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Wandlungen - Das Geheimnis besonderer Frauen

von Katharina Mohini (Autor:in)
464 Seiten

Zusammenfassung

Katharina "erbt" nach dem Tode ihres bedeutend älteren Lebensgefährten dessen lange verschollen geglaubten Sohn. Innerhalb kürzester Zeit stellen Michael Schuwart und seine drei lebhaften Kinder das geruhsame Leben, der resoluten wie auch geheimnisvollen Frau auf den Kopf. Mit jedem weiteren Tag geraten die Protagonisten tiefer in den Strudel ihrer Gefühle, Wünsche und Leidenschaften. Zumal ein jeder davon überzeugt ist, dass sich Amor einen gewaltigen Fehlschuss geleistet haben dürfte. Zudem waren da die Geheimnisse aus Katharinas Vergangenheit... Wann erzähle ich dem Menschen, den ich liebe, dass er mehr bekommt, als er sich im Traum vorzustellen vermag?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1

Sah ihre Zukunft schon jemals ungewisser aus als in den letzten Tagen? Nein, nur nicht wieder diesen Ängsten nachgeben … Nicht jetzt! Es bedurfte mehr als eines Anlaufs, die bohrenden Gedanken beiseitezuschieben, die Augen zu öffnen und sich der Realität zu stellen.

»Mein Gott, du siehst erbärmlich aus«, kommentierte Katharina Sommerbeck den Anblick, den ihr die Frau im Spiegel bot. Der erste Gedanke, der funzligen Beleuchtung die Schuld dafür zu geben, war nicht hilfreich. Die dunklen Schatten um ihre Augen herum und die tiefen Falten, die sich in ihr Gesicht gegraben hatten, waren definitiv da. Und sie kamen nicht von ungefähr. Zu wenig Schlaf, zu viele Sorgen und vor allem das Wissen um das Unabänderliche. Diese Ängste, die in Augenblicken wie diesem über sie herfielen. Jetzt, wo sie allein war, wo sie wusste, dass alles für Heinrich getan wurde und sie eigentlich schlafen sollte.

»Du musst dich nicht um ihn sorgen.« Katharinas Spiegelbild richtete sich ein wenig auf. Christa Hagedorn war eine versierte Pflegekraft, die wusste, wann es nötig war, sie zu informieren, sollte sich Heinrichs Zustand verschlechtern.

Denke lieber an all die schönen Momente, die du mit Heinrich hattest, betete sie sich stattdessen vor. Die Erinnerungen daran würde ihr auch diesmal über das Wissen des nahenden, unabwendbaren Endes hinweghelfen. Heinrich und sie waren so viele Jahre ein unzertrennliches Paar gewesen. Es gab niemanden, der sich noch darüber wunderte, was ein alter Knacker von über siebzig Lenzen mit seiner halb so alten Haushälterin – die sie offiziell war – anzustellen pflegte. Sieben Jahre lebte sie nun schon mit ihrem väterlichen Freund, Gönner und Vertrauten zusammen. Die schönsten Jahre ihres reichlich verdrehten Daseins, ergänzte sie mit einem Lächeln. Wie ein glückliches Ehepaar. Natürlich nicht nach außen hin! Das würde diese hochfeine, gutbetuchte Nachbarschaft dann doch nicht schätzen. Dabei ahnten die lieben Nachbarn nicht im Geringsten, wo und wie sie sich damals kennengelernt hatten.

Mit einem warmen, innigen Lächeln entfernte die attraktive Frau ihre letzten Haarkämme und griff zur Bürste.

Heinrich Schuwart, ein seit vielen Jahren verwitweter, gutsituierter Reeder aus altem hanseatischem Geblüt und ein ebensolcher Gentleman, hatte sich verlaufen. Zumindest behauptete er es immer wieder vor ihr und den wenigen wahren Freunden, die von ihrer Beziehung wussten. Eines späten Abends war er in der „Carina-Bar“, einem betagten Plüschpalast auf dem Hamburger Kiez, erschienen und hatte sich an einen der Tische gesetzt. Rotes Licht, rote Getränkekarten und kleine Preise, zumindest was deren Schriftgröße betraf. Dieser Mann roch nach Geld und wenig Arbeit. Ein leichter Verdienst für eine Animierdame, die, was hier kaum verwunderlich war, für solvente Kunden zu weit mehr bereit war. Und solvent war er, das hatte Katharina sofort erkannt. Noch bevor Jessy, ihre unliebsame Kollegin, ihren fetten Hintern vom Barhocker herunterbekam, saß sie am Tisch und suchte den Augenkontakt zu dem Alten. Dieser hatte sich gewandt erhoben und sich ihr mit einer formvollendeten Verneigung vorgestellt. Gestatten Sie, junge Frau, Heinrich Schuwart mein Name. Gehe ich recht in der Annahme, dass ich bei Ihnen ein Getränk bestellen darf?

Es waren weder die vornehm verdrehten Worte noch seine ungeahnte Agilität, die sie vom ersten Augenblick an faszinierten. Es waren seine hellgrauen Augen. Wissend, bis in die tiefsten Tiefen ihrer Seele schauend und dabei doch unvoreingenommen, freundlich und voller Respekt. Selbst heute noch durchlief Katharina ein wohliger Schauer, wenn sie sich an ihr Kennenlernen erinnerte.

Sie hatte sich unter ihrem Künstlernamen Chantal vorgestellt und mit ihm eine Flasche Sekt der Hausmarke zum Spottpreis von zweihundertvierzig Euro geleert. Zwei Tage später war Heinrich erneut in die „Carina-Bar“ eingekehrt. Um seine Unterhaltung mit einer faszinierenden Dame fortzusetzen, die sich, wie er allen Ernstes behauptete, für ihn als ebenbürtige Gesprächspartnerin entpuppte. Der dritte Tag sah Heinrich und sie in einem der Gästezimmer im ersten Stock, wo sie sich über Gott und die Welt unterhielten. Nur nicht über das, wozu die Räumlichkeiten ursprünglich vorgesehen waren. Die Woche darauf verließ Katharina ihren Arbeitgeber und zog bei Heinrich in Hamburg-Ohlstedt ein; angestellt als Hauswirtschafterin und Unterhalterin, wie es sich für solch vornehmen Stadtteil und Villenvorort geziemte. Die „Rundumbetreuung“, wie Heinrich ihre Vereinbarung verschmitzt bezeichnete, garantierte Katharina die Nutzung einer Einliegerwohnung in der über dreihundert Quadratmeter großen Villa. Ein elegantes Cabriolet gehörte ebenso zum Einkommen, wie ein reichlich bemessenes Taschengeld. Dabei wäre sie auch geblieben, wenn sie Geld hätte mitbringen müssen. Das hatte sie ihm gleich gestanden und es bis zum heutigen Tag nicht bereut. Ja, in den letzten Jahren war ihr wirklich das große Glück zugefallen. Doch nun sah es ganz danach aus, als würde alles erneut auf Anfang gesetzt.

Dieser Gedanke stieß sie gnadenlos in die Gegenwart zurück. Mit einem schweren Seufzen musterte sie die Frau, die ihr in Momenten wie diesem fremd vorkam. Das glänzende kastanienbraune Haar ergoss sich über ihre Schultern und umrahmte ein Gesicht, das so manch einen Fotografen faszinierte. Ihre tiefgrünen Augen in dem schmalen, von ausgeprägten Wangenknochen betonten Gesicht kehrten das geheimnisvolle Wesen hervor, das sie in der Tat für die meisten Menschen darstellte. Dazu das cremefarbene, mit aufwändiger Spitze besetzte Nachtgewand, das einen beruhigenden Kontrast zu ihrem verführerischen Aussehen bildete. Du bist zu selbstverliebt, nörgelte die selbstkritische Beobachterin in ihr. Selbst wenn sie für ihre siebenunddreißig Jahre mehr als passabel aussah. Vor allem, wenn man bedachte, was sie alles hatte durchmachen müssen, um dieses Aussehen zu erlangen. Und du bist zu sesshaft geworden! Letzteres stellte ihre innere Stimme vorwurfsvoll fest und würzte es mit der schonungslosen Frage, wie es nach Heinrichs Tod weitergehen würde. Diese ohnmächtige Frage, die sie beinahe ebenso fürchtete wie das nahende Ableben ihres Freundes und Wohltäters. Ein noch schwereres Seufzen trieb sie unter die kühle Bettdecke. Erneut eine Nacht, in der sie mit Gewissheit keine Ruhe und Entspannung finden würde. Dabei benötigte sie dringend diese Kraft, um einen weiteren Tag lang die fröhliche, ewig gut aufgelegte Frau darzustellen, die Heinrich an ihr so schätzte und liebte.

***

Die Sonne stand an diesem Morgen bereits hoch am Himmel, als es ihren Strahlen gelang, die Schläferin wach zu kitzeln. Erschrocken fuhr Katharina auf und sah irritiert auf die Ziffern ihres Weckers. Nach zehn Uhr! Mein Gott! Christa, wieso hatte sie sie nicht geweckt? War etwas mit Heinrich …

Hektisch fegte sie die Bettdecke beiseite und huschte ins angrenzende Bad. Wider Erwarten erblickte sie in dem Spiegel ein ausgeruht wirkendes Gesicht. Worin sich jedoch gleich wieder Sorge und Trauer bei dieser Wahrnehmung spiegelten. Mit wenigen Handgriffen versteckte sie diese unter einem Hauch von Make-up und verbarg sie mit der nötigen Portion an Zuversicht.

Keine zehn Minuten später begrüßte Katharina ihren Lebensgefährten mit einem liebevollen Lächeln und einem Kuss auf die Wange. »Guten Morgen, mein Schatz. Hattest du eine geruhsame Nacht?« Ihr fragender Blick registrierte das ermutigende Nicken, das Christa ihr über sein Bett hinweg sandte.

»Hübsch siehst du aus, Spatzi«, kam in Heinrich dieser alte Charmeur durch, der sich auch durch seine angegriffene Gesundheit kaum einschüchtern ließ. »Mir geht es außerordentlich gut. Ach, was sage ich! Bei der bezaubernden Frau, die mich heute Nacht umsorgt hat … Da kann es einem gar nicht schlecht gehen.« Er tätschelte die Hand der ergrauten Pflegerin, die bei dem Kompliment sogar errötete.

»Christa, warum haben Sie mich nicht geweckt?«, beschwerte Katharina sich schwach und strich ihr doch mit einer dankbaren Geste über die Schulter.

»Lassen Sie mal, Kathi. Sie hatten Ihren Schlaf dringend nötig. Zudem haben Herr Schuwart und ich schon ordentlich einen draufgemacht. Sogar einen Tee haben wir bereits miteinander getrunken.«

»Das freut mich.« Katharina erhob sich geschäftig. »Dann werde ich uns, beziehungsweise euch mal das zweite Frühstück zubereiten.«

»Spatzi! Mir bitte eine richtige Scheibe Toast, mit Erdbeermarmelade.« Heinrichs Stimme nahm fast die alte Stärke an, als er ihr seinen Herzenswunsch auftrug.

Katharina sah über die Schulter zurück und verbannte die mütterliche Strenge aus ihrem Blick. »Aber nur, wenn du mich nicht bei Doktor Haecks verpetzt. Du weißt, dass Zucker nicht gut für dich ist.«

»Ja, Mama. Bitte ganz dick mit Marmelade.«

Zum ersten Mal seit Tagen wagte Katharina leise zu hoffen, dass Vadder Hein doch noch ein Einsehen mit ihnen hatte und weiterzog. Heinrich war zäh. Auch wenn das bei der Art seiner Erkrankung leider kein Garant für ein längeres Leben war.

Kurz darauf kehrte sie mit einem großen Tablett zurück, auf dem vielerlei erlesene Köstlichkeiten angerichtet waren. Man würde zwar kaum den Appetit finden, auch nur einen Bruchteil von dem zu verspeisen, doch so war es nun einmal Brauch im Hause Schuwart. Immerhin hatte Christa nicht nur ein großes Herz, sondern einen ebensolchen gesunden Hunger.

Katharina zog den Tisch an das Bett ihres Partners, sodass er an guten Tagen wie diesem mit seinen beiden Damen menschenwürdig würde frühstücken können.

Das Zimmer, in dem sich Heinrich Schuwarts Krankenlager befand, war wie alle Räume in der herrschaftlichen Villa nicht gerade knapp bemessen. Zudem waren Katharinas Hüften, für die einer Frau, erstaunlich schmal ausgebildet. Und doch gelang es ihr ein ums andere Mal, die Fotografien umzustoßen, die Heinrich auf seinem Nachttisch stehen hatte.

»Du magst sie wohl nicht«, hatte er so manches Mal darüber gescherzt und lag zumindest nicht daneben, wenn er damit seinen Sohn und dessen Familie meinte. Ärgerlich über ihr wiederholtes Missgeschick nahm sie das Bild seiner vor vielen Jahren verstorbenen Frau und polierte das von Fingerabdrücken übersäte Glas mit dem Ärmel ihrer feinen Wolljacke. Heinrich musste sie sehr geliebt haben, dachte Katharina und daran, dass es das Einzige sei, worauf er sich freuen würde, sollte ihn der Tod einmal abholen kommen. Seine geliebte Katharina wieder zu sehen… Nicht nur der Name seiner ersten Frau, auch die Gesichtszüge erinnerten Katharina an ihre eigenen. Fast wie bei Mutter und Tochter. Hatte Heinrich sie deswegen damals zu sich geholt? Nur ein einziges Mal hatte sie in all den Jahren den Mut dafür aufgebracht, ihn danach zu fragen. Und nur ein einziges Mal war Heinrich ihr die Antwort schuldig geblieben.

Nun strahlte das Bild wieder. Wie auch Heinrich, der es gleich darauf erneut in die Hand nahm. Katharina bückte sich ein weiteres Mal und hob den anderen Bilderrahmen auf, auf dem der Rest der Familie vertreten war. Es musste sicher mehr als fünfzehn Jahre alt sein, rechnete sie nicht zum ersten Male insgeheim nach. Heinrichs einziger Sohn Michael und dessen Familie. Eine hochnäsig dreinschauende, aufgedonnert wirkende Diva und zwei Kleinkinder, die auf dem Schoß ihrer Eltern saßen. Im Grunde genommen sah dieser Michael gar nicht mal so übel aus. Zumindest erinnerte vieles auf diesem verblassenden Foto an den Vater in dessen jungen Jahren. Nur dass sein Charakter ganz augenscheinlich nicht dem des Vaters glich, quoll erneuter Unmut in ihr hoch. Katharina erinnerte sich widerstrebend an ihren mutigen Entschluss vom letzten Herbst. Zu dem Zeitpunkt, an dem sich die Krankheit bei Heinrich abzuzeichnen begann. Mit der Hilfe eines verschwiegenen Freundes hatte sie die aktuelle Adresse von Michael Schuwart herausbekommen und ihm einen langen und zudem sehr persönlichen Brief geschrieben. Sie hatte ihm darin ausführlich erklärt, wer sie war und warum ihr so viel daran lag, dass Vater und Sohn noch die Zeit fanden, sich auszusöhnen. Egal, welcher Streit sie damals entzweit haben mochte. Das alles war vor sechs Monaten geschehen. Mit jedem Tag, der seitdem ohne eine Antwort verstrich, verstand sie Heinrich ein wenig mehr, den eigenen Sohn totzuschweigen.

»Spatzi, denke nicht einmal im Traum daran.« Heinrich Schuwart hatte sich mit Christas Hilfe aufgerichtet und nahm ihr beinahe unwirsch das Bild aus den Händen.

Erneut kam es Katharina so vor, als könne er in ihre geheimsten Gedanken hinabtauchen. Ein verzeihendes Lächeln huschte über ihre Mundwinkel, während sie vergeblich dementierte: »Du hast mir ausdrücklich zu verstehen gegeben, dass es reicht, wenn ich deinen Sohn anrufe, sobald du kalt bist. Meine Meinung hierzu willst du ja nicht hören.«

»Weil ich sie kenne und weiß, dass jeder freundliche Gedanke für diesen Menschen und sein Weib nur vergeudete Lebenskraft ist.«

»Na, dir scheint es heute ja gut zu gehen. Was meinst du …«, lenkte sie von einer weiteren fruchtlosen Debatte ab und ergriff seine schmal gewordene Hand. »Das Wetter verspricht heute schön zu werden. Wollen wir nicht versuchen, nachher ein Stündchen auf die Terrasse zu gehen?«

»Ja, aber nur wenn du mir wieder etwas aus unserem Buch vorliest.«

Das Wetter hielt in der Tat sein Versprechen – was für Hamburg und im April nicht alltäglich war. Es sandte ihnen den ganzen Tag über strahlenden Sonnenschein auf die große Terrasse, die direkt unter ihrer Zimmerflucht lag. Katharina las Heinrich wohl zum ungezählten Male aus seinem Lieblingsroman vor. Mittlerweile würde sie bei einer Verfilmung dieses alten Schinkens manche Rolle problemlos spielen können. Doch sie tat es gern. Für Katharina war es geschenkte Zeit. Zeit, in der sie bei ihrem Partner sein und doch ihre unentwegten Gedanken auf Reisen schicken durfte. Eine Gabe, die niemand so gut beherrschte wie sie, glaubte man ihrem Freund Holgi. Nur war es wenig amüsant, wohin sie ihre Gedanken heute führten. Michael Schuwart. Dabei wusste sie nach sieben Jahren, in denen sie mit Heinrich lebte, nicht mehr, als dass dieser Michael nach einem heftigen Streit mit seinem Vater das Elternhaus verlassen und sich seitdem nie wieder gemeldet hatte; geschweige denn, dass er zurückgekehrt war. Dieses Bild, das sie heute Morgen mit ihrem Hintern heruntergerissen hatte, war, soweit sie wusste, das jüngste im Hause. Einmal hatte Heinrich geäußert, dass ein drittes Enkelkind hinzugekommen sei. Doch das schien er selbst nur aus anderweitiger Quelle erfahren zu haben. Welch ein Groll, welch ein Hass musste zwischen ihnen herrschen, dass ein Großvater nicht einmal seine Enkelkinder sehen oder sprechen durfte … oder wollte, ergänzte sie ehrlich für sich. Auch Heinrich war, wenn er trotzig wurde, nicht leicht zu besänftigen. Was wusste sie schon von diesem Menschen, den sie leider Gottes eines Tages würde kennenlernen müssen? Angeblich war er Manager in irgendeinem der großen Automobilkonzerne. Er hatte zwei oder drei Kinder und eine Gattin, die bereits auf dem Foto eine Miene zog, als würde ihr alles den letzten Nerv rauben. Kinder, Mann und ein begütertes Leben …

»Spatzi, kann es sein, dass du klammheimlich ein paar Seiten ausgelassen hast?«, holte Heinrichs Stimme sie in die Gegenwart zurück. »Aber macht nichts. Ich höre gern deiner unendlich erotischen Stimme zu. Sie ist bezaubernder als die von Zarah Leander. Weißt du, dass es das Erste war, was mich so sehr an dir faszinierte? Selbst heute spüre ich allein durch sie ein Kribbeln, das Jungs in meinem Alter gar nicht mehr haben dürften.«

»Heinrich!« Katharinas damenhaft zur Schau gestellte Empörung schmolz bei seinem Lächeln dahin. Sie rückte dicht an seine Seite und strich ihm mit der Hand über das stoppelige Kinn. Sie hatten heute Morgen tatsächlich vergessen, ihn zu rasieren. »Du verstehst es immer wieder aufs Neue, einer alten Schachtel wie mir den Hof zu machen.«

»Alte Schachtel«, echote er und schenkte ihr das gerissene Grinsen, das sie vom ersten Tag an verführt hatte. »Nein, wirklich. Was spricht dagegen, wenn wir uns an unsere besonderen Augenblicke erinnern?« Seine Finger schlossen sich um ihre zarte Hand. »Und komm mir nicht damit, dass ich sterbenskrank bin. Einen schöneren Tod als den, der mich dabei ereilen würde, kann es nicht geben.«

Lieber Herr Schuwart …

Katharina riss das Blatt vom Block und starrte in die Dunkelheit hinaus. Lange, tagelang hatte sie mit sich gerungen. Immer mit dieser Gewissheit, dass sie Heinrichs Sohn ein weiteres Mal schreiben musste. Einen allerletzten Versuch einleiten, die beiden Hitzköpfe zusammenzubringen, ehe ihnen die Endlichkeit jede Chance raubte. Keine simple Mail und kein ausgedruckter Bogen. Handgeschrieben, schwungvoll und von Herzen kommend.

Sehr geehrter Herr Schuwart, auch wenn ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben habe, eine Antwort auf meinen Brief vom Oktober zu erhalten, möchte ich mich noch einmal mit meiner innigsten Bitte an Sie wenden. Mein Name ist Katharina Sommerbeck. Ich bin seit nunmehr sieben Jahren bei Ihrem Herrn Vater als Hauswirtschafterin in Stellung. In dieser Zeit haben wir, Ihr Herr Vater und ich, ein sehr persönliches Verhältnis entwickelt. Dabei konnten wir auch über Themen sprechen, die manchmal familiär und privat waren. Oder eben solche, die uns großen Kummer bereiten.

Leider hat sich seit meinem letzten Brief der Gesundheitszustand Ihres Vaters nicht gebessert. Genau genommen ist es so, dass der behandelnde Arzt die Vermutung äußert, dass wir in Tagen und nicht in Wochen rechnen müssen. Mir ist nicht bekannt, welcher Zwist Sie und Ihren Vater nun wirklich entzweit hat. Es ist bestimmt nicht nur mein innigster Wunsch, dass Sie das große Herz besitzen, den ersten Schritt auf Ihren Vater zuzugehen. In der großen Hoffnung, dass dieser Brief Sie noch rechtzeitig erreicht und Ihr Herz öffnet, verbleibe ich mit allem gebührenden Respekt, Ihre Katharina Sommerbeck.

Die Leuchtziffern ihres Weckers zeigten weit nach Mitternacht, als Katharina mit ihrem wer weiß wievielten Entwurf zufrieden war und den Briefumschlag verschloss. Ihre Hoffnung war nicht groß und doch hätte es ihr keine Ruhe gelassen. Müde rutschte sie unter ihre Bettdecke und nahm sich vor, ihn gleich am nächsten Morgen durch Christa zur Post bringen zu lassen.

Kapitel 2

Doktor Haecks hatte nahezu recht behalten mit seiner Einschätzung von Heinrichs Gesundheit und Widerstandswillen. Heinrichs letzter Kampf hatte beinahe drei Wochen angedauert. Und nun hatte er den zehnten Mai doch nicht mehr erlebt. Katharinas Geburtstag, an dem er früher so gern mit ihr Ausflüge in den Duvenstedter Brook unternommen hatte. Zwei Tage zuvor war er mitten in der Nacht mit einem glücklichen Lächeln eingeschlafen. An seiner Seite die beiden Frauen, die ihm in den letzten Monaten und Jahren so nahestanden.

Nun war es vorbei und Heinrich war erlöst. Katharina hatte sich all die Monate über gefragt, hatte mit sich gehadert, wie es sein würde, wenn der geliebte Mensch auf ewig von ihr ging. Die Realität war weitaus grausamer. Für sie gab es nur Leere … Diese unendliche Leere. Mit der einzig wahren Gewissheit darin, dass ihre ganze Zukunft perspektivlos war und im Dunkeln lag.

Christa Hagedorn hatte in den Monaten ihrer Nachtpflege erlebt, welch Vertrauen und innige Liebe diese beiden Menschen verband. Für sie stand längst fest, dass ihre Aufgabe mit dem Dahinscheiden ihres Schützlings nicht endete. Die nächsten Tage über würde Kathi jeden Zuspruch und Beistand benötigen, den sie fand. Sämtliche Planungen um die Bestattung und all das, was auf sie zukam, würde allein auf ihren schmalen Schultern lasten. Doch jetzt war es erst einmal wichtig, dass Kathi für den Rest der Nacht zur Ruhe kam. Zumindest begann sich ihre Erstarrung zu lösen und wurde durch heftiges Schluchzen abgelöst.

»Spatzi«, nannte Christa Katharina bewusst bei ihrem Kosenamen und nötigte sie mit zarter Gewalt aus dem Zimmer hinaus. »Du wirst jetzt nach oben gehen und ein paar Stunden schlafen. Morgen wird ein langer Tag werden. Da brauchst du jedes bisschen Kraft.«

»Christa, ich fürchte mich, allein zu sein. Sobald ich meine Augen schließe, sehe ich Heinrich vor mir. Oder Bilder von all den schönen Momenten, die wir miteinander erlebt haben.«

»Das ist auch gut so, mein Kind. Solange wir uns mit Liebe an die von uns gegangenen Menschen erinnern, leben sie immer in unseren Herzen weiter. So, nun aber hoch und hinlegen.« Resolut scheuchte sie die erneut aufschluchzende Frau in den ersten Stock. »Ich werde die Nacht über hierbleiben. Morgen früh informieren wir Doktor Haecks und alle anderen. Kathi, wir zwei schaffen das.«

»Danke Christa, ich weiß nicht, wie ich das jemals gutmachen kann.«

»Nun hör aber auf. Ab nach oben und wehe, du liegst nicht im Bett, wenn ich nach dir sehe.«

***

Christa erwies sich in den folgenden Tagen mehrfach als Rettung in ihrer Not. Katharina mochte sich nicht im Traum ausmalen, wo sie heute gestanden hätte, wäre dieser Engel nicht an ihrer Seite geblieben. Die routinierte Art der Sozialhelferin, die anstehenden Aufgaben anzugehen, gaben Katharina Gelegenheit, sich mit den wichtigsten und intimsten Vorgängen zu beschäftigen. Zum Glück hatte Heinrich ihr die Schritte und Adressen der Freunde in seiner vorausschauenden Art auf einer Liste notiert. Am Ende der Aufstellung hatte er ihr einen letzten Gruß hinterlassen.

Spatzi, du musst nicht um mich weinen. Der Tod ist nur der Anfang von etwas Neuem. Ich sitze hier auf Wolke sieben, lasse die Beine baumeln und schaue voller Stolz auf dich hinab. Du schaffst es, mein geliebtes, starkes Mädchen.

Jedes Mal, wenn ihr Blick von den Adressen und den Hinweisen abglitt, blieb er an diesen Zeilen hängen. Selbst über den Tod machte Heinrich sich lustig und tat dabei so, als wäre alles normal. Vielleicht war es das auch? Oder man sah es anders, wenn die Jahre den Rücken beugten und Krankheiten das „Danach“ als Erlösung erscheinen ließen. Katharina schüttelte ihre tiefsinnigen Betrachtungen ab und suchte nach der Telefonnummer des Notars. Dieser musste unbedingt unterrichtet werden. Mit etwas Glück würde er ihr die größte Last von den Schultern nehmen.

Das Gespräch kam schnell zustande. Der Notar, ein Dr. Klaus-Peter Heinrichsen, versprach ihr, sie gleich am kommenden Tag zu empfangen und mit ihr alles Nötige in die Wege zu leiten. Mit der Telefonnummer eines Michael Schuwart könne er jedoch nicht dienen.

Katharina nahm sich vor, Heinrichs Liste von oben herunter abzuarbeiten. Das Geschäftliche, die nötige Firmenpolitik und alles andere befand sich seit Längerem bei Dr. Kopischek, Heinrichs langjährigem Geschäftsführer, in sicheren Händen. Blieb die schwere Pflicht, es Heinrichs engsten Freunden mitzuteilen. Die meisten dieser Leute hatte sie in den letzten Jahren kennen und schätzen gelernt. Es war beruhigend zu wissen, dass jeder von ihnen die Freundschaft, die Heinrich und sie miteinander teilten, akzeptierte. Nur eine der etwas mehr als ein Dutzend Adressen wies eine 07er-Vorwahl auf. Als Ort hatte Heinrich Stuttgart und den Namen Michael notiert. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, als ihr aus heiterem Himmel bewusst wurde, dass ihr Gefährte immer darüber informiert war, wo sein Sohn lebte und wie er zu erreichen wäre.

Es war nicht ihr Stil, dennoch hatte Katharina das Gefühl, dass sie – ehe sie zum Hörer griff – einen doppelten Kognak benötigte. Das warme Getränk rann ihr brennend die Kehle hinab. Doch es schien in der Tat zumindest das Zittern in den Fingern zu beruhigen. Ziffer für Ziffer drückte sie die Tasten. Geschenkte Sekunden, für den Augenblick, da auf der anderen Seite abgenommen wurde. Dabei war ihr nicht einmal klar, was und wie sie es sagen sollte.

»Laura Schuwart hier, guten Tag.«

Die Stimme war die eines Kindes und warf Katharinas eben gefassten Entschluss über den Haufen. »Hallo, hier spricht Katharina Sommerbeck. Ich würde gern deine Eltern sprechen. Ist das möglich?«

»Hallo, Frau Sommerbeck. Mein Vater ist auf der Arbeit. Darf ich ihm etwas ausrichten?«

»Das würde ich dann doch lieber mit deinem Vater persönlich besprechen. Gibt es eine Telefonnummer, auf der ich ihn direkt erreiche? Es ist wirklich sehr, sehr wichtig.«

Das Mädchen schien mit sich zu ringen. Schließlich nannte sie ihr seine Handynummer und fügte zaghaft an: »Bitte rufen Sie ihn nur an, wenn es echt dringend ist.«

»Vielen Dank, Laura. Und ja, es ist wirklich sehr wichtig.«

Katharina beendete das Gespräch und sah zweifelnd auf die Ziffern. Ihr war übel und das lag eindeutig nicht an dem im Magen auf und ab tanzenden Kognak. Es lässt sich nicht umgehen, bringe es hinter dich. Ihre Finger tanzten über die Tastatur. Drei- oder viermal vernahm sie das Freizeichen, dann wurde ihr Anruf einfach weggedrückt. Eine Minute lang gab sie ihrem aufkeimenden Unmut die Chance, sich zu legen. Ein weiterer Versuch, der mit dem gleichen Ergebnis endete. Was für ein Idiot! Katharina atmete tief durch und entschied sich, erst Heinrichs Freunde zu benachrichtigen, um später noch einmal bei diesem feinen Herrn anzurufen.

Es hatte ihr gutgetan, die Beileidsbekundungen und tröstenden Worte der Menschen entgegenzunehmen. Blieb einzig und allein dieser eine Anruf zu tätigen. Ein Blick zur Uhr, deren Zeiger quälend langsam voranschlichen. Michael Schuwart wäre mit Bestimmtheit noch lange nicht zu Hause. Sie nahm ein weiteres Mal den Hörer auf, blätterte durch die Liste der Telefonate und drückte auf Wahlwiederholung. Nur um erneut weggedrückt zu werden.

»Du Ar…mleuchter!«, fluchte sie leise zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Na warte, wir werden sehen, wer von uns den längeren Atem hat.«

»Zum Teufel noch mal, was wollen Sie!«, bellte eine wütende Stimme vom anderen Ende der Leitung.

»Mein Name ist Katharina Sommerbeck …«

»Woher haben Sie diese Nummer? Egal! Ich werde Ihnen jetzt mal was sagen, Sie impertinentes Weibsbild. Wenn Sie mich nur noch einmal mit Ihren Briefen oder Anrufen belästigen, dann wird Ihnen mein Anwalt …«

»Nein! Jetzt halten Sie mal Ihre bornierte Klappe und hören mir zu! Es ist meine Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Vater in der vergangenen Nacht verstorben ist. Was Sie letztlich mit diesem Wissen machen, ist mir egal. Die Beerdigung wird voraussichtlich in fünf Tagen stattfinden. Alles andere regeln Sie bitte mit dem Notar ihres Herrn Vaters. Und nun wünsche ich Ihnen einen erotischen Nachmittag, Sie … Sie …« Katharina knallte den unschuldigen Hörer auf die Schreibtischplatte und sprang auf. »Das kann doch wohl nicht wahr sein!!!« Entrüstet über diesen ungehobelten Patron und weitaus wütender über sich selbst und ihren absolut unpassenden Kommentar rannte sie aufgebracht im Zimmer auf und ab. »Was bist du nur für eine dumme Nuss!«

»Kathi, ist alles in Ordnung?« Christa sah erschrocken zu ihr ins Büro hinein.

Michael Schuwart starrte irritiert auf das stumme Handy in seiner Hand. Nur langsam sickerte die Tragweite dessen, was diese dreiste Person ihm ausgerichtet hatte, in sein Bewusstsein. Heinrich war tot. Er war sich all die Jahre über so sicher gewesen, dass es nichts mehr gab, was ihn und seinen Vater verband. Geschweige denn, dass es überhaupt so was wie eine seelische Verbindung gab. Jetzt wo es vorbei war, spürte er eine Trauer in sich aufsteigen, die er nicht für möglich gehalten hätte. Vor allem ließ sie sich nicht so einfach abstellen.

»Herr Schuwart, geht es Ihnen gut?«

Nur langsam kehrte er in die Gegenwart zurück und registrierte den besorgten Blick seiner Sekretärin. »Ja … Nein … Ich habe soeben erfahren, dass mein Vater verstorben ist.«

»Oh, wie schrecklich. Das tut mir sehr leid, Herr Schuwart.« Regina Niederhofer eilte nach nebenan und kehrte mit dem Terminplaner zurück. Pragmatisch begann sie darin zu blättern. »Morgen Mittag haben Sie eine wichtige Vorstandsbesprechung. Ansonsten sehe ich nichts, das dringend wäre oder das sich nicht verschieben ließe.«

»Das ist lieb von Ihnen, Regina. Ich denke, die nächsten zehn Tage Freiraum müssten reichen.« Michael Schuwart dachte mit Grauen daran, dass es einiges zu regeln geben würde. Dem würde er sich kaum entwinden können. »Ich bin dann bei Herrn Hausner und werde mit ihm meine Vertretung organisieren.«

»Ich regele für Sie die Termine. Wenn Sie im Anschluss die Unterschriften leisten, gebe ich Ihnen für den Rest des Tages frei.«

Michael Schuwart schenkte ihr ein dankbares Lächeln und unterdrückte den Wunsch, ihr liebevoll die Schulter zu tätscheln. Regina Niederhofer war ein Goldstück. Ein beherzter Griff zum Telefon. »Sebastian, hier Michi, kann ich kurz bei dir vorbeischauen?« Er registrierte die Zustimmung seines Management-Assistenten und besten Freundes. »Dürfte ich dich bitten, mich in den nächsten Tagen in der Firma zu vertreten? Ich habe einen Trauerfall in der Familie und muss oben in Hamburg einiges klären.«

»Holgi?«

Die Trauer in Katharinas Stimme enthielt für Holger Schmidt, ihren wohl ältesten Freund, die Gewissheit, dass es mit einem brillanten Menschen zu Ende gegangen war.

»Heinrich ist erlöst. Heute Nacht ist er ruhig und friedlich eingeschlafen.«

»Es tut mir so leid, mein Hase. Kathi, ich mach den Laden dicht und komme sofort vorbei. Hast du Anna schon informiert?«

»Du musst dich nicht beeilen. Christa ist bei mir. Außerdem habe ich noch so vieles zu erledigen. Aber ja«, seufzte Katharina erschöpft. »Wenn du und Anna heute Abend zu mir kommen mögt? Ich will Christa nicht über Gebühr strapazieren.«

»Mach dir keine Sorgen, Spatzi. Ich schnapp mir die Anna und besorge für uns das Nötigste. Gegen sieben werden wir bei dir sein.«

Katharina beendete das Gespräch und spürte dem sanften Lächeln nach, das sich letztlich erfolglos in ihrem Gesicht festzusetzen suchte. Dennoch wirkten Holgis einfühlsame Worte wie Balsam. Sie hatte sich richtig entschieden, ihre einzigen Freunde, die sie noch besaß, anzurufen. Ganz besonders nachdem sie mit diesem ungehobelten Knopf gesprochen hatte. Allein der Gedanke an diesen Michael Schuwart entfachte erneut ein heftiges Herzrasen.

»Hallo Paps, du bist heute aber früh zu Haus.« Jana Schuwart warf einen gehetzten Blick in den Flur und stutzte. »Ist etwas passiert?«

Bis zu seinem Eintreffen hatte sich Michael fest vorgenommen, die Kinder aus all dem herauszuhalten. Auch jetzt fand er, dass es vernünftig war. Was sollten die drei um einen Mann trauern, den sie nie kennengelernt hatten. Selbst wenn es ihr Großvater war. Nur, wie sollte er seinen Kummer, der ihn mit einer urplötzlichen Bestürzung herunterzog, vor den Kindern verheimlichen? Jana bemerkte sofort, wenn etwas nicht stimmte. Er stellte den Aktenkoffer ab und schlüpfte aus dem Sakko.

»Papaaa! Wie schön, dass du da bist!« Laura, seine Jüngste, stürmte in den Flur, sprang ihm in die Arme und übersäte sein Gesicht mit kleinen Willkommensküsschen. »Du, da hat vorhin eine Frau für dich angerufen. Die wollte dich dringend sprechen. Ich weiß nicht, ob es in Ordnung war, dass ich ihr deine Handynummer gegeben habe. Ich habe es nur gemacht, weil sie so unendlich traurig klang.«

»Das war schon in Ordnung, mein Pummelchen.« Er setzte die Neunjährige ab und strich ihr mit einem liebevollen Lächeln über das hellbraune Haar.

»Papa, du sollst nicht immer Pummelchen zu mir sagen. Ich habe heute noch nicht einmal Chips gegessen«, beschwerte sie sich. »Aber ich habe Hunger und Jana kommt mit dem Essen nicht in die Gänge!«

»Jana kocht für uns?«, fragte Michael skeptisch. »Was ist denn mit Frau Hofer?«

»Hey Paps, da gibtʼs ein kleines Problem«, begrüßte ihn nun auch Felix, sein Ältester. Ein Rang, auf den der Junge bestand, war er doch fünfzehn Minuten vor seiner Zwillingsschwester Jana zur Welt gekommen. »Frau Hofer wird sich die Tage bei dir wegen der ausstehenden Kohle melden.«

»Nein, nicht schon wieder«, entrang sich Michael ein Stöhnen. Eine Hiobsbotschaft nach der anderen! Dabei hatte er gerade einmal den Fuß über die Türschwelle gesetzt. »Kinder, ihr seid siebzehn und neun Jahre alt. Ist es denn zu viel verlangt, dass ihr euch mit den Menschen arrangiert, die um euer Wohl besorgt sind. Frau Hofer ist sage und schreibe die vierte Haushälterin in achtzehn Monaten, die …«

»Vierzehn Monate«, korrigierte Felix Schuwart seinen Vater und verschluckte im letzten Moment sein selbstgefälliges Grinsen. Doch das Donnerwetter war nicht mehr aufzuhalten. Der Alte schien heute so gar nicht in der Verfassung, Milde walten zu lassen.

»Über deine dummdreisten Witze kann ich längst nicht mehr lachen, junger Mann. Darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen!« Wütend ließ er seine Kinder stehen und betrat die Wohnung. Ein wahres Schlachtfeld begrüßte ihn. Da war seine letzte Haushälterin gerade mal drei Stunden fort und hier sah es aus wie in einer Sprengstoffversuchsanstalt. »Wenn ich wieder herunterkomme, ist hier aufgeräumt. Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt?!«

Laura und ihr großer Bruder unterbrachen die geschwisterliche Rangelei. Irritiert folgten ihre Blicke dem Vater und blieben letztlich an Janas Stupsnäschen hängen, das diese aus der Küchentür herausstreckte.

»Mann, der Alte ist ja super geladen«, äußerte Laura altklug, was ihre großen Geschwister vermuteten. Es war mehr als ein gewaltiger Ärger im Anmarsch. »Komm Felix, hilfst du mir beim Aufräumen?«

Statt der Kleinen wie gewohnt einen Vogel zu zeigen, entschied sich der Teenager dafür, ihrem Vorschlag zu folgen.

Der erfolgreiche Manager eines großen Automobilkonzerns schloss die Tür hinter sich und ließ die Welt außen vor. Der Schreibtischstuhl fing seine annähernd fünfundsiebzig Kilo auf und federte leicht nach. Eine böse Vorahnung sagte ihm, dass es mit seiner sehnlichst herbeigewünschten Ruhe heute und in den nächsten Tagen außerordentlich schlecht bestellt sein würde. Sein ganzes festgefügtes Leben bekam an allen Ecken und Enden Risse. Papa war gestorben. Idiotisch, was einem dabei durch den Kopf ging, horchte er hilflos in sich hinein. Machtlos, um sich gegen diese Erinnerungen zu wehren. Michael Schuwart fand sich mit einem Mal in der Rolle als Achtjähriger wieder, der miterleben musste, wie sein Großvater starb. Diese wahnsinnige Angst, die ihn damals überfiel, den Vater irgendwann ebenso zu verlieren. Den Menschen genommen zu bekommen, der für ihn der Größte war. Und nun? Waren wirklich mehr als fünfzehn Jahre vergangen, seitdem er ein letztes Mal mit seinem Vater gesprochen hatte? Wie üblich war es dabei zu einem handfesten Streit gekommen, an dessen Grund er sich nicht einmal mehr erinnerte. Es war gewiss wieder wegen Felicitas gewesen. Sein Vater hatte ihm nie vergeben, dass er diese Frau geheiratet hatte und – hörig wie er Idiot damals war – nach Süddeutschland zog. Heinrich hatte seine missliebige Schwiegertochter damals sofort durchschaut, gestand Michael sich peinlich berührt ein, wieder einmal. Doch jetzt war es ein für alle Mal zu spät, vor dem Vater zu Kreuze zu kriechen und sich mit ihm darüber auszusprechen. Wäre etwas besser geworden, hätte er der Bitte dieser Frau Sommerbeck entsprochen und Kontakt zu seinem Vater aufgenommen?

Wie unter einer schweren Last beugte Michael sich vor und öffnete die oberste Schublade des Schreibtisches. Er nahm ihre beiden Briefe an sich, die sie ihm geschrieben hatte. Haare auf den Zähnen hatte diese Person, erinnerte er sich an das kurze Telefonat mit ihr. Bei solch einem Drachen hatte sein alter Herr in den letzten Jahren bestimmt nichts zu lachen gehabt. Er öffnete den Brief, den diese Sommerbeck ihm im letzten Herbst geschrieben und den er nie beantwortet hatte.

So sehr er auch darauf hoffte, seine zuvor gehegten Vermutungen bestätigt zu sehen, war in ihren Zeilen nichts von der Furie zu entdecken, die er heute hatte erleben dürfen. Eher das Gegenteil. Sieben Jahre lang, las er ihre bezaubernde Handschrift, sei sie bei Heinrich bereits in Stellung. Aus jedem ihrer Worte las er Besorgnis, ja sogar so etwas wie Liebe heraus. Und diese unbändige Hoffnung darauf, dass sich Vater und Sohn aussprachen und endlich vertrugen. Dafür war es nun zu spät. Dennoch würde er sie unweigerlich in Kürze kennenlernen. Michael versuchte sie sich vorzustellen, diese Katharina Sommerbeck. Eine vertrocknete alte Schachtel, gouvernantenhaft, weit jenseits der Fünfzig und für keinen Mann ein wahrer Gewinn. Er selbst hatte in den letzten Jahren ein Übermaß an Stress und Ärger mit Frauen erlebt, als dass ihn der selbstgefällige Gedanke an den Leidensweg seines Vaters mit Freude erfüllte.

Von dieser Eingebung hin zu den anstehenden Aufgaben war es kein großer Schritt. Wer sorgte für die Kinder, wenn er in Hamburg war? Keine Haushälterin traute sich noch in ihre Nähe. Im weiten Umkreis gab es weder Verwandte noch Freunde, die bereit waren, die renitenten Schuwartkinder zu betreuen. Felicitas? Michael war bewusst, dass es keine grauenhaftere Idee gab, als die Kinder zu ihrer leiblichen Mutter zu bringen. Nicht einmal für ein paar Tage. Diese Zeiten wollte niemand wieder erleben. Weder er noch seine Exfrau – die sich auch Jahre nach der Scheidung mit irgendwelchen Typen auf Selbstfindungstrips befand – oder gar die Kinder. Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als die Gören mitzunehmen. Das hieße, morgen mit der Schule zu telefonieren und die Kinder eine Woche vor den Pfingstferien herauszunehmen. Zudem musste er ihnen wohl oder übel gestehen, dass er ihnen all die Jahre über einen lebenden Großvater unterschlagen hatte. Mit einem herzerbarmenden Seufzer nahm er den zweiten Brief auf und las die Worte, die sie ihm erst vor Kurzem in ihrer schwungvollen Handschrift geschrieben hatte.

***

»Katharina, ich schau morgen Mittag wieder bei dir rein. Oder möchtest du nicht lieber doch mit zu mir kommen?« Christa Hagedorn schloss die junge Frau fest in ihre Arme und klopfte ihr dabei beruhigend den Rücken. »Es gibt Erbsensuppe. Genau der Dickmacher, den du jetzt dringend nötig hast.«

»Das ist lieb von dir, Christa. Danke für alles, was du für uns in den letzten Tagen und Wochen getan hast. Doch du musst keine Angst um mich haben, das Leben geht weiter. Außerdem kommen Holgi und Anna heute Abend. Die werden mich schon zum Lachen bringen.«

Als wäre ihre Ausrede das Stichwort, rollte ein verbeulter, von Aufklebern zusammengehaltener Wagen die geschwungene Auffahrt zur Villa hinauf. Das Tröten, mit dem die Ankömmlinge auf sich aufmerksam machten, klang eher nach einem rachitischen Nebelhorn als nach einer Hupe.

»Natürlich! Die zwei sind jetzt genau die richtige Medizin für dich. Macht euch einen schönen Abend und hör vor allem damit auf, Trübsal zu blasen.« Christa verabschiedete sich mit einem Kuss auf ihre Wange und schwang sich auf ihr Rad.

Holgi schälte sich unterdessen hinter dem Lenkrad hervor und winkte den Frauen zu. »Hallo, das Abendbrot kommt!« Erstaunlich agil begab sich der paradiesisch bunt gewandete Mann in Richtung Kofferraum, um einen überdimensionierten Bastkorb herauszuzerren. »Nun komm schon, Annalein! Du kannst ruhig mal mit anpacken, statt später mehr als die Hälfte zu essen.«

»Alter Sprücheklopfer«, drohte seine Beifahrerin lachend und bewegte ihre Traumfigur in seine Richtung. Zusammen wuchteten die beiden die Wegzehrung für ihren gemeinsamen Abend die Treppe hinauf. Als sie Katharina in ihre Arme schlossen, wich die Fröhlichkeit für einen langen Moment einer stillen Andacht.

»Kopf hoch, Mädchen. Heinrich hätte es nicht gewollt, dass wir hier wie die Trauerklöße herumhängen. Wir essen, wir werden uns einen zur Brust nehmen und über die guten, alten Zeiten reden. Da gibt es keine Widerrede!«, entwickelte Holger Schmidt eine Ernsthaftigkeit, die ihm sonst selten zu eigen war. Resolut nahm er den Korb auf und betrat das Haus.

»Er nun wieder«, wandte Katharina sich der Besucherin zu und bemühte sich, ein positives Schmunzeln an den Tag zu legen »Das ist der große Bruder, den man sich immer wünscht, oder?«

»Nein, das ist der Freund, den man immer braucht; und ich bin deine Freundin.« Johanna Neuhaus, die von allen nur liebevoll Anna gerufen wurde, zog sie mit einer Heftigkeit an sich, die man der zierlichen Person niemals zugetraut hätte. Ein Schluchzen ließ ihren schmalen Körper kurz erzittern. Doch sogleich hatte sie sich wieder unter Kontrolle.

»Kommt rein, ihr Süßen. Ich bin ja so froh, dass ihr zwei mich heute nicht allein lasst.« Katharina war glücklich, dass gerade die beiden Menschen bei ihr waren, die ihr neben Heinrich mehr als einmal wortwörtlich das Leben gerettet hatten.

»Holgi hat sogar seine Schmusedecke eingepackt. Was heißen soll, dass wir bis morgen bei dir bleiben werden.«

»Ich habe so etwas gehofft.« Zum ersten Mal fiel Katharina sämtliche Last von den Schultern. Sie ergriff die Hand ihrer besten Freundin und zog sie mit sich ins Haus hinein.

»Wenn ich euch beiden Hungerhaken durchfüttern muss, dann darf ich doch wohl erwarten, dass ihr den Tisch deckt!«, scheuchte Holger Schmidt die Freundinnen auf, die es sich mit einem Glas Wein in der cremefarbenen Ledergarnitur bequem gemacht hatten. Zufrieden mit sich kehrte er in die kleine Küche zurück, in der er sein spezielles „Schmerzfrei­-Menü“ kreierte. Die beiden süß errötenden Schnecken hatte er mit Arbeit versorgt. Jetzt galt es, dass das Roastbeef einen ebenso überzeugenden Touch annahm. Kochen, Backen und Braten waren seine große Leidenschaft; was man seinem Astralkörper leider Gottes manchmal ansah. Nur war er nicht dick, allemal ein wenig plüschig. Oder wie Kathi frech behauptete, er hätte kein Übergewicht, sondern sei nur untergroß. Er liebte diese Frau mit ihrer unheimlich großen Klappe und dem noch größeren Herzen. Nur schade, dass sie nicht der Mann war, der wie für ihn geschaffen war, sinnierte er wieder einmal mit einem Hauch Bedauern. Doch das war schon gut so. Seine Kathi war eben ein ganz besonderer Mensch, dem niemand das Wasser reichen konnte, dachte er mit Hochachtung. Ihre Anteilnahme und Fürsorge für die Menschen, die sie liebte, dieser eiserne Wille und die wagemutige Art, für ihre Überzeugung einzutreten. All das und noch viel mehr faszinierte ihn an diesem tollen „Stehaufmädchen“. Wie oft hatten Heinrich und er – sein Verlust wurde ihm erst jetzt so richtig bewusst – darüber resümiert, welch ein besonderer Mensch in dieser Vollblutfrau ruhte. Kathi hatte immer ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte der Menschen um sie herum. Dabei war ihr bisheriges Leben nie auf Rosen gebettet gewesen. Und doch war Katharina ein Engel auf Erden. Mehr als einmal hatte Holger Schmidt sich dabei ertappt, wie er suchend mit den Fingerkuppen über ihre Schulterblätter fuhr. Dort, wo irgendwo die Schraubvorrichtungen für die Flügel sitzen mussten, die sie immer vor ihnen verbarg.

»Eh, Maître. Wenn dein Braten im Ofen keine Zigarren raucht, würde ich sagen, da brennt was an«, nuschelte Anna mit vollem Mund und langte ein weiteres Mal in das Schälchen mit Paprikastreifen, ehe sie sich aus seiner Nähe flüchtete.

»Na, was macht unser Dreisternekoch?«

»Rettet gerade die Reste des Roastbeefs«, bauschte Anna dessen Malheur grinsend auf. »Du weißt ja, am schönsten schmeckt bei Holgi das Stück zwischen dem rohen und dem verbrannten Teil.«

Frech winkte sie zu dem Geneckten herüber und kontrollierte, ob der Tisch vollständig gedeckt war. Wieder einmal bewunderte sie dabei das edle Geschirr mit dem hellgraurosa Randdekor, das Katharina hervorgeholt hatte. Wie alles, was ihre beste Freundin in die Hand nahm, fügte es sich in das Flair ihrer liebevoll eingerichteten Wohnung ein. An Kathi war eine begnadete Innendekorateurin verloren gegangen. Die Einliegerwohnung, die Katharina hier in der Villa bewohnte, strahlte eine edle Zartheit aus, die ihresgleichen suchte. Viele helle Töne, weiß gelaugte Möbel, die verspielten und dennoch dezenten Accessoires verrieten mehr über das wahre Wesen der Katharina Sommerbeck, als diese freiwillig zugeben würde.

Und das alles sollte vielleicht bald Geschichte sein, erinnerte sich Anna an Katharinas jüngst geäußerte Besorgnis. Was wollte Heinrichs Sohn mit all dem hier anstellen? Dieser Mann, hatte Kathi ihr ihre Ängste geschildert, würde kaum eine Bindung zum Erbe seiner Familie haben und womöglich alles verkaufen. Wo würde Katharina dann ein Unterkommen finden? Nein Anna, rief sie sich zur Ordnung, du fängst jetzt nicht von dir aus an, hier schlechte Stimmung zu verbreiten. Kathi braucht Zuspruch und Mut, kein erneutes Aufkochen von irgendwelchen ungelegten Eiern!

»Diese versalzene Pampe kann doch niemand essen«, beschwerte Felix sich und schob den Teller von sich.

»Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt. Letzten Endes ist es eure Schuld, dass Frau Hofer gekündigt hat.« Der gestrenge Blick des Vaters duldete kein weiteres Aufbegehren. »Außerdem hat Jana uns ein schmackhaftes Gericht zubereitet.« Michael prostete seiner Tochter mit einem dankbaren Lächeln zu und hoffte, dass niemandem auffiel, dass es bereits sein drittes Hefeweizen war.

Jana errötete ob des Lobes und griff zur halb vollen Schüssel. »Möchte noch jemand? Ich kann auch noch ein weiteres Paket Fischstäbchen zubereiten.«

»Hoffentlich findet die später mal einen Mann, dem es die Geschmacksknospen vorher weggeätzt hat«, murmelte Felix und zog sich den Teller heran, bevor seine Schwester ihm noch mehr von der Pampe draufklatschte.

Selbst Michael zeigte ein Herz mit seinen Magenwänden und legte das Besteck beiseite. »Nein danke, mein Schatz. Ich glaube, wir sind nun gesättigt. Ich bin schon gespannt darauf, was du uns morgen servierst.«

»Morgen?« Janas unstete Blicke irrten zu ihren Geschwistern. »Ich treffe mich morgen mit Max und Julia.«

»Das wäre ganz gewiss kein Problem. Nur habe ich nicht den Eindruck, dass Frau Hofer wiederkommen wird. Oder wie seht ihr das?« Betretene Gesichter allerorten, aber mit Ironie, geschweige mit väterlichem Verständnis kamen sie nicht voran. »Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir einen ernsten Familienrat einberufen. Denn so, da stimmt ihr mir hoffentlich zu, kann es mit uns nicht mehr weitergehen. Die vierte Haushälterin in … Wie sagtest du, Felix? Die vierte in vierzehn Monaten.«

»Felix hat echt keine Schuld, Papa. Ich glaube, diesmal habe ich Mist gebaut«, nahm Laura ihren großen Bruder in Schutz und senkte sofort den Kopf, als sie der flammende Blick ihres Vaters traf.

»Es ist mir egal, wer hier wie viel Mist baut! Das ist im Übrigen eine Ausdrucksweise, die ich selbst von einer jungen Dame in deinem Alter nicht mehr hören möchte. Wir stehen vor einem Problem, bei dem ich das Gefühl habe, auf ganzer Strecke zu versagen«, setzte Michael zu einer Strafpredigt an. »Ihr wisst, wie ungern ich versage. Es ist nun einmal so, dass ich morgen, spätestens übermorgen für ein bis zwei Wochen dringend nach Hamburg muss. Wer soll da auf euch aufpassen? Niemand will sich noch um euch kümmern oder nur nach dem Rechten schauen. Ich denke, ich bin mit meinem Latein am Ende und frage mich, ob es nicht besser für alle wäre, wenn ich euch in einem Internat unterbringe.«

Diese Schlussfolgerung schlug bei den Kindern wie eine Bombe ein. Felix sprang auf, während Jana unter ihrem Make-up käsebleich wurde. Einzig Laura blieb abwartend sitzen, obwohl die Reaktion ihrer älteren Geschwister das Schlimmste befürchten ließ. Was war ein Internat?

Felix räusperte sich nach einem eindringlichen Blick auf seine Schwestern. »Paps, du hast mit deiner Standpauke absolut recht. Ich kann dich und deine Haltung sogar verstehen, dass wir nicht selbst auf uns aufpassen können. Doch das geht! Jana kann hervorragend kochen und ich …«

»Felix, wer soll euch denn noch glauben? Eure spontane Silvesterfete mit den Facebookfreunden hier und in der Nachbarschaft war Beweis genug. Wenn du es mir nicht glaubst, gebe ich dir gern die Nummer unseres Sachbearbeiters bei der Haftpflichtversicherung.«

»Das waren die alten Schuwartkinder! Meinst du nicht, dass wir eine letzte Chance verdient haben?«

»Nun kommt er gleich mit dem Spruch „Wie viele letzte Chancen wollt ihr noch haben“«, kam Laura ihrer bedrückt dasitzenden Schwester zuvor und kassierte stolz den respektvollen Blick ihres großen Bruders.

Die Faust des erbosten Vaters schien die Tischplatte zu spalten und verjagte sämtliche Opposition. »Madame, ich bin heute wirklich nicht zu Späßen aufgelegt! Ihr habt mittlerweile einen übleren Ruf als den einer Rockerbande. Ich kann so nicht mehr weiterleben!«

»Und wenn wir mit dir nach Hamburg kommen und versprechen, nicht nur da, sondern von nun an jederzeit nett und höflich zu sein«, fand Jana endlich ihre Sprache wieder. Unter dem zustimmenden Nicken ihre Geschwister flehte sie: »Bitte, Papa. Alles, nur kein Internat.« Dicke Krokodilstränen sammelten sich in ihren Augen.

»Ja, Paps. Jana hat recht und du natürlich auch«, hängte Felix die Fahne in den Wind. »Ihr Vorschlag ist doch super. In der letzten Woche passiert in der Penne eh nichts. Was hast du eigentlich in Hamburg zu erledigen?«

Die Kinder versprachen ihm Besserung und ja, er wollte ihnen vertrauen. Betreten drehte er das leere Glas in seiner Hand. »Ich muss zu einer Beerdigung. Danach werde ich einige unabwendbare Dinge zu regeln haben.«

»Beerdigung? Wer ist denn gestorben?«

Nun war es an ihn, Farbe zu bekennen. Michael schluckte trocken und setzte zu einer Beichte an, die er ihnen und sich selbst liebend gern erspart hätte.

Es wurde ein Nachmittag der Offenbarungen und der großen Versprechen. Was daraus erwachsen würde, musste die Zukunft zeigen. Zumindest hatte die Schuwartfamilie für die nächste Zeit zusammengefunden, resümierte Michael. Felix hatte den Auftrag übernommen, den günstigsten Flug für sie zu buchen und die Mädchen würden planen, was man als Familie für ein bis zwei Wochen mitnehmen musste. Auf ihn selbst wartete die schwierigste Aufgabe. Eine gewisse Katharina Sommerbeck darauf vorzubereiten, dass er sehr bald und nicht allein in Hamburg eintreffen würde.

Das Telefonklingeln wollte nicht abreißen.

»Ein wenig spät für Kondolenzanrufe«, bemerkte Anna nicht zu Unrecht.

Katharina warf ihr zerknülltes Papiertaschentuch in den Müll und griff zum Hörer. »Holgi, drehst du bitte die Musik etwas leiser.«

»Na klar.« Der Angesprochene folgte ihrer Bitte. Dabei gab es nichts Besseres zur Trauerbewältigung als die Musik von Christoffer Cross, Supertramp oder Alan Parsons Project. »Obwohl ich Anna nur zustimmen kann.«

»Wir haben noch die ganze Nacht, mein Kuschelbär.« Katharina lächelte ihm dankbar zu und nahm den Hörer an ihr Ohr. »Bei Schuwart. Sie sprechen mit Katharina Sommerbeck.«

»Michael Schuwart hier.« Herrgott, fragte sich der Mann am anderen Ende der Leitung, warum die Stimme einer alten Schachtel, eines Drachens mit Haaren auf den Zähnen, solch ein unvergleichbares Timbre besaß. Zumal sie jetzt weit gelöster klang als noch bei ihrem Gespräch am Nachmittag. Zu früh gefreut. Offenbar reichte sein Name allein, um bei ihr einen Hauptschalter umzulegen.

»Herr Schuwart, was verschafft mir die Ehre Ihres Anrufes zu nachtschlafender Zeit?«

Michael sah auf die Uhr. Okay, sie hatte das Recht, ein wenig pikiert zu sein. Doch er war ja wohl eine Ausnahme, oder? »Ich wollte Sie davon in Kenntnis setzen, dass wir morgen im Laufe des späten Nachmittags eintreffen werden.«

»Ja, Herr Schuwart.« Katharina erntete für sich die teils besorgt, teils wütenden Blicke ihrer Freunde. »Na, da freue ich mich doch außerordentlich, dass Sie zumindest die Zeit finden, um doch noch an der Trauerfeier Ihres Vaters teilzunehmen.«

Michaels Gerechtigkeitssinn konnte ihr ihre Bissigkeit nicht verübeln. Sein Vater hatte ihr, so wie es schien, sehr am Herzen gelegen. »Frau Sommerbeck, wäre es bitte möglich, dass sie uns ein paar Zimmer vorbereiten?«

Katharina sah an den Freunden vorbei ins Dunkel der Nacht hinein. Hätte er sich nicht wie jeder rücksichtsvolle Mensch in einem Hotel einmieten können! Dieser ungehobelte Kerl hatte es nie für nötig gehalten, sich jemals um seinen Vater zu kümmern. Und nun verlangte er allen Ernstes … Mädchen, du bist ungerecht, rief sie sich zur Ordnung. Es ist sein Elternhaus und er ist ohnehin der neue Eigentümer. »Gern, Herr Schuwart. Wen darf ich einplanen?«

Wenn Eisblöcke einen Namen trugen, sinnierte Michael für sich. Im Hintergrund hörte er leise Musik und mindestens ein weiteres Stimmenpaar. Komisch, warum fielen ihm gerade jetzt solche Nebensächlichkeiten auf? Er sammelte sich und sagte im versöhnlichen Tonfall: »Mein Sohn, die beiden Töchter und meine Wenigkeit.«

»Das ist kein Problem, Herr Schuwart. Soll ich dafür Sorge tragen, dass Sie abgeholt werden?«

»Nein, das ist nicht nötig. Wir haben einen Leihwagen gebucht.«

»Dann hoffe ich, dass Sie in der Lage sein werden, den Weg hierher zu finden.«

Der Klang ihrer honigsüßen Stimme ließ ihn wider Willen herzhaft auflachen. Im Nachhinein sollte er sich oft fragen, warum ihm die folgenden Worte über die Lippen kamen: »Frau Sommerbeck, ihr Sarkasmus ist einfach erfrischend. Ich freue mich schon wirklich darauf, Sie kennenzulernen.«

»Ich mich auch, Herr Schuwart. Ich mich auch.« Katharinas Versprechen klang dagegen wie eine Drohung. Sie wollte das Gespräch beenden, als er ihr eine weitere Frage stellte. »Bitte?«

»Wollen Sie mir nicht noch eine erotische Nacht wünschen?«

»Schlafen Sie gut«, wünschte Katharina ihm geheimnisvoll lächelnd und legte auf.

»Graziella, war das eben der Mensch, den ich vermute?«, überfiel Holgi sie, sobald sie das Gespräch unterbrochen hatte.

»Ja.« Katharina sah nachdenklich an den Freunden vorbei. »Ja, das war Michael Schuwart. Er und seine drei Kinder werden morgen kommen.«

»Spatzi, du siehst aus, als würdest du etwas ergründen wollen, das dir gar nicht so unschön vorkommt.«

»Süße, jetzt hör bloß damit auf, mir irgendwelche Romanzen anzudichten!« Katharina funkelte Anna peinlich berührt an. Verdammt, wie einfühlsam war diese Frau denn noch!?! Doch diesmal würde Anna auf dem Holzweg sein, schwor sie sich.

»Was wäre denn so grausig daran?«, hieb Holgi in die gleiche Kerbe. »Wer sagt denn, dass dieser Michael nicht ein jüngeres Pendant von Heinrich ist?«

»Kinder, jetzt hört ihr aber auf! Dieser Mann hat mindestens drei Kinder und ist mit einer unmöglichen Xanthippe verheiratet. Außerdem wäre er, hätten Heinrich und ich jemals den Mut gefunden zu heiraten, längst mein Stiefsohn.« Katharina schüttelte sich bei der Vorstellung. Zumal das „Kind“ wer weiß wie viele Jahre älter war als die Stiefmutter. »Es wird kommen, wie es kommt«, setzte sie dem Spuk ein Ende. »Jetzt werden wir die letzten Flaschen leeren und morgen früh dürft ihr mir helfen, die Gästezimmer herzurichten.«

Kapitel 3

»Ich war noch nie in Hamburg, Papa.« Laura sah mit leuchtenden Augen aus dem Fenster, als ihr Flieger langsam über den Hafen und die im Sonnenlicht glitzernde Elbe hinweg Kurs auf Fuhlsbüttel nahm. »Und du kommst echt von hier? Wie ist das, kann man in der Elbe baden?«

»Ich weiß es nicht, mein Schatz. Die Strömung ist nicht zu unterschätzen. Und ja, ich bin in dieser Stadt geboren. In der Finkenau.«

»Das hört sich aber lustig an!«, urteilte Jana und schaute über die Schulter ihrer Schwester hinaus. »Michael von der Finkenau. Das klingt wie bei einem echten Adligen.«

»Felix von Finkenau. Ob ich damit bei den Mädels hier Erfolg habe?«

»Hört mit dem Lästern auf!« Verlegen faltete Michael die Zeitung zusammen und steckte sie vor sich ins Gepäcknetz. »Schuwart ist ein edler Name. Ich meine, mich zu erinnern, dass euer Urgroßvater unsere Familie bis zu einem Bremer Kaufmann um 1514 zurückverfolgt hat.«

»Eh, geil! Denkst du, Opa hat so was wie einen Stammbaum herumliegen? Fünfhundert Jahre Familiengeschichte und mein alter Herr meint, man muss sich dafür entschuldigen«, spielte Felix mutig auf das gestrige Geständnis seines Vaters an. Grinsend überging er den zynischen Blick seines Vaters. »Und Opa war echt ein Reeder? Mit Schiffen und all soʼm Schotter?«

Bevor Michael über die ungebührlichen Worte seines Sohnes in Wallung geriet, machte Laura erneut auf sich aufmerksam. »Was ist denn ein Reeder? Ist das jemand, der immer Reden schwingt?«

Michael musste schmunzeln. So unrecht hatte seine Jüngste nicht, erinnerte er sich an seine Kindheit und Jugend. Reden geschwungen hatte sein alter Herr immer. »Nein, mein Schatz. Reeder sind Leute, die große Schiffe besitzen, diese mit Fracht von anderen Leuten beladen und über alle Weltmeere fahren.«

»Meinst du, wir können auch mal mit so einem Schiff fahren? Vielleicht nach Afrika, oder noch besser, nach Amerika?«

»Nein, das glaube ich nicht. Die Schiffe sind nur für Fracht und keine Luxusliner.«

»Eine Kreuzfahrt, das wäre mal was!«, schwärmte Jana selig. »Können wir das nicht auch mal gemeinsam machen?«

Ehe Michael auf den Wunsch seiner Ältesten reagieren konnte, überraschte ihn Felixʼ Feststellung. Zumindest was die Ernsthaftigkeit seiner Worte betraf. »Paps, das heißt, uns gehören jetzt richtige Frachtschiffe, mit denen wir Waren in alle Welt liefern können?«

Michael antwortete ihm mit einer tiefen Spur von Traurigkeit: »Ich weiß es nicht. Jedenfalls war es so, als ich damals von zu Haus fortging.«

Jana ergriff die Hand ihres Vaters und sah ihn an. »Papa, es ist nie zu spät, neue alte Wege zu gehen.«

Die Aufrichtigkeit seiner Kinder verblüffte und erfreute Michael Schuwart zu gleichen Teilen und mehr, als er sich einzugestehen wagte.

»Laura, wenn die Fahrwerke gleich beim Aufsetzen abbrechen, wickelt sich die Tragfläche um deinen Hals«, versprach Felix seiner kleinen Schwester, als es spürbar unter ihnen ruckte. Heldenhaft ertrug er die strafende Kopfnuss seines Vaters wie ein Mann.

***

»Wir werden die Daunenfedern garantiert bis Weihnachten in den Nasenlöchern und unserer Unterwäsche finden.« Holger Schmidt nieste übertrieben und beschwor die Freundin, als diese keine Reaktion auf seinen Kommentar zeigte: »Kathi, du bist uns etwas schuldig. Willst du uns nicht doch hier in deiner Nähe behalten?« Zu gespannt war er auf Heinrichs Sohn und dessen Kinder.

»An einem anderen Tag gern«, unterband die Angesprochene jeden weiteren Versuch. »Bitte seht ein, dass ich diesen komischen Knopf erst allein kennenlernen will. Ihr werdet ihm und seinen Kindern auf jeden Fall bei der Trauerfeier begegnen. Ihr kommt doch, oder?«

»Was für eine Frage! Spätestens da werden wir uns wiedersehen. Ich verspreche dir, dass Holgi nicht overdressed erscheinen wird.« Anna zwinkerte Katharina zu und scheuchte den gemeinsamen Freund zum Wagen.

Müde und gleichwohl aufgewühlt winkte Katharina ihnen hinterher und kehrte in die Villa zurück. Zum ersten Mal seit Heinrichs Tod war sie mit sich allein, wurde ihr bewusst. Die Angst holte sie ein weiteres Mal ein, all das hier in Kürze zu verlieren. Nein, so darfst du gar nicht erst anfangen zu denken, ermahnte sie sich und suchte ihr Seelenheil in irgendwelchen Routineaufgaben.

Ein letzter Kontrollgang durch ein Haus, das trotz aller guten Vorsätze mit einem Male so leer und einsam wirkte. Selbst die medizinischen Geräte und Hilfsmittel hatte man abgeholt. Nichts erinnerte an das Leiden eines alten, immer jung gebliebenen Mannes. Sie hatten alles vorbereitet, für diesen unbekannten Erben und dessen Kinder.

Vielleicht noch eine Stunde. Dann würde sie dem Mann von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, dessen markante Stimme sie gestern Abend so sehr an Heinrich erinnert hatte. An einen Heinrich, der sie immer wieder alles um sich herum hatte vergessen lassen. Ruhig Mädchen, rief Katharina sich zur Ordnung. Es läuft alles nur auf einen Deal hinaus. Ein Geschäft, bei dem du dich so gut verkaufen musst, dass er dir zumindest deine Wohnung lässt. Das war ihre größte Angst. Zumal ihr die alkoholgeschwängerten Albträume der letzten Nacht Schlimmeres suggerierten. Sie hatte tatsächlich davon geträumt, dass er alles versilbern und sie selbst auf die Straße setzen würde.

Wohl von jedem zweiten Fenster blickte sie hinaus. Voller Unruhe darauf wartend, dass dieser Herr und seine Kinder kamen. Jedes Mal kam es ihr vor, als würde Heinrichs Geist neben ihr stehen und ihr leise ins Ohr flüstern: »Vertraue mir, Spatzi, du wirst sie in dein Herz schließen.« Sie schüttelte den Kopf und lächelte dabei glücklich. »Heinrich, du bist immer nur ein Optimist gewesen.«

In diesem Moment bog eine dunkle Luxuslimousine von der Straße ab und kam langsam die Auffahrt hinauf.

Michael Schuwart sah die protzige Villa vor sich liegen. Nichts, rein gar nichts schien sich in all den Jahren verändert zu haben. Penibel gepflegt, wie eh und je. Das alles sollte nun ihm gehören … Beklommenheit manifestierte sich in ihm und griff auf die Kinder über. Er riss sich vom Anblick los und sah seine Mannschaft eindringlich an. »Eine letzte und eindringliche Warnung an euch. Benehmt euch! Und wehe, ihr vergrault mir diese Frau Sommerbeck. Selbst wenn sie nur eine Haushälterin ist und Haare auf den Zähnen hat. Ich sage nur „Internat“.« Die letzte Drohung zerkaute er beinahe genüsslich.

Sie waren eben ausgestiegen, als sich der schwere Türflügel des Portals öffnete und eine dunkel gekleidete Frau heraustrat.

Herr im Himmel! Michael blieb abrupt stehen. War das etwa die Sommerbeck? Er strich schlagartig zwanzig, wenn nicht sogar dreißig Jahre von dem Alter, das er ihr zugestanden hatte, und begab sich mit klopfendem Herzen auf sie zu. Sie trafen sich auf der Hälfte der Stufen. »Frau Sommerbeck?«

»Ja, Herr Schuwart. Ich heiße Sie und Ihre Kinder herzlich willkommen. Wenn der Anlass auch nicht schön ist, so freue ich mich doch, Sie endlich kennenzulernen.«

Michael wusste nicht, wie er sich an ihrer Erscheinung sattsehen sollte. Mein Gott, hätte er doch nur früher geahnt, welch eine Frau hier auf ihn gewartet hatte. Irgendwann bemerkte er, dass er weiterhin ihre zarte und gleichwohl kräftige Hand hielt. Die künstliche Bräune von der Sonnenbank verbarg hoffentlich sein heftiges Erröten. Und doch schien sie ihn mit einem wissenden Lächeln zu durchschauen.

»Entschuldigen Sie.« Sein Lachen wirkte so was von deplatziert. »Das muss wohl der Jetlag sein.« Jetlag? Oh Mann, packte Michael die Verzweiflung. Du machst dich hier völlig zum Löffel. »Mein Sohn Felix. Ehhh«, pfiff er erfolglos den Junior zurück, der sich grußlos, ganz aufs Smartphone konzentriert, an ihnen vorbeidrückte. »Felix, sei doch bitte so nett und begrüße Frau Sommerbeck!«

Katharina sah dem jungen Mann hinterher und nahm dessen Ignoranz des väterlichen Befehls mit einem toleranten Schulterzucken zur Kenntnis.

»Ich hoffe inständig, dass zumindest meine Töchter nicht alles an Erziehung verlernt haben«, entschuldigte sich Michael ein weiteres Mal. »Das ist Jana, meine Große, die Zwillingsschwester von dem Chaoten dort.«

»Hey.« Die junge Frau hob kurz die Hand, in der sie den überdimensionierten Beauty-Case trug und folgte ihrem Bruder ins Haus.

Michael drohte derweil vor Scham im Erdboden zu versinken. Herrgott, was musste diese Frau von ihm denken! Damit hatte er dann wohl endgültig alle ihm vorauseilenden Negativpunkte erfüllt.

»Guten Tag, Frau Sommerbeck. Mein Name ist Laura Schuwart. Ich freue mich sehr, Sie endlich kennenzulernen.« Laura strahlte die große Frau freundlich an und hielt ihr die Hand entgegen, die diese mit einem überraschten Lächeln ergriff.

»Hallo Laura. Ich bin die Katharina und ich freue mich sehr, deine Bekanntschaft zu machen. Wir hatten doch gestern bereits miteinander telefoniert, oder?«

»Ja, das war ich.« Laura vollführte einen Knicks und sah zu ihrem Vater auf, über dessen Gesicht ein erlöstes Lächeln zuckte. »Papa, denkst du, ich könnte Katharina mal fragen, ob sie etwas zu essen hat?«

»Natürlich, Laura. Ich habe uns allen ein Abendessen vorbereitet und hoffe, es wird dir und deiner Familie schmecken.« Katharina ergriff die Hand des Mädchens und blickte über ihre Schulter zurück auf den konsterniert dreinschauenden Mann. Für einen kurzen Moment zuckte es um ihre Mundwinkel herum, als probe sie ein amüsiertes Lächeln. »Die Einladung gilt natürlich auch für Sie.«

Dieser tiefsinnige Blick … Michael blieb wie angewurzelt stehen. Zu viele Eindrücke stürmten auf ihn ein. Die rassige Erscheinung der Frau und wie sie elegant mit seiner Tochter die Stufen hinaufstieg. Lauras verblüffende Offenheit, die sie einer völlig Fremden schenkte. Vor allem aber seine alte Furcht, wieder wie der ewige Versager dazustehen, sobald er den Fuß über diese Schwelle setzte. Er sah sich zweifelnd um. Die Sachen mussten ausgepackt werden. Doch das wäre nur ein kurzer Aufschub vor dem Unvermeidlichen.

Mit Koffern und Taschen beladen stand er kurz darauf in der kühlen Empfangshalle. Da waren sie wieder, die Blicke seiner Ahnen, die ihn aus den Ölschinken heraus skeptisch musterten. Irrtum, vergesst es. Heute kehrte er als Spitzenmanager eines erfolgreichen Konzerns zurück. Durch seine Hände floss jährlich mehr Geld als in ihrem ganzen Leben. »Ihr könnt mich allesamt mal gernhaben!«

»Papa, wir sind hier.« Laura kam gut gelaunt auf ihn zugelaufen. »Hast du schon gesehen, wie groß das hier ist? Da brauchen wir Tage, bis alles unordentlich gemacht ist, hihihi.«

Das strahlende Lächeln seiner Tochter fing ihn ein und gab ihm die Zuversicht, alles zu schaffen. »Untersteht euch, hier so ein Unheil anzurichten«, drohte er leise lachend und ließ sich von ihr in das Speisezimmer führen.

Auch hier hatte sich kaum etwas verändert. Die gleichen gediegenen Möbel, die wenigstens seit hundert Jahren ihren Zweck erfüllten. Ein neuer Fernseher, ja. Ansonsten derselbe alte Mief. Hier traf er auf den Rest seiner Familie, die sich an einem Büfett bediente, das Frau Sommerbeck – oder andere dienstbare Geister – für sie aufgebaut hatten.

»Frau Sommerbeck, was haben Sie sich nur für Arbeit gemacht. Wer soll das alles essen?« Michael stellte sein Gepäck ab und ließ seine Blicke zwischen den Köstlichkeiten und der appetitlichen Frau gleich daneben wandern.

»Ich hatte gestern Besuch von meinen besten Freunden. Die waren der Ansicht, dass ich verhungern könnte. Lassen Sie es sich also ruhig schmecken.«

»Paps, das Roastbeef schmeckt ultrageil.«

»Felix!« Michael verdrehte die Augen und sah die bildhübsche Frau demutsvoll an. »Was habe ich nur verbrochen, dass mich das Schicksal mit solchen Kindern segnet?«

»Ach, irgendwas wird sich schon finden lassen«, versprach die Sommerbeck mit einem Augenzwinkern, das faktisch so alles hätte aussagen können.

»Na gut, aber Sie essen bitte mit uns.« Er nahm sich einen Teller und spürte erst jetzt, welch ein Hunger ihn begleitete.

Von einem schweigsamen Essen war keine Rede. Bei den Kindern dauerte es nicht lange, bis auch der letzte von ihnen seine Zurückhaltung ablegte. Fragen wie: »Wo kann man hier shoppen?«, »Gibt’s hier ein Freibad?«, »Warum ist es hier so kühl, wo doch die Sonne scheint?« und vielerlei mehr nötigten der jungen Frau so einiges an Verständnis und Wissen ab.

Dankbar dafür, dass sie ihn für den Moment aus ihren scharfsinnigen Blicken verloren hatte, fand Michael die Zeit, sich der Situation und seiner ihm aufgezwungenen Rolle bewusst zu werden. Zeit, sich zu fragen, was seinen Vater und diese mindestens halb so alte Frau miteinander verband. In dieser Zeit haben wir ein sehr persönliches Verständnis füreinander entwickelt, kamen ihm die Zeilen aus ihren Briefen in den Sinn. Fragen nach dem, wie sie die Jahre miteinander verbracht hatten. Aufbrandender Zweifel überrollte ihn. Dabei musste er weder Prophet noch Psychologe sein. Auch wenn sie den Fragen der Kinder lauschte und nach bestem Wissen antwortete, so waren ihre Blicke meist traurig in eine Ferne gerichtet, die weit über diesen Raum hinausging. Ein heftiges Ziehen breitete sich von seinem Herzen hinab in den Magen aus, wo es Fuß fasste und sich festfraß.

»Katharina, wie war mein Opa denn? Hast du ihn gerngehabt?« Laura, die sich bisher verhältnismäßig still verhalten hatte, erzielte die Aufmerksamkeit aller.

Die Angesprochene war zusammengezuckt. Haltlos wanderten ihre Blicke durch den Raum und blieben an dem Vater der Kinder hängen.

Dieser kurze Moment, in dem er in die tiefgrünen Bergseen ihrer Augen versank, reichte für Michael Schuwart aus, um sich zweier Dinge bewusst zu werden. Sie und sein Vater waren ein Paar gewesen und er war eindeutig desillusioniert … Nein, er war schlicht und einfach eifersüchtig. Er verbarg die entmutigende Erkenntnis tief in seinem Herzen und brachte sich mit einer Stimme in Erinnerung, die keine Widersprüche erlaubte: »Um das zu klären, haben wir in den nächsten Tagen Zeit genug. Für uns alle war es ein langer Tag. Ich denke, dass wir unsere Zimmer beziehen und zur Ruhe kommen sollten.«

Erstaunlicherweise gab es kein Kontra, und was er nicht im Traum zu hoffen wagte: Die Kinder bedankten sich für das Abendessen und betrachteten das Ausladen des Wagens und das Zimmereinräumen als einen Wettbewerb.

»Lassen Sie ruhig«, wehrte Katharina sein Angebot ab, ihr beim Abdecken und dem Abwasch zu helfen. »Sie sollten ebenfalls Ihr Zimmer beziehen. Ich hoffe, Sie sind mit meiner Auswahl zufrieden.«

»Ja, wenn Sie meinen.« Er begab sich zu seinem Gepäck. Ein bedauernder Blick zurück. Was für eine Wahnsinnsfrau! Diese imponierende, von sich und ihrer Ausstrahlung überzeugte stolze Frau … und sein Vater … »Katharina?« Er fragte sich allen Ernstes, ob es wirklich von ihm nur so dahingesagt war, sie beim Vornamen zu nennen, oder ob er seine Chancen bei ihr ausloten wollte.

»Ja?«

Hatte sie es überhaupt bemerkt? »Danke, dass Sie uns so freimütig empfangen haben«, suchte er Zuflucht in eine nichtssagende Gewissheit.

Sie schenkte ihm ein Lächeln und widmete sich gleich darauf erneut ihrer Aufgabe.

Langsam wurde es ruhig im Haus. Ab und zu drang ein Protestlaut eines der Kinder zu ihr herunter, wenn jemand feststellte, welch tolles Zimmer der andere hatte. Auf die eine Art war es unendlich schön, wieder Trubel um sich zu haben; auf der anderen Seite stand noch immer die Frage im Raum, wie alles weiterging. Katharina stand an der Spüle und reinigte die Holzteile und das Geschirr, das keinen Weg in die Spülmaschine fand. Ihr Blick wanderte hinaus zu den Garagen, wo Heinrichs Sohn soeben den Wagen parkte. Selbstredend direkt vor ihrer Garage.

Dieser Michael Schuwart verwirrte sie. Mehr als sie bereit war, vor sich selbst zuzugeben. Ein wohliger Schauer durchströmte ihren Körper, als sie sich an das erste Zusammentreffen erinnerte. Sein warmer, fester Händedruck. Die Blicke aus seinen hellgrauen, alles durchdringenden Augen. Er war das Abbild von Heinrich. Heinrich in jüngeren Jahren. Nur in einer weitaus impulsiveren Art. Er gab sich männlich, selbstbewusst und war offenbar mehr als angetan von ihrer Ausstrahlung. Doch dann waren da diese Augenblicke, die ihre ganze Menschenkenntnis auf den Kopf stellten. Seine Blicke, wie die beim Abendbrot. Diese plötzliche Kühle, die mit einem Male zwischen ihnen stand. Eisgraue Augen, die verbittert durch sie hindurchsahen. Sein Kasernenhofton, mit dem er den Kindern die Marschrichtung für den Abend vorgegeben hatte. Katharinas Blicke folgten ihm, wie er über den Hof zum Haus ging. Unweigerlich würde er den Dienstboteneingang nehmen und bei ihr in der Küche landen.

»Wäre es von mir zu viel verlangt, wenn wir uns heute Abend zusammensetzen, um die kommenden Tage durchzuplanen?«

»Gern.« Sie schenkte ihm ein verhaltenes Lächeln. »Wünschen Sie, dass ich Ihnen die Bücher und alles andere bereitlege?«

»Nein, das reicht in den nächsten Tagen. Ich würde nur gern erfahren, was Sie bislang bezüglich meines Vaters in die Wege geleitet haben.« … Und was du mit Heinrich angestellt hast, ergänzte Michael für sich und schluckte die erneut aufbrandende Eifersucht hinunter. »Wir treffen uns hier unten? Sagen wir, in einer Stunde.« Raus, er musste raus hier!

»Sehr wohl, der Herr.« Sie sah ihm hinterher. Nur war es diesmal kein wohliger Schauer, die sie frösteln ließ. »Oller Döskopp«, zerbiss sie ihre Verwünschung auf den Lippen.

Katharina erledigte den Abwasch und begab sich für die letzte halbe Stunde hinauf in ihre Wohnung. Sie musste sich etwas anderes anziehen. Ihre dunkle Seidenbluse hatte Flecken vom Spülwasser abbekommen. Außerdem war es zum Abend hin empfindlich kühl geworden. Sie schlüpfte aus ihrer Oberbekleidung und gönnte sich den Luxus, für ein paar Minuten auf ihr gemütliches Bett zu sinken und an die Decke zu starren. Ihr untrügliches Gefühl sagte ihr, dass das anstehende Gespräch in der Art wie ihr erstes Telefonat verlaufen würde. »Kathi, versaue dir nicht deine Zukunft. Sei nett und freundlich, sodass er dich hier weiter wohnen lässt«, kam ihr ein Flüstern über die Lippen. Sie sah auf das Foto von Heinrich und ihr, das neben ihrem Bett stand. Es waren damals so glückliche, unbeschwerte Tage gewesen. Die letzten wirklich glücklichen, ehe sie erfuhren, welch unheilbare Krankheit längst Besitz von ihm ergriffen hatte.

Erschrocken zuckte Katharina zusammen. Fast wäre sie eingeschlafen. Schnell in den erstbesten Pullover geschlüpft, die Haare durchgekämmt und ab nach unten.

Sie traf ihn in der Bibliothek an. Er saß an Heinrichs Schreibtisch. Sein leicht tadelnder Blick glitt zur Uhr. Auf die andere Seite des Möbelstückes hatte er einen Stuhl platziert, auf den er demonstrativ deutete. Den unbequemsten, den es hier im Parterre gab, registrierte Katharina für sich. Mitarbeitergespräche: Grundkurs für angehende Manager. Bitte schön, wenn er sich dabei besser fühlte.

»Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu lang warten lassen?« Sie legte die Ledermappe mit ihren Unterlagen und Notizen vor sich ab, setzte sich und schlug ihre rassigen Beine übereinander.

Michael registrierte sehr wohl ihr selbstbewusstes Auftreten. Keine Frau, die sich leicht einschüchtern ließe. Ihr schneeweißer Angorapullover, den sie jetzt trug, betonte ganz besonders die dunkelgrünen Augen und ließ ihre rotbraunen Haare doppelt intensiv strahlen. Eine Hexe, drängte sich ihm das Gleichnis auf. Eindeutig eine Hexe, die Männer umgarnte und sie verbrannte. »Ich sehe, Sie haben sich etwas Bequemeres angezogen.«

»Ja. Es stört Sie hoffentlich nicht. In den letzten Tagen hatten wir die Heizung heruntergeregelt. Ich wollte Sie nicht gleich am ersten Abend darum bitten, in den Keller hinabzusteigen, um sie für mich wieder hochzufahren.«

Michi, sie spielt mit dir. Mit dieser Masche hat sie ganz gewiss auch den Alten um den Finger gewickelt, steigerte er sich in seinen Groll hinein. »Erinnern Sie mich daran, dass ich Ihnen morgen einen Pullover in etwas … gedeckteren Farben besorge.«

»Seien Sie unbesorgt, Herr Schuwart. Mein Kleiderschrank ist leidlich gefüllt. Zumindest werde ich das Haus nicht mit weißem Oberhemd und roter Krawatte verlassen«, konterte sie mit einem süffisanten Lächeln und setzte sich aufrecht hin. Als sie fortfuhr, hatte sich ihr Blick ihrer steifen Haltung angeglichen. »Ich gehe kaum davon aus, dass Sie mich hierher bestellt haben, um mit mir die Kleiderordnung zu besprechen.«

»Darin stimme ich Ihnen zu. Kommen wir zum Punkt. Was haben Sie nach dem Tod meines Vaters bislang in die Wege geleitet?«

Katharina schlug ihre Mappe auf. »Heinrich hat Gott sei Dank …« Sie stockte, als sie seinen pikierten Blick bemerkte, der auf ihr ruhte. Es war völlig klar, dass er davon ausging, dass sie seinen Vater mit Herrn Schuwart zu benennen hätte. Aber nicht mit mir, mein Lieber, schwor sie sich und fuhr betont sicher fort: »Heinrich hat vor seinem Tod für mich eine To-do-Liste vorbereitet. Daher wusste ich, wen ich zu benachrichtigen habe und was vorab zu arrangieren ist. Seine besten Freunde habe ich bereits telefonisch in Kenntnis gesetzt. Der Totenschein wurde von Dr. Haecks, dem Hausarzt, ausgestellt. Heinrich hat weiterhin bestimmt, dass das Bestattungsunternehmen Rothers die Beisetzung durchführt. Herr Rothers hat alles persönlich in die Hand genommen und mich heute Mittag informiert, dass die Trauerfeier am kommenden Dienstagmorgen in der Matthias-Claudius-Kirche abgehalten wird. Die Beisetzung soll im Familiengrab auf dem Waldfriedhof in Wohldorf stattfinden.«

Michael blätterte in den Unterlagen, die sie ihm nach und nach über den Schreibtisch reichte. Ja, das war sein alter Herr. Nur nichts dem Zufall überlassen. Sein Blick huschte über den Rand der Blätter hinweg und musste in ihren Augen ehrliche Trauer feststellen. Da war nichts von dem, was er ihr so gern in seiner Gereiztheit zu unterstellen suchte. »Wie schaut es mit dem Notar aus?«

»Den habe ich gestern Morgen mit als Erstes informiert. Dr. Heinrichsen wollte alles Nötige in die Wege leiten und sich mit uns …« Katharina schluckte schwer, als sie seine sich verdunkelnde Miene gewahrte. Obwohl ihr sein Verhalten gewaltig gegen den Strich ging, hielt sie mit ihrer Meinung hinter dem Berg. »Hier ist seine Adresse, falls Sie vorab noch gezielte Fragen haben. Außerdem habe ich mir erlaubt, eine Vorauswahl an Trauerkarten vorzunehmen. Hier drängt die Zeit, wegen des Verschickens. Die Preise der Druckerei befinden sich auf der jeweiligen Rückseite.«

»Einfach perfekt! Es bleibt nichts dem Zufall überlassen, stimmts?« Michael ahnte bereits, während er es aussprach, dass er das nächste Fettnäpfchen im vollen Flug erwischt hatte. Selbst auf diese Entfernung hin nahm er noch das Wetterleuchten in ihren Blicken wahr. Die Stuhlbeine scharrten über das Parkett.

»Ja!« Katharina erhob sich abrupt, ergriff ihre Mappe und sah vernichtend auf diesen … diesen arroganten Schnösel herab. »Heinrich und ich haben das alles perfekt organisiert. Es gibt nur eines, bei dem ich persönlich von vorn bis hinten versagt habe. Nämlich seinem aufgeblasenen Herrn Sohn zu vermitteln, wie sehr sich sein Vater danach gesehnt hat, die letzten Tage und Wochen mit ihm gemeinsam zu verbringen. In diesem Sinne, Herr Schuwart, wünsche ich Ihnen …«

Wenn Blicke töten könnten. Er verfolgte ihren geräuschvollen Abgang und murmelte in einer Mischung aus Respekt und hilfloser Verlegenheit: »Herr im Himmel, wenn diese Krawallschachtel so weitermacht, bringe ich sie um. Oder ich verliebe mich in sie.«

Kopfschüttelnd erhob er sich und trat an die Hausbar. Diese war, wie damals schon, immer gut gefüllt. Michael erinnerte sich an seinen ersten Vollrausch, den er als Vierzehnjähriger hatte. Es war eine wortwörtliche Schnapsidee gewesen, von jeder Flasche einen Schluck zu nehmen, damit keiner etwas bemerkte. Heute Abend begnügte er sich mit einem sehr alten Kognak.

Sein Blick blieb an der großformatigen Fotografie haften, die ein glückliches Porträt seiner Eltern zeigte. Mamas Tod hat auch den letzten Rest unserer Zuneigung zueinander sterben lassen, resümierte er traurig. Was hatte Papa in der jüngeren Katharina gefunden? Michael suchte nach Parallelen, die seine Mutter und diese resolute Frau offenbar haben mussten. Egal was es war, kam er zu einem für sich unbefriedigenden Ergebnis, Heinrich hatte etwas bei der bedeutend jüngeren Frau erreicht, das diese für ihn selbst in unerreichbare Fernen katapultierte. Die trostlose Erkenntnis nahm einen immer größeren Raum in ihm ein. Die Sommerbeck würde für ihn auf immer und ewig tabu sein. Selbst wenn er jemals ihr Herz eroberte, was an sich schon utopisch war, wäre er auf ewig nur die zweite Wahl. So weit durfte es auf keinen Fall kommen! Noch gab es Mittel und Wege, diesen Fehler zu vermeiden.

Es folgten weitere Gläser dieses exzellenten Kognaks. Jeder Schluck untermauerte den einmal gefassten Entschluss. Bis die große alte Standuhr einen neuen Tag verkündete.

Leicht wankend nahm er den Weg ins obere Stockwerk auf und blieb schnaufend vor der letzten Stufe stehen. Im Licht des Mondes sah er den Flur vor sich liegen, der das obere Stockwerk im Grunde teilte. Linkerhand, suchte er sich zu erinnern, lagen die Gästezimmer, in denen die Sommerbeck ihn und die Kinder untergebracht hatte. Weiter hinten, dort wo der Flur abbog, lag die Zimmerflucht seiner Eltern. Gefolgt von einem, für damalige Verhältnisse, luxuriösen Badezimmer. Am Ende Serviceräume, wie Bügelzimmer und Wäschekammer. Alles, was damals modern, heute aber völlig überflüssig war. Diese Gruft war so verbaut, dass es Unsummen verschlingen würde, sie auf ein halbwegs vertretbares Level zu bringen. Abreißen, oder noch besser, sie für viel Geld an einen spleenigen Architekturarchäologen verhökern. Gleich morgen würde er sich darum kümmern und den richtigen Makler finden. Sein Blick blieb an der Tür hängen, vor der er intuitiv innegehalten hatte. Dahinter befand sich eine Zimmerflucht, die zu Lebzeiten der ganze Stolz und das Reich der Mutter war. Seine Eltern hatten sich zeitlebens geliebt, darin war sich Michael sicher. Doch hatte es Tage, manchmal Wochen gegeben, in denen sich ein Teil des Lebens seiner Mutter in ihren Räumen abspielte. Der schmale Streifen Licht, der unter dem Türblatt hervorschimmerte, verriet ihm, dass die Sommerbeck jetzt dort residierte. Noch, sickerte eine gehässige, unversöhnliche Stimme durch sein Bewusstsein.

Leise Musik drang an das Ohr des ungebetenen Lauschers. Supertramp. Mein Gott, wie lange hatte er die schon nicht mehr gehört? Für einen Moment überlegte er anzuklopfen, um ihr seinen eben gefassten Entschluss mitzuteilen. Nein! Erneut diese Stimme, die ihm selbst suspekt war. Er schüttelte den Kopf. Nein, nicht in ihrer Verfassung, mit der sie vorhin davongestürmt war. Morgen wäre dafür Zeit genug, entschied er, felsenfest überzeugt, dass er sich von seinem Entschluss nicht mehr würde abbringen lassen.

Kapitel 4

Selten hatte Katharina das Gefühl der Verunsicherung so sehr erlebt, wie seit dem Moment, an dem sie diesen Herrn Schuwart kennengelernt hatte. Lange, eigentlich die ganze Nacht über, hatte sie wach gelegen und über diesen so widersprüchlichen Mann gegrübelt. Auf die eine Art schien er ein netter und freundlicher Mensch zu sein. Nur um kurz darauf auf den reinsten Despoten umzuschalten. Hätte Heinrich ihr offenbart, dass sein Sohn schizophren war? Das lähmende Gefühl, diesen Mann nicht wirklich einschätzen zu können, bereitete Katharina heftiges Unwohlsein. Sie schaute auf die Leuchtziffern ihres Weckers. Eine weitere Nacht, in der sie kaum geschlafen hatte. In der halben Stunde, die ihr bis zum Klingeln blieb, war nicht mehr damit zu rechnen.

»Auf, Mädchen, lass sie sein, wie sie sind, aber es sind Gäste«, spornte sie sich an und erhob sich. Die Kinder hatten einen gesunden Appetit. Besonders die Kleine würde mit ihrem Gewicht bald arge Probleme bekommen, wenn sie mit der Naschsucht so weitermachte.

Eine halbe Stunde später schlich Katharina geduscht und gestylt für den Tag die Treppe hinunter. Noch schien es, als würden alle seelenruhig schlafen. Die Versuchung in ihr war mächtig, gegen die Tür zu poltern, hinter der Schuwart junior schlief. Ob es ihn demütiger machte, dass sie ihn bewusst in sein altes Kinderzimmer einquartiert hatte? Hach, ein wenig Schadenfreude tat schon gut. Beschwingt suchte sie die Küche auf und plünderte die Vorratsschränke. Niemand sollte später behaupten, sie würde ihre Gäste nicht ausreichend bewirten. Es gab Eier, Rühreier mit Speck, Konfitüren, Käse und Aufschnitt. Selbst ihr Gesundheitsmüsli würde sie an diesem Morgen in die Waagschale werfen. Vielleicht, nahm sie sich vor, hatten die Kinder Lust, mit ihr zusammen am Nachmittag ihre gewohnten Lebensmittel einzukaufen.

Der geräumige Tisch wurde gedeckt. Was Katharina nicht zu hoffen gewagt hatte, es bereitete ihr Spaß, für eine große Familie herumzuwirbeln und alles herzurichten. Nur mit den Blumen aus dem eigenen Garten war es nicht weit her. Durch die Aufregung der letzten Tage war sie nicht zum Floristen gekommen. Dann musste eben der künstliche Forsythienstrauch von der Anrichte herhalten.

»Herrschaften, in zwanzig Minuten seid ihr unten!«, drang eine befehlsgewohnte Stimme vom oberen Stockwerk zu ihr herab. Der Kasernenfeldwebel schien wieder in seinem Element zu sein. Altvertraute Töne, von denen sie gehofft hatte, sie nie wieder zu hören.

»Guten Morgen, Frau Sommerbeck.«

Hatte sie in der Tat etwas anderes erwartet? Der Klang seiner Stimme trug nicht den Hauch einer Entschuldigung für sein gestriges Verhalten. Höchstens nach einem ausgewachsenen Kater.

»Morgen, Herr Schuwart. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Nacht?«

»Nicht wirklich.« Michael kam zu ihr in die Küche, erinnerte sich an ein Lächeln und tat, als würde er sich über die lukullischen Genüsse freuen. Dabei waren es doch die Kopfschmerztabletten, die sie plötzlich in Händen hielt und ihm reichte. »Sie können nicht wirklich Gedanken lesen, oder?«

»Hexen können das.« Sie biss sich auf die Lippen, um bei seinem entgeisterten Blick nicht schallend loszulachen. Herrlich, wie berechenbar Männer doch waren. Seine Blicke von gestern Abend hatten nichts anderes gesagt und es war ein Erfolg zu erleben, wie richtig sie mit ihrem Gefühl lag. »Der Kaffee ist durch und ein saurer Hering befindet sich im Kühlschrank. Also, sehen Sie zu, dass Sie fit werden und Ihren Kindern ein Vorbild bleiben.«

Woher weiß sie, dass ich sie gestern mit einer Hexe verglichen habe, fragte sich Michael verstört. Dabei hatte sie wirklich so süß ausgesehen … Und schon war er wieder da, der Auslöser für sein Saufgelage.

Langsam wurde es lebendig, als die Kinder nach und nach auf der Bildfläche erschienen. Zuerst tauchte die quirlige Laura auf. »Guten Morgen, Kathi, ich habe so viel und so gut geschlafen, dass ich richtig Hunger bekommen hab.« Ungeniert umschlang sie kurz die Hüften der Frau und ließ sie dann für eine Inspektion der aufgedeckten Leckereien stehen.

»Guten Morgen, Laura. Meinst du, es wäre sehr umständlich für dich, wenn du mich wie jeder andere auch Katharina nennst?«

»Das wohl nicht.« Laura hatte inzwischen ihre Favoriten entdeckt: Joghurt, Müsli und Schokocreme. »Hört sich aber echt omahaftig an.«

Katharina und der Vater dieser frechen Nudel sahen sich gequält an. Doch außer einem entschuldigenden Schulterzucken brachte dieser nichts zustande.

Der Nächste, der auf der Bildfläche erschien, war Felix. In der Tat, ein Logopäde oder ein ähnlich geschulter Sprachforscher hätte mit gutem Willen vielleicht ein „Morgen“ aus dessen Gemurmel herausgehört. Mit dem Smartphone, mit dem er verwachsen schien, in der einen Hand lud er sich mit der anderen den Teller voll Rührei und Speck. »Gibtʼs denn auch warmen Toast?«

Diesmal suchte Katharina keine Hilfe bei dem überforderten Erziehungsberechtigten. Resolut entwand sie Felix den „Herzschrittmacher“ und drückte ihm dafür zwei Toastscheiben in die Hand. »So du Knilch, da steht der Toaster! Wenn dir an deinem dösigen Handy gelegen ist, rate ich dir eindringlich, dass du dich die nächste Stunde über zu benehmen weißt und an einem gepflegten Gespräch unter Menschen teilnimmst. Übrigens, mein Name ist Katharina Sommerbeck und ich freue mich auch, dich kennenzulernen.«

Michael vergaß vor lauter Schadenfreude die Sorgen, die mit dem Auftauchen dieser energischen Frau auf ihn eingestürzt waren. Er war also nicht der Einzige, dem sie gehörig den Marsch blies. Verwunderlich nur, dass ihr Donnerwetter genau das Richtige war, das bei diesem Rotzlöffel ankam.

Der intensive Hauch irgendeines schweren Parfüms signalisierte das Nahen der ältesten Tochter. »Morgen allerseits. Oh, Müsli und Joghurt! Laura, du kleiner Fresssack, lass mir auch was nach!«

Die Kinder luden sich ihre Teller voll und stürmten das Esszimmer, um für sich die besten Plätze zu erobern.

Katharina deutete mit Felixʼ Smartphone in der Hand grinsend auf den Erzeuger dieser apokalyptischen Gesellschaft. »Soll das jetzt jeden Morgen so gehen?«

»So etwas in der Art befürchte ich. Frau Sommerbeck, ich sollte Ihnen an dieser Stelle eingestehen, dass die drei in den letzten vierzehn Monaten vier Haushälterinnen verschlissen haben.«

»Endlich mal eine vernünftige Aufgabe«, versprach sie sich und stupste ihn in Richtung Küchentisch. »Und nun lassen Sie uns sehen, dass wir noch was abbekommen, ehe dieser Heuschreckenschwarm erneut zuschlägt.«

Katharina freute sich, als sie in satte und zufriedene Gesichter sah. Genau der Moment, um gemeinsam den Tag zu planen. »Herr Schuwart, wenn ich Ihre Pläne damit nicht durchkreuze, möchte ich vorschlagen, dass ich mit den Kindern ins Alstertal fahre. Wir benötigen für die nächsten Tage einiges an Lebensmitteln. Da wäre Beratung gut.«

»Alstertal? Oh ne, nicht schon wieder wandern«, mauerte Felix, wobei sein begehrlicher Blick auf seinem Smartphone ruhte, das weiterhin in gefährlicher Nähe ihrer scharfen Krallen lag. Die taten verdammt weh, wie er bei einem missglückten Rettungsversuch feststellen durfte.

»Mit dem Alstertal ist eines der größten und leider auch exklusivsten Einkaufszentren in Hamburg gemeint«, klärte Katharina den jungen Mann auf.

»Shoppen!!!«, kam es zweistimmig und vor allem herrlich aufgeregt.

»Womit dann wohl alles geklärt wäre.« Michael Schuwart faltete schmunzelnd seine Serviette zusammen und tauschte einen verständigen Blick mit Katharina aus. »Die Damen werden für unser leibliches Wohlergehen sorgen. Dabei werden sie sicherlich auch das eine oder andere „Muss ich noch haben“ für sich finden. Wir Herren werden uns daran machen und alte Kontakte aufnehmen. Frau Sommerbeck, residiert die Zentrale des Unternehmens residiert weiterhin in der Palmaille?«

»Entschuldigen Sie bitte, dass ich gestern Abend nicht mehr dazu gekommen bin, Ihnen das mitzuteilen. Selbstredend habe ich Dr. Kopischek, den Geschäftsführer der Reederei, über alles informiert.«

»In der Tat, Sie hatten sich gestern sehr schnell entschuldigt«, stimmte Michael ihr zu. Er brauchte nicht erst ihren Blick zu studieren, um zu wissen, dass er erneut in einem Fettnapf gelandet war. »Wären Sie bitte so nett und legen mir die Telefonnummer bereit?«

»Gerne. Im Übrigen habe ich Ihnen das private Telefonbuch Ihres Herrn Vaters auf den Schreibtisch gelegt.«

Er nickte ihr zu und sah zu Felix hinüber. »Wie sieht es bei dir aus? Shoppen mit den Mädels oder mit mir arbeiten?«

»Ich komme mit dir«, entschied der junge Mann, ohne zu zögern. »Katharina, dürfte ich bitte meinen Herzschrittmacher zurückbekommen?«

Er sagte es mit solch einem schmelzenden Lächeln, dass Katharina nicht umhinkam, es zu erwidern. Verdammt, es war das gleiche verführerische Lächeln, wie das seines Großvaters … oder das seines Vaters; wenn dieser sich mal nicht unter Kontrolle hatte, ergänzte sie mit einem Blick auf denselben. »Aber ja doch, Felix. Ich hoffe, wir verstehen uns, dass das Ding von nun an bei den Mahlzeiten auf dem Zimmer bleibt. Ich trage generell hohe und meist spitze Absätze. Die tun so einem empfindlichen Gerät nie wirklich gut.«

Michael registrierte erstaunt, wie sein Sohn die Frau regelrecht anhimmelte, als diese ihm sein Lieblingsspielzeug wiedergab. Meine Herren, die wusste wirklich, wie man die Männer anzupacken hatte. Er räusperte sich und sah in die Runde. »Na, dann wäre ja alles geklärt. Benötigen Sie Geld für die Ausgaben?«

»Nein, solange Sie mir weiterhin gestatten, dass ich vom Hauswirtschaftsgeld zahle, gibt es von meiner Seite aus keine Probleme.«

»Selbstredend, machen Sie das.«

»Aber wir könnten dringend was gebrauchen«, kam es erneut zweistimmig.

Seufzend zückte Michael seine Brieftasche und flehte Katharina förmlich an: »Bitte, achten Sie darauf, dass meine Damen nicht alles aufkaufen. Du Felix, halte dich bitte bereit. Ich habe noch einige kurze Telefonate zu führen, ehe es losgeht.« Er erhob sich und sah auffordernd in die Runde. »Dann sehen wir uns also alle gegen Abend wieder.«

Das Telefonat mit diesem Dr. Kopischek war knapp und kurz. Man einigte sich darauf, am frühen Nachmittag zusammenzukommen. Bis dahin wären die leitenden Mitarbeiter in der Lage, über die derzeitigen Vorgänge und Aktivitäten in der Firma ausführlich Bericht zu erstatten.

Michael hatte gerade damit begonnen, in den Gelben Seiten nach Immobilienmaklern zu suchen, als ihn der Klang von hohen Absätzen emporschauen ließ. »Frau Sommerbeck, was gibt es?«

»Die Mädchen und ich würden dann gern losfahren. Ich müsste Sie nur bitten, Ihren Wagen vor der Garage zu entfernen.«

Er erhob sich und folgte ihr hinaus. Unweigerlich blieb seine Aufmerksamkeit an ihrem grazilen Körper hängen. Dass dieser im Auge des männlichen Betrachters mehr als aufreizend wirkte, würde er ihr wohl schlecht zum Vorwurf machen können. »Frau Sommerbeck, wir sprachen gestern gar nicht über die weiteren Traueranzeigen. Wie ist es mit den Tageszeitungen? Was würden Sie vorschlagen?«

Sie blieb stehen und sah sich nachdenklich zu ihm um. »Wenn Sie mich so fragen. In den großen Tageszeitungen sollten wir es bekannt machen. Ich meine, Herr Schröder von der Druckerei wird sicher so freundlich sein, das für uns zu übernehmen. Sie denken doch an die Karten und Umschläge? Wir müssten die Briefe noch heute zur Post bringen.«

»Das werde ich gleich als Nächstes unternehmen«, versprach er ihr und erntete die ungeduldigen Blicke seiner Töchter, die vor dem offenen Garagentor standen. Darin stand ein schnittiges Cabriolet, erkannte er als Automensch. Die Sommerbeck fuhr also standesgemäß. »Ich wünsche euch einen schönen Shoppingtag.«

Die Trauerkarten! Gut, dass Katharina – er gönnte sich frech den Luxus, sie beim Vornamen zu nennen – ihn daran erinnert hatte. Vorher galt es nur noch, den richtigen Makler zu finden.

Keine Viertelstunde später rollten auch die Herren Schuwart vom Hof.

»Und, was liegt heute bei uns an?« Felix lümmelte sich in den Beifahrersitz und versuchte vergeblich, seine langen Beine auf dem Armaturenbrett zu parken.

»Einiges! Darunter manches, das du dir für deine Zukunft einprägen solltest. Zuerst kannst du mal in den Unterlagen nachsehen, unter welcher Adresse wir diese Druckerei finden, bei der Katharina die Trauerkarten bestellt hat.«

Felix nannte ihm den Straßennamen und setzte eine Feststellung hinterher. »Paps, diese Katharina … Mann, die hat es echt drauf, was!«

Im Stillen musste Michael seinem Sohn zustimmen. Wohl wissend, dass der Burgfrieden, den er und diese resolute Frau heute Morgen stillschweigend geschlossen hatten, sehr bald belastet würde. Ach was, beruhigte er sein schlechtes Gewissen. Sie würde sich über seine großzügige Abfindung freuen und man würde in Frieden und Freundschaft auseinandergehen. Was bei Felicitas funktioniert hatte, würde bei Katharina Sommerbeck kaum schwieriger werden.

Der Tag verlief für Michael Schuwart erfolgreicher, als anfangs befürchtet. Eine ansprechende Trauerkarte war schnell gefunden. Zudem hatte der Inhaber der Druckerei ihm versprochen, dass die Anzeige am Samstag in allen namhaften deutschen Tageszeitungen erscheinen würde. Danach startete er eine kleine Sightseeingtour für Felix. Was brachte Vater und Sohn näher zusammen, als wenn Letzterer erfuhr, dass sein Vater auch nicht immer ein Chorknabe gewesen war. Nach einem gemeinsamen Lunch mit zwei seiner ältesten Freunde fuhren sie durch die überwältigende Heimatstadt des künftigen Seniors der Familie. Etwas, das Felix mehr beeindruckte als sein blödes Handy, stellte Michael zufrieden fest. Völlig aus dem Häuschen geriet sein Sohn, als er den Wagen an der Palmaille abstellte und beim Aussteigen auf den Teil einer alten, imposanten Häuserfront zeigte. »Die Reederei Schuwart, mein Sohn.«

Felix folgte seinem Vater in die geräumige Lobby des Hauses, über dessen Eingang eine beeindruckende Reedereifahne im leichten Wind schwang. Und das alles sollte jetzt ihnen gehören, versuchte er zu begreifen. Es wirkte gar nicht so finster, wie er sich so alte Häuser immer vorgestellt hatte. Als echter Schwabe kam er aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die großen Fensterfronten im Hintergrund der Empfangshalle boten einen Blick über eine grüne Parklandschaft mit alten Bäumen. Dahinter glitzerte das blaue Band der Elbe, auf der unter ihnen einer dieser Riesenpötte in Richtung Nordsee zog. Zudem fiel so viel Licht herein, dass man vom klassischen hanseatischen Kontorstil mit seinen edlen, dunklen Hölzern nicht erdrückt wurde. An den exponierten Stellen der Halle standen stabile Vitrinen mit den Flaggschiffen der Reederei. Magisch wurde er von den Modellen angezogen.

Michael Schuwart verfolgte sehr wohl das Verhalten seines Jungen. Dabei erinnerte er sich mit einem Hauch von Wehmut, wie er als Kind oft selbst vor diesen Vitrinen stand. Wie oft hatte er damals seinen Vater angefleht, nur ein einziges Mal eines dieser Schiffe auf dem heimischen Alsterlauf fahren zu lassen. Er überließ Felix seinen Betrachtungen und steuerte den Empfang an, um sie beim Geschäftsführer anzumelden.

Felix sah auf, als sein Vater neben ihn trat. »Paps, hast du gesehen? Der Pott hier ist fast zweieinhalb Mal so lang wie ein Fußballfeld! Und er heißt auch Katharina.«

Michaels anspringende Eifersucht besänftigte sich beim Blick auf die Tafel am Bug des Modells. »Das ist das Flaggschiff der Reederei. Opa hat es damals nach deiner Großmutter Katharina benannt.«

»Die ist aber schon tot, oder?«

»Ja«, bestätigte Michael seinem Sohn. »Seit nun bald achtzehn Jahren.«

Felix nickte mit ernster Miene und steuerte seine nächste Frage hinterher: »Und das alles hier gehört jetzt uns?«

»Ich befürchte, ja.« Michael vermied es, aus für ihn selbst unerklärlichen Gründen, seinen Sohn davon in Kenntnis zu setzen, dass dies nur ein temporärer Zustand war.

»Geil! Was meinst du, kann man so etwas wie Reedereichef lernen?«

»Herr Schuwart? Entschuldigen Sie bitte. Herr Dr. Kopischek würde Sie jetzt gern empfangen«, erlöste ihn die Empfangsdame von einer halbherzigen Antwort.

Als die Schuwarts nach drei Stunden das Gebäude der Reederei verließen, war auf allen Seiten eine Fülle an Verwirrung und Unsicherheit gesät. Geschäftsführer und leitende Mitarbeiter des bislang florierenden Unternehmens sahen sich schlagartig einer ungewissen Zukunft entgegen. Sogar Felix hatte ungehalten festgestellt, dass sein Vater sich mit dem Gedanken trug, die Firma zu verkaufen. Auf der anderen Seite wirkte der angehende Eigner schwankender als je zuvor, welchen Weg er einschlagen sollte. Die Reederei übernehmen, in Zeiten der größten Schifffahrtskrise? Zudem hierher in eine marode und völlig verbaute Villa ziehen? Womöglich hin zu einer Frau, die ihn über kurz oder lang in den Wahnsinn trieb. Oder war es nicht klüger, alles zu verscherbeln, um weiterhin als gut verdienender Manager, ohne wirkliche Verantwortung, sein Leben zu fristen?

Dass das Schicksal weit im Süden längst seine Kreise zog, konnte zu diesem Zeitpunkt niemand in der Stadt an der Elbe ahnen.

Nach einer ziemlich schweigsamen Fahrt kamen sie in Wohldorf an und mussten feststellen, dass sie nicht die Ersten waren. »Haben wir hier heute einen Feiertag?«, versuchte Michael es mit einem Scherz, der bei seinem Sohn auf taube Ohren stieß. »Ich meine ja nur, die Mädels sind schon vor uns da.«

»Hallo Jungs, wir sind alle hier!« Laura hatte die Ankömmlinge gleich entdeckt. Von der Anhöhe der in der Sonne liegenden Terrasse aus winkte sie ihnen zu.

Michael und Felix winkten zurück und bahnten sich einen Weg durch die blühenden Rhododendren.

»Guckt mal, Jana und ich haben uns neue Bikinis gekauft.« Laura posierte in einem Outfit, das Michael für ihr zartes Alter gewagt vorkam. Doch ein Blick auf Katharina ließ es angeraten erscheinen, das Thema Garderobe für Neunjährige nicht zum Tagesordnungspunkt Nummer eins zu machen. Mittlerweile hatte selbst er begriffen, welcher Blick „Gefahr im Verzuge“ hieß. »Schick siehst du aus, Prinzessin. Und, wie war sonst euer Tag?«

»Wunderschön, Papa. Du glaubst gar nicht, wie groß das hier alles ist. So was gibt es in Stuttgart nicht. Nächstes Mal musst du unbedingt mitkommen.«

Michael nickte schicksalsergeben und wagte sich in die Nähe von Katharinas Liegestuhl. Herr Gott, sah sie süß aus in ihrem Outfit aus Top und Minirock, das ihre atemberaubende Figur nur noch attraktiver wirken ließ. »Die Mädchen haben Sie hoffentlich nicht überstrapaziert?«

»Nicht doch!« Blinzelnd sah sie zu ihm auf. »Es war angenehm, mit ein paar liebenswerten Vertretern der Familie unterwegs zu sein.« Ihr entzücktes Lächeln milderte kaum den Sarkasmus, der in ihrer Stimme mitschwang.

»Jetzt einen Cappuccino, das wäre schön.« Er deutet vielsagend auf ihren fast leeren Becher.

»Finden Sie über der Kaffeemaschine«, kam es schnippisch.

»Sie kennen mich doch. Ich lasse sogar das Wasser anbrennen. Wären Sie bitte so nett und würden es mir noch einmal zeigen?«

Katharina blinzelte zu ihm auf und seufzte schicksalsergeben. Er wollte den nahenden Disput nicht vor den Kindern austragen. Das brachte ihm in ihren Augen ein paar Pluspunkte ein. Nun gut, sie raffte sich auf und schlang sich ihr Badelaken um die Schultern. Dann würden sie eben nebenan über das diskutieren, was ihr zu Ohren gekommen war.

Ganz in seinen Gedanken gefangen, wie es ihm gelingen könnte, sie von sich einzunehmen, folgte Michael ihr in die Küche. Das betont geräuschvolle Aufsetzen der Becher klang wie der Startschuss zu einer weiteren Kampfrunde. »Würden Sie mir bitte mal verraten, was ich nun wieder falsch gemacht habe?«

»Machen Sie denn je was falsch?« Erneut dieses wütende Wetterleuchten in ihren Augen. »In der Firma haben Sie heute auf jeden Fall einen blendenden Eindruck hinterlassen!«

Er schüttelte den Kopf. Doch das Lachen in ihm schaffte es nicht, nach außen zu dringen. »Gibt es eigentlich etwas, das Sie noch nicht wissen?«

»Wenig! Zumindest überrascht mich bei Ihnen gar nichts mehr.« Katharina hatte diesen Herrn bereits so gut kennengelernt, um zu wissen, wie sehr sie den Stier in ihm reizte. Aber das, was Heiner Hamer, Heinrichs ältester Mitarbeiter und engster Vertrauter in Firmendingen, ihr zugetragen hatte, das schlug dem Fass den Boden aus.

»Kathi, kommst du wieder mit zu uns raus?«, platzte Laura in die explosive Stimmung hinein.

»Gleich, Lauraschatz.« Katharinas Gesicht erhellte sich schlagartig. »Dein Papa und ich haben ein paar wichtige Fragen zu klären, dann bin ich wieder bei euch.« Sie drehte Laura bestimmend um und gab ihr einen kleinen Schubs in Richtung Terrasse.

Verwundert stellte Michael fest, dass seine Jüngste nicht den Ansatz von Aufbegehren zeigte, sondern zufrieden von dannen schlich.

Katharinas liebevolles Lächeln, das sie für seine Tochter hatte, war längst erloschen, als er ihre auf ihn gerichteten Blicke wahrnahm. Eine bittere Erkenntnis, aber dabei sehr hilfreich, ihr die nötigen Grenzen zu setzen. »Frau Sommerbeck, ich möchte mir alle Optionen offenhalten und nicht mit verdeckten Karten spielen. Das für Sie vorab zum besseren Verständnis! Im Übrigen habe ich in Zukunft nicht vor, meine Entschlüsse und Anordnungen mit Angestellten auszudiskutieren. Ich denke, ich habe mich auch Ihnen gegenüber damit unmissverständlich ausgedrückt.«

»Das haben Sie, Herr Schuwart. Das haben Sie in der Tat!« Sie schaufelte löffelweise Pulver in den Becher und goss ihn mit kochendem Wasser auf. Kurz entschlossen ergriff sie den Henkel und knallte das Gefäß vor ihn auf den Tisch, dass es nur so spritzte.

Als Katharina auf die Terrasse zurückkehrte, hatte sie sich so weit im Griff, dass die Kinder nicht spürten, wie wütend sie über deren Vater war. Im Moment war Felix dabei und erzählte seinen Schwestern mit leuchtenden Augen, welche Riesenschiffe die Familie besaß und was man damit alles verfrachten konnte. Bedrückt fragte sich Katharina, ob der Junge begriff, was sein Vater hier zu verscherbeln gedachte. Sie erwiderte Lauras nachdenklichen Blick mit einem Lächeln und hoffte inständig, dass die Kleine nicht gelauscht hatte. Als dann auch noch dieser arrogante Herr auftauchte und genussvoll an seinem Cappuccino schlürfte, war für sie die Erholung dahin. Wie konnte man es nur mit solch einem … Spinner aushalten? Für diese Frau Schuwart musste es die wahre Erholung sein, ihren Mann für zwei Wochen los zu sein. Wortlos raffte Katharina ihre Sachen zusammen und verschwand ins Haus. Hinauf in ihre Wohnung, wo die ganze Sippe ihr so was von gestohlen bleiben konnte!

»Kathi?« Laura kniete sich neben das Bett der in ihren Augen wunderschönen Frau und rüttelte sachte an ihrer Schulter. »Kathi, wollen wir zu Abend essen? Und dann möchte Papa mit dir arbeiten, sagt er.«

Es dauerte lange Momente, ehe Katharina registrierte, wer da vor ihrem Bett kauerte. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie ihren kleinen Sonnenschein erkannte. Schlagartig war aber auch aller Ärger über den Vater da und jagte sie in die Höhe. »Was denn, ist es schon so spät?«

»Ja, wir haben alles zusammengestellt und aufgedeckt. Nur du fehlst uns«, berichtete Laura und sah sich in Katharinas Schlafzimmer um, in das sie sich hineingeschlichen hatte. »Du hast hier alles ja sooo hübsch.«

»Findest du?« Katharina kehrte aus dem angrenzenden Bad zurück und fuhr sich mit der Bürste durch ihr volles Haar.

»Ja! Meinst du, ich könnte mein Zimmer genauso schick machen? Und würdest du mir dabei helfen?«

Katharina vermied es, ihr Hoffnungen zu machen. Ihr Vater käme wohl kaum auf die Idee, seinen Kindern gerade hier eine Zukunft aufzubauen. Idiot, verfluchte sie ihn ein weiteres Mal stumm. Stattdessen ergriff sie die Hand der jungen Dame. »Komm Spatz, lass uns nach unten gehen.«

Hand in Hand kehrten die beiden Damen an den gedeckten Tisch, von wo ihnen mehr als hungrige Blicke entgegenschlugen.

»Sie hätten ruhig ohne mich anfangen sollen.« Katharina setzte sich an ihren Platz und vermied dabei wohlweislich, den neuen Hausherrn anzublicken.

Dieser räusperte sich und sagte bestimmt: »Heute Morgen hat uns eine bemerkenswerte Dame etwas über die Umgangsformen bei Tisch gepredigt. Ich möchte diese dahingehend ergänzen, dass wir die Mahlzeiten von nun an gemeinsam einnehmen sollten. Nun wünsche ich allen einen guten Appetit.«

Er begann ihn zu lieben, diesen beifälligen Blick, der ihm Respekt zollte und zugleich versprach, welch ein tolles Team sie doch sein könnten. Wenn sie ihm doch nur Taten folgen lassen würde.

»Paps, du musst dir nachher unbedingt die Kleider ansehen, die Katharina mit uns für die Beerdigung ausgesucht hat.« Die sonst so schweigsame Jana legte ihre Serviette beiseite und wechselte einen Blick mit der Älteren. »Katharina hat mir außerdem gezeigt, wie man so ein Kleid mit ein paar Accessoires aufpeppt, um es später auch noch auf einer Fete anzuziehen.«

»Klar mache ich das«, versprach ihr Vater und spürte Katharinas aufmerksamen Blick im Nacken. Befürchtete sie etwa einen negativen Kommentar oder eine spitze Bemerkung seinerseits? War er denn in ihren Augen solch ein Despot? Er wollte doch nur Frieden. Beinahe hätte er ihr das entgegengerufen. »Katharina, würde es Ihnen recht sein, wenn wir heute Abend die restlichen Dinge durchgehen und die kommenden Tage besprechen?«

»Gern, Herr Schuwart.« Sie sah um Verzeihung bittend in die Runde. »Danke Kinder, das Abendessen habt ihr wirklich gut hinbekommen. Ich hoffe, ich kann es morgen früh wiedergutmachen.«

»Das haben wir gern getan, Katharina.« Felix erhob sich und verneigte sich in der Tat vor ihr. »Wenn ihr uns versprecht, euch nicht gleich wieder anzuzicken, dürft ihr nun eure fachlichen Differenzen durchgehen. Wir kümmern uns um den Abwasch und halten dann einen Videoabend ab.« Mit einem zufriedenen Schmunzeln registrierte er, dass die zwei wie auf Kommando ihre Köpfe senkten. Der grazile Schleier eines tollkühnen Planes breitete sich in ihm aus, als er seine Schwestern in Richtung Küche scheuchte.

Warum brachte der Knabe einen immer wieder in solche Situationen? Michael räusperte sich verlegen. »Was haben Sie nur mit meinen Kindern angestellt?«

»Ich?« Sie erhob sich und schenkte ihm endlich das von ihm so ersehnte Lächeln. »Ich wüsste nicht, was ich bewirkt habe. Doch wir sollten Felixʼ Rat beherzigen. Dazu müsste ich Sie nach oben bitten.«

Michael folgte ihr über die Treppe hinweg in den ersten Stock. Dabei gönnte er seinen Augen ihre neue Lieblingsbeschäftigung. Wie schlank sie doch war. Um Haaresbreite wäre er auf sie aufgelaufen, als sie an der Tür zu ihrer Wohnung plötzlich stehen blieb.

»Bitte warten Sie einen Moment, ich hole nur die Schlüssel.«

Sie schlängelte sich durch die Tür und schloss ihn und seine Blicke aus, registrierte er verdutzt. Es schien, als befürchtete sie, dass ein Blick in oder gar ein Betreten ihrer persönlichen Räume ihm all ihre Geheimnisse offenbaren könnten. Ehe es Michael gelang, sich in seine Überlegungen weiter zu vertiefen, kehrte sie mit einem kleinen Schlüsselbund in der Hand zurück.

»Ich hätte Ihnen die Schlüssel schon gestern geben müssen. Aber auf irgendeine Weise hat sich alles anders entwickelt.«

»Na ja, wir hatten wohl einen etwas holprigen Anfang«, suchte er von sich aus den Friedensschluss. »Zudem war meine Bemerkung von heute Nachmittag auch nicht geeignet, um Freunde zu finden. Das alles hier, es überfordert mich manchmal. Entschuldigen Sie bitte, wenn ich mich manches Mal danebenbenehme.«

»Über diesen Scharfblick brauchen wir uns nicht zu streiten.« Ihre Zustimmung klang forsch und doch schien das versöhnliche Lächeln von Herzen zu kommen. »Ich bin wohl auch nicht immer ganz pflegeleicht.«

»In der Tat!« Er lachte und nahm den Weg zu den Privaträumen seines Vaters auf. »Auch darüber müssen wir uns nicht streiten.«

Katharina übergab ihm die Schlüssel und ließ ihn die Tür öffnen. Beide zögerten merklich, die Schwelle zu den Privaträumen des Vaters und Partners zu überschreiten.

»Es nützt nichts, wir müssen da durch«, fand Michael zuerst den Mut und die Worte. Er trat ein und sah sich beklommen um. So viel Vertrautes sprang ihm in die Augen. Familienbilder an der einen Wand. Regale mit Büchern und Ordnern. Alles penibel aufgeräumt und beschriftet. Papas Schreibtisch stand an seinem alten Platz, mitten im Raum. Der wuchtige Schreibtisch unten im Erdgeschoss diente Heinrich nur zum Repräsentieren. Hier oben war der eigentliche Mittelpunkt seines Wirkens gewesen, erinnerte sich Michael. Jetzt festzustellen, dass der Platz auf der anderen Seite verwaist bleiben würde, war so, als zöge ihm jemand den Boden unter den Füßen weg.

Katharina mochte es nicht anders ergehen. Scheu sah sie sich um. Seit Heinrichs Tod hatte sie die Räume nicht mehr betreten. Doch sein Geist war da; das spürte sie fast körperlich. Oh, wie sehr er ihr fehlte. Sie drückte sich an die freie Wand und schloss die Augen.

»Sie vermissen ihn sehr, stimmtʼs?«

Katharina öffnete ihre Augen. Michael Schuwart hatte am Schreibtisch seines Vaters Platz genommen und sah sie prüfend an. Herrgott, wie ähnlich er ihm war. Stumm nickte sie und kämpfte mit den aufsteigenden Tränen. Nein, nur jetzt das nicht … Doch schon war es passiert. Sie ließ es geschehen, dass er sie in seine starken Arme nahm. Einfach nur fallen und sich gehen lassen.

In Michael verwandelte sich etwas. All der Groll auf diesen Mann, der sich über die Jahre hinweg in ihm aufgebaut hatte, wurde durch die ehrlichen Tränen dieser Frau fortgespült. Hätte er damals doch nur auf ihre flehenden Briefe reagiert. Alles wäre besser gewesen als das, was er seit Tagen versuchte, auf die Beine zu stellen. Er schob seine Selbstvorwürfe beiseite und konzentrierte sich einzig auf das schluchzende Etwas in seinen Armen. Er spürte ihrem Parfum nach, das ihn mit seinem leichten Hauch einschloss. Er fühlte diese unendlich weiche Anschmiegsamkeit. Ihre Arme, die ihn Halt suchend umschlangen. Ihr Gesicht, ihren warmen Atem in seiner Halsbeuge, während die Tränen sein Hemd langsam durchnässten. Sanft streichelte er ihren Rücken und versuchte sich dabei vor den Gedanken und Wünschen zu verschließen, die längst nicht mehr mit dem Ableben seines Vaters zu tun hatten. »Kathi, auch mir fällt es nicht leicht«, flüsterte er leise und küsste zart ihren Haarschopf. »Aber wir schaffen das. Alles wird wieder gut, Spatzi.«

Von einem Moment auf den anderen veränderte sich der trauernde Mensch in seinen Armen.

Katharina begann sich mit sanfter Gewalt aus seiner tröstenden Umarmung zu lösen und sah ihn zerknirscht an. »Seien Sie mir bitte nicht böse«, schluchzte sie noch einmal auf und suchte vergeblich nach einem Taschentuch. Erst recht, als sie bemerkte, was Schminke und Tränen mit seinem Hemd angerichtet hatten. »Oh Mann, das bekommt man doch nie wieder heraus. Was sollen nur die Kinder denken, wenn Sie so auftauchen? Oder gar erst Ihre Frau?«

»Dass ich das Herz einer wunderschönen Frau erobert habe?«, versuchte er zu scherzen. Wohl wissend, dass dieser Gedanke all seinen geheimen Wünschen entsprang.

Doch sie ging nicht darauf ein. Mit dem Taschentuch, das er ihr reichte, tupfte sie an dem Kragen herum und verschmierte die Spuren nur noch mehr. Schließlich ließ sie es sein und richtete stattdessen ihr eigenes Outfit.

Michael war an den Schreibtisch zurückgekehrt und hatte erneut Platz genommen. Mit einer stillen Faszination verfolgte er, wie sich das eben noch anschmiegsame, kleine Häuflein Elend in die beherrschte, leicht unterkühlt wirkende, alles überschauende, selbstbewusste Frau verwandelte. In diesen Momenten wurde die eine, alles beherrschende Frage übermächtig in ihm. Diese Frage, die ihn verfolgte, seit er sie kennengelernt hatte. »Katharina, Sie und Heinrich … Es war mehr zwischen euch?«

Ein Wetterleuchten in ihren Augen. Doch es zog an ihm vorbei und verwandelte sich zu einem rätselhaften Blick.

»Ich habe Heinrich sehr geliebt.«

Schweren Herzens musste er sich mit ihrer Antwort, die alles oder nichts bedeutete, zufriedengeben. Er fragte sich allen Ernstes, warum sein Kopf nun zustimmend nickte. Wo doch nur eine Leere in ihm war, die zunehmend um sich griff. »Ich würde verstehen … Wenn Sie jetzt lieber allein sein wollen?«

»Danke für Ihr Angebot.« Diese souveräne, kühle Frau war in ihrer Rolle angekommen. »Doch ich würde unser Gespräch gern hinter mich bringen. Zumindest wir sollten wissen, wo wir stehen und welche Perspektiven wir haben.«

Er spürte seinem eigenen Schutzpanzer nach und schlüpfte eilends hinein. »So will ich Sie hören, Frau Sommerbeck. Packen wir es an! Hauswirtschaft, welche Summen stehen Ihnen zur Verfügung? Wie verbuchen Sie die Ausgaben?«

Katharina war mit sich zufrieden. Das Gespräch war für beide Seiten problemlos gelaufen. Zwei Stunden intensive Zusammenarbeit und sie hatten sich kein einziges Mal gestritten, musste sie erstaunt feststellen und spürte dabei ihrem Lächeln nach. Heinrichs Sohn hatte zwar heftig geschluckt, als er erfuhr, über welche Summen sie Verfügungsgewalt besaß, dieses aber unkommentiert gelassen. Letzten Endes hatte er sich höflich bei ihr bedankt und darum gebeten, dass sie ihn allein ließ.

Unschlüssig blieb sie vor der Tür zu ihrem Appartement stehen. Zum Schlafengehen war es zu früh und sich mit Anna und Holgi zu treffen zu spät. Zudem befand sich noch immer alles in ihr in Aufruhr. Heinrich war tot, und doch hatte sie das Gefühl, dass er ihr nie so nahegestanden hatte, wie in dem Moment, als sie in den Armen seines Sohnes lag.

Von unten her drang das herzhafte Lachen der Kinder an ihr Ohr. Offenbar schauten sie sich einen lustigen Film an. Es schadete nicht, wenn sie dort einmal nach dem Rechten sah.

Es fiel ihm selbst in der Stille hier nicht leicht, ein gesundes Maß an Ausgeglichenheit zu finden. Unmöglich! Nicht nach den Momenten mit dieser bemerkenswerten Frau. Michael hatte die Rückenlehne des bequemen Schreibtischsessels zurückgestellt und inhalierte die Aura und den sanften Geruch, den Katharina Sommerbeck hinterlassen hatte. Das schwache Zittern seiner Muskeln verriet ihm, wie sehr alles an ihm weiterhin unter Anspannung stand. Wann hatte er so etwas zum letzten Mal bei einer Frau empfunden? Felicitas … Vielleicht damals, zu Beginn ihrer Beziehung? Angewidert verwarf er seinen letzten Gedanken. Nichts! Rein gar nichts verband Katharina mit seiner Exfrau.

Mühsam zwang er sich, andere Gedanken und Wege einzuschlagen. Wege, die nichts mit der fatalen Thematik Frau zu tun hatten. Wie hatte Papa seine letzten Jahre verbracht? Vor allem, wo würde er etwas über die nächsten Ziele seines Vaters finden? Welches Vermächtnis hatte der Alte ihm hinterlassen? Er sah von dem Schlüsselbund in seiner Hand zu der Schrankwand hinüber. Der Safe. Hort der größten Schätze, wie er damals als kleiner Junge gedacht hatte.

»Na, bei euch gehts ja hoch her!«, stellte Katharina gut gelaunt fest und war insgeheim froh, dass die Kinder nicht diese Trauer in sich trugen, die Michael und sie miteinander verband. Und trauern, das tat der Mann, der sie vorhin so zärtlich in seinen Armen gehalten hatte. Ein Schauer durchraste ihren Körper und ließ sie verwirrt feststellen, wie angenehm und intensiv dieses Gefühl war. Selbst bei dem Schuldgefühl, das sich umgehend einstellte.

»Komm, Katharina, setz dich zu uns. Der Film ist echt stark!« Janas vom Lachen feuchte Augen glänzten richtig, als sie ihr den Platz auf dem Sofa zwischen sich und Laura anbot. »Der ist so was zum Piepen und tut dir bestimmt gut.«

»Du kannst auch Chips von mir abhaben.« Laura schob die große, ehemals wohl gefüllte Salatschüssel in Katharinas Richtung.

»Wenn es euch nicht stört, nehme ich euer Angebot gern an. Ein wenig Lachen ist nie verkehrt«, nahm Katharina die Einladung der Kinder an.

»Hat der Alte dich schon wieder geärgert?« Felix klang in diesem Augenblick gar nicht mehr wie der schlaksige Junge mit Handy, den Katharina kennengelernt hatte. Seine aufmerksamen Blicke taxierten sie. »Soll ich mal mit ihm reden?«

»Das brauchst du nicht. Wenn du meine roten Augen meinst … Daran hat er diesmal keine Schuld.« Sie schenkte dem jungen Mann ein ehrliches Lächeln.

»Ich meine ja nur. Der Alte hat nicht gerade den Knigge gefressen, wennʼs darum geht, mit einer mehr als netten Frau Konversation zu betreiben.«

»Wer weiß, warum es so ist«, nahm sie den Abwesenden ungewollt in Schutz und steuerte resolut hinterher. »Solange er das passende Kontra verträgt.«

»Das er von dir aber auch zur Genüge bekommt.« Felix grinste diabolisch.

»Wo wir gerade über das passende Kontra sprechen. Wäre es zu viel verlangt, wenn du nicht immer despektierlich „der Alte“ sagen würdest, sobald du über deinen Vater sprichst?«

Er nickte nachdenklich und bedachte diese bemerkenswerte Frau mit einem stummen, aber bewundernden Blick. Dann folgte er dem genervten Befehl seiner Zwillingsschwester, endlich den Film zu starten.

… in der ganzen Zeit, in der wir uns auseinandergelebt hatten und im Besonderen danach, habe ich Deinen erfolgreichen Weg verfolgt. Dabei habe ich im Stillen so sehr darauf gehofft, dass Du umgänglicher wärest als Dein alter Herr. Dass Du den ersten Schritt machen würdest, der an sich mir oblag. Wieso sind wir nur solche Dickköpfe? Jetzt ist es dafür zu spät. Der Schmerz und das Wissen darum, diese Welt ohne Versöhnung zu verlassen, machen mir das Herz unendlich schwer. Zumal ich nie den Weg gefunden habe, Dir all das von Mann zu Mann zu sagen, was ich Dir als Ratschlag und Vermächtnis ans Herz legen möchte. Ich weiß von Katharinas Brief an Dich. Auch wenn sie sich lieber die Zunge abbeißen würde, als es mir zu gestehen. Dabei, denke ich, werden ihre liebevollen Bemühungen, uns zusammenzubringen, in Erfolglosigkeit münden. Du bist letztendlich mein Sohn und auch wenn wir beide es vehement verleugnen, so sind wir uns doch ähnlich. In dem Testament und Vermächtnis, das Ihr nun bald eröffnet bekommt, habe ich versucht, all das nach meinen letzten Wünschen und Deinem Gutheißen zu regeln.

Bleibt mir nur noch, Dir allein meinen größten Wunsch ans Herz zu legen. Katharina! Bitte, mein Sohn, behandele diese Frau mit dem ganzen Respekt, der ihr gebührt. Katharina hat nie versucht, die Stelle einzunehmen, die ich im Herzen allein für Deine Mutter reserviert habe. Aber sie kommt dem sehr, sehr nahe. Katharina ist ein Mensch, den Du unter Millionen nur einmal findest, und sie ist der größte Schatz, den ich Dir anvertrauen möchte. Ihr habt Euch gewiss schon näher kennengelernt. Und bei Eurem Naturell dürfte es sicherlich bereits den einen oder anderen kleinen Disput gegeben haben. Nimm es ihr nicht übel, sie ist eine Kämpferin. Ich liebe diese Löwin so sehr und das ist auch der einzige Grund, warum es mir so schwerfällt, von dieser Welt zu gehen. Ich hoffe, dass Du diese Frau eines Tages ebenso schätzen lernst und sie nicht gar als böse „Stiefmutter“ oder Schlimmeres ansiehst. Katharina ist nicht Felicitas, die Dir schönredet und Dich hinter Deinem Rücken betrügt. Bitte, trage es mir nicht nach, dass ich ein weiteres Mal auf Deiner falschen Wahl – wie Du mittlerweile selbst erkannt haben dürftest – herumreite. Auch ich habe Dir gegenüber ganz gewiss meine Fehler gemacht und Dich tief enttäuscht. Wie schade, dass ich es in diesem Leben nicht mehr korrigieren kann.

Ich wünsche Dir, Deinen Kindern und auch Katharina nun alles Glück der Erde und sonnige Tage mit dem, was mein Vermächtnis ist und was ich Euch hinterlasse. Dein Dich immer liebender Vater Heinrich Michael Schuwart

Michael wusste letztlich nicht zu sagen, wie oft er diese aufwühlenden Zeilen gelesen hatte. Kurz vor seinem Tod hatte sein Vater die Worte zu Papier gebracht, die er sich all die Jahre so sehr erhofft hatte. Diesen ersten Schritt auf ihn zuzumachen, auf den er hätte reagieren können. Und doch war da noch so vieles mehr, das sein Vater ihm in und zwischen den Zeilen mitgeteilt hatte. Ein Wissen, das in ihm loderte und kochte. Das bei Weitem aber nicht reif war, um es zu würdigen oder gar zu genießen.

Er wischte sich die Feuchtigkeit aus den Augenwinkeln und atmete tief durch. Mittlerweile war es draußen dunkel geworden, fiel ihm auf. Das Bedürfnis, die Nähe von lieben Menschen zu suchen, wurde beinahe übermächtig in ihm. Vielleicht war die Löwin noch wach, hoffte etwas in ihm. Notfalls hatte er etwas zur Verteidigung, erlaubte er sich einen müden Scherz und versenkte die alte Pistole ganz weit hinten im Safe; unter all den Papieren, die einer genaueren Inspektion bedurften. Diese Walther PPK hatte seinem Großvater Michael gehört, der damals Wehrmachtsoffizier war. Er erinnerte sich daran, dass sein Vater einmal davon erzählte und ihm strikt verbot, die Waffe anzufassen, solange er lebte. Dieses Versprechen hatte Michael bis zum heutigen Tage gehalten und er würde es eines Tages auch seinem Sohn abnehmen. Nun wurde es aber wirklich Zeit, dass er hier herauskam. Sonst würde Katharina ihn trösten müssen. Katharina …

Ein Eimer kaltes Wasser hätte nicht weniger wirkungsvoll sein können. Diese verfluchte, in ihm brodelnde Eifersucht brandete gegen den sehnlichsten Wunsch seines Vaters an. Wie nur sollte er sie akzeptieren und respektieren können. Immer in dem Wissen, dass sie die Geliebte seines Vaters war und er auf ewig die zweite Wahl blieb? Raus hier! Ablenken und mit den Kindern scherzen. Einfach nur herumkaspern und nie wieder erwachsen werden.

Herzhaftes Lachen begleitete Michael auf seinem Weg ins Parterre. Am lautesten kam es von Katharina, die den Kultfilm seiner Kinder offenbar nicht kannte. Wie eine richtige Familie. Er schloss dieses Idyll tief in seinem Herzen ein, als er Katharina und die Kinder dort sitzen sah. Laura hatte sich eng an Katharina gekuschelt. Diese hielt sie im Arm und dabei vergeblich zu versuchen, sich mit der freien Hand die Freudentränen fortzuwischen.

»Hier bin ich scheinbar richtig. Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen, wenn ich mich ein wenig zu euch setze?« Schmunzelnd stellte er fest, dass er Luft war. Nur Katharina sah kurz zu ihm herüber, ehe sie von einer weiteren Lachsalve geschüttelt wurde.

Das Telefon erwachte zum Leben und produzierte genervte Blicke der Sprösslinge. Michael erhob sich und begab sich mit dem Fluch der Technik ins benachbarte Esszimmer. Nach zehn Uhr, stellte er verstimmt fest, für einen Kondolenzanruf unpassend. »Michael Schuwart hier.«

»Hallo?« Erschrockenes Zögern. »Verzeihen Sie bitte die späte Störung, aber ist Katharina vielleicht zu sprechen? Sie ist auf ihrem Apparat nicht zu erreichen. Mein Name ist Holger Schmidt«, stellte sich der überrascht klingende Anrufer vor. »Entschuldigen Sie bitte nochmals, aber ich war ein wenig irritiert, eine Männerstimme zu hören. Ich bin ein sehr guter Freund von Katharina. Ich meine, nicht so ein Freund, wenn Sie wissen …«

Michael erlöste den Anrufer mit einem freundlich gesinnten Schmunzeln, was dieser wohl kaum sah. »Etwa der berühmte Holgi, dessen brillant zubereitetes Roastbeef wir gestern Abend genießen durften?« Es schien genau der Schnack zu sein, der bei seinem Gesprächspartner auf fruchtbaren Boden fiel.

»Sie haben davon gegessen. Ja, das ist mir außerordentlich gut gelungen, nicht wahr!«

»Ratzekahl leer war die Platte. Sie müssen mir unbedingt das Rezept verraten«, schwärmte Michael ehrlich. »Vor allem würde ich mich sehr freuen, Katharinas Freunde endlich kennenzulernen.«

Mit einem Ohr versuchte die Frau, die ihren Namen vernommen hatte, zuzuhören, was und ob über sie gesprochen wurde. Oder wer gar der späte Anrufer war. Der kurze Blick zu dem Mann im Nebenraum reichte aus, um die Schamesröte in ihr zum Sieden zu bringen. Ertappt wandte Katharina ihre Aufmerksamkeit dem Film zu. Der Blick, mit dem Michael Schuwart sie gemustert hatte, und sicher noch tat, ging ihr erneut unter die Haut. Alles in allem schien es ein freundliches und entspanntes Gespräch zu sein, das er führte. Erst nach zehn Minuten kehrte er zu ihnen zurück. Mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht, aber unendlich verschwiegen.

»Und?« Es ärgerte Katharina, wie er sie mit einem vielsagenden Schmunzeln ansah und durch sein fortwährendes Schweigen dazu erpresste, ihrer Neugier eine weitere Frage zu gestatten. »War es etwas Wichtiges?«

»Wie manʼs nimmt. Ich habe mir erlaubt, über Ihren Kopf hinweg zu entscheiden, dass wir morgen Nachmittag Besuch bekommen und gemeinsam grillen werden.«

»Wir müssen unbedingt einen Anzug für Felix besorgen«, gab sie ihm zu verstehen.

»Ich denke, er hat einen?«

»Sagt ER! Doch damit würde ich ihn nicht einmal zum Schulball gehen lassen, geschweige denn zur Beerdigung seines Großvaters. Der Junge benötigt unbedingt einen Anzug!«

Michael nickte beifällig und musterte dabei seinen Sohn, der so plötzlich Anzeichen von Reife zeigte. »Gut, wenn Sie es so sagen. Können Sie mir ein Geschäft empfehlen, bei dem wir eine vernünftige Beratung bekommen?«

»Ich denke …«, setzte Katharina an, schien es sich aber zu überlegen. »Ich werde mit Felix zu Heinrichs Herrenausstatter fahren. Sie, Herr Schuwart, haben eher eine tragende Rolle dabei, um alle nötigen Dinge für ihr Spontangrillen einzukaufen. Ach, und bitte denken Sie daran, dass Damen anwesend sind. Einige Salate sind daher ein unbedingtes Muss. Wie viele Gäste werden überhaupt kommen?«

Erneut stellte er, wieder einmal, fest, wie spontan diese Frau war. Die Löwin! Heinrich hätte sie nicht besser charakterisieren können. »Ich meine, es sind nur Anna und Holgi. Oder wollen wir weitere Gäste einladen?« Oh, wie herrlich war es mit anzusehen, dass sich Verblüffung und Unsicherheit in ihrem so hübschen Gesicht ausbreiteten. »Sie sind mir hoffentlich nicht böse, dass ich Ihre besten Freunde kennenlernen möchte.«

»Sagt mal, könnt ihr auch mal still sein und den Film genießen?«

»Jana hat recht. Immer müssen die Erwachsenen alles planen«, rappelte sich nun auch Laura auf und sah die beiden vorwurfsvoll an. »Jetzt gucken wir Filme, ihr Großen!«

Kapitel 5

Felix hatte sich die „Zwangsveranstaltung Anzugkauf“ weitaus gruseliger vorgestellt, als es letzten Endes war. Zumal das gemeinsame Shoppen mit Katharina um Längen cooler abging, als wenn er mit den Kumpels durch die Klamottenläden tigerte. Da ging es mehr darum, die schärfsten Bunnys anzugraben, als ʼne Kutte zu finden. Katharina hatte ihn in einen Schuppen geschleppt, in dem Zombies herumturnten, die echt so schräg waren, dass es wieder modern war. Der Typ hatte ihn nur angesehen und mit Katharinas Vorstellung von DEM Anzug hatte es bei der ersten Kutte schon zur Vollendung gereicht. Die richtigen Treter waren auch gleich mit drin. Geil! Auch wenn er sich bei den Kumpels echt so nicht sehen lassen konnte. Aber als ein zukünftiger Reeder.

»Na, war das jetzt so grauenhaft?«, riss Katharina ihn aus seinen Gedanken, während sie das Parkhaus in der Hamburger Innenstadt ansteuerten, in dem sie den Wagen geparkt hatte.

»Ne, das war cool. Wie alles, das du in die Hand nimmst.« Grinsend hielt er die voluminöse Tasche in die Höhe. »Hat dir schon mal einer gesagt, dass du echt ein Superfeger bist?«

»He, versuchst du mich alte Frau um den Finger zu wickeln? Und wo ist eigentlich dein Smartphone?«

»Habe ich zu Haus gelassen. Mit dir macht es einen Riesenspaß, was zu unternehmen. Da stört das Teil nur.« Er atmete tief durch, schloss die Augen und verabschiedete sich im Geiste ein weiteres Mal vom alten Fix. Zwei philosophische Tage, der Rüffel des Alten daheim und das anstehende gewaltige Erbe hatten ausgereicht, um in ihm den Schalter umzulegen. Mit Kathi, wie er sie insgeheim nannte, an seiner Seite konnte es klappen. »Du, Katharina, müssen wir jetzt schon zurückfahren?«

Natürlich mussten sie heim! Es gab noch so vieles zu beschicken, ehe Anna und Holgi eintrafen. Doch plötzlich blieb die Angesprochene stehen und grinste dabei schadenfroh. »Nein, müssen wir nicht. Schließlich war es dein Vater, der meine Freunde zum Grillen eingeladen hat. Dann soll er auch zusehen, dass er die Show auf die Beine stellt. Was planst du denn noch mit mir zu unternehmen?«

»Ich würde dich gern zum Essen einladen. Außerdem habe ich mir da ein paar Gedanken und Pläne zurechtgelegt, die ich gern mit dir durchsprechen würde. Ich meine, wenn du so freundlich wärst, sie dir überhaupt anzuhören.«

»Deine Einladung werde ich gern annehmen.« Katharina schenkte dem jungen Mann ein von Herzen kommendes Lächeln. »Nur, wie komme ich zu der Ehre, als deine Beraterin zu fungieren?«

»Ich nehme einmal an, dass mein Großvater ein gewiefter, nüchtern kalkulierender Mann war. Und was ich bislang mitbekommen habe, warst du ihm in allen Belangen eine enge Beraterin und … Freundin? Überhaupt kenne ich keine andere Frau, die so selbstbewusst und sicher auftritt wie du. Alles Eigenschaften, die dich als etwas ganz Besonderes erscheinen lassen.«

Salate, Salate, Salate! Was fanden die Frauen daran so prickelnd? Michael betete zum ungezählten Male darum, dass Holger Schmidt sein gestriges Versprechen hielt und für ausreichende Portionen an echter Männernahrung sorgte. Leider entband ihn die Vorfreude darauf nicht von der Aufsichtspflicht über seine kleinen Zuckerschnecken, die ihm zur Hand gingen. Auch wenn keine der beiden die Berufung zur Kaltmamsell verspüren dürfte. Darin war er sich sicher. Katharina hatte es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht besser getroffen. Sie musste mit einem pubertierenden Knilch durch die Gegend reisen, der an allem und jedem etwas auszusetzen hatte.

Der durchdringende Klang der Klingel schreckte Michael aus seinen Gedanken auf.

»Ich mach auf!« Laura stolperte fast über ihre lange Schürze, als sie fluchtartig die Küche verließ. Kichernd, die Hand vor dem Mund, kehrte sie zurück. »Da ist ein Mann, der sieht wie ein Papagei aus. Er sagt, er heißt Holgi.«

Michael unterließ es, seine Jüngste wegen des saloppen Vergleichs zurechtzuweisen. Selbst froh darüber, das Schlachtfeld verlassen zu dürfen, wischte er die krumpeligen Finger an einem sauberen Küchentuch ab, um ihre Besucher willkommen zu heißen.

In der Tat hatte Laura nicht unrecht. Michael verbiss sich heldenmütig ein Grinsen und trat dem äußerlich so ungleichen Pärchen entgegen. »Hallo, ihr müsst Katharinas Freunde sein. Kommt doch rein! Ich bin der Michael.« Er nahm die überraschte Anna herzlich in den Arm und begrüßte sie wie auch den rotwangigen „Papagei“, als seien sie selbst seit Jahren die besten Freunde. »Das ist Laura, meine Jüngste. Und das neugierige Wesen, das dort hinten um die Ecke schaut, ist meine Große, Jana. Ihr müsst entschuldigen, aber Katharina ist mit unserem Felix noch immer auf Tour. Eigentlich hätten die zwei längst wieder daheim sein wollen.«

»Das macht nichts, Michi. Wir werden den Laden schon schaukeln.« Holger Schmidt hielt es nicht für nötig, unnötig zu fremdeln. »Wenn du erlaubst, wir kennen uns hier leidlich aus.« Agil beugte er sich zu der Box hinab, aus der unzählige Leckereien herausschauten und stemmte sie hoch. »Wir haben hier schon ungezählte Male mit Heinrich und Katharina gefeiert. Übrigens …« Holgi stellte die Box erneut ab und zog Michael impulsiv an seine breite Brust. »Wir wollen dir und deinen Kindern unser Beileid ausdrücken. Aber so wie wir den Abend heute ausrichten werden, hätte es Heinrich ganz bestimmt gefallen.«

Michael kassierte von Katharinas attraktiver Freundin eine weitere Anteil nehmende Umarmung. Zufrieden mit dem, was er sah, schnappte er sich eine zweite Box, die bis oben hin gefüllt war mit allen Köstlichkeiten, die Rind, Schwein, Lamm und Geflügel zu bieten hatten. »Leute, wer soll das bloß alles essen?«

»Das wird schon und notfalls werden wir morgen ein Restegrillen veranstalten«, kam es aus den heiligen Hallen der Küche.

Katharina hatte Holgis Auto vor dem Portal stehen sehen. Ihre Freunde waren also schon da. Schade, sie hätte gern Michael Schuwarts Miene gesehen. Just in dem Moment, als dieser liebenswerte Paradiesvogel einschwebte. Trotzdem, der wunderschöne Nachmittag mit Felix wog diese verpasste Gelegenheit allemal auf. Felix hatte sie aus freien Stücken in ein feines Restaurant zum Essen eingeladen. Mit Blick über die Elbe, darauf hatte Felix unbedingt bestanden. Unter vier Augen hatte er ihr freimütig eine Menge über sich erzählt und von dem, was ihn in den letzten Tagen beschäftigte. Von Visionen, die ihn seit Neuestem bewegten und dergleichen mehr. Sie hatte ihm dabei atemlos zugehört und immer wieder fasziniert festgestellt, wie sehr der Junge seinem Großvater ähnelte. In diesem Jungen steckten so viele Zukunftspläne, Wünsche und Gedanken, dass einem das Herz aufging. Nur, ob sein Vater von den Wünschen und Zielen seines Sohnes wusste? Vermutlich nicht, wenn sie daran dachte, wie sich dieser Mann bislang ihr gegenüber geäußert hatte.

Ein wenig stolz sah sie dem jungen Mann hinterher, der ausgestiegen war, um ihr energisch das Garagentor zu öffnen. Der schlurfende Junge, den sie zuvor kennengelernt hatte und der sich demonstrativ hinter seinem Handy versteckte, war seit heute Geschichte. Mit einem tiefen Gefühl von Vertrauen um die Ernsthaftigkeit seiner Worte fuhr sie den Wagen in die Garage, öffnete den Kofferraum und stieg aus.

Doch der temperamentvolle junge Mann war wie angewurzelt im Tor stehen geblieben.

»Wolltest du mir nicht helfen, die Sachen ins Haus zu bringen?« Verwundert folgte Katharina der Blickrichtung des wie paralysiert Dastehenden. Super! Sie brauchte keine Prophetin sein, um zu erkennen, was sich in ihm abspielte. Anna. Ihre beste Freundin stand am Rand der Terrasse und schenkte ihre Aufmerksamkeit einer Person jenseits des Blickfeldes. Ihr glockenhelles Lachen drang zu ihnen herunter, während der Wind mit ihrem langen dunkelblonden Haar spielte, das in all seinen Nuancen die Rezeptoren von Felixʼ Netzhaut blendete. Anna besaß eine wahnsinnige Ausstrahlungskraft auf Männer. Ein Blick auf den Jüngling neben ihr zeigte Katharina, dass auch er kein Kind mehr war. Na, da habe man bloß ein Auge drauf, kommentierte ihr sechster Sinn gehässig.

»Erde ruft Felix!« Sie stupste ihn an. »Würdest du mir bitte mal behilflich sein?«

»Ja natürlich.« Ertappt grinste er sie an, wobei seine Blicke jedoch immer wieder in eine gewisse Richtung glitten. Mit einem übertriebenen Keuchen verkündete er daraufhin: »Ich bringe die Sachen hoch und mach mich dann mal frisch.«

Katharina hatte die letzte Idee des jungen Mannes übernommen. Lange hatte sie mit sich gerungen und sich dann doch für ein fröhlicheres Outfit entschieden. In einer Hommage an den warmen Frühlingstag erschien sie mit ihrem geblümten neuen Sommerkleid auf der Terrasse. Ihr Auftritt konnte nicht wirkungsvoller sein. Für das korsageartig geschnittene Oberteil, das zwar alles verbarg und doch vieles versprach, erntete sie bei den Damen aller Altersklassen respektvollen Neid und ein begeistertes „Oh“. Selbst Holgi, der definitiv auf gebräunte männliche Oberkörper stand, bekam sich vor lauter Begeisterung nicht mehr ein.

Vor allem freute sie sich über die Wirkung, die sie bei Michael Schuwart gewahrte. Eine ganz besondere Schüchternheit hatte plötzlich diesen forschen Elan vertrieben, mit dem er sonst alle Leute für sich einnahm. Sie gipfelte in einem leisen, grundehrlichen Geständnis: »Sie sehen bildschön aus, Katharina.«

»Kathi, das hast du wieder mal gut abgepasst!« Holgi klatschte tatkräftig in die Hände und beendete den Zustand, ehe sich die beiden noch mit den Augen auffraßen. »Wir sind so weit fertig. Nur, wo ist Felix? Oder hast du ihn bei deinem Einkaufsrausch in Zahlung gegeben?«

»Der wird wohl noch kommen.« Katharina verbot sich die Überlegung, wie lange ein in Faszination entbrannter Junge benötigte, sich zu stylen. Stattdessen begab sie sich zu dem angerichteten Salatbuffet, das ihr ein anerkennendes Nicken entlockte. »Das sieht wirklich sehr lecker aus.«

»Das war alles Papas Idee. Aber Jana und ich haben ihm die ganze Zeit über geholfen.« Laura langte zur Feier des Tages in das Schälchen mit den Wurzelschiffchen. »Und guck mal, was Anna und Holgi alles mitgebracht haben.«

»Hallo Süße«, holte Katharina die Begrüßung ihrer besten Freundin nach und nahm sie herzlich in den Arm. Die brodelnde Ungeduld in Anna war beinahe körperlich zu spüren. Keine fünf Minuten gab sie ihr, dann würde Anna sie unter fadenscheinigen Gründen ins Haus locken, um alles, aber auch wirklich alles aus erster Quelle zu erfahren. »Ich freue mich, dass du heute mitgekommen bist.«

»Na hör mal, Süße! Du lässt tagelang nichts von dir hören. Da muss ich doch vorbeikommen und sehen, ob es dir gut geht.« Sie bedachte Heinrichs Sohn mit einem koketten Blick und ergänzte an Katharina gewandt: »Hätte ich gewusst, dass du in solch starken Armen aufgehoben bist, hätte ich bedeutend ruhiger schlafen können.«

Katharina spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht schoss. Jetzt nur nicht zu Michael schauen. »Sorry, aber es gab einiges zu erledigen und vorzubereiten. Apropos Anna, magst du mir kurz in der Küche helfen?«, gab sie den Startschuss für ihre beste Freundin, die mit einem »Na endlich!« fast schon in besagter Küche war. »Ihr entschuldigt uns bitte kurz?«

»Macht man ruhig«, gestattete Holgi großherzig und reichte Michael eine Flasche Bier. »Wir haben hier eh ein wichtiges Thema über Gas- oder Kohlegrill.«

Wenn Johanna Neuhaus etwas brennend interessierte, dann gab es für den Begriff von Zappeligkeit so manche Steigerung. Diesmal beschränkte sie sich vorerst darauf, mit verschränkten Armen auf die Freundin zu warten und dabei energisch mit den Absätzen ihrer High Heels die Fliesen des Küchenbodens zu traktieren. Ob der Flamenco in solch einem Moment erfunden wurde?

»Nun erzähl schon, Kathi. Wie ist es dir ergangen? Oh Mann, dieser Michael … Er hat ja so viel Ähnlichkeit mit Heinrich, findest du nicht? Mensch, ich habe erst sogar einen Riesenschrecken bekommen! Wie ist er so? Ich meine, als Mensch. Wie ist er vom Charakter?«

»Anna! Nun hol doch mal Luft, Mädchen. Wie soll ich dir alles auf einmal beantworten!« Katharina strich sich mit einer fließenden Bewegung ihr Haar zurück und trat ans Fenster, von wo aus sie ihn gerade noch sah. »Ja, äußerlich hat er so viel Ähnlichkeit mit Heinrich, dass es mich manches Mal erschreckt. Aber sein Charakter …« Ein tiefer Seufzer entrang sich ihrer Brust. »Manchmal ist es so, als wäre Heinrich wieder nah bei mir. Und gleich darauf ist mir dieser Mann so fremd, wie er nur sein kann.«

»Aber er sieht so süüüß aus! Erzähle doch bitte weiter. Wie sind denn seine Kinder so?«

»Die sind durch die Bank weg lieb und nett. Es macht wirklich Spaß, sie um sich zu haben. Besonders Laura ist mir schon ans Herz gewachsen.«

»Das kann ich mir denken.« Anna schloss die Freundin impulsiv in ihre Arme. »Die Kleine hat die ganze Zeit über nur von dir geschwärmt. Jana habe ich ja auch schon kennengelernt. Die hat es aber schon faustdick hinter den Ohren, oder?« Das war zwar direkt, aber treffend. Anna spulte ihren Fragenkatalog weiter herunter. »Und der Felix? Ist er wie Heinrich und sein Vater? Komm schon, sag es mir, wann lerne ich ihn kennen?«

»Indem Sie sich einfach umdrehen und ihn in voller Größe begutachten.«

Mehr oder weniger erschrocken richtete sich die Aufmerksamkeit der beiden Frauen auf den jungen Mann, der wer weiß wie lange schon in der Küchentür stand. Was Anna dort zu Gesicht bekam, schien ihr zu gefallen. Sogar außerordentlich, wie Katharina mit einer Spur Besorgnis feststellte.

»Mit Felix dürfte dann wohl ich gemeint sein. Nur, mit wem habe ich das Vergnügen?«

Felixʼ Stimme war um mindestens zwei Oktaven tiefer gerutscht, registrierte Katharina alarmiert. Dazu sein übertriebenes Auftreten, das ihrer Meinung nach mehr das eines Badeseifenmodels war als das eines Gymnasiasten. Unter dem halb geöffneten Oberhemd perlte das Wasser auf seiner zur Schau getragenen kaum behaarten Brust. Lächerlich, empörte sich etwas in ihr. Zudem jagte Annas eindeutiges Verhalten ihren Puls weiter in die Höhe. Vor ihr spielte sich unverhohlen ein Balzritual ab, das an sich lustig oder gar romantisch wäre. Wenn nur nicht ihre beste Freundin und ein blutjunger Mann, der gerade eben ihren Mutterinstinkt geweckt hatte, darin verwickelt wären.

»Felix, ich glaube, dein Vater will dich sofort sprechen!«, hörte Katharina sich sagen und registrierte unwirsch, dass die beiden sie längst ausgeblendet hatten.

Erst Laura schaffte das Unmögliche, als sie sich zwischen den Bruder und Anna schob und lauthals verkündete: »Holgi sagt, ihr Mädels sollt an die Baguette denken. Sie müssen in den Ofen.«

»Kathi, das schaffst du doch allein, oder?« Anna winkte der Freundin augenzwinkernd zu und hakte sich bei Felix ein. »Ich werde nachher federführend bei dem Abwasch sein.« Und schon waren die beiden verschwunden.

Grinsend gesellte sich Laura zu der großen Freundin, die sichtbar wütend am Backofen hantierte. »Was ist denn in Felix gefahren? Der sieht ja richtig affig aus!«

»Wie recht du hast, mein Spatz. Wenn Männer erst in ein gewisses Alter kommen, kann man mit denen echt nichts mehr anfangen.«

»Ist Felix jetzt in dem Alter?«

»Nicht, wenn ich ein Wörtchen mitzureden habe«, knurrte Katharina zwischen den Zähnen hervor.

Entgegen Katharinas ersten Befürchtungen verlief der Nachmittag harmonisch. Holgi und Michael wuchsen in kürzester Zeit zu einem Dreamteam in Sachen Grillen zusammen. Auch sonst schienen sich die beiden gut zu verstehen; davon einmal abgesehen, dass Holgi schnell feststellen musste, dass Michael eine stocksteife „Hete“ war. Doch das tat dem Rest ihrer Männerfreundschaft keinen Abbruch. Die sich anbahnende Romanze zwischen Anna und Felix vertiefte sich zum Glück nicht so rasant, wie zuerst befürchtet. Zumal Jana in Katharinas Freundin eine geduldige Ansprechpartnerin fand, mit der man ausführlich über Mode und bestes Styling fachsimpeln konnte. Dank Laura fühlte auch sie sich nicht wie das fünfte Rad am Wagen. Die Kleine nahm sie dankenswerterweise so in Beschlag, dass es nur bei dem einen oder anderen skeptischen Blick auf Anna und ihrem jugendlichen Don Juan blieb. Blicke, die Anna hoffentlich nicht verborgen blieben.

Die Sonne schickte sich bereits an, hinter den Baumwipfeln zu verschwinden, als es von außerhalb der Terrasse her lebendig wurde.

»Kann es denn sein, dass ich da die Stimme meines alten Kumpels Michi höre! Hallo, ist es gestattet hereinzukommen?«

»Olaf? Olaf Kleinschmidt, bist du es wirklich!« Michael sprang wie elektrisiert auf und umrundete hektisch die Hürden auf dem Weg zum Rand der Terrasse.

»Wie er leibt und lebt.« Der Mann, der forsch die Stufen erklomm, sah aus, als käme er geradewegs vom Bau. Er klopfte sich ansatzweise den Staub von der Maurerkluft, bevor er den gegen ihn schmächtig wirkenden Reedereierben an seine Brust zog. »Mama und Papa riefen heute an und erzählten mir, du wärest wieder im Lande. Mensch Alter, mein Beileid. Aber ich finde es toll, dass du endlich mal wieder hier bist.«

»Hallo Leute, ich bin der Olaf. Ihr müsst schon meinen Aufzug entschuldigen, aber ich komme gerade vom Bau.« Erst nach einer ausgiebigen Begrüßung und Umarmung hielt es der Besucher für nötig, sich bei den anderen vorzustellen.

Wie von einem Magneten angezogen blieb dieser Mensch dabei vor Anna stehen. Typisch für einen Platzhirsch, kommentierte Katharina süffisant für sich. Einfach ekelhaft.

Der Besucher strich sich derweil über seine staubbedeckten Unterarme und wischte die Hände an der Hose ab. »Gestatten, Olaf Kleinschmidt. Ich bin Michis alter Kumpel. Und Sie sind …? Doch hoffentlich nicht seine Frau, oder? Ich meine ja nur. Nicht dass ich mich jetzt rettungslos in Sie verliebe.«

Anna hüstelte entsetzt und übersah demonstrativ seine dargebotene Pranke. »Kann es sein, dass ich eben einen halben Mauerstein verschluckt habe. Ist das schädlich?«

»Ne, ist nur Gasbeton. Klinker, die sind tödlich«, flachste Kleinschmidt und eroberte von sich aus die Hand der faszinierenden Frau.

Katharina blieb Felixʼ Reaktion auf die plumpe Anmache der Angebeteten nicht verborgen. Zumal Anna nach anfänglichem Zögern auf die joviale Art des Besuchers ansprang. Im Grunde genommen tat ihr der Junge leid. Jählings auf ein Abstellgleis geschoben zu werden, tat weh. Doch das war genau der dringend nötige Schock, um den Testosteronspiegel des Jungen rechtzeitig auf ein normales Level zu senken.

Mittlerweile war Michaels Freund mit seiner Vorstellungsrunde bei ihr selbst angelangt. »Hallo, Sie müssen Frau Sommer sein. Ich meine, wir haben uns damals kurz kennengelernt, als ich für den alten Heinrich die Garage hochgezogen habe.«

»Das mag sein, Herr Kleinschmidt. Nur dass ich weiterhin Sommerbeck heiße.«

Er nickte und wechselte einen nachdenklich-ernsten Blick mit ihr. Man kannte sich oder wusste zumindest über den anderen Bescheid. Wohldorf war eben auch nur ein Dorf. Und über das, was der alte Schuwart und sein Hausmädchen trieben, darüber gab es genug Geschichten, die ihre Runden drehten.

Holger hatte derweil die am deftigsten angebratenen Fleischstücke auf einen Teller drapiert und mit der vermeintlich nötigen Menge Ketchup ertränkt. Er wusste, was Bauarbeiter liebten. Ein eiswürfelgekühltes Bier gehörte ebenfalls dazu. Das alles nahm Olaf, der wie zufällig Jana von ihrem Platz vertrieben hatte, dankend entgegen. Es war unverkennbar, dass er sich zwischen dem alten Freund und der schnuckeligen Dame wohlfühlte.

Der Abend zog seine Bahnen. Kleinschmidt bestritt dabei den Großteil der Unterhaltung. Hatte er doch ein Publikum, das ihn nicht kannte. Katharina hielt sich möglichst aus diesen Gesprächen heraus, die sich eh nur um frühere Heldentaten der Männer drehten. Sie mochte diesen Aufschneider nicht. Spätestens seitdem er sich damals so blöde an sie herangemacht hatte. Etwas in der Art, was ihr ein alter Mann denn schon bieten könne, erinnerte sie sich. In Felix fand sie einen wahren Seelenverwandten. Vermutlich die beste Gelegenheit, um mit ihm über Anna zu sprechen. »Felix, ich sehe, dass uns der Wein ausgeht. Magst du mir bitte helfen, ein paar Flaschen aus dem Keller zu holen?«

Der Angesprochene sah gequält von ihr zu seiner Tischnachbarin, die jedoch weiterhin wie fasziniert den Anekdoten dieses Aufschneiders folgte. Der Gedanke, dass seine holde Jungfrau allein in den Fängen dieses Orks blieb, beunruhigte ihn über die Maßen. Seufzend erhob er sich.

»Findest du nicht, dass es langsam etwas kühl wird?«, spielte Katharina auf sein weiterhin offenes Hemd an, während sie vorsichtig vor dem Jungen die Kellertreppe hinabstieg. »Ich zumindest werde mir gleich eine Strickjacke überziehen.«

»Du bist sauer auf mich, stimmtʼs?« Er schloss ihr zuliebe zwei der Knöpfe.

»Sauer ist übertrieben. Verwundert vielleicht … Ja, ein wenig enttäuscht kommt der Sache näher.« Sie blieb vor einem reichlich bestückten Weinregal stehen und drückte ihm den Flaschenträger in die Hand.

Felix musterte diese bemerkenswerte Frau von der Seite her. Warum nur hatte er sich nicht Hals über Kopf in sie verliebt, fragte er sich. Natürlich nicht, beantwortete er sich die Frage selbst. Die sehnsüchtigen Blicke, die sein Vater Katharina heimlich hinterherschickte, waren deutlich genug, um zu ahnen, dass diese Frau für ihn eine Persona non grata war. Als perfekte Mutter konnte er sie sich überdies bedeutend besser vorstellen. Eben wie jetzt. Mütterlich, selten streng und offenbar eifersüchtig auf die Frau, mit der sie plötzlich ihre Liebe zum Sohn teilen musste. Klapskopf, schalt er sich im Stillen, Kathi ist nicht deine Mutter! »Du meinst das mit Anna?«

»Natürlich meine ich Anna«, knurrte Katharina und bemühte sich, an seine Vernunft zu appellieren. »Ich habe den Eindruck, dass das bei euch nicht bei einem einfachen Geplänkel bleiben wird.«

Er schickte ein entnervtes Seufzen vorweg. »Ich weiß, dass Anna deine beste Freundin ist. Was für mich heißt, dass sie von Haus aus ein wundervoller und besonderer Mensch sein muss. Doch akzeptiere bitte, dass ich alt und reif genug bin, meine eigenen Erfahrungen mit Frauen zu machen. Darin möchte ich auch von dir keine Ratschläge bekommen.«

»Alt und reif genug«, echote Katharina bissiger als gewollt. »Wie alt hast du dich gemacht? Neunzehn? Zwanzig? Und sie? Sie ist dann wohl neunundzwanzig, stimmtʼs!«

»Du selbst hast vorhin behauptet, ich wäre viel zu reif für mein Alter.« Ihr Schweigen verursachte ein verdammt schlechtes Gewissen. »Außerdem, was sind heutzutage schon knappe zehn Jahre Unterschied! Du selbst …« Felix brach ab, als ihm bewusst wurde, welch blöden Vergleich er gerade anführen wollte. Zum Glück schien sie es überhört zu haben.

»Zehn Jahre!« Katharinas Stimme überschlug sich. »Du Traumtänzer, Anna könnte deine Mutter sein!«

»Und wenn es zwanzig Jahre sind!« Trotz und Enttäuschung rangen in ihm. »Katharina, wir wollen doch nicht heiraten. Ich will sie einfach nur ein wenig näher kennenlernen.«

Wollte der Junge sie nicht verstehen, oder konnte er es nicht? Katharina seufzte schweren Herzens. »Felix, ich bin weder eure Mutter noch euer Kindermädchen. Doch frage dich einmal was geschieht, wenn Anna dich auf länger oder ewig fasziniert. Was wird aus deinen hohen Zielen und Plänen, von denen du mir erst vorhin erzählt hast? Jahrelanges Studium und die nötigen Erfahrungen sammeln in aller Welt. Alles, um zu diesem einen Ziel zu kommen und dort oben zu bestehen. Wie willst du das mit den Erwartungen in Einklang bringen, die eine Frau in Annas oder meinem Alter an einen Mann hat? Frauen Ende dreißig erwarten, dass du deinen „Mann“ stehst. Ein ganzer Mann, der uns nicht nur das Gefühl gibt, dass wir immer noch begehrenswert sind. Mit fünfzig erwartet eine Frau etwas ganz anderes von dir. Absicherung, ein unbeschwertes Leben und dergleichen mehr. Wo wirst du dann stehen, wenn du jetzt deine Ziele für eine tolle, aber bedeutend ältere Frau aufgibst, um ihr hinterherzulaufen? Als Hilfsarbeiter in der Firma deines Vaters?«

»Katharina, warum urteilst du so hart über uns? Anna ist deine beste Freundin und ich bin dir doch auch nicht ganz einerlei. Zumindest hatte ich den Eindruck nach unserem heutigen Gespräch.«

»Gerade deshalb! Weil ich euch beide liebe und die Probleme sehe, die auf euch zukommen würden. Weil ich weiß, dass du nicht der Typ Mann bist, der sich ʼne Alte schnappt, sie flachlegt und dann fröhlich lächelnd zur nächsten übergeht. Und Anna …« Wütend über sich selbst und ihr vorlautes Mundwerk brach Katharina ab, drückte ihm den Flaschenträger in die Hand und flüchtete sich die Treppe hinauf.

Oben angelangt hielt Felix Katharina sachte, aber bestimmt am Arm zurück. »Kathi, ich danke dir für deinen eindringlichen Appell und ich werde ihn mir zu Herzen nehmen. Aber wenn ich mich für etwas entscheide, dann bitte ich dich inständig darum, dass du dies auch akzeptierst.«

Er kassierte ein Wetterleuchten in ihren Augen. Eine Erfahrung, die sein Vater ihm unwissentlich, aber vielfach voraushatte.

»Ja, Felix.« Ganz der Vater, kochte es in Katharina hoch. Genauso engstirnig wie sein arroganter Vater! »Du bist in der Tat alt genug. Fast erwachsen! Und nun wünsche ich dir viel Spaß bei der Eroberung deiner neuen Flamme.«

Sie kehrten zu der geselligen Runde zurück, ohne dass man sie offenkundig vermisst hatte. Einzig Anna suchte und fand den Blick ihrer Freundin. Eine eigentümliche Mischung aus Trotz und Flehen überwand die Entfernung.

Katharina schwor sich, sich nicht einzumischen und ihr Gespräch mit Felix ad acta zu legen. Die beiden waren letzten Endes alt genug, wie der junge Herr ihr unmissverständlich zu verstehen gegeben hatte. Ein Blick auf Laura zeigte, dass andere Sachkenntnisse gefragt waren. »Komm, Spatz. Für dich wird es nun Zeit, ins Bett zu gehen.«

»Ich bin aber noch gar nicht müde«, protestierte die Kleine und gähnte herzhaft.

Katharina drückte Felix den Weinöffner in die Hand und ergriff sanft ihre Hand. »Komm, ich bringe dich ins Bett. Sage den anderen gute Nacht und dann heben wir zwei ab.«

Wider Erwarten folgte Laura zügig den Anweisungen. Sie umarmte ihren Vater und winkte in die Runde, ehe sie mit ihrer großen Freundin im Haus verschwand.

»Bringst du mich nun wirklich ins Bett?«

»Ja, warum nicht? Es sei denn, du bist schon so groß, dass du es kindisch findest.«

»Oh doch! Nur hat mich bis jetzt niemand so echt ins Bett gebracht.«

Katharina zwang sich ein unbekümmertes Lachen ab. »Dann wird es aber dringend Zeit, dass du das lernst. Also Fräulein: Zähneputzen, waschen und dann kommst du umgehend in dein Zimmer, damit ich dich zudecken kann.«

Als Katharina nach unten zurückkehrte, hatte sie heftig mit ihren eigenen Gefühlen zu kämpfen. In der Küche traf sie auf Jana und Anna, die sich aufgerafft hatten, das erste Geschirr einzusammeln.

»In Laura hast du einen Riesen-Fan gefunden«, begrüßte Jana sie und fügte mit einer Spur Neid in der Stimme hinzu: »Willst du mich nicht auch gleich ins Bett bringen?«

»Nix da, meine Liebe. Du wirst bis zum Morgengrauen mit uns diesen Haushalt auf Vordermann bringen.« Lächelnd tätschelte Katharina der Großen die Schulter und freute sich über die ungewohnt vertrauliche Nähe. »Nein, das war Quatsch. Wenn du müde bist, dann darfst du ruhig nach oben gehen.«

»Darf ich wirklich?«

»Natürlich, wie ich die Jungs dort draußen einschätze, wird es ewig dauern, bis sie zu einem Ende kommen. Dafür kannst du für uns morgen dann das Frühstück zubereiten.«

»Klar, das mache ich gern.« Jana trocknete sich ihre Hände ab und schickte sich an, die Küche zu verlassen.

»Jana«, Katharinas besorgt klingende Stimme holte sie ein, »Bist du so lieb und schaust noch einmal leise bei deiner Schwester rein? Ich habe das Gefühl, dass Laura auch von anderer Seite ein wenig mehr Zuspruch gebrauchen könnte.«

Jana hielt sich am Türrahmen fest und betrachtete Katharina mit anderen Augen. Was war das nur für ein Mensch, der so viel Liebe und Zutrauen zu völlig fremden Menschen fand? Nachdenklich nickte sie und begab sich nach oben. Mit dem festen Willen, nach ihrer kleinen Schwester zu schauen und notfalls ihre Hand zu halten.

Plötzlich befanden sie sich allein in der großen Küche. Bis auf das Klappern des Geschirrs herrschte eine angespannte Stille.

»Und du, willst du nicht auch wieder hinaus zu den Jungs? Da sitzen zwei Männer, die es scheinbar gar nicht erwarten können, deine Aufmerksamkeit und Wohlwollen zu erringen.« Katharina versagte völlig darin, ihre Stimme beiläufig klingen zu lassen.

»Was habe ich denn nur getan?« Anna stampfte ärgerlich mit dem Fuß auf. »Den ganzen Abend über habe ich gespürt, dass du stinksauer auf mich bist. Ist es wegen Felix?«

Katharina nickte stumm, vermied dabei aber, die beste Freundin anzuschauen.

»Mein Gott, Kathi! Klar hat er etwas an sich, das die Frauenherzen höherschlagen lässt. Der Junge ist witzig und ja, er ist ein hinreißend guter Unterhalter.« Anna stutzte und fing herzhaft an zu lachen. »Jetzt sag mir nur nicht, dass du eifersüchtig bist! Hast du etwa Angst, ich würde deine Schwiegertochter werden wollen? Entschuldige bitte, Süße. Aber so langsam scheinst du echt die Bodenhaftung zu verlieren.«

»Das ist wohl so«, kam es recht kleinlaut. »Anna, ich gönne dir den liebsten Mann der Welt! Aber ich möchte nicht, dass sich Felix wegen dir seine Zukunft verbaut. Bitte, lass die Finger von dem Jungen!«

Was dachte Katharina bloß von ihr, fraß sich die Enttäuschung in Anna hinein. Sie sah ihre liebste Freundin an und spürte diese schmerzhafte Veränderung, die sich zwischen ihnen anbahnte. Ja, sie sehnte sich nach einem verständnisvollen Mann. Das war kein Geheimnis. Erst recht nicht für Katharina. Doch ihr jetzt und hier zu unterstellen, dass sie sich an das Kind heranmachen würde, um ein sorgloses Leben zu führen! Mit starrem Blick trocknete sie ihre Hände ab und verließ schweigend die Küche. Diese blöde, blöde Nuss, die!

»Anna, ich habe Sie schon vermisst.« Olaf klopfte munter auf ihr verwaistes Sitzmöbel und grinste dabei den Jungen auf der anderen Seite herausfordernd an. »Wir wollten doch noch einen kleinen Absacker zusammen trinken!«

Anna nahm zwar Platz, lehnte jedoch dankend ab. »Es ist schon spät. Außerdem muss jemand Katharina in der Küche helfen.« Diese Begründung schien für den angeheitert wirkenden Mann plausibel genug. Er wandte sich dem Gespräch der Männer zu und überließ sie ihrer Nachdenklichkeit.

Felix hatte lange mit sich gehadert. Zu sehr hatten Katharinas Worte seine neu gewonnene Selbstsicherheit zermürbt. Nun, eine halbe Flasche Weißwein später, war diese nicht wirklich gewachsen. Dennoch musste er jetzt etwas sagen. Möglichst geradeheraus sprechen, damit Anna nicht bemerkte, wie schwer seine Zunge war. »Anna, darf ich Ihnen dann wenigstens den Rest von diesem vorzüglichen Wein anbieten?« Die Erkenntnis war ziemlich ernüchternd, dass sie ihn erst jetzt zu bemerken schien.

»Sie wissen schon, was es heißt, wenn man einer Frau die „Wiege“ anbietet?«

»Äh … Nein? Das ist dann wohl wieder etwas, das ich hätte vermeiden sollen, oder?«

Da war es wieder, dieses schelmische Lächeln, das sie schon vom ersten Moment an so sehr verzaubert hatte. Anna atmete tief durch und versank in seinen Blicken, die gar nicht mehr vor jugendlicher Selbstsicherheit strotzten. »Das erzähle ich Ihnen ein andermal. Wenn es sich ergibt.« Sie prostete ihm zu, stürzte den Wein in einem Zug hinunter und erhob sich. »Doch jetzt braucht Kathi meine Hilfe.«

»Darf ich mitkommen und Ihnen helfen?«

»Nein!«

Das war deutlich! Felix sank auf den Gartenstuhl zurück und zwang sich dazu, am Gespräch der Männer teilzunehmen. Alte Kriegskamellen, wie sie die Pauker vorgeführt hatten und ähnlichen Schotter. Wie ätzend! Da konnte man lieber gleich aufs Zimmer gehen, abhängen und davon träumen, wie es geworden wäre, hätten Anna und er sich in einem anderen Universum kennengelernt. Ohne Drachen, ohne Orks und ohne ein nachtragendes Gewissen, das Katharina hieß.

Die kurze Auszeit hatte bei Weitem nicht genügt, um auch nur annähernd zu einer Lösung zu kommen. Anna fürchtete sich davor, Katharina allein gegenüberzutreten. Im Grunde ihres Herzens konnte sie die Befürchtungen ihrer besten Freundin verstehen; wenn sie auch völlig unberechtigt waren. Die Jahre mit Heinrich hatten aus der ehemals spontanen und abenteuerlustigen Frau, die Katharina einmal war, eine selbstbewusste und auf Prinzipien versessene Managerin gemacht. Nur dass diese Managerin ihr unvermutet um den Hals fiel, als sie in die Küche zurückkehrte.

»Es tut mir so leid, was ich zu dir und zu Felix gesagt habe«, entschuldigte sich Katharina. »Es steht mir wirklich nicht zu, euch Vorschriften zu machen. Bitte, es war nicht böse von mir gemeint.«

Nicht böse, aber es war so gemeint, ärgerte sich Anna trotzdem. Als wenn sie es bewusst darauf angelegt hätte, den Sohn des Hauses zu verführen. Sie schluckte ihren Kommentar herunter und entgegnete stattdessen: »Entschuldigung angenommen. Aber jetzt lass uns zusehen, dass wir hier Ordnung schaffen und ins Bett kommen. Ich darf doch bei dir schlafen, oder?« Sie war drauf und dran, dem drängenden Wunsch nachzugeben, ihre revanchistische Frage hinterherzuschieben, ob Michael Schuwart schon bei ihr wohnte.

»Aber nur, wenn du dich nicht wieder beschwerst, dass ich schnarche.«

»Nein, werde ich nicht. Obwohl, schwer atmen tust du wirklich.« Anna ergriff ein frisches Geschirrtuch und machte sich ans Werk. »Wo packen wir Holgi hin? Der sollte nämlich nicht mehr fahren.«

»Ist das denn mein Problem? Sein neuer Kumpel Michi hat ihn eingeladen. Da soll der sich doch um einen Schlafplatz kümmern«, flachste Katharina wie in alten Zeiten. »Aber wenn ich mir die drei so betrachte, werden die eh nicht ins Bett finden.«

Anna erwachte inmitten der Nacht aus dem unruhigen Schlaf. Es dauerte, ehe ihr bewusst wurde, wo sie sich befand. Vorsichtig richtete sie sich auf und betrachtete die tief und fest schlafende Freundin neben sich. Sogleich war der Gedanke an ihren unterschwelligen und völlig unnötigen Streit präsent – und ein heftiges Hungergefühl. Sie schob sich aus dem Bett und schlich auf Zehenspitzen in Katharinas Küche.

Im Kühlschrank herrschte gähnende Leere. Außer einigen Magerjoghurts und einem Diät-Schokoriegel gab es herzlich wenig, das einen nagenden Hunger stillte. Sie setzte die Flasche Mineralwasser an die Lippen und leerte sie in einem Zuge. Dabei gab es unten in der Küche alles, was ihr Herz begehrte. Gegrillter Schweinebauch, oh Gott! Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Sie selbst hatte die Scheiben im Kühlschrank untergebracht. Anna pfiff in diesem Moment auf ihre gertenschlanke Figur, schlüpfte in Kathis Hausschuhe und schlich sich aus der Wohnung und die Treppe hinunter. Überall herrschte Stille. Abgesehen von Holgis sattem Schnarchen, das vom anderen Ende des Flurs herkam. Beruhigend zu wissen, dass die Männer ihr Gelage beendet hatten. Es wäre echt peinlich, wenn sie einem von ihnen in ihrem mehr als aufreizenden Nachthemd über den Weg lief. Statt Kathis Pantoffel hätte sie eher ihren Morgenmantel überziehen sollen. Kurz überlegte sie umzukehren, doch der Hunger trieb sie voran. Quatsch, wer sollte außer ihr um drei Uhr nachts hier herumgeistern. Schnell etwas Deftiges naschen und dann wieder hoch. Anna riss die Tür zur Küche auf und stürmte in den Raum.

Erschrocken fuhr der Mann, der vor dem offenen Kühlschrank stand und die Milchtüte für einen beherzten Schluck an die Lippen gesetzt hatte, herum. Die Hälfte der weißen Flüssigkeit ergoss sich dabei über seinen Oberkörper. Leise fluchend und mit mäßigem Erfolg wischte er über sein feuchtes Shirt.

»Wer ist da? Jana, bist du das?« Felix blinzelte in die Dunkelheit hinein. Außer einem hellen Nachthemd konnte er von der Trägerin, die ebenso erschrocken sein musste wie er, nichts erkennen. »Herrgott, wie kannst du mich so erschrecken! «

Das weibliche Wesen setzte sich zögernd in Bewegung und trat in den äußeren Lichtschein hinein, den das Haushaltsgerät in seinem Rücken bot. »Ich bin’s, Anna.«

Felix hatte das Gefühl, dass sein Herz aussetzte. Sprachlos, die Milchtüte in der erhobenen Hand, starrte er das Wesen aus einer anderen Welt an. Nein, das war nur ein Traum. Das konnte doch nur einer sein.

»Ich wollte dich nicht erschrecken.« Ihr leises Lachen schien ihn aus seiner Erstarrung zu befreien. »Nun komm schon, so grässlich sehe ich nun auch nicht aus.« Erschrocken hielt sie sich die Hand vor dem Mund. Solch ein herausfordernder Spruch hätte nicht nötig getan. Anna, wann lernst du es endlich, erst nachzudenken und dann loszuplappern, schimpfte sie im Geiste mit sich. Okay, es war passiert und nicht mehr zu ändern. Angriff war in solch einem Fall immer die beste Verteidigung. Betont burschikos bahnte sie sich ihren Weg an dem perplex dastehenden Jungen vorbei. »Entschuldige, aber darf ich da auch mal ran?« Sie griff sich den Fleischteller, riss das Zellophan zur Seite und begann genussvoll an einer langen, schmalen Scheibe Bauchspeck zu knabbern.

»Oh Mann, es ist aufregend, mit anzusehen, wie ihr Frauen rangeht und euch eure fleischlichen Genüsse holt.« Felix kämpfte erfolgreich die Frage im Hinterkopf nieder, woher der wagemutige Draufgänger kam, der ihm so etwas eingab. Grinsend fügte er an: »Wenn wir Männer dabeistehen, dreht es sich sonst bei euch nur um Salat und Diäten.«

»Männer?« Sie lächelte ihn herausfordernd an und langte an ihm vorbei zur Rolle Haushaltspapier. Erneut stieß sie ihn dabei an und ein weiteres Mal misslang sein Versuch, einen Schluck Milch vernünftig zu sich zu nehmen. »Du siehst mir momentan eher aus wie Katerchen Mohrle, der in eine Schüssel voll Milch gefallen ist.« Sie tupfte ihm schmunzelnd mit dem Einwegtuch seinen weißen Bart ab. Wohl wissend, welche Verwirrung sie damit heraufbeschwor. Selbst ihre Stimme veränderte sich, wurde dunkler, vibrierend, verführerisch. »Dein ganzes Fell ist ja nass.«

»Mach weiter so und Mohrle zeigt dir, wie er freche Mäuse fängt.« Felix stellte die Milch ab und zerrte sich sein Shirt vom Leib. Mit heftig klopfendem Herzen blieb er vor ihr stehen und betete darum, nie wieder aus diesem Traum aufzuwachen. Rasendes Kopfkino. Er fühlte etwas an sich lebendig werden – sehr lebendig! Shit, das konnte jetzt echt peinlich werden.

»Sollen wir nicht erst einmal dein Fell trocknen?« Anna trat näher an ihn heran und legte sachte ihre Hand auf seine heftig schlagende Brust. Zu spät, sich zurückzuhalten. Egal was sie sich, was sie Kathi und so manchem Schutzengel geschworen hatte. Schietegal! »Und, was macht Mohrle mit frechen Mäusen, die ihm auf seinem Fell herumtoben?«

Felix hatte es längst aufgegeben, sich zu fragen, was hier geschah. Ihr Haar schimmerte golden im diffusen Licht des offenen Kühlschranks, der diesem Engel vor ihm seine eigene Aura verschaffte. Seine Hände legten sich selbstbewusst auf ihre Hüften und glitten zärtlich über den wie lebendig wirkenden Satin aufwärts. »Meine sanften Pfoten wiegen das Mäuslein in Sicherheit, indem sie sachte über dessen Fell streicheln.« Mittlerweile waren seine Finger an den dünnen Trägern ihres Nachtgewandes angelangt. Ein sanftes Anheben. Der fließende Stoff glitt an ihrem Körper hinab und ringelte sich zu ihren Füßen am Boden. »Dann beginne ich langsam, ihnen den Pelz …«

»Felix.«

»Ja?«

»Halt die Klappe.« Anna drängte sich ihm entgegen und ließ es geschehen, dass seine Hände ihren Körper erkundeten. Im Gegenteil, sie selbst wurde zur Forscherin. Von dem Gedanken beseelt, einen Körper zu entdecken, der vielleicht nie zuvor einer anderen Frau gehört hatte. Eine unendliche Erlösung überschwemmte sie, als sich Moral und Anstand fortstahlen, um der leidenschaftlichen Frau in ihr die alleinige Herrschaft zu überlassen.

Felix blendete sämtliche Für und Wider aus, die zusammenhanglos durch seinen Kopf brausten. Ihr sinnlich geöffneter Mund, Lippen die sich seinen näherten … Dieser Kuss, anfangs so zaghaft, dann immer fordernder. Bis ihm langsam bewusst wurde, dass er die treibende Kraft in diesem zärtlichen Ringen und Forschen ihrer Zungen war. Auch er stand mittlerweile nackt vor ihr und spürte ihre langen Nägel auf seiner heißen Haut. Finger, die sehr wohl wussten, wo sie was fanden und was man damit anstellte. »Anna … wenn du da jetzt weiter …«, flüsterte er heiser und sehnte sich doch im gleichen Moment danach, dass sie nie mehr damit aufhören möge.

»Was dann?« Sie lachte, rau, herausfordernd und glitt schlangengleich an ihm herab, dabei brennend heiße Küsse auf seiner Haut hinterlassend. »Keine Angst, ich mach schon nichts kaputt.«

Zärtlich umschlossen ihre Lippen das Zentrum seiner Lust und entwickelten in kürzester Zeit einen Aufruhr in ihm, der den letzten Gedanken an Zurückhaltung verdampfen ließ. Sie schien es selbst zu spüren, doch statt erschrocken zurückzuweichen, intensivierte sie ihre Zärtlichkeiten. Ihre Zähne bissen sanft zu und trieben ihn zu seinem ersten Höhepunkt. Zitternd ließ er es geschehen und gab seinem Körper sämtliche Zügel frei. Irgendwann sank er erschöpft neben ihr zu Boden. Unfähig, seine Gefühle in Worte zu kleiden. Sie lächelte. Erlöst? Glücklich? »Anna …«

»Nein, psst.« Ihre Finger legten sich auf seine Lippen. Mit sanfter Gewalt zwang sie ihn auf den Rücken.

Die kühlen Steinfliesen drohten ihn aus seinen Träumen zu reißen. Doch schon spürte er ihre Nähe. Ihren heißen Körper, der sich eng an ihn schmiegte, so als wolle er mit seinem verschmelzen. Die sanften Bewegungen ihres Unterleibs erweckten erneut seine Triebe. Dabei war er sich bis eben sicher gewesen, dass es Tage dauern würde, bevor sich der kleine Felix von ihrem Überfall erholte. Der Humor verging ihm schlagartig, als ihm etwas bewusst wurde, das alles zerstören konnte. »Anna, ich … wir müssen aufpassen.«

»Das ist lieb von dir, dass du daran denkst.« Das Weiße in ihren Augen funkelte geheimnisvoll. »Aber sei unbesorgt, ich werde nicht schwanger.«

Für einen kurzen Moment spürte er, wie sie auf einer Welle von Trauer getragen wurde. Doch diese irritierende Feststellung verging bei den Eindrücken, die erneut auf den jungen Mann einstürzten. Sie glitt über ihn, richtete sich auf und ergriff seine längst zur vollen Größe angewachsene Männlichkeit. Für einen Atemzug lang war ihm, als zerreiße ein ungewohnter Schmerz seinen Unterleib. Auch Anna schien es deutlich wahrzunehmen, da sie sogleich ihre sanften Bewegungen einstellte und sich zu ihm herabbeugte, um ihn mit zärtlichen Küssen zu trösten. Vorsichtig richtete sie sich erneut auf, spuckte in ihre Hand und führte sie nach unten. Schlagartig wurde es besser, entspannter. Schon bald wurde er mutiger, als sie sich, seiner Meinung nach, zu sachte bewegte. Sein Felix wollte endlich mehr. Anna stöhnte leise und richtete sich dabei so heftig auf, dass er es mit der Angst bekam, sie würde hintenüberfallen.

»Schatz, diese harten Fliesen. Meine Knie … So geht es einfach nicht.« Annas Stimme zitterte vor Enttäuschung, als sie ihn mit dem Druck ihrer Schenkel zwang einzuhalten. »Ich werde wohl doch zu alt.«

»Das will ich nie wieder von dir hören«, flüsterte er leise, aber unmissverständlich. »Komm, halte dich an mir fest.«

Felix, sonst aktiv bekennender Sportmuffel, wuchs über sich heraus. Während seine Linke ihre Hüfte und Gesäß stützte, zog er sich mit der Rechten am Handlauf des Küchenblocks hoch. Wie, das würde er sich später selbst nicht erklären können, aber es gelang ihm. Anna schwang mit ihm hoch, ohne dass sie ihren intensiven Körperkontakt verloren.

Rittlings saß sie auf der Arbeitsplatte und hatte diesen schlagartig so gar nicht mehr blutjungen Mann vor sich stehen. Dieser Kerl wusste sehr wohl, was er wollte. Zumal er sich nicht mit langen Vorreden aufhielt. Liebevoll zwang er ihren Oberkörper nach hinten und übernahm die aktive Rolle, in der sie ihn nur unterstützen, dafür umso mehr genießen konnte. Und Anna genoss es wahrlich, zumal sie sich nicht daran erinnerte, jemals solch intensive Gefühle erlebt zu haben. Die Gewissheit, sich ohne Zwang gehen zu lassen, abzuschalten und allein dafür zu leben, dass sich ihre beiden Körper im Einklang befanden. Ein nie gekannter, nicht enden wollender Höhepunkt durchströmte sie im selben Moment, als auch Felix in ihr zur Erfüllung kam.

»Anna, was ist mit dir?« Besorgt beugte sich Felix über sie und strich ihr sanft die Tränen aus den Augenwinkeln. Er schluckte schwer und malte sich das Schlimmste aus.

»Nichts mein Liebling.« Anna schlang ihre Arme um ihn und zog ihn zu sich herunter, um sein Gesicht mit vielen kleinen Küssen zu übersäen. »Nichts, es war einfach nur so ungewöhnlich schön. Wie konntest du nur gleichzeitig so einfühlsam sein und mir doch dabei das Gefühl geben, als wäre ich die Erste für dich?«

»Schatz, du bist die Erste. Und wenn ich mir eines für mein Leben wünschen darf, dann bist du auch die Letzte. Anna, ich liebe dich!«

»Psst«, erneut legte sie ihm ihre Finger auf die Lippen. »Rede nicht davon. Und erzähl mir nicht, dass du bis eben Jungmann warst. Das, was du hier mit mir anstellst, habe ich noch nie so galaktisch erlebt.«

Felix lächelte jungenhaft über das Lob und wagte einen Scherz, der hoffentlich nicht falsch ankam. »Und da streiten die Erwachsenen immer über den pädagogischen Wert von Pornofilmen. Nein, wirklich, du bist meine erste Frau. Und ich bin so unendlich glücklich, dass …« Er beließ es dabei und bewies ihr durch einen langen intensiven Kuss, was Worte nicht ausdrücken konnten.

Anna gelang es ein weiteres Mal, ihr aufbrandendes Gewissen mit der Gier nach mehr zu betäuben. Das, was sich langsam erneut gegen ihren Unterleib drückte, war ein Versprechen, das sie nicht ablehnen konnte. Sie bedeutete ihm, sich von ihr zu erheben, damit sie von der mittlerweile unbequemen Arbeitsplatte herunterkam. »Bist du überhaupt noch bei Kräften, mein Geliebter?«

»Und wenn es das Letzte ist, was ich zustande bringe.« Er lachte leise und umfing ihre Hüften. Selbstbewusst drehte er sie herum und drückte ihren folgsamen Oberkörper sachte gen Tischplatte. »Es gibt so vieles, das ich unbedingt mit dir zusammen lernen will.«

»He, das macht man aber nicht mit einer Dame«, quittierte sie stöhnend und drängte sich seinem Unterleib entgegen.

»Ich werde es mir merken. Allein, die dornenlosen Rosen, auf denen ich dich betten möchte, sind noch nicht aufgeblüht.«

»Oh, was habe ich mir für einen Romantiker angelacht.« Ihre säuselnde Stimme schlug in ein unersättliches Fauchen um. »Und jetzt hör auf und nimm mich endlich!«

Selbst hier in der windgeschützten Ecke der Terrasse war es empfindlich kühl. Aber für nichts auf der Welt hätten sie auf diesen Moment der Stille und der besonderen Innigkeit verzichtet.

Schweigend verfolgten sie den langsamen Sonnenaufgang. Eine kurze Frist, ehe sie auf ihre Zimmer schleichen mussten, damit niemand bemerkte, was in dieser Nacht geschehen war.

Felix stand hinter „seiner“ Frau und hielt sie eng umschlungen an sich gepresst. Seine Hände lagen schützend auf ihrem Unterleib. Ihre bedeutend schmaleren Hände ruhten auf den seinen. Nur ab und an strichen sie über seine Handrücken. So, als wollten sie sich davon überzeugen, dass er da war.

Doch mit den ersten Sonnenstrahlen kam der Augenblick, in dem jeder von ihnen begann, sich Gedanken zu machen. Über sich selbst, den anderen und eine unendlich vage Zukunft.

»Was haben wir nur getan?« Ihr Flüstern verwob sich mit der zarten Dämmerung. »Und doch möchte ich keine Sekunde davon missen.«

Es klang so unendlich verloren, spürte Felix ihren Worten nach. So leise sie auch an sein Ohr drangen, so legte sich die Last ihrer Bedeutung bleischwer auf seine Brust. Er räusperte sich und sprach mit einer dunklen Stimme, deren Resonanz sie selbst durch und durch spüren musste. »Und doch scheinst du zu bereuen, was geschehen ist. Oder ist es nur wegen Kathi?«

»Auch.« Mit einer unheilvollen Vorahnung von dem, was kam, kuschelte sie sich umso enger in seine Umarmung hinein. »Du weißt selbst, dass ihre Sorgen berechtigt sind. Ich darf dir deine Zukunft nicht durcheinanderbringen.«

»Wie meinst du mit durcheinanderbringen?« Ihr Schweigen bestätigte Felixʼ aufbrandende Panik darin, dass jedes weitere Wort zwischen ihnen bereits jetzt ein Kampf um seinen neugeborenen Traum war. »Ich habe in der Tat meine festen Pläne. Ja, aber die sind nicht so eng gestrickt, dass eine betörende Frau wie du nicht ihren Platz darin findet.«

»Du bist ein Träumer.« Ein trockener Lacher entrang sich ihrer Brust – verloren und mutlos. Sie ergriff sein Handgelenk und führte seine halbgeschlossene Faust an ihre Lippen. »Das ist es, das dich so liebenswert macht. In einer Woche wirst du wieder in Stuttgart sein. Du wirst deinen Weg gehen; davon bin ich fest überzeugt. Du wirst dein Abi erfolgreich hinter dich bringen, studieren und schließlich eine Frau kennenlernen, die zu dir passt. Das musst du mir versprechen, hörst du?«

»Anna, was fantasierst du dir da zusammen?« Er spürte die feuchten Spuren auf seinem Handrücken, die wohl kaum von ihren bebenden Küssen kamen. Es klang so unumstößlich. Dabei hatte sie doch keinen anderen. Sie war frei, er war frei … zumindest dachte er es. Sie hatten noch nicht einmal versucht darüber zu sprechen, sich eine Partnerschaft auszumalen. Und nun tat sie so gleichgültig … So endgültig. Wollte sie das, was sie eine halbe Nacht lang miteinander geteilt hatten, einfach so ad acta legen? Am meisten traf ihn jedoch ihr fortwährendes Schweigen. »Ja, ich werde nach Stuttgart fahren! Aber nur um meine Sachen zu packen und nach Hamburg zu ziehen. Und was die Frau betrifft, die zu mir passt …«

»Nein, Felix«, unterbrach sie ihn heftig, »Die bin ich nicht und die werde ich nie sein! Ich bin nicht einmal neunundzwanzig. Selbst darin habe ich dich angeschwindelt. Ja, ich könnte sogar deine Mutter sein.«

»Ich bin auch keine neunzehn, jedenfalls noch nicht.« Sein Einwurf klang nicht ansatzweise nach der Leichtigkeit, die er selbst suchte. »Du siehst, wir sind quitt.«

»Das ist nur das Eine. Es gibt so vieles mehr an mir, das du nicht weißt und mit dem du nicht klarkommen würdest. Ich habe meine eigenen Wünsche und Ziele. Und darin kommt ganz bestimmt kein junger Mann vor, der mich als Mutterersatz braucht.«

Er wurde ernst. »Fehlt nur, dass du mir gleich sagst, du hättest einzig und allein mit mir geschlafen, weil ich eh bald verschwinde und nicht zurückkehre.«

»Wäre es so verwunderlich?« Die Heftigkeit ihrer Entgegnung erschreckte Anna zutiefst. »Ja, das ist die wahre Johanna Neuhaus. Das lustige Leben auf der Überholspur genießen und bloß keine Verpflichtungen eingehen.« Sie schloss die Augen und verdammte die stummen Tränen, die in ihr aufstiegen. »Sieh es ein! Uns beide verbindet, außer tollem Sex, überhaupt nichts. Darum sollten wir es dabei belassen.«

Die Augenblicke zogen sich in die Länge, ehe Felix sich so weit im Griff hatte, um ihr eine halbwegs emotionsfreie Antwort zu geben. »Wären das auch die Worte, die ich von einer Prostituierten zu hören bekäme?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739444949
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (März)
Schlagworte
Liebesroman Millionär Adult-Romance Geheimnis Patchworkfamilie Beziehungskonflikt Gefühlvoll Transgender Hamburg Starke-Frauen

Autor

  • Katharina Mohini (Autor:in)

Katharina Mohini, Jahrgang 1961, lebt mit ihrer Ehefrau in im südlichen Schleswig-Holstein. „Wandlungen – Das Geheimnis besonderer Frauen“ ist bereits ihr dritter Roman, den sie im Genre: Adult-Romance veröffentlicht. Bücher, die die Thematik „Starke Frauen in außergewöhnlichen Lebenssituationen und der ewige Kampf mit den großen Gefühlen“ behandeln. Dabei würzt sie ihre Geschichten stets mit einer kräftigen Prise Hochspannung und Humor.
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Titel: Wandlungen - Das Geheimnis besonderer Frauen