braten bereitgestellt worden waren, wischte sie sich die Hände an dem Küchentuch an ihrem Gürtel ab.

»Wenn Sie noch Wünsche haben, Mylord, Mylady.« Sie knickste fahrig und verschwand.

»Darf ich?« Ethan schöpfte Suppe aus der Terrine und legte ihr auch Brot und Fleisch bereit.

»Danke, das ist sehr zuvorkommend.« Sie wartete, bis er sich ebenfalls bedient hatte, bevor sie den Löffel aufnahm. »Guten Appetit.«

»Ihnen ebenfalls einen guten Appetit, Lady Boulder.« Ethan nickte ihr zu, sicher, in ihrer Gegenwart keinen Bissen herunterzubekommen.

»Ihr Bruder ist in der Nähe stationiert?«, griff Margarete nach einer Weile auf.

Er erstarrte, denn Williams Kaserne lag unweit von London. »Oh ja.« Er nickte schnell und hielt es für angeraten, das Thema zu wechseln. »Und was führt Sie her?«

Margarete stockte wie er zuvor. »Ich …« Sie befeuchtete sich die Unterlippe, was seinen Blick bannte. »… besuche meine Familie.« Ihr Lächeln schwankte und sie senkte den Blick auf ihre Schüssel.

»Und übernachten in einem Gasthaus?« Die Frage war raus, bevor er sich zurückhalten konnte. Natürlich war ihm bewusst, dass es keine sonderlich einfühlsame Frage war. Margarete senkte die Hand, warf ihm einen vorsichtigen Blick zu und versuchte das Lächeln beizubehalten.

»Ja, die … Wohnverhältnisse meiner Familie sind angespannt.«

»Natürlich. Verzeihen Sie meine unangebrachte Frage.«

Sie nickte, aber der Abend war dahin.

 

Kapitel 2

 

Carte blanche

 

 

Fox and Pheasant, St. Ives, 29.09.1820

 

Als es klopfte, reckte Ethan den Hals. Sein Kammerdiener zupfte an seinem Krawattentuch.

»Mylord, halten Sie bitte still.«

Es klopfte erneut, dann verlor die Person vor der Tür die Geduld und stieß sie auf. Dass William hereinkam, wunderte ihn nicht. Mit einem gedehnten Seufzen richtete er seinen Blick in den Spiegel.

»William, guten Morgen.«

»Guten Morgen, Cheshire.« Der Bruder schlenderte herein. »Wie ist es gelaufen?«

»Wie meinen?« Ethan bedeutete seinem Kammerdiener, seine Bemühungen einzustellen. »Lassen Sie uns allein, Becks.«

»Einen Moment noch, Mylord, Ihr Kragen …« Becks fummelte weiter an ihm herum, was Ethan unterband, indem er aufstand.

»Frühstück, William?«

Der Bruder betrachtete den Kammerdiener, der nicht etwa wie aufgefordert das Zimmer verließ, sondern begann, Dinge fortzuräumen.

»William?« Ethan suchte seinen Blick, ohne ihn auffangen zu können.

»Becks, werden Sie das Zimmer heute noch verlassen?«

Der Kammerdiener sah auf. »Wie meinen, Sir?«

»Cheshire bat Sie, zu gehen.« Er deutete zur Tür, wobei seine Miene hart und aus seinen Lippen jener unbeugsame Strich wurde, den Ethan nur zu gut von ihrem Vater in Erinnerung hatte.

»Natürlich, Sir.« Becks verbeugte sich und hastete hinaus. William wartete, bis sich die Tür schloss, dann richtete er seinen wieder belustigten Blick auf seinen älteren Bruder. »Du solltest dir nicht so auf der Nase herumtanzen lassen.« Auch die Mahnung in der Stimme erinnerte an Kindertage.

»Was dir auch zugutekommt, William, vergiss das nicht.« Schließlich war seine Einmischung impertinent.

Der Bruder lachte auf, winkte ab und warf sich dann auf das ungemachte Bett. »Da du nicht in weiblicher Gesellschaft bist, befürchte ich Böses.«

Ethan riss die Augen auf. »Es sollte dich wahrlich nicht verwundern …«

»Dass du den Stier nicht bei den Hörnern packtest?« William seufzte gedehnt. »Hör zu, dies ist nicht die Zeit zu zaudern.«

»Lady Boulder …«

»Steckt in einer Situation, die sie unweigerlich ruinieren wird. Die Frage ist, ob Henry ihr Gönner sein wird oder du.«

Ethan wurde es eisig kalt. »Du weißt nicht, wovon du sprichst.«

»Glaubst du?« Er schüttelte den Kopf. In seinem Blick lag wieder dieser unterschwellige Tadel, der Ethan ins Fleisch drang. »Lass dir gesagt sein, Cheshire, dass die meisten Männer keinen zweiten Gedanken daran verschwenden, was aus ihren Mitmenschen wird. Besonders nicht bei von ihnen abhängigen Personen. Boulder hätte die Verbannung verhindern können.«

Ethan schluckte. Er hatte das Gefühl zu wissen, worauf sein Gegenüber hinauswollte.

»Er könnte ihr Geld schicken.«

Ethan presste die Lippen aufeinander, um nicht herauszuplatzen, dass dies sicher der Fall war. Es war jämmerlich, bedürftigen Familienangehörigen die Tür zu weisen, ganz besonders, wenn es sich dabei um eine Frau handelte.

»Stattdessen verscherbelt Lady Boulder ihren Schmuck.« William hob die Brauen. »Wie lange, glaubst du, wird sie sich über Wasser halten können? Wann wird sie so verzweifelt sein, jede Avance anzunehmen?«

»Sie ist eine Lady, sie wird nicht …« Seine Entrüstung brach sich Bahn.

William lachte ihn aus. »Sei kein Dummkopf.« Er rollte sich aus dem Bett, um Ethan zu stellen und ihm fest in die Augen zu sehen. »Lady Boulder interessiert mich nicht, aber dein Wohl liegt mir am Herzen. Damit du endlich von ihr loskommst, musst du diese Gelegenheit beim Schopf ergreifen.«

Ethan brach den Blickkontakt. »Ich kann das nicht.«

»Deswegen bin ich hier.« Er feixte. »Ich habe ihr ein Billett geschickt, warten wir doch auf ihre Antwort.«

Ethan erstarrte. Seine Gliedmaßen wurden so schwer, dass er Mühe hatte, aufrecht stehen zu bleiben. Sicherlich hatte er ihn falsch verstanden. »Was hast du getan?«, keuchte er.

William zuckte die Achseln, bevor er ihm gegen die Schulter schlug. »Den ersten Schritt gemacht.« Er wandte sich ab, und Ethan folgte ihm gehetzt.

»William! Was hast du geschrieben?«

»Dass du ihre Gesellschaft gern längerfristig genießen würdest.« Sein Grinsen war dummerweise alarmierend.

»In diesen Worten?«, hakte er daher nach. »Du hast ihr keine ungehörigen Avancen geschickt?« Die deutlich zeigten, in welche Richtung ihre Bekanntschaft gehen sollte.

William zwinkerte bloß. »Wir sollten frühstücken, meinst du nicht auch?«

»Verflucht!« Er folgte ihm in den Flur, um ihn erneut aufzuhalten. »Will…«

»Ich verspreche Ihnen, Mrs Cox, ich werde …« Die gehetzten, leisen Worte erregten augenblicklich seine Aufmerksamkeit, schließlich besaß ihre Stimme die Eigenschaft, selbst im Menschengetümmel eines vollen Ballsaales zu ihm zu finden. Er wandte sich um, den Bruder bereits vergessend, und stieß den Atem in einem kleinen Seufzen aus. Sie war unzureichend gekleidet, stand halb verborgen im Rahmen ihrer Zimmertür und raffte ihren Morgenrock mit einer Hand am Hals.

»Es tut mir leid, Lady Boulder, aber das versprechen Sie bereits seit fast zwei Wochen!« Die Gastwirtin stemmte die Arme in der Hüfte ab, ihr rotes Gesicht zeigte deutlich, dass sie die Geduld verlor. »Sie müssen abreisen.«

Margarete erbleichte. »Mrs Cox …«

Ethan wurde angestoßen, bevor die Stimme seines Bruders an sein Ohr drang. »Los, das ist deine Chance!« Der zweite Schubs bewirkte, dass Ethan vorstolperte und die Aufmerksamkeit der Lady einfing. Ihre Augen wurden riesig und sie schob die Tür noch weiter zu.

»Verzeihung«, haspelte er. Er spürte, wie sein Blut siedend heiß in sein Gesicht schoss, was nicht half, die Gedanken beisammenzuhalten. »Ich kam nicht umhin, Ihr Gespräch mit anzuhören.«

»Cheshire übernimmt die Rechnung der Dame«, mischte sich William ein.

Zwar hatte er das auch vorschlagen wollen, aber doch etwas subtiler. Ethan wandte sich halb von den Frauen ab, um seinem Bruder einen verärgerten Blick zu schicken.

»Und bietet ihr selbstredend Geleit an.« Sein breites Feixen war selbst für Ethan zu anstößig, wie musste es auf Margarete wirken? Er schoss auch ihr einen Blick zu.

Ihre Augen waren nicht nur riesig, sondern schimmerten vor Schreck. Ihr Mund stand offen, der Griff an ihrer Kehle hatte sich gelockert, wodurch der Morgenmantel einen Hauch mehr von ihrem Nachthemd freigab.

»Wundervoll!«, beschied Mrs Cox. »Die Lady muss trotzdem heute noch abreisen. Dies ist ein respektabler Gasthof und soll es bleiben!« Sie nickte Cheshire zu, der das gar nicht richtig mitbekam, so vertieft, wie er in Lady Boulders Betrachtung war.

»Wir bekommen noch einen wärmenden Schluck Whisky, bevor wir abreisen«, orderte der Bruder, schlug Ethan auf die Schulter und wandte sich an die Lady. »Und vielleicht ein Frühstück? Wir warten jedenfalls auf Ihr Eintreffen, Lady Boulder.« Damit zog er Ethan mit sich den Flur hinunter. Erst hinter verschlossener Tür des Speisezimmers seufzte William gedehnt. »Das hätten wir!«

»Du hast sie in Verlegenheit gebracht.« Ethan konnte nur ahnen, wie schockiert Margarete sein musste. »Es war absolut nicht nötig …«

»Sie muss verstehen, dass du ihr einziger Ausweg bist.«

Ethan klappte der Mund zu. Sein kleiner Bruder klang verflucht abgebrüht.

»Und das bist du.«

Ethan atmete tief durch. »Ich habe nachgedacht …«

»Und festgestellt, dass du einer Lady keine Liebschaft antragen kannst?« Er klang nicht überrascht, sondern gelangweilt. »Legen wir die Karten doch auf den Tisch.« An diesen setzte er sich und deutete auf den Stuhl neben sich. »Bitte. Wir werden sicherlich eine Weile auf die Lady warten müssen und sicher ebenso lange auf unseren Whiskey. Ich denke, wir sollten klarstellen, wo wir stehen und wo wir hinwollen.«

»Alkohol zum Frühstück!«, brummte Ethan und nahm nur Platz, weil es ihm nicht behagte, auf den Bruder hinabzusehen. »Da fängt es bereits an. Wir haben nicht dieselben Ziele!«

William lachte auf, auch wenn es harsch und abgehackt klang. »Dann sage ich es dir noch einmal: Mein Ziel ist es, dich von deiner albernen Verliebtheit zu befreien, damit du dein Leben endlich wieder genießt! Du stehst in der Verpflichtung, eine Frau heimzuführen, Kinder zu zeugen und das Erbe deines Titels zu verwalten!«

Ethan klingelte es in den Ohren. Seine Kindheit war angefüllt gewesen mit dieser Mahnung und er hatte sie selbstverständlich auch verinnerlicht. Er wusste, dass er heiraten und Kinder zeugen musste, er ließ sich eben nur noch ein wenig Zeit. Als läse William seine Gedanken, wanderten dessen Brauen in die Höhe.

»Und wie viel Zeit willst du dir noch nehmen?«

Ethan schluckte unangenehm berührt.

»Du bist fast dreißig!« William beugte sich vor. »Du brauchst einen Erben.«

»Ich habe einen …«, wollte er sich verteidigen, aber der Bruder kam ihm zuvor.

»Oh nein! Ich werde nicht in zweiter Reihe stehen, um deinen Unsinn zu unterstützen. Du wirst dich zusammennehmen, diese Sache mit Margarete durchexerzieren und anschließend frei und fröhlich dein Leben wieder aufnehmen!«

Ethan kaute auf seiner Zunge herum.

»Also. Wir haben einen guten Ausgangspunkt. Sie hat Schulden, die sie nicht begleichen kann, sie muss ausziehen und kann niemanden um Hilfe bitten.« Williams Augen funkelten vor Begeisterung. »Sie wird mit dir abreisen. Wohin magst du sie bringen? Gemeinhin ist London eine gute Adresse für eine Liaison, aber in deinem Fall würde es nur Fragen aufwerfen.«

Ethan war zu fassungslos, um seine Gedanken zu formulieren.

»Wie wäre es mit der Jagdhütte im Sherwood?«

Sein kleinstes Gut, das abgelegen lag und nur zwei Bedienstete beinhaltete. Es musste niemand sehen, wie tief er sank, wenn er sich einer Lady aufdrängte, die nicht seine Gattin war. Ethan räusperte sich.

»Du machst dir zu viele Gedanken, Cheshire!«, mahnte William. »Lady Boulder hat keine Wahl.«

»Damit bist du versöhnt?«, krächzte Ethan, dem es wesentlich schwerer fiel, das Ungemach der Lady auszunutzen.

»Ja, völlig«, stellte William fest. »Sie hat keine finanziellen Mittel, um sich über Wasser zu halten, kann nicht bei ihrer Familie unterkommen, und Boulder … Er wartet nur darauf, sie in die Finger zu bekommen.«

Ethan legte die Fingerspitzen an die Stirn und rieb fest.

»Er wird keinen zweiten Gedanken an das Wohlergehen der Lady verschwenden, glaube mir.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er seine angeheiratete Cousine …«

William lachte auf. »Du kennst ihn nicht!«

Natürlich war dies die reine Wahrheit.

»Ich aber kenne ihn zur Genüge, und nicht nur ich habe mitbekommen, welche unfeinen Absichten er mit der Lady verbindet.« William wurde ernst. »Wie gesagt, das Wohlergehen der Lady ist mir ebenfalls gleich, aber ich weiß, wie du leiden würdest, müsstest du ihren tiefen Fall verfolgen. Du bist zu feinfühlig, Cheshire.« Er klopfte ihm auf die Hand. »Es ist eine liebenswerte Charaktereigenschaft, aber … hinderlich.«

Ethan räusperte sich. »Als wäre die Situation eine andere, wenn ich derjenige bin, der sie ruiniert! Ich glaube nicht, dass ich in der Lage sein werde, Forderungen zu stellen.« Schon gar keine, die einer Frau wie Margarete zuwider sein mussten.

»Natürlich wäre sie anders«, beharrte sein Bruder am Rande seiner Geduld. »Du würdest penibel darauf achten, dass ihr Ruf unangetastet bleibt. Boulder wird sich mit seiner Eroberung brüsten. Glaube mir, diesem Mann fehlt jedwedes Taktgefühl.«

Ethan haderte mit sich. »Ich kann mir nicht vorstellen …«

William schnalzte ungeduldig. »Dann werde ich nachhelfen.« Seine Augen kühlten aus. »Ich weiß, dass du zu gutherzig bist und ihr vermutlich alles ohne Gegenleistung zur Verfügung stellen würdest.«

Das war tatsächlich eine Alternative, mit der Ethan gut zurechtkäme. Das Jagdhäuschen besuchte er ohnehin nie, und auch seine Mutter hatte dort nie einen Fuß hineingesetzt. Es fiele gar nicht weiter auf, wenn Margarete dort lebte. Er fand Gefallen an der Vorstellung und spürte, wie sich seine Anspannung löste.

»Du hast recht, ich …«

»Wenn du es nicht tust, tue ich es.«

Ethan zuckte zurück. »Wie bitte?«

»Sie wird nicht auf deine Kosten leben, während es für uns den gleichen Gang weitergeht!« Seine Augen funkelten gefährlich. »Ethan, es ist mein verfluchter Ernst, dass diese Frau ihre Rechnung auf dem Rücken begleichen wird.«

»William, du …«

Der Bruder hob die Hände. »Nein! Du hast jetzt die Chance, diese Frau zu besitzen und dich von ihrem Einfluss zu befreien. Du wirst sie nutzen. Wenn du danach beschließt, sie unterstützen zu müssen, fein. Aber du wirst sie ins Bett nehmen.« Er wedelte mit der Hand.

»William, du machst Vater alle Ehre.«

»Ich bin mir sicher, dass er das anders sähe, wäre er noch unter uns.« Letztlich senkte der Jüngere doch den Blick, und die Härte schwand aus seinem Antlitz. »Nun, wir sollten uns auf die Zukunft konzentrieren.« Eine Spur Melancholie zeigte sich im harten Schwung seiner Lippen und hing ihm auch in den Augen nach. »Wir sind uns einig?«

Ethan seufzte schwer. »Ich bin …«

»Im Zugzwang«, unterbrach William ihn fest. »Du möchtest nicht, dass Henry seinen Willen mit ihr bekommt.« Er hob die Brauen, als warte er auf eine Bestätigung.

»Nein«, murrte William daher.

»Und dein Interesse fängt sie immer noch ein, oder?«

Ethan grummelte eine Zustimmung.

»Sie könnte es schlimmer treffen, Cheshire. Letztlich ist sie Witwe und verschenkt sich nichts, wenn sie auf dein generöses Angebot eingeht.« Er zuckte die Achseln und lehnte sich befreit zurück. »Sobald Boulder sein Augenmerk auf eine andere gelenkt hat, kann sie in den Schoß der Familie zurückkehren und ihr sorgenfreies Leben fortführen. Du sorgst indes nur dafür, dass ihr nichts Schlimmes widerfährt und ihr Ruf keinen maßgeblichen Schaden nimmt.« William grinste breit. »Du hast etwas Spaß, reißt dich endlich aus deinen trüben Gedanken los und das Leben geht weiter!«

Es klang so einfach aus dem Mund seines verantwortungslosen, wilden Bruders, dass es eine süße Sehnsucht weckte, die zur Abwechslung nichts mit Margarete zu tun hatte. Wie wäre es wohl, allem entsagen zu können? Seinen Pflichten? Seiner Verantwortung? Wenn er tun könnte, wonach ihm der Sinn stand? Was wäre es?

Die Frage lenkte seine Gedanken dann doch wieder auf die junge Witwe. Er mochte es vor William verleugnen, aber das Begehren, sie zu besitzen, brannte in ihm. Die Aussicht, zu ihr ins Bett zu kriechen und ihre samtig weiche Haut zu spüren, während er … Allein die Vorstellung weckte seine Lust und sorgte für unangenehme Enge in seiner Hose. Einmal bekommen, was er sich ersehnte, war es nicht etwas Ruchlosigkeit wert?

 

 

Kapitel 3

 

Ein unangenehmes Gespräch

 

 

 

Margarete bebten die Knie. Sie musste sich an der Türzarge abstützen, um nicht zusammenzusinken, und schloss nun die bleischweren Lider. Sie hatte es geahnt. Spätestens, als er anbot, ihre Rechnung zu übernehmen, hatte sie befürchtet, dass es keine altruistische Geste war, sondern Kalkül. Nun sah sie sich bestätigt und wusste nicht, wie sie mit dieser unschönen Wandlung der Dinge umgehen sollte. Am vergangenen Abend war Cheshire ihr erfrischend zuvorkommend erschienen. Wie ein Gentleman, aber offenbar war es nur ein Schauspiel gewesen, um sie einzuwickeln. Leider lag seine Begleitung – vermutlich der Bruder, schließlich hatten sie nicht nur die Augen gemein – schmerzlich richtig. Ihr gingen die Optionen aus. Sie musste eine Entscheidung treffen, die ihr alles andere als leichtfiel. Da waren ihre Mädchen, an die sie denken musste, aber natürlich auch ihre beiden noch unverheirateten Schwestern.

Sie fluchte innerlich. Zwar behauptete Mrs Bennett, sie hätte ihre Aufgabe nicht erfüllt, jedoch hatte sie zwei Saisons für die mittleren Schwestern Christobel und Agnes ausgerichtet, bevor es zu dem unsäglichen Unfall ihres verstorbenen Gatten gekommen war und sie keine Möglichkeit mehr gehabt hatte, Elizabeth nach London zu holen. Leider hatte sich Christobel mit einem Soldaten verheiratet, der gleich nach Übersee abkommandiert worden war, und die Schwester befand sich nun in eigener Bedrängnis, sodass Margarete sich ihr nicht aufdrängen wollte. Auch Agnes hatte eine dumme Wahl getroffen – in allerwelts Augen, nicht aber in jenen der Schwester. Sie war die Gattin eines Reverends nahe der schottischen Grenze. Auch ihr Haus, in dem beständiger Mangel herrschte, war daher keine Alternative.

So sehr sie die Schwestern liebte, verspürte sie auch unsäglichen Ärger. Ihr war es nicht vergönnt gewesen, auf ihr Herz zu hören. Sie hatte zum Wohl der Familie heiraten müssen, während Christobel und Agnes alle guten Ratschläge in den Wind geschossen hatten. Die Ältere war sogar ausgebüxt, um sich in Gretna Green zu verheiraten. Natürlich hatte man dies ihr, Margarete, angekreidet. Sie habe ihre Aufsicht schleifen lassen, sei nicht aufmerksam genug gewesen …

Vermutlich war die Anklage nicht gänzlich von der Hand zu weisen, dennoch empfand sie es als zusätzliche Belastung, die sie nicht brauchen konnte. Und nun, da sie selbst Hilfe benötigte, stand sie vor verschlossenen Türen.

Margarete lehnte sich gegen die Wand. Ihre Hände schlossen sich um das feine Wildleder ihrer Handschuhe, die sie zu deren Schutz noch nicht übergestreift hatte. So sehr sie es hasste, sie musste sich mit der hässlichen Realität auseinandersetzen und eine Entscheidung fällen. Oder durfte sie diese vertagen, bis der unleidliche Adlige seine Forderung in Worte kleidete?

Letztlich hatte sie um keine Unterstützung gebeten. Er hatte ihr die Begleichung ihrer Schulden förmlich aufgedrängt. Noch konnte sie ihn mit der Vertröstung, sie entrichte ihm ihre Außenstände, abspeisen. Natürlich konnte es schlimmer kommen.

Ihr Magen knurrte. Zwar hatte sie das Abendmahl zur Gänze ausgeschöpft, dennoch war es seit Wochen die einzige Mahlzeit am Tag und es schien, dass ihr Leib durchaus wusste, dass es noch schlimmer kommen konnte. Sie straffte die Schultern und fasste ihren Entschluss. Ein Frühstück in Gesellschaft dieser Gentlemen würde sie sich gönnen, bevor sie entschied, ob sie dem ungeheuerlichen Begehr des Lords stattgeben sollte. Die Alternativen waren schließlich ähnlich vernichtend. Da wäre Lord Boulder – Henry, wie sie ihn nennen sollte –, der ihr tatsächlich bereits Avancen gemacht hatte. Und die andere wäre der einzige Ausweg, der einer adligen, in Bedrängnis geratenen Frau offen stand, und im Hinblick darauf, dass sie das Leben noch nicht aufgeben wollte, einfach indiskutabel. Ein kalter Schauer erfasste sie und ließ sie beben. Dieser Ausweg weckte eine bittere Erinnerung, die sie nur zu gern wieder verdrängte, wie alles, was Ethan – ihren älteren Bruder – betraf. Er hatte sich umgebracht, daher empfand sie es fast als Frevel, es auch tun zu wollen. Er hatte mit dieser schrecklichen Sünde so viel Leid über sie gebracht, dass es ihr unmöglich erschien, sich das Leben nehmen zu können. Also?

Margarete stieß die Tür auf und trat in den Raum, bevor sie ihre Bedenken noch daran hindern konnten. Der eiskalte Blick des jüngeren Mannes schoss augenblicklich zu ihr.

»Mylords.« Sie nickte, während Cheshire aufsprang und wie ein aufgeschrecktes Huhn auf sie zuhastete.

»Lady Boulder.« Er machte eine Verbeugung, fasste dann nach ihrer Hand, um sie an die Lippen zu heben. »Verzeihen Sie, ich verpasste Ihr Eintreten.«

Was absolut kein Grund war, so aus dem Häuschen zu sein. Er zog sie mit sanftem Nachdruck zum Tisch. Der zweite Herr war aufgestanden und verbeugte sich ebenfalls vor ihr.

»Lady Boulder.«

Sie neigte den Kopf, reichte ihm aber nicht die Hand.

»Oh, Mylady, darf ich Sie mit meinem Bruder bekannt machen? William Coleridge, Unterleutnant des dreizehnten Dragonerregiments seiner Königlichen Hoheit.« Er räusperte sich, wobei er ihr einen unsicheren Blick zuwarf. »Bitte setzen Sie sich doch.« Er beeilte sich, den Stuhl bereitzustellen.

Margarete sank darauf nieder und strich über ihre Röcke. Ihre Reisekleidung wies bereits einige Knicke auf, die sie nicht zu beheben wusste. Immerhin hatte sie die Säume nicht beschmutzt, da sie bei Regen im Haus blieb und das Zimmer nur verließ, um eine Mahlzeit zu bekommen und in St. Ives nach einem Pfandleiher zu suchen, der ihren dürftigen Schmuck ankaufte. Sie hob das Kinn und begegnete Mr Coleridges Blick.

»Ich hoffe, Ihnen kommt mein Angebot entgegen«, haspelte der Lord, der sich setzte und dabei die Beine des Stuhls über den Boden zog. »Ich versichere Ihnen …«

Margarete wandte sich ihm zu, was ihn dazu brachte, mitten im Satz abzubrechen. Sie wartete, aber er schien sich nicht fassen zu können.

»Was Cheshire sagen möchte«, griff der Bruder fest auf, wodurch er sich ihre Aufmerksamkeit zurückholte.

Sie verengte die Augen, da sie selbst eine gewisse Beunruhigung verspürte. Es stand außer Frage, dass der Leutnant der gefährlichere Mann aus diesem Duo war, auch ohne die zuvor gehörten Worte einzubeziehen. Er glich Henry in erschreckender Weise. Beide wussten genau, was sie wollten, und verfolgten ihre Ziele gewissenlos. Margarete warf einen Blick auf den Lord, als Mr Coleridge fortfuhr.

»Es ist ihm eine Freude, Ihnen in Ihrer schweren Zeit beiseitezustehen.«

Cheshire schluckte unter ihrer Musterung, bekräftigte die Worte des anderen Mannes aber sogleich mit einem Nicken. »So ist es.«

»Ferner bietet er Ihnen an, Sie an jeden Ort zu bringen, den Sie ihm nennen.« Mr Coleridge grinste schmuck. »Nicht wahr, Cheshire?«

»So ist es.« Wieder nickte er deutlich zu oft.

Margarete presste die Lippen aufeinander. Dieser Soldat war unglaublich hinterhältig. »Wie überaus freundlich, Lord Cheshire.«

Der Earl räusperte sich und senkte den Blick. Er hatte offenkundig mehr Skrupel, was ihn fast angenehm erscheinen ließ – im Gegensatz zu seinem Bruder.

»William, schau doch, wo die Wirtsfrau mit unserem Morgenmahl bleibt.« Es war eine Bitte, was Margarete erneut irritierte.

Leutnant Coleridge blieb einen Moment länger sitzen. Sein Blick durchbohrte sie. »Gern.« Selbst als er sich erhob, starrte er sie an. Sollte es eine Warnung sein, oder wollte er sie lediglich einschüchtern?

Margarete war sich sicher, dass er sie selbst auf seinem Weg durch den Raum nicht aus den Augen ließ, es zwickte unablässig in ihrem Nacken. Ein deutliches Zeichen, schließlich hatte sie immer schon dieses unsägliche Feingefühl besessen, zu merken, wenn sie bewertet wurde.

»Verzeihen Sie Williams Benehmen.« Cheshire hatte ihm auch nachgesehen und wandte sich nun zu ihr um. »Er ist … forsch.«

Sie hätte ihn anders beschrieben, hütete sich aber davor, den Lord zu korrigieren.

»Aber er hat ein gutes Herz und ist treu wie ein Hund.«

»Als ich jung war, hatten wir einen Hund.« Margarete spielte mit ihren Handschuhen in ihrem Schoß. »Er war wahnsinnig treu und anhänglich.« Sie richtete ihren Blick auf ihre Finger. »Aber er hatte auch diese Marotte, Fremde zu zwicken.«

»Wie war sein Name?«, erkundigte sich Cheshire, was sie aus den Gedanken riss. Sie sah auf in seine blauen Augen.

Margarete stockte. Als ihr auffiel, dass nicht nur ihr Mund offen stand, sondern sie ihn überdies noch anstarrte, wandte sie schnell den Blick ab. »Barry.«

»Barry«, murmelte er.

»Ja.« Sie räusperte sich leise. »Barry.« An welchem Punkt ihrer Geschichte hatte er sie unterbrochen? »Er biss eines Tages den Marquess of Holburn.«

Ein Runzeln huschte über die Stirn des Earls. Er schüttelte den Kopf, bevor sich seine Augen weiteten und seine Lippen ein O formten.

»Er erschoss Barry.« Sie hob die Brauen. »Nachdem er ihn einen tollwütigen Bastard genannt hatte. Und all dies nur, weil unser armer, kleiner, vierbeiniger Freund nicht verstand, dass er niemanden grundlos anspringen und zwicken durfte, so sehr ich auch bemüht war, es ihm abzugewöhnen.«

»Nun, ich hoffe, Lady Boulder, Sie werden meinen Bruder nicht erschießen.« Ein schwaches Grinsen legte sich auf den Mund des Adligen. »Auch wenn ich keine Hoffnung habe, ihm seine Flausen noch austreiben zu können.«

»Ich nicht, nein«, beruhigte sie ihn. Margarete sog den Atem ein. »Aber sicherlich gerät er früher oder später an den Falschen.«

Cheshire starrte sie verblüfft an. »Nun, ich kann nur hoffen …«

»Die Wirtsfrau wird jeden Moment herkommen«, sagte Mr Coleridge.

Sie zuckte zusammen, war sie doch ganz auf das Zwiegespräch fokussiert gewesen. Mr Coleridge ließ sich auf den Stuhl fallen, wobei sich seine schneidenden Augen direkt wieder auf sie legten.

»Entschuldige, Cheshire, ich wollte dich nicht unterbrechen.«

»Ich bin mir sicher, William, Lady Boulder und ich werden dieses Thema bei Gelegenheit aufgreifen können.« Er lockerte sein Krawattentuch um wenige Zoll und zwängte ein versicherndes Lächeln auf seine schmalen Lippen.

Margarete bemerkte seine Anstrengung mühelos, schließlich hatte sie jahrelange Übung darin, die Gemütsverfassung von Männern zu erahnen. Es stellte sich die Frage, warum sich der Earl in Gesellschaft des eigenen Bruders unbehaglich fühlen sollte. Sie entzog sich dem Gespräch, um das Duo zu beobachten.

»Ich hoffe, ihr findet interessantere Themen als meine Wenigkeit.« Sein Blick schoss zu Cheshire, wobei er deutlich weicher wurde. Deutete es auf eine gewisse Zuneigung hin? Ihr Vater sah ihre Mutter mit einem ähnlichen Blick an, wenn er sich unbeobachtet wähnte.

»Als Entrée magst du durchaus herhalten. Als Floskel womöglich, um einander die Belanglosigkeit des ständigen Regens in London zu ersparen.« Auch der Earl grinste mit ungeheurer Wärme. Margarete sah sich an die Vergangenheit erinnert, als sie sich ihren Schwestern noch ähnlich verbunden gefühlt hatte. Von Ethan wollte sie gar nicht erst anfangen, schließlich hatte sie seinen Verlust noch immer nicht verwunden. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals und die Schwere der Zeit legte sich erneut unerbittlich auf ihre Schultern. Wie närrisch sie einst gewesen war, wie überzeugt davon, dass eine goldene Zukunft auf sie warten mochte.

»Ich erspare dir gern Belanglosigkeiten, Cheshire. Darf ich mich erkundigen, als wie nichtig ich mich erweise?«

»Womöglich sollte ich dir Weiteres ersparen, mein Lieber. Belassen wir es dabei, dass Lady Boulder und ich nun ein Gesprächsthema teilen, das einzigartig ist.«

»Einzigartig, in der Tat?« Sein Blick schweifte zu ihr. »Dann sollten wir anstoßen, meinen Sie nicht auch, Lady Boulder? Auf einzigartige Gemeinsamkeiten.«

Sie war gleich auf der Hut. Was hatte er nur an sich, dass er diese Unruhe in ihr weckte, während sein Bruder diese zu zerstreuen wusste?

»Es ist früher Morgen, Mr Coleridge, da halte ich mich an Tee.« Sie hob die Brauen, da sie sich von diesem unverschämten Kerl nicht einschüchtern lassen wollte, der sicherlich noch jünger war als sie selbst.

»Wir werden uns Ihnen anschließen, Lady Boulder«, beschied Cheshire mit einem Schmunzeln. »So die Wirtsfrau …«

Schritte näherten sich. Ein schneller Blick zur Tür ließ ihn abbrechen und sich recken.

»Tee und ein reichhaltiges Frühmahl, gute Frau.« Seine Stimme festigte sich, auch wenn Margarete meinte, Widerstreben herauszuhören.

»Wenn wir heute noch abreisen wollen, sollte es schnell aufgetischt werden.« Mr Coleridge hatte hingegen kein Problem damit, eine Order mit entsprechendem Nachdruck zu geben.

»Wie Sie wünschen, Mylords.« Sie ignorierte Margarete und zog sich eilig zurück.

»Nun, Lady Boulder.« Erneut legte sich der Blick des Soldaten mit unangenehmer Eindringlichkeit auf sie. »Da Sie Ihren Aufenthalt abbrechen müssen, wohin soll es nun gehen?«

Margarete atmete bedacht ein. »Es ist bedauerlich, dass ich mich tatsächlich gezwungen sehe, abzureisen.« Sie spürte die erwartungsvollen Blicke der Männer auf sich und zog den Moment noch etwas in die Länge, schließlich hatte sie keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. »Zumal meine Schwester Elizabeth am Freitag ihren Geburtstag begeht. Zudem hatte ich mich bereits darauf gefreut, die Messe meines Vaters zu besuchen und …«

»Dann werden Sie übersiedeln?«, unterbrach Mr Coleridge. »Sicherlich wird Ihre Familie auch Ihre Außenstände begleichen. Bitte verzeihen Sie unsere Einmischung.« Er stemmte die Ellenbogen auf dem Tisch ab und faltete die Finger. »Wir waren einigermaßen irritiert, dass Sie in einem Gasthaus unterkommen mussten.«

Ganz sicher war er sich bewusst, wie fürchterlich unangenehm er war. Margarete hielt seinen Blick. Er erinnerte sie tatsächlich an Henry, den neuen Lord Boulder, und ebenso an ihren verstorbenen Gatten. Bei beiden war es stets ratsamer, sich bedeckt zu halten, allerdings war sie nicht aus London geflohen, um sich weiterhin kleinhalten zu lassen – ob nun von ihrem angeheirateten Cousin oder der ebenso aufdringlichen Schwiegermutter.

»Es war ein Überraschungsbesuch.« Sie winkte ab. »Unglücklicherweise hinterließ der letzte Sturm einige Schäden am Dach meines Elternhauses und …« Sie zuckte die Achseln und lächelte nichtssagend.

Die Augen des Soldaten hatten sich bei ihrer Erklärung verengt, was Margarete nicht weiter wunderte, schien er über ihre tatsächliche Situation doch unangenehm genau informiert zu sein.

»So?«

»Die Reparatur verschlingt ein Vermögen.« Sie wollte ihn nicht bestätigen, auch wenn er es natürlich bereits deutlich ausgesprochen hatte: Sie hatte kaum eine andere Wahl, außer auf das unmoralische Angebot des Earls einzugehen.

»Je nachdem, was man ein Vermögen nennt«, murmelte Mr Coleridge, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Da sind Gasthausrechnungen sicherlich eine unangenehme Zusatzbelastung.«

Sie hatte nicht vor, es zu kommentieren, und lächelte lediglich. Endlich hatte Cheshire ein Einsehen. »William, du dringst in die Dame.«

Die Lippen des Soldaten hoben sich, sicherlich wusste er genau, dass sie sich lediglich aus der Affäre ziehen wollte.

»Elizabeth, nicht wahr? Wird sie in Bälde debütieren?« Erneut war es der jüngere Mann, der sie unter Beschuss nahm. Margarete war sich sicher, dass er auch über ihre Schwester bestens Bescheid wusste.

»Elizabeth ist eine äußerst pflichtbewusste junge Frau«, behauptete sie daher lediglich. »Sie unterstützt unsere Mutter und ist auch dem Reverend eine Hilfe.«

Mr Coleridge nickte bedächtig. »Sie wird ganz nach Ihnen geraten, nicht wahr?«

Margarete unterdrückte ihr Lachen, schließlich hatte man sie vor unendlichen Jahren ähnlich angepriesen, was dieser Kerl aber nicht wissen konnte. »Sind Sie ganz nach Seiner Lordschaft geraten?«

Mr Coleridges Augen weiteten sich.

»Wir sind Schwestern, viel mehr als unsere Herkunft haben wir nicht gemein.«

Wieder räusperte sich Cheshire. »Sicherlich gibt es weitere Übereinstimmungen zwischen Ihnen und Ihren Geschwistern, Lady Boulder.« Er warf einen Blick zu seinem Bruder. »Wie auch zwischen uns, die auf den ersten Blick vielleicht nicht deutlich zutage treten.«

Sie wurden unterbrochen, was zumindest Margarete als Erleichterung ansah. Zwar fühlte sie sich mit jedem verstreichenden Augenblick besser in der Lage, sich dem Duo zu stellen, aber darauf ankommen lassen wollte sie es auch nicht.

Die Wirtin stellte ein Tablett mit einer Kanne dampfenden Tees und drei Tassen vor ihnen ab, bevor sie wieder verschwand. Da es stets der Dame zufiel, die Herren zu bedienen, rutschte Margarete auf ihrem Stuhl nach vorn. Sie griff nach den Tassen, um sie vor sich zu positionieren, und spulte das Ritual ab.

»Lord Cheshire, wie nehmen Sie Ihren Tee?«

»Weiß, mit zwei Löffeln Zucker, bitte.«

Sie goss das Getränk ein, gab den Zucker und die Milch dazu und rührte beides ausgiebig ein. »Mylord.« Sie reichte ihm die Tasse mit dem höflichen Lächeln einer routinierten Gastgeberin. Dann erst wandte sie sich an Mr Coleridge.

»Sir? Wie darf ich Ihnen Ihren Tee zubereiten?«

»Weiß mit zwei Löffeln Zucker.«

Sie hob die Brauen, hielt seinen Blick, während sie seine Tasse füllte und sie ihm deutlich weniger aufmerksam zuschob. »Bitte schön.«

»Wie freundlich von Ihnen, Lady Boulder.«

Jetzt verhöhnte er sie schon?

»Er ist perfekt, Mylady«, mischte sich Cheshire ein. Margarete entschied, den rüden Soldaten mit Etikette zu schlagen, und wandte sich dessen Bruder zu. Sie neigte in Anerkennung seiner Wertung den Kopf, lächelte und widmete sich ihrem Tee.

»Etwas beschäftigt mich, Lord Cheshire.« Margarete drehte den Löffel, ohne das Porzellan zu berühren, wobei sie den Strudel beobachtete. »Sie sagten, Sie begleiten Mr Coleridge zu seiner Kaserne. Allerdings sind in Land’s End keine Dragoner stationiert.« Sie sah auf, um zu verfolgen, wie sich die Wangen des Earls röteten.

»Sicherlich ein Missverständnis«, mischte sich Coleridge ein. »Ich bin im Auftrag meines Vorgesetzten hier, Cheshire bot seine überaus erwünschte Gesellschaft an.«

Margarete durchschaute den Leutnant, der sich lediglich zurück in ihre Aufmerksamkeit schleichen wollte. »Sie sind ein angenehmer Gesellschafter?«

»Leider nicht.«

Margarete lachte auf. Gemeinhin wurde eine solche Frage bejaht, ganz gleich, ob die Aussage der Wahrheit entsprach. »Ach herrje, dann bin ich einer Lüge aufgesessen?«

Die blauen Augen des Earls schimmerten, als er ihren Blick aufgriff, und ein Lächeln hob seine Mundwinkel. »So ist es.«

»Nun, zum Glück bin ich schwierige Gesprächspartner durchaus gewöhnt.« Sie legte den Löffel beiseite und hob die Tasse an. Sie ärgerte sich ein wenig, dass sie es nicht schaffte, ihren Plan auszuführen, aber Coleridge machte sie ungewöhnlich bissig. »Sagen Sie, Lord Cheshire, sind Sie stets so aufrichtig?«

Die Röte vertiefte sich und er brach den Blickkontakt.

»Tatsächlich ist Cheshire eine der aufrichtigsten Seelen, die mir je begegnet sind«, griff der Bruder erneut auf.

»Und gilt dies nun als Gemeinsamkeit oder Unterschied?« Margarete erwischte den Mann kalt, denn er starrte sie lediglich an, als sie ihren Blick auf ihn lenkte. Um die Oberhand zu behalten, wandte sie sich gleich wieder an den Earl. »Ich habe fürwahr noch nie erlebt, dass ein Gentleman seine Fehlbarkeit einräumt.«

Cheshire räusperte sich. »Tatsächlich bin ich zur Bescheidenheit erzogen worden.«

»Eine charmante Eigenschaft.« Margarete wunderte sich. Gemeinhin waren Bescheidenheit, Großzügigkeit oder Nächstenliebe hohle Phrasen, und zwar nicht nur in adligen Kreisen, sondern auch im religiösen Umfeld. »Der Reverend, mein Vater, hielt uns ebenfalls zur Bescheidenheit an. Ich muss gestehen, dass es eine der sinnvollsten Lektionen meines Lebens war.« Und eine der bittersten, denn selbst als Lady Boulder war ihr nichts weiter übrig geblieben, als sich zu begnügen, mit was immer man ihr bot.

»Ihr Vater ist ein weiser Mann.«

»Das ist er wohl.« Sie fragte sich, ob sie weitere seiner Thesen in den Raum stellen sollte, die sie bereits bestätigt wusste. »Je älter ich werde, umso klarer wird mir, wie viel ich tatsächlich von ihm lernen kann.« Gleichmut zum Beispiel, oder seine Karten verdeckt gut auszuspielen. Sie betrachtete Cheshire, sich wohl bewusst, selbst unter einem wachsamen Auge zu stehen.

»Unsere Mutter ist ebenfalls die Tochter eines Geistlichen, allerdings …« Er zögerte. »Sie ist Katholikin.«

»Sie wird stolz auf Sie sein.«

Ein Lächeln flackerte über Cheshires Miene. »Das ist sie.« Sein Blick flog zu seinem Bruder.

»Und enttäuscht von Mr Coleridge.« Sie begegnete dessen Blick gelassen. »Seine Erziehung weist eklatante Mängel auf.«

»So wie Ihre, will mir scheinen, Mylady.« Coleridges Augen verengten sich.

»Tatsächlich erlaubt es mir mein Titel, Ihnen die kalte Schulter zu zeigen.«

»Und das, obwohl Cheshire Ihr herzloses Gebaren mitbekommt? Mylady, wissen Sie, was Sie hier verspielen?«

»Sein Wohlwollen?«, gab sie schnell zurück. »Möchten Sie nun eine Warnung an mich richten?«

»Es wird nicht nötig sein, sie auszusprechen.« Sein Blick gewann deutlich an Schärfe. »Nicht wahr?«

»William«, ging der Earl dazwischen. Das Lächeln war längst aus seiner Miene gewichen, ebenso die überschüssige Farbe. Nun wirkte er beinahe bleich. »Es genügt! Schau bitte, wo unser Morgenmahl bleibt.«

Coleridge erhob sich folgsam, ließ Margarete dabei jedoch nicht aus den Augen. »Wie du wünschst.«

»Bitte nehmen Sie meine aufrichtige Entschuldigung für das unbotmäßige Verhalten meines Bruders an. Es ist mir im höchsten Maße unangenehm!«

Margarete seufzte tief. »Sie brauchen sich nicht in seinem Namen zu entschuldigen, Lord Cheshire. Er befleckt lediglich sein eigenes Ansehen, nicht Ihres.« Sie führte die Tasse an die Lippen, um an ihrem Tee zu nippen. »Ich habe Jahre damit zugebracht, mir Vorhaltungen über das Betragen meiner Schwestern anzuhören. Doch ist es meine Schuld, wenn sie Fehler begehen?« Wie mit Geistlichen oder Soldaten durchzubrennen? »Ich bin lediglich für meine eigenen Taten verantwortlich.«

Cheshire runzelte die Stirn. »Er ist in meiner Obhut aufgewachsen und ich habe ihn offenkundig nicht hart genug gemaßregelt.«

»Oder er ist von Natur aus ein Scheusal und die anhaltendste Bestrafung hätte daran nichts geändert.« Sie hob die Achseln. »Glauben Sie mir, Lord Cheshire, bei fünf Geschwistern habe ich nicht ein einziges Mal erlebt, dass das eine wie das andere reagierte.«

Er nickte bedächtig. »Vielleicht haben Sie recht, Lady Boulder.«

Damit sorgte er erneut für eine Überraschung, denn gemeinhin gaben Männer Frauen niemals die Genugtuung, recht zu haben. Sie ließ die Tasse auf die Untertasse sinken, ohne den Blickkontakt zu brechen.

»Dennoch ist es mir unangenehm, dass Sie sich den Angriffen meines Bruders ausgesetzt sehen.«

»Das rechne ich Ihnen an, Mylord, aber seien Sie sich gewiss, dass ich nicht gewillt bin, mir von Zufallsbekanntschaften auf der Nase herumtanzen zu lassen. Oder mich gar brüskieren zu lassen.« Es tat gut, dies auszusprechen, denn es wirkte wie eine innerliche Bestätigung. Egal wie fürchterlich ihre Situation war, sie ließe Mr Coleridge nicht die Genugtuung, sie zu Boden zu stoßen. »Daher sollte ich Ihnen vermutlich gestehen, dass ich einen Teil Ihres Gespräches belauscht habe.«

Er riss die Augen auf, während seine Wangen weiter an Farbe verloren. Sein Mund formte tonlose Worte, bevor er sich räusperte. Allerdings blieben sie unausgesprochen, denn Mr Coleridge war zurück. Ihm folgte die Wirtin mit einer jungen Magd, die Fleisch und Brot auftischten. Eier, Speck und Würstchen kamen auch dazu.

Margarete nahm ihre Serviette auf und breitete sie über ihren Rock aus, um ihn nicht zu beschmutzen.

»Darf ich Ihnen auftischen?« Cheshire beeilte sich, nach dem Teller zu greifen. »Ei, Mylady?«

»Lediglich etwas Brot.«

Sein Blick schoss zu ihr. Nahm er es als Anspielung auf ihre vorherigen Worte? Dass sie wusste, warum er ihre Zeche auf sich nahm, was er im Gegenzug dafür verlangen wollte? »Ich möchte Ihnen nicht über Gebühr verpflichtet sein.«

Er schluckte sichtbar.

Coleridge sah derweilen zwischen ihnen hin und her. »Kommen wir endlich auf den Punkt?«

»Verflucht, William, lass es bewenden!« Cheshire senkte den Blick und richtete ihn selbst dann nicht wieder auf sie, als er ihr den Teller mit der Scheibe Brot reichte.

»Danke.«

Es blieb still, bis das Mahl beendet war. Lediglich Blicke wurden getauscht, die beredt genug waren. So konnte sich Cheshire kaum von ihrem Gebackenen fortreißen und sicherlich hatte er seine Worte wieder und wieder heruntergewürgt. Dachte er daran, dass sie lieber Verzicht übte, als zu Dankbarkeit gezwungen zu sein? Coleridge griff beherzt zu, wobei er ihre Aufmerksamkeit auf die Speisen zu richten suchte. »Wie saftig der Braten ist!«

Ihr Magen hatte geknurrt, bevor sie den ersten Zipfel in den Mund gesteckt hatte, und seither zum Glück geschwiegen. Die in der Kindheit eingetrichterte Mäßigung hatte ihr dabei unter die Arme gegriffen. Sonst wäre sie schwach geworden, und das vor den Augen des unangenehmen Mannes. Aber sie würde ihre Gefälligkeit gegen nichts in der Welt eintauschen!

»Nun, das war ein vortreffliches Mahl.« Mr Coleridge lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und strich sich über den Bauch. »Sie hätten den Braten kosten sollen, Mylady.«

Margarete hob die Mundwinkel. Er konnte es nicht lassen.

»William.« Cheshire stieß den Atem aus, wobei er seinem Bruder eine stumme Warnung zukommen ließ, die der überging.

»Lassen Sie ihn«, bat Margarete sanft. »Er bestätigt lediglich meine Meinung über ihn, und ich bin Schmähungen wahrlich gewohnt.« Erneut kreuzte sie die Waffen mit Mr Coleridge, indem sie seinem Blick begegnete und standhielt. »Ich nehme an, Sie sind mit meinem Cousin bekannt? Boulder war ebenfalls bei den berittenen Dragonern, auch wenn er kaum Fertigkeiten aufweist, die einem Soldaten gut zu Gesicht stünden.«

»Die da wären?« Er lenkte ab, was ihr natürlich direkt auffiel.

»Gehorsam, Pflichtbewusstsein, Disziplin …« Da Coleridge einem Sack Kartoffeln gleich in seinem Stuhl hing, brach sie bei dem Punkt ab und hob die Brauen. »Nun, offenbar werden andere … Talente in Ihnen beiden schlummern.« Sie erhob sich. Beide Männer wurden davon überrascht und stolperten ebenfalls auf die Füße. »Wenn Sie mich entschuldigen …«

Coleridge schaute zu Cheshire, der wiederum unentschieden wirkte. Er rang die Hände und setzte an, etwas zu sagen, ohne es dann über die Lippen zu bekommen. Also nickte sie ihm eilig zu und strebte so schnell aus dem Raum, wie es ihr in den Röcken und mit bebenden Knien möglich war. Die Entscheidung war lediglich aufgeschoben, aber sie wollte ein solch intimes Gespräch weder unter den Ohren Coleridges führen noch ihn irgendwie in die Sache involviert sehen.

 

 

Kapitel 4

 

Die Dinge in die Hand nehmen

 

 

 

Cheshire entwich der Atem, als die Tür mit einem deutlichen Knall ins Schloss fiel.

»Du kannst dich glücklich schätzen, dass sie dich nicht wollte, bevor sie Boulder geheiratet hatte. Sie hätte dich bereits dazu gebracht, außer Landes zu fliehen.« William schüttelte belustigt den Kopf. »Sie ist bissig!«

»Und du peinlich.« Ethan fuhr sich durch das Haar, was allerdings nicht den gewünschten Effekt hatte. Die innere Unruhe nahm lediglich weiter zu. »Musstest du sie fortlaufend angreifen?«

»Ich spiele dir lediglich in die Hände, mein Lieber!« William schlug ihm auf die Schulter. »Ich werde sie nun sacht daran erinnern …«

Ethan griff nach seinem Bruder, als der sich abwandte. »Nein!«, beschied er fest. In diesem Punkt war er sich hundertprozentig sicher: William musste meilenweit von Margarete ferngehalten werden, ganz gleich, ob sie Ethan nun begleiten würde oder nicht. »Es ist besser, wenn du dir einen Fahrschein für die Postkutsche löst.« Erneut griff er sich ins Haar und kratzte sich den Nacken. »Das war von vornherein eine völlig abwegige Idee.«

»Deine einzige Chance, Ethan, sie ins Bett zu bekommen und sich ihres Einflusses auf dich ein für alle Mal zu entledigen.« William blieb beharrlich, auch wenn er die Schultern zuckte und an seinen Platz zurückkehrte. Er schenkte sich Tee nach und hielt die Kanne in die Höhe. »Magst du?«

Ethan winkte ab und begann auf und ab zu marschieren. Es war unmöglich, Lady Boulder mit Williams Schnapsidee zu kommen, und doch ließ ihn der Gedanke nicht los, dass es tatsächlich seine einzige Chance sein könnte, ihr jemals nahe zu sein.

»Ich nehme also die Postkutsche? Gratuliere! Ich habe größere Schwierigkeiten erwartet und wirklich gedacht, ich müsste dir deine Margarete hübsch drapiert ins Bett legen, damit du tatsächlich zugreifst. Schön, dass du erkennst, dass dies nun die letzte Chance ist, dich von ihrem Einfluss zu befreien.«

Ethan warf ihm lediglich einen bitterbösen Blick zu.

»Jetzt brauchst du den Fisch nur noch an Land zu ziehen. Aber bitte, lass dich nicht zu Dummheiten hinreißen.«

»Dummheiten wie jene, überhaupt auf dich gehört zu haben?« Es fühlte sich genau so an, auch wenn gewisse Teile seines Körpers es anders sahen. Die Vernunft verbat ihm, weiter zu hoffen, Lady Margarete je für sich gewinnen zu können.

»Ich denke, du weißt genau, wovon ich spreche.« William fläzte sich in den Stuhl und nippte an seinem Tee. »Bedenke, wie froh du bist, mich nicht ständig an deinem Tisch sitzen zu haben, und Lady Boulder ist nicht minder enervierend.« Er zwinkerte. »Sie kann mir das Wasser reichen.«

Das wollte Ethan nicht bestreiten.

»Du würdest unter den Pantoffel geraten, und das könnte ich nicht mit ansehen.« William sprang auf. Das Geschirr klirrte, als er die Tasse abstellte, dann war er bei ihm, um ihn zu konfrontieren. »Also, versprich mir, keinen Unsinn zu machen und unseren genialen Plan durchzuziehen, ganz gleich, wie sie sich sträuben wird!«

Ethan rann ein eisiger Schauer über den Rücken. »Ja. Sherwood«, murmelte er, obwohl es sich falsch anfühlte. »Und nun verschwinde, bevor ich es mir anders überlege.«

William sah ihn an, als durchschaute er ihn längst, widersprach aber nicht. Er drückte Ethan kurz an sich, bevor er Margarete aus dem Raum folgte und ihn allein mit seinen wirren Gedanken zurückließ. Egal wie man die Offerte anbrachte, einer Lady musste sie wie ein Schlag ins Gesicht vorkommen. Eine Ungeheuerlichkeit. Ein unglaublicher Affront, und irgendwie glaubte Ethan nicht, dass er es fertigbrachte, entsprechende Worte an Margarete zu richten.

 

Margarete kühlte sich die Handgelenke. Die Tür zu ihrem Zimmer stand offen, ihre Tasche bereits gepackt daneben und sie war fertig zum Aufbruch. Nur wusste sie nicht, wo sie hinsollte.

Es klopfte, was sie jedoch zunächst ignorierte. Erst als sich jemand räusperte – sie hatte gleich das unangenehme Gefühl, dass nicht die Wirtsfrau ihren Auszug beschleunigen wollte –, zog sie die Hände aus der Waschschüssel und nahm das Handtuch auf.

»Ja bitte?« Noch wandte sie der Tür den Rücken zu, bereute es aber umgehend und fuhr herum, als sie den Störenfried erkannte.

»Ich wollte mich lediglich Ihres Wohlergehens versichern, bevor ich aufbreche.«

Mit klopfendem Herzen hob sie das Kinn. Der unverschämte Soldat war eingetreten und schob nun die Tür ins Schloss. Sie musste augenblicklich an seine Drohung denken, die sie erst vor weniger als zwei Stunden vernommen hatte, auch wenn sie nicht direkt an sie gerichtet worden war. »Mr Coleridge, verlassen Sie augenblicklich diesen Raum!« Natürlich erwartete sie nicht, dass er ihrem Befehl Folge leistete, daher trat sie selbst zurück und suchte nach der Waschschüssel. Sie war keine geeignete Waffe, um sich einen Mann vom Leib zu halten, das hatte sie bereits in einer ähnlichen Situation schmerzlich erfahren müssen, aber die Schüssel war alles, was sie hatte.

Coleridge grinste spöttisch, als er den Kopf schüttelte. »Das wäre meinen Zwecken nicht dienlich, Margarete.« Nun überschritt er auch noch diese Grenze.

Margarete sackte das Herz ab. Ihr Blick flog hinter ihn zur geschlossenen Tür, dann durch den Raum. Neben dem Porzellan, um das sich ihre Hand nun fester schloss, gab es nur noch die ebenfalls brüchige Kanne und den Schürhaken am Kamin, jedoch war der schrecklich weit weg.

»Ich sehe, dass Sie verstehen.«

Ihr Blick schoss zurück zu Mr Coleridge, der sich die Hände rieb.

»Sie kommen mir besser nicht zu nahe.« Ihre Warnung entbehrte jeder Grundlage und entsprang schlichter Verzweiflung. »Ich werde Sie verletzen.«

»Schrammen, und doch bekomme ich, was ich will.« Er klang absolut sicher, aber anders kannte sie Männer wie ihn ohnehin nicht. Sie hatte keinen Zweifel, dass er ruchlos jedes Mittel einsetzte, um seinen Willen durchzusetzen.

»Und was wollen Sie?« Alles, was ihr blieb, war, Zeit zu schinden. Nur brachte es etwas? Wenn die Wirtsfrau die Geduld mit ihr verlor und nachhelfen wollte, unterbräche sie, was Mr Coleridge vorhatte? Wohl kaum. Margaretes Magen schlingerte.

»Dass Sie mir gehorchen.«

Sie lachte auf. »Das werde ich nicht.« Sie bekam gerade noch mit, wie Coleridge die Schultern zuckte, im nächsten Moment hatte er sie bereits überrumpelt. Noch bevor sie den Schrei ausstoßen konnte, der ihr auf den Lippen lag, landete sie im Bett. Coleridge griff nach ihren Händen, um sie tief in die Matratze zu pressen, als er sich vorbeugte.

»Das wäre dumm.«

Margaretes Herz pumpte wie verrückt. Sie kannte derartige Übergriffe zur Genüge, um ihm zu glauben. Jeglicher Widerstand hatte nur eins zur Folge: zusätzliche Schmerzen.

»Was wollen Sie?« Es war ein unverständliches Krächzen, das irgendwo in ihrem Hals versackte.

»Sie werden genau das tun, was ich Ihnen auftrage, verstanden?« Im Gegensatz zu ihrer trug seine Stimme weit, womit er selbst durch das Rauschen in ihren Ohren gut zu verstehen war. Also nickte sie.

»Cheshire wird Ihre Gesellschaft einfordern, und Sie werden ihm freudig folgen.«

Margarete runzelte die Stirn. War das nicht eine idiotische Forderung für einen solchen Moment?

»Ich werde Sie nicht begleiten, aber glauben Sie nicht, dass Sie daher vor mir sicher wären. Ich bin nicht Boulder. Vor mir können Sie sich nicht verstecken, verstanden?«

Das wurde nun immer verrückter. Margarete schaute voller Unverständnis in seine blauen Augen. »Was zum Teufel wollen Sie von mir?«

»Nur, dass Sie gehorchen. Mein Bruder wird nicht mit der Sprache herausrücken wollen, daher sage ich Ihnen, wie es ablaufen wird: Sie begleiten ihn in den Sherwood Forest, dort wird sich Ihnen Ethan früher oder später nähern.«

Margarete schluckte. »Sie erwarten nicht …«

»Oh doch. Wir wissen beide, dass Sie den Gelüsten eines Mannes nicht entgehen können.« Um es zu unterstreichen, sank er tiefer. Sie drehte schnell das Gesicht, damit er sie nicht küssen konnte.

»Nicht wahr?«

Ein heftiger Schauer ließ sie beben und beinahe in Tränen ausbrechen. Sie brannten bereits in ihren Augen und wurden nur noch von ihren Lidern zurückgehalten.

»Cheshire ist nicht Boulder. Er lässt sich weder von Ihnen bezirzen, wie Ihr verstorbener Gatte es tat, noch wird er zu Gewalt greifen, wenn Sie sich ihm widersetzen, wie es der jetzige Baron tat.«

»Aber Sie schon!«, stieß sie bitter hervor.

Coleridge lachte, wobei er sich aufsetzte. »Nein, aber ich bin auch kein Idiot.«

Margarete traute sich kaum, sich zu regen, allerdings brannten ihre Handgelenke und sie hob die Arme, um über die geschundenen Stellen zu reiben.

»Ich weiß, wie sich Ihre momentane Lage gestaltet. Sie haben keine Wahl, als zurück nach London zu gehen, um Boulder in der Nacht zu begrüßen, oder sie folgen Cheshire.«

»Und ende in derselben Lage!« Verärgert gab sie ihm einen Schubs. »Ist Ihnen in den Sinn gekommen, dass mir Männer gestohlen bleiben können? Dass ich keinen von ihnen in meiner Nähe wünsche? Ob nun des Tages oder des Nachts?«

Coleridge rutschte auf den Knien zurück und damit aus dem Bett. Er hielt ihr die Hand entgegen, die Margarete mit heftigem Unglauben betrachtete. Seine versöhnliche Geste konnte ihr ebenfalls gestohlen bleiben!

»Sie wissen, dass Sie keine echte Option haben, dem zu entgehen. Ihre Familie nimmt Sie nicht auf, sonst säßen Sie nicht im Inn fest, und Ihre Schwiegermutter zieht es vor, die Schuld bei Ihnen zu suchen. Sie haben keine finanziellen Mittel, auf die Sie zurückgreifen könnten, und auch niemanden, den Sie um Hilfe bitten könnten.«

Margarete keuchte. Sie hatte geahnt, dass er besser über ihre Lage informiert war, als es der Fall sein dürfte, aber er wusste praktisch alles!

»Sie wissen, dass Sie hier in einer Sackgasse sitzen. Ich weiß es und …«

»Lord Cheshire ebenso? Warum schickt er dann Sie, um mich einzuschüchtern?«

Coleridge lachte auf, wobei er mit seiner Hand wedelte, damit sie diese endlich ergriff. Margarete rappelte sich stattdessen ohne seine Hilfe auf.

»Cheshire kennt lediglich die Gerüchte.«

Margarete biss die Zähne aufeinander.

»Und dabei sollte es besser bleiben.«

»Wenn ich mich in eine unsägliche Situation bringen wollte, hätte ich London nicht verlassen!« Margarete umarmte sich fest.

»Sie haben London verlassen, weil Sie Boulder bei einem Übergriff sämtliches Porzellan über den Schädel zogen, dessen Sie habhaft werden konnten.« Coleridge lehnte sich gegen den Bettpfosten.

»Woher wissen Sie das?«

Er zuckte die Achseln. »Sie sollten Cheshire besser nicht angreifen.« Sein stechender Blick schnitt durch sie hindurch wie ein erhitztes Messer durch Butter. »Und beim nächsten Mal«, er deutete auf die zerknüllten Laken, »werde ich nicht von Ihnen ablassen.«

»Vielleicht lasse ich mich nicht noch einmal von Ihnen überrumpeln!«

Wieder lachte er. »Margarete, lassen wir es besser nicht darauf ankommen.«

»Warum nicht? Ich kann mir bereits sehr gut vorstellen …«

»Wie sich mein Kopf im Nachttopf macht?«

Margarete erstarrte. Das konnte Mr Coleridge nun wirklich nicht wissen!

»Glauben Sie mir, dazu käme es nicht. Ich unterschätze Sie nicht und bin nicht dumm genug, mich auch nur für einen Augenblick auf meinem vermeintlichen Sieg auszuruhen. Ich bleibe wachsam in der Nähe einer Gefahrenquelle.« Er besaß die Frechheit, zu zwinkern. »Seien Sie sich gewiss, dass Sie mich nicht zum Feind haben wollen.«

Margarete knetete die Hände. »Ich möchte Sie nicht einmal kennen!«

Sein Lachen war mehr als enervierend. »Vielleicht beruhigt es Sie, dass Sie mir nicht allzu oft begegnen müssen, solange Sie meinen Bruder bei Laune halten? Ach … Sie sollten Ihre Tasche nehmen und aufbrechen, damit Sie nicht mit Cheshires Abreise in Verbindung gebracht werden können.« Er zwinkerte deutlich zu vertraulich. »Sie sehen, ich bin ein hilfreicher Verbündeter.«

»Sie sind der Nagel zu meinem Grab!«, korrigierte sie, wobei sie die Arme um sich schlang. »Ich brauche noch einen Moment.«

»Nehmen Sie die Straße Richtung London.«

Sie sah ihm nach, bis die Tür seine Gestalt verdeckte, dann legte sie die Hände vor das Gesicht und ließ den Tränen freien Lauf.

 

Ethan rutschte auf der Sitzbank herum. Die Fenster seiner Kutsche standen offen, damit er Margarete keinesfalls übersah. Zunächst war er erschrocken gewesen, als er hörte, dass Lady Boulder das Wirtshaus bereits zu Fuß verlassen hatte, schließlich hatte sie damit einmal mehr deutlich zu verstehen gegeben, was sie von ihm hielt. Und von seinem unmoralischen Ansinnen. Dann hatte Williams Schreiben alles revidiert. Ethan verwünschte den Bruder einmal mehr, hatte er sich doch offenkundig über seine Weisung hinweggesetzt, Margarete nicht weiter zu behelligen.

Die Pferde schnaubten, dann ging ein Ruck durch die Kutsche, als sie zum Stehen kam. Ethan schloss für einen Moment die Augen. Fast hatte er erwartet, nicht auf Margarete zu treffen, da sie ihn und William zum Teufel wünschte und sich womöglich versteckt hielt.

Der Schlag wurde geöffnet und der Tritt herabgelassen. Sonnenlicht umflirrte Margarete, als sie hereinkletterte. Ethan rutschte eilig auf die andere Sitzbank, um ihr jene zu überlassen, die in Fahrtrichtung lag. Der dichte Schleier ihres Hutes verdeckte ihre feinen Züge und ebenso ihr schimmerndes Haar.

»Lady Boulder«, krächzte er. »Darf ich meine Einladung wiederholen, Sie ein Stück des Weges mitzunehmen?«

Sie hob den Schleier, wodurch ihr schneidender Blick auf ihn fiel. Ethan gab William im Stillen recht. Sie mochte seinem Bruder tatsächlich recht ähnlich sein und damit sicherlich eine Herausforderung, die sich für zu groß erweisen konnte.

»Wie großzügig von Ihnen, Lord Cheshire.«

Er räusperte sich unangenehm berührt, schließlich entsprach sein Angebot nicht seiner vermeintlichen Großzügigkeit, sondern wesentlich dunkleren Beweggründen.

»Mein Ziel befindet sich im Sherwood«, fuhr er unsicher fort. »Dort liegt ein Gut, dem ich dringlichst einen Besuch abstatten muss.« Er räusperte sich erneut. »Es ist ein recht kleines Haus.«

»Ich bin äußerst bescheiden.«

Noch immer lag ihr Blick auf ihm, was ihn fast lähmte. Es war, als wartete sie lediglich auf seinen Schlag. Auf seine deutlichen Worte, dass er sie dorthin mitnehmen wollte, um … Hitze schoss ihm in die Wangen und er musste den Blick abwenden.

»Allerdings sehe ich nicht, welchen Vorteil diese Mesalliance für mich haben sollte.« Ihre Stimme klang so rau, dass er Tränen vermutete, aber sie blitzte ihn lediglich mit ihren blauen Augen an, als wolle sie ihn allein mit Blicken zur Räson bringen. Ihr wäre es vermutlich gelungen, William zu bändigen.

Offenbar war der Bruder deutlicher geworden, als es Ethan lieb war. Er rutschte auf seinem Sitz herum, während er nach den passenden Worten suchte. »Sie wären im Sherwood Forest in Sicherheit.«

Sie lachte auf. Durch den rauen Klang bekam es etwas Unheimliches.

»Und unabhängig.«

»Wenn jemals jemand Kenntnis davon erlangt, sehe ich meine Kinder nicht wieder!«, hielt sie eisig dagegen, obwohl sie sich dahingehend ohnehin keine falschen Hoffnungen machte. Sie waren Eigentum der Familie ihres verstorbenen Mannes und sie hatte sie in den vergangenen Jahren kaum zu Gesicht bekommen. Nun, da ihr Status noch niedriger war, standen ihre Chancen schon ausgesprochen schlecht. Ob sie sich nun auf Affären einließ oder nicht, machte da vermutlich keinen Unterschied mehr. »Und wie unabhängig wäre ich schon?«

»Absolut.« Ethan rutschte auf der Bank nach vorn. »Ich ließe Ihnen jegliche Freiheit.«

»Auch jene, Sie nicht in meinem Bett willkommen zu heißen?« Sie schnaubte, als hielte sie eine Zustimmung seinerseits für unmöglich.

»Selbstverständlich.« Es war raus, bevor er darüber nachgedacht hatte. Aber auch in der zehrenden Stille, die folgte, mochte er seine Aussage nicht revidieren. Er wollte sie, aber ihm war durchaus bewusst, dass er dies nicht von ihr verlangen konnte. Selbst wenn er die Frage aller Fragen stellen sollte, jene, die ihm zumindest in allerwelts Augen das Recht dazu gaben, ihr Bett aufzusuchen, konnte er ihr Entgegenkommen nicht verlangen, sondern lediglich erhoffen. Ethan befeuchtete sich die Lippen und wählte seine Worte mit Bedacht.

»William wird … mit der Tür ins Haus gefallen sein, daher wundert es mich nicht, dass Sie mir misstrauen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich keine Forderungen stelle, die über Ihre simple Gesellschaft hinausgehen werden.« Er schloss die Hand, um dem Drang zu widerstehen, sie nach ihr auszustrecken. »Ich verstehe Ihre Skepsis. Besonders, da ich William kenne und mir denken kann, wie unsensibel er das Thema angegangen sein wird.«

Sie lachte auf. »Seien Sie sich gewiss, dass Mr Coleridge wahrlich unsensibel, gar brutal vorgegangen ist! Wenn ich auch nur den Hauch einer anderen Möglichkeit hätte, wäre ich sicherlich nicht in Ihre Kutsche gestiegen.«

Sie wandte sich ab, um aus dem Fenster zu sehen. Ethan folgte ihrem Blick beunruhigt. Land’s End bestach durch eine sanfte Hügellandschaft, viel Grün und einen beständigen Wind, der eine Note Salz in sich trug. Es war sicherlich ein Ort, den man im Herzen trug, ganz gleich, wohin es einen verschlug. Ihm selbst ging es nicht anders, auch wenn seine eigentliche Heimat weiter östlich lag. Margarete rutschte zum Schlag und zog die Gardine vor.

»Es gibt immer andere Möglichkeiten.«

Ihr Blick riet ihm zu schweigen, also klappte er den Mund zu.

»Also, was erwartet mich?«

Es war eine Frage, die sich nicht so leicht beantworten ließ, daher zögerte er.

»Ich habe genügend unerfreuliche Überraschungen hinter mir, also ersparen Sie mir zumindest die Qual der Ahnungslosigkeit!«

Ethan atmete tief durch. Er musste sie beruhigen, wusste aber partout nicht, wie er dies bewerkstelligen konnte. »Es ist ein kleines Haus, das mitten im Wald steht. Es hat kaum Komfort, nur ein Ehepaar zur Aufsicht, und die nächste Ortschaft liegt zwanzig Meilen entfernt.« Damit war die Hütte im Sherwood Forest bereits beschrieben. Ethan hielt den Atem an. Es war kein Gut, zu dem man Ladys brachte, die unterhalten werden wollten, sondern ein Jagdhaus für Männer, die die Abgeschiedenheit suchten.

»Ich bin dort ganz allein.«

Er runzelte die Stirn, da sich etwas hinter diesen Worten zu verstecken schien. »So gut wie.«

Sie sog den Atem ein und stieß ihn ebenso abrupt wieder aus. »Herrlich.«

Warum klang es dann so, als wurde ein Albtraum wahr?

Sie wandte sich ab, schloss die Arme um sich und starrte die Gardine an.

»Darf ich fragen, was William – Mr Coleridge – zu Ihnen sagte?« Nach dem unerquicklichen Ende des Frühmahls hatte er nicht angenommen, dass er tatsächlich mit Margarete in der Kutsche in den Sherwood landen würde.

»Nein«, gab sie zur Antwort, ohne zu ihm zu schauen. »Muss ich mir persönliche Fragen gefallen lassen?«

Er räusperte sich leise. »Nein. Natürlich haben Sie das Recht, über persönliche Dinge zu schweigen, aber ich wünsche mir …« Zu viel, wie Ethan befürchtete, als sich ihre Lippen zusammenpressten. »Ihre Gesellschaft.«

»Nun, Mylord, mir scheint, die werden Sie bekommen.«

 

Kapitel 5

 

Sherwood Forest

 

 

Nahe Edwinstowe im Sherwood Forest, 01.10.1820

 

Das Sonnenlicht erreichte den Boden trotz des dichten Blätterdaches und warf ein schillerndes Muster zu Margaretes Füßen. Aus Gewohnheit ergriff sie die Hand, die Cheshire ihr reichte.

»Das Cottage. Ich hoffe, es wird Ihnen hier gefallen.«

Das hielt sie zwar für unwahrscheinlich, aber es fehlte ihr die Energie, um zu widersprechen. Vor ihr ragte ein Gebäude auf, das kaum größer als ihr Elternhaus und sicherlich ähnlich rustikal eingerichtet war. Das Seufzen versackte in ihrer Kehle, als sie die Augen schloss. In ihrer Kindheit hatte sie sich nie Gedanken um die Größe ihres Heimes gemacht oder darüber, dass sie sich ein Zimmer mit ihren vier Schwestern teilen musste. Nun fürchtete sie jedoch, dass es schlimmere Bettgenossen gab als Christobel, Agnes, Elizabeth und Caroline.

»Kommen Sie.« Er zog sacht an ihrer Hand.

Niemand öffnete ihnen die Tür oder begrüßte sie auch nur, bevor sie im Salon standen und sich von ihren Reiseumhängen befreiten. Cheshire eilte ihr zur Hilfe, zögerte im letzten Moment jedoch, sodass sie den Umhang doch allein abnehmen musste und sich dann ratlos umsah. Der Salon war deutlich nicht dazu ausgelegt, das Auge zu erfreuen. Jagdtrophäen bedeckten die Wände ringsherum, und so starrten sie unzählige leblose Augen an, die zu Wildschweinen, Hirschen und Wölfen gehörten. Über dem Kamin hing eine alte Hellebarde, darunter ein Handrohr neben einem Breitschwert und einigen Dolchen.

Cheshire räusperte sich. »Setzen Sie sich doch. Ich schaue, wo sich das Personal herumtreibt.«

Margarete warf ihm lediglich einen Blick zu. Er nahm es sehr gelassen, dass niemand parat stand, um ihn angemessen zu begrüßen. Boulder, ihr verstorbener Gemahl, hätte in einer solchen Situation schon längst gewütet und getobt. Allein gelassen seufzte sie gedehnt. Sie trat fröstelnd an den Kamin, der vor Asche überquoll. Die Suche nach Holz oder Kohle erbrachte keinen Erfolg. Sie rieb die Hände aneinander. Obwohl es früher Herbst war, kroch die Kälte in ihre Knochen und machte es unabdingbar, eine Entscheidung zu treffen. Entweder sie legte den Umhang wieder an und wartete darauf, dass die Bediensteten ihren Aufgaben nachkamen, oder …

Mit einem weiteren Seufzen machte sie kehrt und suchte den Kehreimer. Sie fand ihn in der Küche, die ähnlich vernachlässigt wirkte wie der Wohnraum. Dreckiges Geschirr stapelte sich auf dem Tisch, der ebenfalls einen Schrubber benötigte. Margarete schnalzte missbilligend. Ihre Mutter hätte die passenden Worte für ihre Töchter parat gehabt, hätte eine von ihnen die Küche so zurückgelassen. Zumindest stapelten sich Holzscheite in der hinteren Ecke, die sie direkt mitnahm. Es waren nur wenige Handgriffe nötig, um aus dem verschmutzten Kamin ein lauschiges Plätzchen zu zaubern, und die Arbeit wärmte sie zusätzlich auf. Das flackernde Feuer lenkte sie eine Weile ab und sie starrte blicklos vor sich her, um ihren Gedanken nachzuhängen. Sicherlich hatte sie sich nie Gedanken darum gemacht, wie die Geliebte eines Adligen hausen mochte, doch dies hätte sie nicht vermutet. War es alles, was sie zukünftig zu erwarten hatte?

Margarete senkte die Lider, um die Tränen zurückzuhalten. Es war nicht die Aussicht auf ein einfaches Leben, die sie betrübte, sondern dass alles umsonst gewesen sein sollte. Die Maßregelungen und Schelte der Eltern, die Tortur des Debüts in der Obhut der Gattin ihres Cousin zweiten Grades und die Ehe mit Boulder, und letztlich strandete sie genau dort, wo Mrs Bennett ihre Töchter nicht hatte sehen wollen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752129595
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Februar)
Schlagworte
Regency Historisch Liebesroman Lords und Ladys England Liebe Erotik Erotischer Liebesroman

Autor

  • Katherine Collins (Autor:in)

Katherine Collins schreibt romantische Liebesgeschichten in unterschiedlichen Gewändern. Neben dem Historischen, liebt sie die raue Landschaft und das unbeschreibliche Flair Schottlands, aber auch heimatliche Gefilde liegen ihr am Herzen. Unter ihrem zweiten Pseudonym Kathrin Fuhrmann schreibt sie daher heimatgebundene Romantic Thrill, Romance und Erotik. Mit ihren zwei Kindern lebt sie im Vest und widmet sich ganz ihrer Passion.