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Unlösbar

Ein Thriller von Jem Saylor

von Jem Saylor (Autor:in)
390 Seiten

Zusammenfassung

Als Consultant mit exzellenten Fähigkeiten wird Elias in das vom Krieg zerrüttete Bosnien entsandt, um eine Risikobewertung bei einer der Banken des Landes vorzunehmen. Seine Dienstreise stellt sich als purer Alptraum heraus. Er überlegt sogar, die Reise abzubrechen, doch dann lernt er Tamara kennen. Es beginnt eine Odyssee durch ganz Bosnien und gleichzeitig durch seine eigene Gefühlswelt. Schmerz, Trauer, Glücksgefühle und ekstatische Momente wechseln sich im schwindelerregenden Tempo ab und lassen ihn verzweifeln. Wird er seinen Auftrag erfüllen? Kann er der Versuchung widerstehen, einen Pakt mit einer teuflischen Organisation einzugehen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis









UNLÖSBAR

- Thriller -






Jem Saylor










www.jemsaylor.com

















1. Auflage, Feb. 2021

Copyright © 2021 by Jem Saylor

All rights reserved.


Verlag: Jem Saylor Publishing, Hauptstraße 134, 51143 Köln

Cover-Design: Nicole Graf

Cover und alle Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich

geschützt. Eine Reproduktion, egal welcher Form, ist ohne

Schriftliche Erlaubnis der Rechteinhaber nicht gestattet.


ISBN: 9783752132847




Für meine Mutter.









Prolog



1993


DIE Sonne erhob sich über dem gepflasterten Platz und durchflutete mit ihrem warmweißen Licht die verschlungenen Gassen im Herzen der Altstadt. Der graue Stein im Boden wärmte sich dadurch auf und entflammte Geschäftigkeit in den Köpfen der Menschen. Händler stellten Warentische vor ihren Läden auf und bestückten diese mit Essbarem, hier und da auch mit Kleidungsstücken. Zu den Pastellfarben des Mauerwerks und dem Rotbraun der Dächer gesellten sich auf diese Art unzählige weitere Töne und verwandelten die Altstadt allmählich in ein Meer aus Farben. In Lumpen gekleidete Schuhputzjungen platzierten sich am Kopf einiger Gassen und sortierten Töpfchen mit bunter Creme sowie Bürsten aus ihren Kästen, um für den großen Andrang gerüstet zu sein. Der Wind verteilte den süßlichen Duft von frisch gebackenen Teigwaren über den großen Platz mit dem jahrhundertealten Brunnen in der Mitte, liebkoste die Nasen der Anwesenden und ließ ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen. Einige fliegende Händler schoben ihre scheppernden Karren auf die leere steinerne Fläche, sie suchten nach einer geeigneten Stelle, um größtmögliche Einnahmen zu erzielen.

Es war ein vielversprechender und schöner Sommertag, wie er schon lange nicht da war. Der Kontrast zwischen dem tiefen Blau des Himmels und dem hellen Braun des Holzes ließ den historischen Brunnen in neuem Glanz erscheinen. Eine alte Frau zapfte sich aus einem der Hähne an den Seiten lebenspendendes Wasser in ihren Eimer.

Das Pflaster, die Brise Luft darüber, das Wasser aus dem Brunnen und die Strahlen der Sonne hatten sich in einer harmonischen Mischung zu einem idyllischen Bild zusammengefügt, wie es sonst nur im fernen Orient zu sehen war. Allein die Aasgeier, die routiniert über dem alten Holzbrunnen kreisten, störten das ausgewogene Verhältnis der Elemente. Es schien so, als ob sie auf etwas warteten, als wären sie Teil einer Verschwörung gegen die Urkräfte.

Nach und nach füllten sich die engen Gassen und das heitere Gewusel an Menschen presste sich durch sie, während es gleichzeitig die Warentische leerkaufte und anschließend den Platz um den alten Holzbrunnen bevölkerte. Von Jung bis Alt war alles dabei. Die Stimmung war gut, denn die Menschen hatten lange in ihren Häusern ausharren müssen, bis endlich das Donnern aus den Bergen aufhörte. Sie genossen die Kombination aus wärmenden Sonnenstrahlen und der kühlenden Brise im Gesicht, unterhielten sich angeregt mit ihren Nachbarn und hielten dabei ihre Kinder in den Armen, denn solch eine Gelegenheit zu einem Plausch hatten sie in letzter Zeit selten gehabt.

Das Gerücht, dass ein geheimer Informant gefasst wurde, hatte sich in der Stadt wie ein Lauffeuer verbreitet. Überhaupt spielten gezielt gestreute Geschichten in diesen Zeiten der Unsicherheit oft eine gewichtige Rolle, dienten gar als Treibstoff für die Seele. Sie alle wollten dabei sein, denn sie konnten es kaum erwarten, endlich dem Zuträger in die Augen zu schauen und Genugtuung zu verspüren. Genugtuung für die eigenen Verluste. Beinahe alle Familien hatten Angehörige verloren, daher war die Stimmung in der Stadt seit Wochen schon aufgeheizt. Jetzt aber mussten die anderen Tribut zahlen. Jetzt war einer von den Feinden gestellt worden. Trauer und Wut, so gegensätzlich wie diese Worte sind, sie gehörten hier zusammen und bestimmten den Alltag der Bewohner. Es musste Dampf abgelassen werden und hier bot sich eine langersehnte Gelegenheit.

Bald gesellten sich schwer bewaffnete Milizionäre zu dem Gemenge und stellten sich im Bereich unmittelbar um den Brunnen auf. Sie sorgten mit ihren Aufforderungen dafür, dass die Menschentraube eine freie Passage zu den umlaufenden Stufen bildete. Kurze Zeit später fuhr ein Militärtransporter vor, aus dessen Ladefläche unter der olivgrünen Plane Bewaffnete einen Mann herauszerrten. Die Hände des Mannes waren an das Ende einer schweren Eisenkette gefesselt. Die Hosenbeine ungleichmäßig abgerissen, sein T-Shirt stellenweise blutgetränkt, seine braunen Haare verfilzt und mit einem öligen Film überzogen. Ganz klar, dieser Mann hatte gelitten. Seine Seele war gebrochen und er verharrte still. Die aufgedunsenen Augenränder und Platzwunden an den Wangen sowie die blutunterlaufenen Striemen an den Waden verrieten stundenlange Folter. Der kräftig gebaute Kommandeur mit untersetztem Oberkörper zog den Mann auf den wackeligen Beinen bis auf die oberste Stufe des Brunnens. Seine Milizionäre hielten ihn fest, damit er nicht stolperte. Die Menschenmenge klatsche dabei und rief immer wieder im Chor:

»Tod den Schnüfflern. Tod den Schnüfflern.«

Ob der geschundene Mensch vor ihnen schuldig war oder nicht, diese Frage stellte sich erst gar nicht, denn die Quelle der Gerüchte war glaubwürdig, bestimmte sie doch über das Leben in der Stadt. Keiner hätte es gewagt, dem Kommandeur zu widersprechen. Die Möglichkeit, schon bald sich selbst auf dem steinernen Podest des Brunnens wiederzufinden, war nicht weit hergeholt.

Der Anführer hob den Kopf und setzte an, um etwas zu sagen, doch er wurde von dem hysterischen Geschrei einer Frau unterbrochen, die sich zusammen mit ihrem Kind durch den Pulk nach vorne gekämpft hatte. Es handelte sich um die Frau und den kleinen Sohn des gefassten Mannes. Sie bettelte um sein Leben und wollte zu ihrem Mann gelassen werden. Die Milizionäre hinderten sie aber daran, zu ihm auf die Treppe zu gelangen.

»Nein, bitte tun Sie ihm nichts!«, kreischte die Ehefrau ganz außer sich. »Ich gebe Ihnen alles was ich habe!«

Sie nahm ein Dutzend goldene Armreife aus ihrer Tasche und warf sie dem untersetzten Mann vor die Füße.

Der uniformierte Mann aber reagierte beleidigt. »Das, was ich will, kannst du mir nicht geben, Weib. Dein Mann hatte seine Chance.«

»Dann nehmt mich! Ich tue alles, was Sie wollen. Aber bitte lasst meinen Mann gehen. Bitte … bitte …«, flehte die Frau.

Der Kommandeur lachte sarkastisch. »Glaubst du, du kannst mich mit deinen Titten kaufen?«

Er wirkte nun gereizt und zückte ein langes Messer aus der Lederscheide an seinem Gürtel. Seine Männer verzogen keine Miene und ließen achtsam ihre Augen über die Menge schweifen, um auf jede mögliche Art von Störung vorbereitet zu sein. Auch die Aasgeier spürten instinktiv, dass sich die Vorstellung unter ihnen dem Ende näherte. Sie flogen nun deutlich tiefer und umkreisten die türkisfarbene Kuppel des Holzbrunnens in engen Bahnen.

»Ich … ich flehe Sie an«, stotterte die Ehefrau.

Ihre Stimme hatte sich nun durch Überanstrengung ihrer Stimmbänder zu einem Kratzen in den Ohren der Zuhörer verwandelt. Manche fühlten sich dadurch belästigt, andere aßen ungerührt das Stück Gebäck in der Hand oder scherzten zum Teil auch über das unnütze Betteln. Einige wenige nahmen die Gelegenheit wahr und ließen ihre Schuhe durch die Schuhputzjungen polieren. Sie waren einfach nur froh, den eigenen vier Wänden entkommen zu sein und genossen den Aufenthalt im Freien.

Jetzt konnte auch der kleine Junge neben der weinenden Frau seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Er umklammerte schutzsuchend seine Mutter.

»Mama, Mama«, hörte man ihn leise schluchzen.

Der Kommandeur sagte etwas in Richtung des Gefesselten, man konnte nicht hören was er sprach, aber es musste eine letzte Frage gewesen sein. Jetzt erst begriff der Gefangene seine ausweglose Situation. Er versuchte krampfhaft seine Tränen zu unterdrücken, und machte dennoch eine abweisende Bewegung mit dem Kopf. Dann richtete er den Blick nach oben in den Himmel, als suche er dort Beistand. Damit erzürnte er den Mann mit dem Messer umso mehr.

Dieser hob die zornige Stimme und sprach laut zu seinem tosenden Publikum.

»Viele von euch mussten bluten, haben Familienangehörige und Freunde verloren. Dieser Mann ist uns in den Rücken gefallen. Er ist ein Verräter.«

Das unaufhörliche Winseln der Frau und ihres Sohns war vergeblich. Die Forderung der Menge wurde nun lauter. »Tötet ihn! Tötet den Verräter!«

Daraufhin setzte der Kommandeur dem Mann mit dem Blick gen Himmel die Klinge an den Hals und schlitzte ihm mit einem Ruck die Halsschlagader auf. Das Blut des Beschuldigten spritzte unkontrolliert aus seiner Kehle, floss die Treppenstufen hinunter und sammelte sich in einer roten Pfütze am Fuße des Brunnens. Die Atmung des Mannes verlangsamte sich nach und nach, sein Gesicht wurde zunehmend blasser, die Augen verdrehten sich und fokussierten dann ein letztes mal das klatschende Publikum, bevor sein Blick leer wurde. Mit jedem Blutstoß verließ ein Teil seiner Lebendigkeit den Körper, bis er, nachdem er komplett ausgeblutet war, in sich zusammensackte, die Stufen hinunter rollte und am Ende leblos in seiner eigenen Blutlache lag.

Schon länger wurde gemunkelt, dass Spitzel aus den eigenen Reihen mit dem Feind kooperierten und ihm Angaben zu wichtigen Zielen verrieten. Nur so konnten die hohen Verluste durch Artilleriebeschuss in den letzten Tagen erklärt werden. Viele atmeten daher auf, weil endlich einer jener Zuträger unschädlich gemacht worden sei. Sie waren gar in Feierstimmung und fielen sich dabei in die Arme. Der Jubel der Menschen kannte schier keine Grenzen und hielt beinahe eine Stunde an, bis sich die Versammlung irgendwann auflöste und sich außer der Witwe mit ihrem Sohn und dem Leichnam niemand mehr auf dem Platz befand. Traumatisiert und verzweifelt wälzte sich die Witwe stundenlang vor dem toten Körper hin und her, als glaubte sie, ihn damit wieder zum Leben erwecken zu können. Niemand spendete Trost, als sie der Menge hinterher schrie:

»Ihr habt den letzten Hauch von Menschlichkeit in dieser Stadt getötet!«

Die Geier nutzten derweil ihre Chance und machten sich über den Toten her. Auch wenn die Witwe mit ihren Armen abwehrend um sich schlug, die hartnäckigen Aasgeier ließen sich davon nicht abhalten, Stücke aus dem leblosen Körper zu reißen, bis sie ihr Verlangen nach Nahrung gestillt hatten. Schließlich nahm sich die Natur nur zurück, was ihr gehörte.









1

Ankunft


Februar, 1997


SCHARFE Sonnenstrahlen kratzten an meinen Augen und verbreiteten eine unangenehme Hitze in meinem Kopf. Ich konnte sie daher nicht mehr geschlossen halten und öffnete sie. Die Wucht der Sonnenstrahlen blendete sehr und ich fühlte mich für einen Moment in eine Leere hineingestoßen, die sich als eine Fülle der Verwirrung in der vollkommenen Dunkelheit enthüllte, welche vom Licht der Sterne durchbrochen wurde. In dieser von allen Seiten durchstoßenen Leere kam ich mir vor wie ein winziges Atom, das unwillkürlich durch das Universum schwebt und von der Gravitation einiger Möglichkeiten angezogen wird.

Die Rollläden waren doch komplett runtergezogen, dachte ich. Durch sie konnte kein Licht eindringen. Ich schaute genauer hin. Es war vielmehr so, als ob die Sonne durch winzige chaotisch angeordnete Löcher an den Wänden durchschien. Wachsendes Unbehagen befiel mich. Sofort drehte ich mich um, aber Natalie lag nicht neben mir. Verwundert darüber stieg ich aus dem Bett und wollte die Rollläden aufziehen, doch es waren keine da. Stattdessen hatten die Fenster hölzerne Läden an der Außenseite. Ich öffnete sie. Draußen hatte ein sonniger Tag begonnen. Der Raum wurde nun komplett mit Tageslicht durchflutet. Nach genauerem Hinsehen bemerkte ich, dass die Löcher an den Wänden in Wirklichkeit von Kugeln aus Maschinengewehren stammten. Dem Augenblick der Konfusion - ich hatte zunächst gedacht, ich wäre noch im eigenen Schlafzimmer - folgte dann schlagartig die Erinnerung daran, dass ich mich nach meiner Ankunft aus New York, so gegen Mitternacht, in einem Hotelzimmer in Sarajevo schlafengelegt hatte.

Es war bereits kurz vor acht und ich musste mich beeilen, da ein Termin bei der CBB, der Commercial Bank Bosnia, einer der mächtigsten Banken des Landes, anstand. Ich war um neun Uhr mit dem General Manager der Bank, Herrn Peter Lemming, verabredet. Wie immer bei UN-Friedensmissionen waren auch in Bosnien unmittelbar nach dem Krieg die Banker ins Land geschickt worden.

»Erst kommen die Bomber und dann die Banker, um den Wiederaufbau zu finanzieren«, hatte einst mein Arbeitgeber, der Boss, auf der Pressekonferenz taktlos gescherzt, als er unmittelbar nach dem Krieg mit Hilfe seiner Foundation und neun anderen, meist staatlichen Organisationen, die CBB gründete.

Als größter Anteilseigner hielt seine Foundation zwar mehr als ein Drittel aller Aktien der CBB in der Hand, dennoch übten von Zeit zu Zeit die anderen Aktionäre durch Kooperation untereinander enormen Druck auf ihn aus. Insbesondere Karrie Humphrys, die in der Regel als Sprachrohr seiner Widersacher im Aufsichtsrat der Bank diente und Vertreterin des zweitgrößten Aktionärs war, sorgte für Stunk. Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie meinen Boss, den Vorsitzenden, am liebsten entmachten würde. Ein Dorn im Auge meines Arbeitgebers, damit waren häufige Reibereien vorprogrammiert. Hinzu kam der gesteigerte Wunsch von Seiten der Politik, den Menschen in Bosnien mit Geld zu helfen. Nach hitzigen Diskussionen einigte man sich schließlich im Aufsichtsrat der CBB darauf, durch ein Hauskrediteprogramm einen Beitrag zum Wiederaufbau Bosniens zu leisten. Waren doch durch den erbitterten Krieg zwischen den einzelnen Ethnien unzählige Häuser zerstört worden und viele Familien obdachlos geworden. Dazu brauchte die CBB aber weitere Finanzmittel, die ihr im Zuge einer Kapitalerhöhung zur Verfügung gestellt werden sollten. Jedoch waren die Mittel der Foundation bereits ausgeschöpft und mein Boss damit in Bedrängnis geraten. Ihm fehlte schlicht das Geld für eine zusätzliche Einlage. Insgeheim wollte der Boss unter allen Umständen verhindern, dass sich das Stimmenverhältnis im Aufsichtsrat zum Nachteil seiner Foundation veränderte. Daher hatte er nur widerwillig zugestimmt, konnte aber gerade noch durchsetzen, dass zunächst eine Risikoanalyse von einem seiner Experten vorgenommen wird. Nur bei einem positiven Ergebnis sollte dann die Kapitalerhöhung tatsächlich erfolgen und der Plan realisiert werden. Damit war Karrie Humphrys nur einverstanden, wenn ich die Analyse vornehmen würde.

Im Gegensatz zu Natalie, die oft meine nüchterne Art kritisierte - ich habe das Controller-Gen bereits als Baby eingeimpft bekommen - schätzte sie mein Wissen über die Bewertung von Risiken. Wir kannten uns bereits aus anderen Projekten. Überdies passte es, dass ich wegen meiner mazedonischen Wurzeln die vorherrschende Sprache einigermaßen beherrschte. So wurde mir als Consultant - und nicht als Controller, darauf legte ich Wert, denn ich musste Natalie immer wieder korrigieren - aufgetragen, die Risikoanalyse durchzuführen und dem Aufsichtsrat der CBB einen entsprechenden Bericht vorzulegen. Ich erfuhr erst am Donnerstag gegen Feierabend vom Boss persönlich von der Entsendung und sollte bereits am Montag in Sarajevo meine Analyse beginnen. Vorgesehen waren dafür vier bis fünf Wochen.

Natalie war über meinen Auftrag und der damit entfallenden Fahrradtour nicht besonders erfreut. Wir waren beide begeisterte Mountainbiker und unternahmen immer, wenn unsere Jobs es erlaubten, ganztägige Touren. Das war mittlerweile selten der Fall. Schon seit drei Monaten hatten wir kein Wochenende mehr gemeinsam verbracht. Wir waren beide beruflich sehr eingespannt und schoben eine Überstunde nach der anderen. Abfeiern der angesammelten Überstunden war uns nahezu unmöglich. Endlich war es soweit, wir hatten das Wochenende für die gemeinsame Radtour freigehalten, hatten gar mehrere Stunden lang zusammen mit Tim, meinem besten Freund, den Trip geplant. Eine abwechslungsreiche aber auch zackige Tour mit mindestens achthundert Höhenmetern sollte es werden.

Doch Natalie war nicht die Person, die in einer derartigen Situation schlicht eine Szene machte. Nein, ganz und gar nicht. Sie stand einfach da und schwieg. Lediglich ihre Wangen bekamen eine leicht rötliche Farbe und es liefen ihr Tränen an den Augenrändern herunter. Ein stiller Protest, der jedoch eine umso größere Wirkung hatte und eine Wunde in mein Herz brannte.

Sie will nur mein Mitgefühl erzwingen. Das ist unfair. Ich bin nicht schwach … Die Art und Weise, wie sie protestierte, hätte bei jedem anderen Mann die gleiche Wirkung erzielt.

Traurig und ebenfalls mit feuchten Augen verabschiedete ich mich von Natalie, die wie eine regungslose Figur aus Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett an der Tür unseres Schlafzimmers gestanden hatte.


Bosnien hatte einen erbitterten Krieg hinter sich gelassen und war als Folge des Daytoner Abkommens 1995 in die Entitäten Bosnisch-Kroatische Föderation und die Republika Srpska unterteilt worden. Über die Region Brčko District im Norden sollte später entschieden werden. Daher wurde dieser Teil direkt von dem Office of High Representative, einer von der UN eingerichteten Institution, geleitet, die auch die beiden Entitäten in letzter Instanz kontrollierte. Von einem souveränen Staat konnte man also nicht sprechen.

Ich hatte gerade die Hose übergestreift, die Haare zurecht gekämmt und meinen Henriquatre getrimmt, als die Besitzerin des kleinen Hotels - eine Dame in hohem Alter - an meiner Tür klopfte.

»Das Frühstück ist fertig«, sagte sie, als ich die Tür öffnete. Dann flüsterte sie in mein Ohr: »Oh, soll ich Ihnen mal was sagen?«

»Nur zu.«

»Meine Enkeltochter schwärmt ja so von Ihnen. Sie hat mir gesagt, Sie würden so aussehen wie Andy García in ›Der Pate‹. Nur die blauen Augen und der Bart wären anders. Und ich muss sagen, sie hat verdammt nochmal Recht.«

Ihre sehr gesprächige Enkeltochter hatte mir nachts, als ich ankam, den Zimmerschlüssel ausgehändigt. Obwohl ich todmüde war und eigentlich nur schlafen wollte, verwickelte sie mich dabei in ein Gespräch. Neben dem im letzten Herbst erst begonnenen Studium an der Universität zu Sarajevo jobbte sie bei ihrer Großmutter als Rezeptionistin, wohl auch weil die Greisin ohne diese Hilfe aufgeschmissen wäre.

»Sie schmeicheln mir, aber ein bisschen Individualität wollte ich schon wahren. Und außerdem, ein Mafioso bin ich nicht.«

»Das will ich hoffen, mein Lieber.« Sie legte eine Hand an meine Wange und zog seichte an meinem Bart.

Just in diesem Augenblick läutete die Klingel unten an der Rezeption. Sie war noch oben in meinem Zimmer deutlich zu hören. Somit erledigte sich das mit dem Frühstück.

Es war Davut, der drahtige Fahrer der CBB, der unten wartete. Sein eigentlicher Name war David und seine Eltern waren aschkenasische Juden, die aus Prag eingewandert waren. Davut war acht Jahre alt, als er nach Sarajevo kam. Die Behörden hatten damals bei der Einreise nach Jugoslawien, als Folge eines unabsichtlichen oder auch absichtlichen Fehlers, Davut in seinen Personalausweis geschrieben. Ihm gefiel der Name, wie er berichtete, sodass er später keine Anstalten gemacht habe ihn korrigieren zu lassen. Unter anderem auch deswegen nicht, weil seine überwiegend muslimischen Schulkollegen ihn als einen von ihnen vollends akzeptiert hätten.

Wir bogen in die Obana Kulina Bana ein, der Hauptschlagader Sarajevos, auf der wir dann entlang der Miljacka in Richtung Baščaršija, der Altstadt, fuhren. Rechts und links des Flusses reihte sich ein zerstörtes Gebäude neben das andere. Eine endlose teilweise mit Schnee bedeckte gespenstische Ruinenlandschaft, aus der hin und wieder ein halbwegs verschontes Gebäude hervorragte. Vereinzelt waren ganze Stockwerke bis auf das Fundament niedergebrannt. Die Einschusslöcher überall an den Wänden waren nicht zu übersehen. Mir zog sich der leere Magen zusammen. Manche waren notdürftig zugekittet und gestrichen worden. An der Größe der Löcher konnte man erahnen, ob es sich um Raketen, Granaten oder Munition von Gewehren gehandelt hatte.

Höchstwahrscheinlich waren noch Menschen in den Gebäuden, als die Kugeln und Granaten einschlugen. Aber nein, das wollte ich mir jetzt nicht vorstellen. Wie grausam können Menschen denn sein? Was bringt sie dazu, ohne Rücksicht auf das Leben von Kindern, Frauen und Männern derartige Zerstörungen zu verursachen?

Die Zentrale der Bank befand sich in einer kleinen Seitenstraße in der Nähe des Nationaltheaters. Nach einer gefühlten Stunde, die Zeit schien regelrecht stehengeblieben zu sein, kamen wir schließlich vor der Schalterhalle der Hauptfiliale an, die sich im Erdgeschoss des Verwaltungsgebäudes befand. Es war kein sehr ansehnliches Gebäude, aber im Vergleich zu denen, die ich unmittelbar zuvor gesehen hatte, noch in einem verhältnismäßig guten Zustand. Einschusslöcher, durch die man hindurchsehen konnte, hatte es zumindest keine. Wir begaben uns auf die erste Etage, wo sich die Büroräume des Managements und einer Sekretärin befanden. Die Sekretärin empfing mich an der Glastür und führte mich direkt in das Zimmer von Peter Lemming.

Bei derartigen Aufträgen hatte ich stets die Gewohnheit, im Voraus die Lebensläufe der Gesprächspartner durchzusehen, für eine bessere Einschätzung versteht sich. Genauso hatte ich mir Peter Lemming vorgestellt. Er wurde vom Boss persönlich für den Chef-Posten bei der CBB abgeworben. Als Leiter des Back-Office einer namhaften deutschen Bank konnte Peter Lemming eine makellose Bankerkarriere vorweisen, trotzdem wirkte er etwas unbeholfen und ruppig. Manager von Back-Offices hatten den Ruf, trocken und langweilig zu sein. Es kam wie erwartet, ich wurde mit einem freundlichen aber nicht besonders warmen Grinsen in seinem kantigen Gesicht empfangen. Unverkennbar bemühte er sich, höflich zu sein, dennoch wirkte seine Stimme kühl und arrogant. Über meinen Besuch war er zuvor informiert worden. Besonders erfreut, mich zu sehen, schien er nicht zu sein.

»Sie möchten untersuchen, wie hoch das Ausfallrisiko für zusätzliche Hauskredite sein würde?«

»Das ist richtig. Schließlich sind einhundert Millionen Dollar eine Menge Geld. Die Kapitalgeber werden nur zustimmen, wenn das Risiko beherrschbar ist.«

»Dennoch, auf Profit verzichten möchten sie sicherlich nicht«, sagte Peter Lemming. »Sie haben die zerstörten Gebäude auf dem Weg zu uns gesehen oder? Die Obana Kulina Bana nannte man bis vor kurzem noch die Sniper Alley

Ich kannte die Sniper Alley aus den Nachrichten, aber in Wirklichkeit machte die Straße noch einen viel düstereren Eindruck. Serbische Scharfschützen hatten aus den umliegenden Bergen jahrelang auf alles geschossen, was sich dort bewegte. Dutzende Menschen waren gestorben. »Keine Frage, Bedarf ist da, dennoch werde ich genauer hinsehen müssen.«

»Glauben Sie etwa, wir sind hier nicht in der Lage, das Risiko einzuschätzen?«

»Bei einer Bank kann immer etwas schiefgehen. Der Teufel steckt bekanntlich im Detail.«

Der Geschäftsführer schob das Bündel Papier, das auf dem Schreibtisch vor ihm lag, zu mir. »Ich habe Ihnen die Zahlen ausgedruckt. Sehen Sie selbst, wir haben kaum Ausfälle.«

»Vielen Dank.« Ich warf einen flüchtigen Blick auf die Seiten. »Dennoch, ich werde die Geschäfte der Bank eingehender untersuchen müssen.«

Am liebsten hätte Peter Lemming es dabei belassen und mir bloß das Land und die zerstörten Häuserzüge gezeigt, um die Notwendigkeit von zusätzlichen Geldern zu demonstrieren. Über meine Absicht, bei der Analyse ins Detail gehen zu wollen, war er offenbar überhaupt nicht glücklich.

»In Ordnung, wir werden Ihnen alles zeigen«, sagte er freudlos.

Ich beabsichtigte, mir zunächst ein allgemeines Bild von Sarajevo zu machen, und erst am darauffolgenden Tag die Analyse zu beginnen. Auch die Filialen in Brčko, Bijeljina und Banja Luka standen auf meinem Plan. So verließ ich mit dem zusammengerollten Bündel Papier in der Innentasche die Geschäftsräume der Bank.


Ich ging in Richtung Uferstraße, der Sniper Alley. Da ich auf der Fahrt zur Bank noch nicht richtig wach war - ich brauchte morgens stets eine Weile, bis ich zu mir kam - war mir der intensive Benzolgeruch draußen in der Luft nicht aufgefallen. Schwarze Rauchsäulen zierten die schneeummantelten Kamine der notdürftig reparierten Gebäude. Zum Heizen wurde vor allem Braunkohle verbrannt, deren stechender Gestank mir nun in der Nase kratzte. Er war so stark, dass ich beim Putzen der Nase Blut im Taschentuch sah. Für sauberere schwarze Steinkohle war offensichtlich kein Geld da. Obwohl wir schon Ende März hatten, wagte sich der Frühling noch nicht aus seinem Winterlager. Nach wenigen Minuten schon nagte die trockene Kälte obgleich des herrlichen Sonnenscheins an meinen Fingerspitzen. Sie drohten sich in Eiszapfen zu verwandeln. Daher steckte ich die Hände in die schützenden Manteltaschen und ließ die Augen über die schneebedeckten Ufer der Miljacka schweifen. Ungeachtet der klirrenden Kälte gingen einige Mütter mit ihren Kindern entlang der Ufer spazieren. Auch der intensive Geruch von Braunkohle schien sie nicht weiter zu stören.

Vielleicht eine Trotzhaltung, dachte ich. Endlich wieder rausgehen können. Endlich wieder frei.

Sicherlich hinterließ der jüngste Bosnienkrieg entsetzliche Spuren, aber die Stadt Sarajevo hatte schon zuvor viel Leid ertragen müssen. Auch wenn es bereits lange her war, wusste ich aus dem Geschichtsunterricht, dass gerade hier eine der größten Tragödien der Menschheit ihren Anfang fand. Das Attentat auf Kronprinz Franz Ferdinand und seine Frau war der Trigger für den ersten Weltkrieg, in dessen Verlauf mehrere Millionen Menschen starben. Beklommenheit übermannte mich, je weiter ich mich auf der Sniper Alley nach Osten bewegte. Mein Ziel war die Lateinerbrücke, die Kulisse des hässlichen Aktes. Die tiefhängende Sonne, deren Strahlen sich jetzt auf dem Schnee brachen, blendete mich und ich musste die Augen schlitzen. Am Ende der Allee, hinter dem östlichen Stadtkern, thronte auf der Spitze eines Hügels die Festung der ehemaligen Statthalter. Unten am Fuße knickte die Straße nach rechts und verlor sich in den Wirren der Berglandschaft Richtung Pale. Ein malerisches Bild, wären da nicht die pockenartigen Narben der Zeit, die unter dem weißen Zuckerguss der Natur zu beiden Seiten des Wassers hervortraten.

Als ich an der Lateinerbrücke ankam, bemerkte ich auf der nördlichen Uferseite, wo ich stand, ein Museum zum Gedenken an die schreckliche Tat. Ich musterte das Bauwerk. Genau an der Stelle, an der die Steinbrücke das südliche Ufer tangierte, machte die mehrere Meter hohe Mauer der Uferbefestigung einen Bogen. Es war so, als drückte sie die dahinterliegende Straße ein. Nur hier wurde die lineare Form, bedingt durch die Parallelität der beiden Ufer, unterbrochen.

Diese Stelle ist anders als alle anderen. Ganz klar, das muss ein Zeichen sein. Eine unbewusste Markierung der Menschen auf dem Kerbholz der Geschichte.

Die Last der Brücke wurde von drei mächtigen Pfeilern getragen, zwischen denen sich vier Bögen spannten. Auf der nördlichen Seite, wo ich gerade stand, konnte man den Ansatz eines weiteren Bogens sehen. Er wirkte durch die anliegende Uferstraße abgeschnitten. Dies erklärte auch, warum der Scheitel der Brücke wie nach Norden versetzt aussah. Rechts und links des höchsten Punktes befanden sich über den Fundamenten kreisrunde Löcher. Ich versuchte den Sinn dieser Löcher zu erkunden. Die Lateinerbrücke wurde unter osmanischer Herrschaft im Jahre 1565 erbaut. Sie ist benannt nach dem angrenzenden katholischen Stadtteil auf der linken Seite der Brücke, der früher Latinluk hieß. Fasziniert von der Standhaftigkeit zum einen, aber auch tief berührt durch das historische Erbe dieses Ortes, dieses so folgenreichen Attentats, bewegte ich mich zum Scheitel der Brücke. Ich musste an die vielen Menschen denken, die sinnlos gestorben waren, was mich sehr nachdenklich machte. Als ich am höchsten Punkt ankam, kroch mir die Galle hoch. Ein mulmiges Gefühl. Durch Kälte und Trauer zugleich gelähmt, konnten meine Finger kaum die Kamera halten, mit der ich versuchte ein Erinnerungsfoto zu schießen. Schließlich drehte ich mich in Richtung Pale, sah zu, dass der Fluss mittig auf dem Foto war, und drückte ab.

»Ist das nicht ein schöner Ausblick?«, hörte ich eine baritonale Stimme fragen.

Ich hatte ihn nicht bemerkt und zuckte vor Schreck zusammen. Nachdem ich mich umdrehte, sah ich einen älteren Mann in einem dunkelbraunen Mantel und mit einem Fedora in der gleichen Farbe auf dem Kopf. Seine Augen im rundlichen Gesicht starrten auf die Kamera.

»Finde ich auch. Schöner Hut!«

»Aus der Domstadt Köln. Hab ich dort anfertigen lassen. Darf ich mich vorstellen, Gabor Barna.«

»Elias. Freut mich! Humphrey Bogart trug stets so einen. Ich trage manchmal einen Pork Pie

»Nicht ganz meine Form. Hier wimmelt es zwar von Internationals, darf ich trotzdem fragen, was der Grund Ihres Aufenthaltes in Sarajevo ist?«

»Oh, ich bin nur wenige Wochen hier, weil ich einen Bericht über eine hiesige Bank in New York abliefern muss.«

»Wissen Sie, ich lebe schon einige Jahre in dieser faszinierenden Stadt. Sarajevo ist gleichzeitig der Sitz eines Großmuftis, eines Metropolitan der serbisch orthodoxen Kirche und eines Erzbischofs der katholischen Kirche. Völlig zurecht wird diese Stadt auch europäisches Jerusalem genannt.«

»Stimmt, Kirchen, Synagogen und Moscheen sind selten so nahe beieinander. Und Sie? Wo arbeiten Sie, wenn ich fragen darf?«

»Ich arbeite für die OSZE. Wenn man so lange wie ich mit einer Stadt zu tun hat, dann fängt man an sie zu verstehen. Städte blühen, sie wachsen, sie schrumpfen und verwelken schlussendlich. Mit der Zeit versteht man den Zusammenhang zwischen Blühen und Verwelken. In serbischen Erzählungen gibt es einen Wassergeist namens Vodjanoy. Mal sieht er aus wie ein Hecht, mal wie eine aufgedunsene Wasserleiche mit Hängebauch, und mal lockt er in Gestalt einer schönen Seerose Menschen ans Ufer, um sie dann zu erschlagen. Seine magischen Fähigkeiten sind jedoch an Wasser gebunden. Halten Sie daher gebührenden Abstand zum Wasser.«

»Ist das eine Warnung?«

Gabor Barna lächelte, blieb aber still und entfernte sich in Richtung Basar, ohne sich zu verabschieden.

Gedanklich noch mit seinen Äußerungen beschäftigt flanierte ich weiter entlang des Miljackaufers zur ehemaligen Nationalbibliothek.

Wieso die Warnung? Wegen der immer noch gefährlichen Nachkriegssituation? Wieso Abstand zum Wasser? Und wieso warnt er mich überhaupt?


Die ehemalige Bibliothek befand sich, noch vor dem Fuße des Hügels, auf der linken Seite. Ihre Architektur entzückte. In dem Bauwerk war osmanischer Stil mit Elementen aus Spanien und dem arabischen Raum vermischt. Mein Sitznachbar auf dem Anschlussflug von München nach Sarajevo hatte mir erzählt, dass die Vijećnica - so wurde die Nationalbibliothek hier genannt - von Serben und Kroaten gleichermaßen als Symbol für einen einheitlichen Staat gesehen wurde, den diese bekämpften. Eine zügige Restaurierung war daher utopisch. Für mich war die verkümmerte Vijećnica, metaphorisch gesehen, ein Abbild des zerstörten Vielvölkerstaates Jugoslawien. Das auffällige Gebäude hatte keine Glasscheiben mehr, stattdessen verschlossen vergilbte Bretter die Fensteröffnungen. Es war durch einen Granatbeschuss im Krieg stark beschädigt worden und mit einem schäbigen Bauzaun umrandet. Wie makaber? Auf ihm lächelte mich neben diversen Werbeplakaten auch das Antlitz des weltweit gesuchten Kriegsverbrechers Karadžić an, mit einer siebenstelligen Prämie darüber. Diese war damals auf seinen Kopf ausgesetzt worden. Wohl eine Ironie des Schicksals. Ursprünglich ein Wahlplakat, das jetzt mit Aufklebern versehen zum Fahndungsplakat wurde. Haben die kein anderes Bild gefunden, dachte ich. Zudem war Karadžićs Aufenthaltsort, so erfuhr ich später, den SFOR Friedenstruppen durchaus bekannt.

Auch wenn ihr allgemeine Zustand nicht besonders gut war, strahlte die Vijećnica positive Energie aus. Die beigegelbe Fassade war mit bordeauxroten Linien verziert und von einem Dachgesims mit Zacken und Kyma gekrönt. Ein Verweis auf längst vergangene Macht. Nachdem ich den Gegensatz von Zerstörung und Schönheit eine Weile auf mich einwirken ließ, beschloss ich über die Baščaršija zurück zum Nationaltheater zu gehen, in dessen Nähe sich auch die CBB befand.

In früheren Jahrhunderten war die Baščaršija Sarajevos wirtschaftliches Zentrum. Noch immer deckten hunderte Händler in den geschäftigen engen Gassen einen großen Teil des Bedarfs an Kleidung, Lederartikeln und handwerklichen Erzeugnissen. Niedrige, weit vorstehende Dächer aus Tondachziegeln boten einen guten Schutz gegen schlechtes Wetter und ermöglichten den Händlern die Nutzung der gepflasterten Wege als Ausstellungsfläche. Das Wirrwarr von Kunden, Händlern und ihren Waren glich einem Labyrinth und erinnerte stark an einen orientalischen Basar. Dieser aber war mitten in Europa. Im Zentrum der Baščaršija befand sich die Gazi Husrev Bey Moschee mit ihrem riesigen Innenhof. Oberhalb wie unterhalb des Gotteshauses waren jeweils mit Kuppeln überdachte weitere Basare, sogenannte Bezistans.

Bezistans wurden in früheren Zeiten als exklusive Einkaufsmeilen innerhalb der Basare gebaut. Und hatten eine ähnliche Funktion wie die Basilika in römischen Zeiten. Sie waren so bedeutend, dass die Größe von Städten damals nach der Anzahl ihrer Bezistans eingestuft wurde. Ich ging an der Mauer der Gazi Husrev Bey Moschee entlang und lief in den Innenhof hinein. Schon von weitem hatte ich unmittelbar neben dem Minarette der Moschee einen weiteren Turm bemerkt, der aussah wie ein Kirchturm. Jedoch waren alle Kirchengebäude weit weg. Dieser Turm befand sich auf dem Gelände unmittelbar neben der Moschee und zog daher meine Aufmerksamkeit auf sich.

»Sie fühlen sich bestimmt an einen Kirchturm erinnert, richtig?«, sprach die vorpubertäre Stimme eines Jungen neben mir.

»Stimmt. Eine gewisse Ähnlichkeit ist unverkennbar.«

»Alle Fremden denken das. Es ist aber Saat Kula, ein Uhrturm aus osmanischer Zeit. Der Turm wurde damals gebaut, damit die Gläubigen wussten, wann Gebetszeit ist.«

»Ok, aber die Uhr zeigt nicht die richtige Zeit an. Wir haben so ziemlich genau Mittag.«

Der Junge lächelte, als spotte er innerlich über meine Unwissenheit.

»Nein, nein, die Uhr geht schon richtig. Damals wurde die Zeitmessung nach dem Mond ausgerichtet. Da drüben, da befand sich mal eine Muvekithana, wo Astronomen täglich die exakte Zeit kalkulierten. Anhand der Stellung des Mondes, wissen Sie.«

»Du bist gut informiert, Kleiner.«

»Ein alter Mann geht jeden Tag hoch, um die Zeit einzustellen. Das macht er schon seit mehr als vierzig Jahren.«

»Verstehe. Aus dir wird bestimmt mal ein bedeutender Gelehrter. Wie heißt du denn?«

Das Kind fühlte sich geschmeichelt. »Lazar. Wissen Sie, ich möchte später Archäologie studieren. Daher finde ich historische Gebäude wie Kirchen, Synagogen und Moscheen toll.«

»Woher kommt das Interesse?«

»Ach, ich habe keine Freunde. Die anderen Kinder in der Schule spotten über mich. Sie wollen nicht mit mir spielen. Daher bleiben mir nur die Bücher.« Jetzt schwang Resignation in der kindlichen Stimme.

»Was haben die anderen gegen dich?«

»Ich bin ein Mischblut. Mein Papa war nämlich Serbe. Die Bosniaken hier mögen keine Serben. Wegen des Krieges, wissen Sie?«

»Oh, verstehe. Du balancierst gewissermaßen zwischen zwei Fronten.«

»Ja, und das ist sehr anstrengend. Aber Mama sagt, ich habe von beiden Kulturen etwas in mir, und das sei mein größtes Kapital.«

»Da hat sie vermutlich Recht. Deine Mama kann stolz auf dich sein.«

»Ich muss jetzt gehen. Meine Mama mag es nicht, wenn ich zu spät zum Mittagessen komme.«

Lazar schenkte mir zum Abschluss noch ein Lächeln, nahm seinen Schulranzen vom Boden und verschwand in den Gassen des Basars.

Der Junge war ausgesprochen reif für sein Alter, dennoch, von den anderen Kindern ausgegrenzt zu werden, musste für ihn schlimm sein. Beeindruckt von seinem Wissensstand keimte in mir die Hoffnung, dass in Bosnien zukünftig doch noch ein friedliches Zusammenleben der Konfessionen möglich sein würde.

Reifen Kinder im Krieg schneller? Ich will mir nicht vorstellen, welche Gräueltaten diese jungen Augen gesehen haben könnten.

Ein Kind in den Vereinigten Staaten hatte gewiss andere Hobbys, als sich über Uhrtürme und die Mondzeit Gedanken zu machen. Es würde sich eher für die neuesten Computerspiele interessieren.

Bevor ich mich entfernte, warf ich noch einen genaueren Blick auf Saat Kula und bemerkte, dass der obere Teil wie später aufgesetzt aussah. Im längeren unteren Teil waren die Ecken des Turms abgeflacht, während sie oben kantig waren. Zudem sah die Struktur der Ziegelsteine oben anders aus. Jetzt fiel mir auch auf, dass die Ziffern der Uhr arabische Zeichen waren. Überhaupt wirkte der ziegelsteinbraune Uhrturm neben dem weißen Minarett etwas fehl am Platz, da Form und Farbgebung nicht zueinander passten.

Nicht immer entstehen schöne Dinge, wenn Materie und Form miteinander tanzen. Dennoch ist es beachtlich, dass zwei so verschiedenartige Türme über Jahrhunderte denselben Ort teilen.

Der Brunnen in der Mitte des Hofes fügte sich dagegen perfekt in den prächtig gestalteten Gotteshauskomplex ein. Ein Vieleck aus Mamor mit mehr als einem Dutzend Wasserhähnen an den Seiten, die für das Waschritual vor dem Gebet benutzt wurden. Eine Bleikuppel, die von mehreren Holzpfeilern getragen wurde, schützte den Brunnen.


Nachdem ich den Innenhof der Moschee verließ, erinnerte mich das Knurren in meinem Magen daran, dass ich an diesem Tag noch nichts gegessen hatte. Daher beschloss ich, am großen Platz in der Baščaršija Čevapčići zu essen. Die Gassen waren jetzt deutlich voller. Menschenmassen pressten sich hindurch und ich hatte Mühe, mir meinen Weg zu bahnen. Als ich kurz bei einem Händler anhielt, um mir verzierte Miniaturtruhen aus Holz anzusehen, bemerkte ich für den Bruchteil einer Sekunde im Gemenge zwei glasige Augen, versteckt unter einer schwarzen Wollmütze. Die Augen waren blitzschnell wieder weg, als ob sie sich in Deckung brächten. Ich dachte zunächst an Gabor Barna, der aber trug einen Hut.

Außerdem, wieso soll er mir folgen?

Mit einem komischen Gefühl im Bauch kämpfte ich mich durch die Massen und bestellte die ersehnte Portion, als ich an der Čevapčinica ankam. Die Frikadellen nach bosnischer Art mit kleingehackten Zwiebeln darüber wirkten zwar sehr spartanisch - es war kein anderes Gemüse oder Salat im Brot -, sie schmeckten aber vorzüglich. Mit wohligem Gefühl im Magen, er knurrte nicht mehr, beobachtete ich von meinem Sitzplatz am Lokal aus das Geschehen auf dem schneebedeckten Platz vor mir und versank in Gedanken.

Ich dachte an Natalie. Das knallrote Gesicht war ihr Naturell, mit mir zu kommunizieren, wenn etwas sie ärgerte. Ähnlich der Kommunikation von Kalmaren, die durch Veränderung der Oberflächenfarbe ihre Stimmung zum Ausdruck bringen, änderte auch Natalie ihre Gesichtsfarbe. Vom Farbton ihrer Haut konnte man stets auf ihre Stimmung schließen. Und die konnte sehr unterschiedlich sein. Gerade das gefühlsbetonte Wesen Natalies gefiel mir sehr. Ich liebte es, ihre langen kastanienbraunen Haare zu berühren und dabei in ihre moosgrünen Augen zu schauen. Der Moment an der Tür, das rötliche Gesicht mit den tränenden Augen darin, die mich verärgert anstarrten, berührten mich stark. Dieses Gemisch aus Ärger, Trauer und dem geröteten Gesicht hatte jedoch auch etwas Erotisches, denn Natalie lief beim Orgasmus ebenfalls rot an. Ihr Antlitz wurde immer purpurrot, genauso wie zuletzt an der Tür. Ich kannte dieses Phänomen von meinen Exfreundinnen nicht. Zwei so unterschiedliche Situationen, aber die gleiche Farbe. Die gleiche Intensität von Erotik.

Oh, wie ich das liebe. Wir sind einfach füreinander bestimmt. Ich vermisse sie sehr. Sie in den Armen zu halten, und ihren wärmenden, wohlgeformten Körper zu spüren, ihren Duft einzuatmen, das macht mich stets glücklich.

Dennoch, sie hat absolut kein Recht, sauer auf dich zu sein oder dir Vorwürfe zu machen. Nicht wegen der ausgefallenen Radtour. Überhaupt macht sie dir viel zu oft Vorwürfe, wenn etwas nicht so klappt, wie sie es haben will. Dieses Mal war es absolut nicht deine Schuld. Ärgere dich nicht, vielleicht sind ein paar Wochen Abstand gar nicht schlecht.

Das laute Gurren von Tauben lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf den schneebedeckten Platz vor mir. Zwei flogen im Bogen über den Holzbrunnen in der Mitte. Die Bleikuppel und der Bereich rund um das mehrstufige Fundament des Brunnens waren mit dutzenden weiteren Tauben bevölkert. Ein gebrechlicher alter Mann mit ausgefranster Kleidung verkaufte ganz in der Nähe Vogelfutter. Als ich an dem Brunnen vorbeiging, bot er mir eine Packung an, in der Hoffnung, ich würde sie kaufen. Er sagte noch etwas anderes, das ich nicht verstand, weil er die Silben verschluckte. Grundsätzlich beherrschte ich - wegen meiner mazedonischen Abstammung - die lokale Sprache. Problematisch wurde es nur, wenn jemand zu schnell oder undeutlich redete. Dieser Mann schien das Gesagte zu husten.

»Sebilj … «, sagte er erneut, auf den Brunnen zeigend.

»Wer das Wasser aus dem Brunnen trinkt, kommt der Legende nach immer wieder hierher zurück«, übersetzte ein Schüler, der mit zwei anderen Freunden an dem Brunnen saß.

Ich kaufte dem gebrechlichen Mann eine Packung Futter ab und gab sie als Dank den drei Jungs. Diese fütterten damit umgehend die Tauben, die sich mit einem lauten Gurren bedankten. Das Brunnenwasser trank ich nicht, sondern beschloss, meine Erkundung durch die Stadt fortzusetzen. Als ich mich durch das Menschengewirr weiter Richtung Alte Orthodoxe Kirche durchschlug, empfand ich schon wieder das Gefühl, beobachtet zu werden. Vielleicht bildete ich mir das alles ein, aber auch dieses Mal sah ich einen Mann mit einer Mütze abrupt in Deckung gehen. Augenblicklich wurde ich ziemlich sauer, denn irgendjemand - glaubte ich zumindest - trieb ein Spielchen mit mir. So eilte ich zu der Stelle, wo ich die Person verschwinden sah, jedoch war niemand da.

Ganz klar, das muss eine Einbildung sein, denn warum sollte mich jemand verfolgen?

Mir fiel einfach kein Grund ein, daher setzte ich den ursprünglich angedachten Weg fort.


Die Alte Orthodoxe Kirche, ein schlichtes Bauwerk, das einfach mit Steinen aufgemauert worden war, stammt aus dem sechzehnten Jahrhundert. Das rechteckige Gebäude bestand lediglich aus zwei Stockwerken und hatte einen Turm, der nahezu doppelt so hoch war. Hinter einer mannshohen Mauer befand sich eine schöne Grünanlage, in der man Frieden mit sich und der Welt schließen könnte, wären da nicht die Gier und die Machtsucht der Menschen. Die schlichte Form deutete bereits darauf hin, dass diese Kirche jahrzehntelang eine andere Verwendung hatte. Ein Schild im Innern bestätigte meine Vermutung. Das Gebäude wurde lange Zeit als Schatzkammer der orthodoxen Kirche verwendet. Auf Betreiben des Kirchenpatrons namens Jeffran Despic wurde es dann teilweise in ein Museum umgewandelt und Gläubige wieder in die Gebetsräume hereingelassen. Im Gegensatz zu dem unscheinbaren Äußeren war das Innere der Kirche, nebst Gebetsraum und Altar, üppig mit religiöser Kunst ausgestattet. Das Besondere an dieser Kirche war jedoch, dass sie unter der Herrschaft des muslimischen Vezirs Gazi Husrev Bey, kurz nach der Eröffnung der großen Moschee im Jahre 1537 fertiggestellt wurde. Seither gingen Muslime, Christen und Juden eine Symbiose für Jahrhunderte ein.

Als mein Augenmerk auf eine Kindsmumie fiel, verspürte ich wieder dieses unangenehme Gefühl, beschattet zu werden. Dieses Mal bildete ich es mir gewiss nicht ein, da war wirklich ein Schatten, auf der gegenüberliegenden Wand. Als ich mich sodann umdrehte, erkannte ich Gabor Barna mit dem dunkelbraunen Fedora auf dem Kopf.

»Wieso folgen Sie mir?«, fragte ich, ohne meine Verärgerung darüber zu verstecken.

»Beruhigen Sie sich. Ich wollte Sie warnen!«

»Waren Sie etwa derjenige, der mir auf dem Weg vom Sebilj hierher gefolgt ist?«

»Nein, ich bin Ihnen nachgelaufen, da mir aufgefallen ist, dass Sie beschattet werden.«

»Wer sollte mich denn beschatten?«

»Leute von der Roten Pranke, denke ich«, flüstere Gabor Barna, als hätte er Angst, den Namen auszusprechen.

»Was ist das?«

Er legte den Zeigefinger auf dem Mund. »Nicht so laut. Eine gefährliche Untergrundorganisation, von der Sie sich besser fernhalten sollten! Irgendetwas an Ihrem Auftrag hat deren Interesse geweckt.«

»Ich wüsste nicht was«, antwortete ich und war neugierig darauf, mehr zu erfahren. »Wie meinen Sie das?«

Nach Gabor Barnas Darstellung sei die Rote Pranke ein sehr mächtiges, geheimes Syndikat, dessen Mitglieder sich quer durch alle Konfessionen aus Kriminellen, Politikern und reichen Unternehmern zusammensetzen würden. Auch Ausländer seien darunter. Das Einzige, was für die Organisation zähle, sei Profit. Menschenleben würden genauso wenig ein Rolle spielen wie die Zugehörigkeit zu einer Religion oder Partei. Viele Mitglieder seien während des Krieges durch Schmuggel, Waffenverkäufe, Erpressung und Auftragsmorde sehr reich geworden. Wenn man bedenke, dass während der Belagerung Sarajevos eine Packung Zigaretten umgerechnet bis zu sechzig Dollar gekostet habe oder ein Ei bis zu sechs Dollar, könne man sich die riesigen Profitmargen vorstellen, die sie erzielt hätten.

»Als ich Sie an der Lateinerbrücke verließ, bemerkte ich, wie jemand Sie von einer schwarzen Limousine aus beobachtete. Es war Tarik, ein Leibwächter und Handlanger des stadtbekannten Kriegshelden Almir.«

»Kennen Sie ihn persönlich?«

»Nicht wirklich, ich habe ihn lediglich bei einer Ehrung durch den Präsidenten flüchtig kennengelernt. Er wurde für seine vermeintlichen Heldentaten ausgezeichnet.«

»Inwiefern vermeintlich?«

»Mir kam Widersprüchliches über ihn zu Ohren. Es gibt Berichte darüber, dass er Kriegsverbrechen begangen haben soll.«

»Wieso läuft er dann frei herum?«

»Almir konnte sich, obwohl er Bosniake ist, selbst während der heftigsten Kämpfe, in serbischen Gebieten frei bewegen und dort Geschäfte machen. Er hat ganz offensichtlich mächtige Beschützer.«

»Glauben Sie, dass Tarik jetzt hier ist?«

»Ja, er lauert draußen vor der Kirche und wird Ihnen bestimmt folgen.«

Den Mann mit dem Fedora kannte ich erst seit wenigen Stunden und ich war nicht sicher, ob ich seinen Äußerungen trauen konnte. Mir blieb zum jetzigen Zeitpunkt aber nichts anderes übrig, als sie ernst zu nehmen. Derjenige, den ich in der Baščaršija gesehen hatte, trug eine Mütze. Gabor Barna jedoch hatte einen Hut auf, also musste da noch jemand anders sein.

»Haben Sie eine Idee? Gibt es einen Weg, ungesehen aus der Kirche hinauszugehen und Tarik abzuhängen?«

»Der zuständige Priester hier ist ein Freund. Er ist eine sehr zuvorkommende Person. Ich könnte ihn fragen, ob er uns durch den Hinterausgang hinauslässt. Aber wenn Sie schon hier sind, lassen sie mich Ihnen kurz noch ein paar Sätze zu der Mumie sagen.«

Gabor Barna schilderte deren Geschichte. Der Legende nach sei das Kind von seiner Stiefmutter erdrosselt und dann in die Miljacka geworfen worden. Als der damalige Priester von dieser schrecklichen Tragödie gehört habe, habe er den Leichnam des Kindes bergen lassen und dafür gesorgt, dass er im Garten hinter der Kirche begraben wurde. Mehr als hundert Jahre später habe eine Erweiterung des Komplexes angestanden. So sollte das Grab versetzt werden und wäre zu diesem Zwecke wieder geöffnet worden. Dabei habe man festgestellt, dass der exhumierte Körper noch in einem sehr guten Zustand gewesen sei. Erstaunlicherweise wären wegen einer Mumifizierung keine Verwesungsspuren festzustellen gewesen. Die Nachricht darüber hätte schnell die Runde gemacht. Als Folge sei die Kindsmumie von der orthodoxen Kirche zu einem göttlichen Wunder erklärt worden. Seitdem wäre sie auf der oberen Etage platziert und hätte eine gewisse Prominenz erlangt. Tatsächlich war sie so positioniert, dass man darunter hindurch krabbeln konnte, bemerkte ich. Auch heute noch würden Frauen, die ihre Fruchtbarkeit erhöhen wollen, oder Mütter, die ihre Kinder schützen wollen, in einem Ritual um die Gebeine herumlaufen und hinterher darunter hindurch krabbeln. Dieser Brauch gäbe ihnen den Glauben, gesegnet zu sein.

Aberglaube hin oder her, ich war diesbezüglich eher ein skeptischer Mensch und hielt gar nichts von derartigen religiösen Bräuchen. Trotzdem faszinierte mich die Geschichte der Mumie mehr als ich zugeben wollte. Derweil verschwand Gabor Barna in das untere Stockwerk und kam kurze Zeit später begleitet von einem vollbärtigen Kleriker mit zerknittertem Gesicht und einer dicken Hornbrille auf der Nase zurück. Vermutlich wurde dieser bei einem Nickerchen unterbrochen und hatte sich schnell seinen Talar übergestreift, der bei orthodoxen Geistlichen üblicherweise schwarz war und bis zu den Fersen reichte. Seine gleichfarbige, zylinderförmige Kappe mit einem Schleier auf der Rückseite saß schief.

»Sie werden verfolgt, wie mir mein Freund berichtet hat?«, fragte der Priester. Er rückte dabei sein Brustkreuz sowie die Kappe zurecht.

»Ich kann mir momentan nicht erklären, warum, Vater, aber das ist richtig.«

»Es gibt immer einen Ausweg, mein Sohn. Vertrauen Sie auf Gott, denn die Wege des Herrn sind vielfältiger als Sie glauben. Kommen Sie mit!« Er gab uns einen Wink.

Ein kleines Schmunzeln konnte ich mir nicht verkneifen, aber die ruhige Redeweise des Priester löste meine innere Beklommenheit etwas. Er öffnete uns eine Hintertür, aus der wir ungesehen entkamen. Während wir durch mehrere kleine Straßen liefen und so meinem Verfolger das Leben schwer machten, plauderte Gabor Barna über seine Arbeit bei der OSZE. Sein Spezialgebiet sei die organisierte Kriminalität.

Das macht Sinn. Daher also das Wissen.

Gabor Barna konnte es nicht lassen, immer wieder betonte er, dass die Rote Pranke die gefährlichste von allen Geheimorganisation in Bosnien sei. Durch seine Schilderungen konnte ich ihn besser einschätzen und fasste Vertrauen. Eine unbeantwortete Frage quälte mich jedoch weiterhin.

»Was hat das alles denn mit mir zu tun?«, wollte ich wissen. »Ich muss doch nur meine Aufgabe erfüllen und einen Bericht erstellen.«

»Die haben überall ihre Finger drin. Glauben Sie ja nicht, dass Ihre Bank davon ausgenommen ist«.

»Aber CBB ist nicht meine Bank, sondern ich bin ein Consultant, der im Auftrag des Aufsichtsrates der CBB eine Analyse vornehmen soll. Woher wissen die überhaupt von meiner Ankunft?«

Gabor Barna ließ diese Frage unbeantwortet, denn auch er hatte keine Idee. Ich dachte an Peter Lemming, seinen betont förmlichen Umgang, aber dass er die Quelle war konnte ich mir wirklich nicht vorstellen. Außer ihm jedoch kannte niemand hierzulande meinen Auftrag.









2

Der Alptraum


SCHWEISS läuft mir an den Schläfen herunter, doch mein Körper fühlt sich kalt an. Ich wische mir die Brühe vom Kopf und bemerke, dass sie kein Schweiß ist. An meinen Händen klebt förmlich Blut. Unfähig, irgendwie das Geschehene zu deuten, macht sich ein Gefühl der Angst in mir breit. Lediglich mein Kopf ragt aus dem kaltem Flusswasser. Ich fange an zu zittern. Auf der Wasseroberfläche neben mir treiben drei regungslose Menschen. Der Statur nach Körper von erwachsenen Männern. Meine Pupillen weiten sich, als ich bemerke, dass ihre Köpfe von hinten eingeschlagen sind. Eine Mischung aus rotem Blut und weißer Hirnmasse vermischt sich zusammen mit dem Wasser zu einem Cocktail, den ich aus meiner Stammkneipe in New York kenne. Er nennt sich ›Gehirnblutung‹. Eine eklige Mutprobe aus Baileys, Blue Curacao, Grenadine und Wodka, die es in sich hat. Die Leichen sind nicht aufgedunsen, die Männer können daher nicht lange tot sein. Hinter den Körpern bemerke ich eine Felswand. Ich wende mich von der Felswand ab und erblicke eine schneebedeckte Einbogenbrücke. Ähnlich wie bei der Lateinerbrücke befinden sich links und rechts neben dem großen Bogen kleine runde Öffnungen.

An meinem Hinterkopf fühlt sich etwas komisch an. Vielleicht hat das mit dem Blut an meinen Händen zu tun, denke ich, und prüfe nach. Zu meinem Entsetzen ertaste ich dort die Umrandungen einer mächtige Delle, aus der noch reichlich Blut herausfließt. Schmerzen spüre ich jedoch absolut keine. Mein Körper ist durch die Kälte beinahe zum Eisklotz gefroren. Vielleicht daher nicht?

»Warum bist du nicht tot, du Lump!«, höre ich plötzlich den Vodjanoy schimpfen.

Er erholt sich gerade am Ufer neben der Brücke von den Anstrengungen seiner Taten, als er bemerkt, dass ich noch lebe. Der nackte Mann mit dem Hängebauch sowie einem fischähnlichen Kopf springt sofort ins Flusswasser und schwimmt blitzschnell in meine Richtung. Noch bevor ich die kleinste Bewegung machen kann, packen mich seine glitschigen Finger am Hals. Ich reiße den Mund auf und will gerade schreien, doch dann höre ich den dumpfen Schlag einer Keule. Mir wird schwarz vor Augen. Blackout. Lauter kleine Sterne schimmern dezent im Nachthimmel. Manche heller, andere etwas weniger hell.

Was für ein klarer Himmel. Bin ich jetzt tot? Fühlt es sich so an, tot zu sein. Hmm, ich muss doch tot sein oder? Der Vodjanoy hat mich doch, genauso wie die anderen Männer, mit seiner Keule erschlagen.

Zum Beweis taste ich meinen Körper ab. Zupfe mal hier und mal da und bemerke, dass es zu meiner Verblüffung weh tut.

Man kann also Schmerzen spüren, wenn man tot ist … Moment mal, treiben Körper von erschlagenen Menschen überhaupt auf der Wasseroberfläche?

Es klopfte an einer Tür, die wohlbekannte ächzende Stimme einer alten Dame drang gedämpft hindurch.

»Sie hatten mich gebeten, Sie zu wecken. Wir haben halb acht!«

Zu meiner Freude entpuppten sich die Sterne als Einschusslöcher an den Wänden. Ich richtete mich auf und realisierte, dass ich im Hotelbett war. Es war bloß ein Alptraum. Am zweiten Morgen in Sarajevo nahm ich mir die Zeit zu frühstücken.









3

Pale


DAVUT holte mich wieder ab. Der Eingang der Kreditabteilung befand sich auf der rechten Seite, während auf der linken Seite die Schalterhalle für die Kassen war. Dutzende Kunden hatten sich dort vor den Schaltern aufgereiht und warteten ungeduldig darauf, bedient zu werden. Im Vergleich dazu war bei den Sachbearbeitern rechter Hand der Andrang relativ gering. Deren Tische waren hintereinander aufgereiht. An der Vorderseite jeweils zwei Stühle, auf denen vereinzelt Kunden saßen.

»Selma«, sagte eine zierliche Stimme in perfektem English, als ich die Glastür zu den Sachbearbeitern öffnete. Die hoch aufgeschossene Frau mit blondierten Strähnen, ihre Haare waren lang und glatt, und einem Eulengesicht hatte mich eintreten sehen und kam mir entgegen. »Ich bin die Leiterin der Hauptfiliale. Wie war Ihr erster Tag gestern?«

»Oh, aufregender als ich vermutet hatte.« Ich erwähnte die Verfolgung bewusst nicht. »Sarajevo ist aus geschichtlicher Sicht nicht ganz unbedeutend.«

»Wir ziehen es vor, uns an die Olympischen Spiele zu erinnern, wenn Sie auf den ermordeten Kronprinzen anspielen. Das ist sehr viel positiver.«

Selma bat mich einzutreten. Sie erklärte, dass die Sachbearbeiter an den vorderen Plätzen für die Kontenführung zuständig waren, während die an den hinteren Tischreihen Kreditanträge bearbeiteten. Auch ein serbischer Mitarbeiter war unter ihnen, ganz hinten am letzten Tisch. Ich bewegte mich auf seinen Arbeitsplatz zu. Er hatte keinen Kunden und war gerade dabei, einen Kreditantrag durchzusehen.

»Bis vor drei Monaten konnte er nicht hierhin kommen«, erklärte Selma, während sie stolz auf ihren serbischen Mitarbeiter deutete. »Für Serben ist es ohne den Schutz der Bank noch immer sehr gefährlich hier in Sarajevo.«

»Wie wurde dann zuvor über Anträge aus den serbischen Gebieten entschieden?«

»Peter Lemming fuhr selbst nach Pale, in den serbischen Sektor. Wir haben dort eine Nebenfiliale.«

»Das ist erfreulich. Die Bank leistet damit einen erheblichen Beitrag zur Versöhnung.«

»Nun ja, hoffentlich können sich die serbischen Angestellten zukünftig frei in Sarajevo bewegen, im Augenblick werden sie stets von unseren Fahrern abgeholt und halten sich nur im Bankgebäude auf.«

Auch in anderen Teilen Bosniens sah es nicht anders aus. Für Einheimische war es noch immer gefährlich, wie ich erfuhr, auf das gegnerische Territorium zu fahren, wegen der Scharfschützen. Die einzelnen Gebiete hatten unterschiedliche Autokennzeichen. So war es selbstmörderisch, mit einem serbischen Kennzeichen in ein muslimisches Gebiet zu fahren und umgekehrt. Viele Menschen starben, weil sie aus Versehen in die feindliche Zone gefahren waren. Darum nutzte die Bank von Anfang an neutrale britische Kennzeichen, denn in der Regel hatten nur Fahrzeuge von internationalen Organisationen solche. Sie wurden von allen Seiten respektiert. Insbesondere die weißen Land Rover der CBB, denn Bankdienste brauchten alle Volksgruppen.

»Das ist Bojan«, erklärte Selma weiter. »Einer unserer serbischen Mitarbeiter.«

Sie zeigte dann auf mich. »Elias. Er ist von der Foundation und wird Sie mit Fragen zu Ihrer Arbeit in die Zange nehmen.« Dieses Mal schwang ein Hauch von Erotik in ihrer Stimme. Selma kniff ein Auge zusammen. »Sie müssen ihm jeden Wunsch erfüllen!«

Ich musste lachen. »Na, ganz so würde ich das nicht formulieren.«

»Sie entschuldigen mich?« Selma hatte noch über einen Kreditantrag zu entscheiden und ging zu der wartenden Sachbearbeiterin in ihrem Büro. Bojan, ein Mann mit kurzer, dunkler Haarpracht und einem fülligen Gesicht, schien sehr erfreut über mein Interesse. Die Aviator-Brille mit gelblichen Gläsern auf der Nase gepaart mit dem karierten Hemd, das lässig über der Hose hing und seinen mehr als wohlgeformten Bauch darunter dezent kaschierte, vermittelten einen selbstsicheren Eindruck.

»Keine Angst. Meine Fragen sind harmlos.«

Jetzt musste Bojan lächeln.

»Fühlen Sie sich wohl hier?«, setzte ich fort.

»Angst hab ich schon. Wie unerbittlich, dass die Farbe des Autokennzeichens über Leben und Tod entscheidet? Finden Sie nicht?«

»Das stimmt. Kommen Sie mit Ihren muslimischen Kollegen klar? Ich kann mir vorstellen, dass eine gewisse Distanz vorhanden ist.«

»Freunde sind wir sicherlich nicht, respektieren uns aber. Der Krieg ist vorbei und die Bank zahlt gut. Letztendlich brauchen alle das Geld.«

Bojan erläuterte mir, dass er nur Kunden aus dem serbischen Pale betreute. Die Anträge dazu wurden vor Ort entgegengenommen. Er würde ausschließlich für die Besprechung der Kredite zur Hauptfiliale kommen. Unter seinen Kunden befänden sich Autohändler, Lebensmittelläden, genauso wie Bauern. Er bot mir an, ihn am Nachmittag zu einem Kunden zu begleiten. Es handelte sich um einen Schweinezüchter aus Pale. Ein Prinzip der Bank war es, jeden einzelnen Kunden, der besseren Einschätzung wegen, vor Ort zu besuchen. Ich sagte zu und ging in das Büro von Selma hinüber. Klopfte an ihrer Tür.

»Sie sehen müde aus. Kaffee?«, fragte sie.

Ich nickte. »Gerne, den brauch ich dringend! Ich habe in der letzten Nacht nicht so gut geschlafen.« Es war wohl die Kombination aus großen asiatisch anmutenden Augen und dem kleinen Höckerchen auf der Nase, die mich bei ihr an eine Eule erinnerte. Sie war durchaus nicht unattraktiv und hatte etwas geheimnisvolles an sich. »Sind Sie ursprünglich aus Sarajevo?«

»Nein, meine Eltern kommen aus Bihac, die Stadt liegt im Nordwesten Bosniens. Menschen aus der Region erkennt man an den mandelförmigen Augen. Fremde vermuten oft, dass wir Einwanderer aus dem fernen Asien wären, aber das ist falsch.«

»Stimmt, als eine hübsche Asiatin würden Sie sehr wohl durchgehen«, scherzte ich. »Es gefällt mir gut, dass Sie sich sehr für die serbischen Mitarbeiter einsetzen.«

»Vielen Dank. Für mich ist das eine Herzensangelegenheit. Der Krieg hat aus uns Menschen wahre Monster gemacht.« Selma füllte zwei Tassen mit Kaffee, die sich nebst der vollen Kanne, den Löffeln, Milch und Zucker in einem Schrank neben ihrem Arbeitstisch befanden, und reichte mir eine davon.

Ihre Körperhaltung und Handbewegungen hatten perfektionistische Züge. Überhaupt war das Büro sehr aufgeräumt. Die Mappen auf ihrem Tisch waren exakt übereinander gelegt. Stift, Locher und Heftgerät hatten wie alles andere ihren zugewiesenen Platz. Selma liebte scheinbar Ordnung.

»Stimmt, der Krieg setzt offenbar alle Maßstäbe, die eine Zivilisation mit sich bringt, außer Kraft.«

»Richtig. Es ist so, als würde die Schwerkraft nicht mehr existieren. Menschen verlieren die Erdung.«

»Die meisten waren bestimmt Mitläufer, ihnen blieb keine andere Wahl, als sich zu fügen«, relativierte ich. »Entweder Opfer sein oder Täter, das war die Entscheidung, die sie zu treffen hatten. Liege ich mit meiner Vermutung richtig?«

Selma verfiel unvermittelt in eine traurige Stimmung. »Wissen Sie, unter Tito hatten wir keinerlei Probleme. Es gab so viele gemischte Ehen.«

»Sie haben recht, dennoch wer nicht vergeben kann, wird niemals Glück finden!«, sagte ich und wechselte das Thema, um sie auf andere Gedanken zu bringen.

Im Zuge des weiteren Gesprächsverlaufs erfuhr ich, dass zum damaligen Zeitpunkt vor allem Geldtransfers von Verwandten aus dem Ausland einen wesentlichen Beitrag für den Wiederaufbau leisteten. Das erklärte auch die Schlangen vor den Kassen. Viele Menschen konnten ohne diese Gelder nicht ihre Häuser instand setzen oder gar überleben.

»Wie ist die Zahlungsmoral Ihrer Kunden?«

»Wir haben so gut wie keine Ausfälle, weniger als ein Prozent.«

»Wow, und das bei einer Arbeitslosigkeit von über vierzig Prozent? Nicht schlecht!«

»Der Stolz in den Köpfen war zwar der wichtigste Treibstoff für den Krieg, in unserem Falle ist er jedoch nützlich. Es ist hier Ehrensache, Schulden zu begleichen.«


Wir fuhren entlang der Miljacka nach Osten und mussten am Stadtrand anhalten. Dort befand sich ein Checkpoint französischer SFOR-Truppen. Davut, unser Fahrer, brachte den Land Rover zum Stehen und erklärte den wortkargen Wachposten, dass wir auf dem Weg zur serbischen Filiale in Pale waren. Alle drei mussten aussteigen und die Taschen leeren. Die Soldaten tasteten uns zu meiner Verwunderung auch im Genitalbereich ab. Ich war sauer, da ich nicht wusste, was noch folgen würde.

Davut war entspannt und schmunzelte. »Tja, die französischen Legionäre sind sehr gründlich, aber wenn sie nichts Verdächtiges finden, lassen die einen zügig weiterfahren.«

»So schnell wie bei denen geht es sonst nicht«, stimmte Bojan zu.

Beide kannten offensichtlich das Ritual, schließlich passierten sie mehrmals in der Woche diesen Wachposten. Für sie war es ganz normal, von Bewaffneten durchsucht zu werden. Für mich jedoch absolut nicht.

Sonderbare Menschen, diese Fremdenlegionäre, sie zeigen keine Regung im Gesicht und antworten grundsätzlich nicht auf Fragen.

Davut und Bojan hatten Recht behalten, nachdem ein Soldat noch mit einem Spiegel den Wagen unten abgesucht hatte, durften wir endlich weiterfahren.

»Die lassen sich einfach nicht beirren«, erklärte Davut.

Kurze Zeit später fuhren wir, wenige Meilen weiter östlich, an einer Brücke aus Stein vorbei.

»Das hier ist die berühmte Ziegenbrücke. Sie hatte in der Vergangenheit eine große Bedeutung«, erläuterte Davut.

»Wieso?«, fragte ich.

»Über die führte in früheren Zeiten die alte Handelsroute, die Konstantinopel mit Europa verband«, antwortete er.

»Kennen Sie die Brücke über der Drina? Sie ist in Višegrad und wurde genauso wie dieses Bauwerk in der Herrschaftszeit von Mehmet Sokullu Pascha erbaut«, sagte Bojan.

Tatsächlich erinnerte ich mich. »Moment mal, sie spielte die zentrale Rolle in einem weltberühmten Roman.«

»Genau, Ivo Andrić hatte für das Buch sogar den Nobelpreis für Literatur erhalten«, ergänzte Bojan.

Ich musterte die Einbogenbrücke und erkannte Ähnlichkeiten zu einer Brücke, die ich kannte. Zu meiner Verwunderung sah sie so ähnlich aus wie die aus meinem nächtlichen Alptraum. Daher bat ich Davut, rechts ranzufahren. Ich wollte von ihr ein Foto schießen und suchte mir dafür eine geeignete Position etwas weiter oberhalb von der Brücke aus. Kaum hatte ich den Auslöser gedrückt, fuhr eine schwarze Limousine auf den Seitenstreifen und hielt an. Bojan wirkte auf einmal sehr angespannt. Seine Gesichtszüge verrieten Angst. Davut hingegen zeigte keine Regung im Gesicht. Tarik stieg aus und öffnete auf der Beifahrerseite die hintere Tür. Einen Lidschlag später stand der kräftige Mann mit Bürstenschnitt vor unserem Wagen. Seine Beine wirkten im Vergleich zum übergroßen Oberkörper kurz, seine Hände hätten die eines Metzgermeisters sein können. Eine fingerlange Narbe zierte auf seiner rechten Gesichtshälfte die wulstige Augenbraue. Davut ließ sich weiterhin nicht beirren. Auf Bojans Stirn lief der Schweiß an den Schläfen herunter. Beide wussten genau, wer der Mann war.

»Habe keine Angst, Serbe! Ich werde dir nichts tun«, sprach der Mann, seine beinahe sanft anmutende Stimme passte so gar nicht zum Äußeren, und schob mit sarkastischem Unterton hinterher: »Schließlich haben wir jetzt Frieden.«

Der Fremde drehte sich in meine Richtung. Wie ich später erfuhr, hatte er sich durch abscheuliche Gräueltaten - vor allem an Serben - einen Namen gemacht.

»Sie haben ein Faible für gute Motive, Elias«, rief der Mann. Er deutete auf die Kamera in meiner Hand.

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er meinen Namen kannte und marschierte zu ihm hinüber, beäugte ihn kritisch.

»Wer sind Sie? Woher kennen Sie meinen Namen?«, fragte ich.

»Ich bin Almir.« Die wulstigen Augenbrauen des Mannes berührten sich fast. »In der Regel brauche ich mich nicht vorstellen. Sie sind neu und Sie können mich daher nicht kennen, deshalb verzeihe ich ihnen. Willkommen in meiner Stadt!«

Ich insistierte. »Sie haben meine zweite Frage noch nicht beantwortet!«

Er wiegelte ab. »Dies ist meine Stadt. Ich habe überall meine Leute, die mich informieren.«

»Dann wissen Sie bestimmt auch, dass ich nicht vorhabe, mich in Ihre Geschäfte einzumischen. Wer auch immer Sie sind, es ist mir völlig egal.«

»Ich habe grundsätzlich nichts gegen neue Hauskredite«, verblüffte er. Offensichtlich kannte er meinen Auftrag.

»Mein Bericht wird Ihre Belange nicht berühren.«

»Glauben Sie wirklich, dass meine Belange dadurch nicht betroffen sind? Dennoch, ich wollte mich lediglich vorstellen.«

Almir drückte mir eine Visitenkarte in die Hand und forderte mich auf, ihn in seinem Hotel zu besuchen. Dann stieg er wieder in die Limousine und fuhr weiter in Richtung Sarajevo. Die Luxuskarosse hatte genauso wie unser Gefährt britische Kennzeichen. Auf der Visitenkarte war der Uhrturm, die Saat Kula, als Logo stilisiert. Darunter die Adresse und Telefonnummer von seinem Hotel. Bojan atmete auf, als Almir endlich verschwand.

»Im Foyer seines Hotels befindet sich eine exakte Nachbildung des Uhrturms, daher der Name. Selbst die Monduhr funktioniert«, sagte Davut.

Nach seinen Schilderungen sei die Hotelanlage während des Krieges erbaut worden. Sie glänze seitdem mit bester Ausstattung in der Stadt. Keiner habe eine Erklärung dafür gehabt, ein unsichtbares Schutzschild habe sie vor feindlichem Beschuss aus den Bergen geschützt. Nicht eine Granate hätte sich dorthin verirrt. Man munkele, dass das Hotel einer Untergrundorganisationen als Treffpunkt diene, aber auch normale Gäste würden sich dort gerne einquartierten, weil sie sich sicherer fühlen und den Komfort schätzen würden.

»Wundert mich, dass Almir lebend aus Pale rauskam«, bemerkte Bojan. »Einen anderen Muslim würden die da niemals lebend rauslassen.«

Davut nickte zwar zustimmend, fügte aber dann hinzu: »Bei dem weiß man nicht, auf welcher Seite er steht.«

Auf dem restlichen Weg nach Pale gingen mir viele Gedanken durch den Kopf.

Wenn Almir nichts gegen neue Hauskredite hat, warum lässt er mich denn dann beschatten? Wer war die Quelle für seine Informationen? Zu viele Unbekannte in dieser Gleichung. Eine einfach lösbare Aufgabe sieht anders aus.

Keine Antworten zu haben, verunsicherte mich stark. Ich erwog ernsthaft, meine Reise abzubrechen, da sie allmählich unheimlich wurde.


Eine bildhübsche Frau, Ende zwanzig, saß an ihrem Schreibtisch und tippte die Eckdaten von Anträgen in den Computer, als wir die kleine Filiale in Pale betraten. Selbst ihre Kleidung hatte etwas Besonderes. Sehr individuell würde manch einer sagen. Das dunkelrote, metallisch schimmernde Kleid, welches aus vielen Einzelteilen zusammengenäht war, umhüllte ihren wohlgeformten Körper. Dabei schlängelten sich die Nähte von unten nach oben um ihre Taille herum bis zu der schwarzen Perlenkette am Hals. Für eine Bankmitarbeiterin ein gewagtes Outfit. Es war zwar kein Gramm Stoff zu wenig an ihrem Körper, aber eben auch kein bisschen zu viel. 

Bojan stellte sie mir vor. »Tamara, meine Kollegin.«

»Ich hoffe, die Fremdenlegionäre sind Ihnen nicht an die Wäsche gegangen«, witzelte Tamara und reichte mir die Hand.

Über die Anspielung musste ich lachen. Die Amtssprache der Bank war Englisch. Ihr Englisch war nicht so perfekt wie das von Bojan. Der starke serbische Akzent in ihrer Stimme war mehr als dominant. Schlimm fand ich das aber nicht. Ganz im Gegenteil, es klang irgendwie süß. Ich stellte mich ebenfalls vor und drückte ihr meine Visitenkarte in die Hand. Als Haarfetischist konnte ich mir einen zweiten, intensiveren Blick nicht verkneifen. Ihre langen schwarzen Haare reichten bis zur Hüfte und waren an den Spitzen gelockt. Das schmale Gesicht, die schlanke Figur gepaart mit einem langen Hals und dazu noch bernsteinfarbenen Augen, diese Kombination hatte von Anfang an ihre Wirkung bei mir nicht verfehlt. Die Verlockung war riesig. Das Testosteron in meinem Blut machte sich deutlich bemerkbar, selbst bei dem flüchtigsten Blick.

»Kaffee?«, fragte sie in die Runde und zwinkerte mir mit einem Auge zu.

Kaum hatten wir bejaht, bewegte sie sich mit gekonnt ausladendem Hüftschwung auf ihren schwindelerregend hohen schwarzen High Heels in die Küche.

»Ist sie nicht die perfekte Mitarbeiterin?«, fragte ich Bojan und achtete darauf, dass sie mich so gerade noch hören konnte.

»Loben Sie Tamara nicht zu viel, sonst bildet sie sich was darauf ein.« Auch Bojan, sprach laut genug, dass Tamara ihn verstand.

»Gar nicht so einfach bei dem Charme, ihr keine Komplimente zu machen. Ich hoffe, Almir hat Sie nicht zu sehr beängstigt.«

»Sein Erscheinen jagt jedem Serben einen Schrecken ein.«

»Man darf sich von solchen Kerlen nicht einschüchtern lassen.« Dieser Satz war nicht nur an Bojan gerichtet, sondern auch an mich selbst, denn in Wirklichkeit war ich mittlerweile selbst verunsichert.

»Keine Bange. Ich werde weiterhin nach Sarajevo fahren. Nur so kehrt irgendwann Normalität ein.«

Ich hätte ihm keinen Vorwurf machen können, wenn er es nicht mehr getan hätte, schließlich zehrte der blutige Konflikt immer noch an den Knochen der Menschen hier. Tamara kam mit einem Tablett voller Kaffeetassen zurück. Ihre nach oben gezogenen Mundwinkel verrieten, dass Sie mein Kompliment sehr wohl vernommen hatte. Bojan erzählte dann von der Begegnung mit Almir. Tamara riss die Augen weit auf.

»Almir ist ein böser Mensch!«, sagte sie. »Als Sarajevo umkämpft war, hat er verbliebene Serben gejagt und brutal ermordet.«

»Gibt es Beweise dafür?«, wollte ich wissen.

»Ja. Es gibt viele Berichte über seine Untaten. Zum Beispiel haben Zeugen gesehen, wie er einem Serben eigenhändig die Kehle durchgeschnitten hat«, antwortete sie.

Bojan fügte noch hinzu. »Der Mann war bloß ein Zivilist und wurde an der Sebilj vor den Augen seines Sohnes und seiner Frau abgeschlachtet!«

»Das soll jetzt keine Rechtfertigung sein, aber sind nicht in Sarajevo auch Zivilisten von serbischen Scharfschützen erschossen worden?«, warf ich ein.

»Trotzdem, vor den Augen seiner Familie? Sowas macht kein normal tickender Mensch«, entgegnete Tamara.

Nach ihrer Darstellung wäre der Serbe wegen seiner muslimischen Frau und dem kleinen Sohn in Sarajevo geblieben. Er selbst käme ursprünglich aus Pale, wo noch Verwandte von ihm lebten. Der Mann habe weder gekämpft, noch mit der serbischen Seite zusammengearbeitet, doch seine serbische Herkunft allein habe Almir als Rechtfertigung gereicht. Das Opfer habe wie ein kleines Kind geweint. Auch sein Wehklagen, dass für ihn Muslime und Orthodoxe Brüder seien, habe nichts an seinem Schicksal geändert. Keiner habe es gewagt, Almir von seiner Tat abzuhalten. Im Gegenteil, das Publikum hätte geklatscht und die Hinrichtung gefordert, als Almir gebrüllt habe, dass der Mann serbisches Blut in sich tragen würde.

Mir war durchaus bewusst, dass Nachrichten bei der Weitergabe von Mund zu Ohr nahezu immer ausgeschmückt wurden, vor allem in Krisenregionen, der Kern des Geschilderten jedoch stimmte in der Regel. Ich war entsetzt darüber, wie brutal Menschen im Krieg sein können. Meine Augen wurden feucht. Dennoch, eine innere Stimme forderte mich dazu auf, unparteiisch zu sein. Ich war ein Consultant und Mitleid war fehl am Platze. Schließlich gab es ja auch Horrorgeschichten über Arkan und seine Tiger, der es sogar bis in die internationale Presse geschafft hatte.

Gräueltaten gibt es auf allen Seiten.

Ja, und das ist so grausam, man sollte nicht eine Abscheulichkeit gegen die andere aufwiegen.

Das ist nicht dein Krieg. Keine der Seiten darf deine Gefühle für sich vereinnahmen.

»Keine Frage, das war ein nahegehendes und schlimmes Ereignis. Dennoch sollte man die anderen nicht gleich alle verteufeln. Denken Sie an die Gräueltaten von Arkan und seinen Tigern.«

Jetzt war Tamara leicht verärgert. »Er hatte aber Gründe. Arkan ist für uns ein Held.«

»Auch bei uns gibt es Fehler, Tamara«, beschwichtigte Bojan. »Im Verlaufe eines Krieges passieren halt Dinge, die keiner zu Beginn wollte.«

Die Hartnäckigkeit, mit der Tamara Arkan in Schutz nahm, irritierte mich. Ich war froh, als wir wieder im Wagen saßen. Trotzdem hatte sie etwas, das mich faszinierte.


Der Bauer, ein kleiner Mann mit kugelförmigem Oberkörper und fleischigen Armen, öffnete uns das Lattentor. Davut steuerte den Land Rover auf einen Bauernhof, der mit einem Gatter eingefriedet war. Es hatte geregnet, der Weg war nicht asphaltiert, daher drehten hin und wieder die Räder im Matsch durch. Wir fuhren an einem verblichenen Bretterverschlag vorbei, der als Scheune diente, und hielten auf das Hauptgebäude zu. Auf der gegenüberliegenden Seite der Scheune befand sich eine offene Stallung, sie wirkte notdürftig errichtet und bot dennoch ausreichenden Schutz vor Regen. Ein paar Schweine und dutzende Hühner lebten darin in Symbiose. Es war kein besonders großer Hof und das Haus des Bauern war in einem passablen Zustand. Im Gegensatz zu der Stallung und der Scheune war es aus Bruchstein gebaut. Vermutlich existierte das Haus bereits seit vielen Jahrzehnten.

Der Strom war ausgefallen. Das kam außerhalb der Städte öfters vor. Im Hintergrund lief daher ein Stromgenerator und machte ohrenbetäubenden Lärm. Davut zog es vor, im Auto zu warten, während Bojan mich dem Bauern vorstellte. Dieser war ganz aufgeregt, da selten ein Fremder seinen Hof besuchte, und bat uns gleich, im Wohnzimmer Platz zu nehmen. Während Bojan seinen obligatorischen Fragenkatalog mit dem Bauern durchging, versorgte uns die Ehefrau mit Kaffee und Orangensaft. Wie sich herausstellte, lebte der Bauer in erster Linie von Schweinezucht, verkaufte aber auch ab und an Geflügel und einen selbstgebrannten Slibovica, den er uns nach dem Kaffee zum Probieren anbot. Ein ziemlich starkes Zeug. Die rote Nase des Bauern ließ anmuten, dass er selbst sein bester Kunde war. Das Gesicht von dem hochprozentigem Zeug verzogen, notierte Bojan gewissenhaft alle Besitztümer des Bauern in sein Heft, denn bei einer Kreditzusage würden diese als Sicherheit verpfändet werden. Die Bank verpfändete grundsätzlich alles. Alles, was irgendeinen Wert hatte.

Schweine als Sicherheiten wären daheim in den Staaten undenkbar.

Als wir uns schließlich verabschiedeten, wünschte der Bauer dem Leiter der Kreditabteilung, Nenad, schöne Grüße. Verwundert darüber fragte Bojan, woher er Nenad kannte.

»Ach, ich hab ihn mal in der Filiale kennengelernt«, entgegnete der Bauer mit einer unsicheren Stimme, während die Farbe seiner Nase ins Violette wechselte. 

Die Notlüge war mehr als offensichtlich, denn Nenad fuhr nie nach Pale. Das wäre für einen Muslim zu riskant gewesen. Trotzdem lächelte Bojan freundlich und wir verabschiedeten uns gemeinsam, während der Bauer sich auf die Lippe biss und es bereute, Nenads Namen überhaupt erwähnt zu haben.

Auf dem Rückweg setzten wir Bojan in der Nebenfiliale ab und ich nahm mir noch Zeit, um mich von Tamara zu verabschieden. Unser kleiner Schlagabtausch war zwar meiner Ansicht nach nicht der Rede wert, aber sie hatte sich in ihrem Nationalstolz angegriffen gefühlt. Ich wollte das geradebügeln und einen guten Eindruck hinterlassen. Wie sich herausstellte, war sie nicht nachtragend. Da waren sie wieder, die bernsteinfarbenen Augen, die mich ansahen, als wäre ich nicht von dieser Welt. Und das dezente Lächeln, das immer da zu sein schien.

Zurück in Sarajevo, bat ich die Sekretärin darum, gleich für den nächsten Morgen einen Termin mit Nenad, dem besagten Manager der Kreditabteilung, zu vereinbaren.









4

Die Botschaft


DAS Café Violine befand sich im Theaterviertel unweit der Bank. Dort war ich am Abend um neun Uhr mit Gabor Barna verabredet. Die Straßen quollen über vor jungen Menschen, darunter auffällig viele Frauen. Wohl ein Tribut an den Krieg, dachte ich. Alle waren offensichtlich froh, endlich ohne Risiko ausgehen zu können. Ich erreichte das Café Violine etwas zu früh, bestellte einen Espresso und beobachtete von meinem Platz aus die anderen Gäste und das Geschehen draußen in den Straßen.

Während der Belagerung Sarajevos war Feiern nicht ohne Lebensgefahr möglich gewesen. Ohnehin hatten die meisten Cafés in dieser Zeit mangels Kundschaft dichtgemacht. Gefeiert wurde damals nur in geheimen Kellern bei Kerzenlicht. So habe es regelmäßig, wie mir der Kellner beschrieb, inoffizielle Partys und Undergroundkonzerte gegeben, über die man nur durch Mundpropaganda erfahren konnte und zu denen man ausschließlich mit einer persönlichen Einladung hereingelassen worden sei. Trotz des Krieges hätten sich die Menschen den Spaß nicht nehmen lassen und jedes Mal gefeiert, als ob es der letzte Tag für sie gewesen sei. Nur so sei ihnen möglich gewesen, für eine kurze Zeit zumindest, den Frust aus dem Bewusstsein zu verdrängen. Normalität zu erleben.

Ungeachtet der Zugehörigkeit zum Islam trugen die weiblichen Gäste überraschend freizügige Kleidung. Es gab keine Brüder, die als Aufpasser dienten, keine Spur von Kopftüchern oder gar Burkas. Stattdessen kamen Miniröcke und Pumps zum Vorschein, war der Mantel einmal ausgezogen. Ganz im Gegenteil, diese Frauen strotzten nur vor Selbstbewusstsein, sie widersprachen komplett dem Bild, das westliche Medien über muslimische Frauen vermittelten.

Gabor Barna wirkte sehr aufgeregt, als er endlich in das Café eintrat. Er war zu spät dran. Die Haut auf seinem Gesicht glänzte vor Schweiß. Irgendetwas bedrückte ihn ungemein. Den Abend gemütlich zu verbringen, das war ursprünglich mein Ziel. Auf schlechte Nachrichten war ich keinesfalls eingestimmt. Daher verunsicherten mich die unruhigen Handbewegungen von Gabor Barna stark.

»Gut, dass wir uns treffen. Ich habe eine Schreckensmeldung.« Seine Stimme klang nervös. Er musste erst ausatmen, bevor er weitersprach. »Nenad, der Leiter der Kreditabteilung ist tot!«

»Wie … wie … wie ist das passiert?«, fragte ich bestürzt. Das Blut schoß in meinen Kopf. Mein Herz raste, während Gabor Barna das Geschehen schilderte.

»Er hing an einem Strick an der Lateinerbrücke. So kurz nach acht hat man ihn entdeckt.«

»Den wollte ich doch am nächsten Morgen treffen.«

»Ich erfuhr über den Mord vom Polizeipräsidenten«. Gabor Barna musste wieder eine Pause einlegen, um durchzuatmen. »Man fand einen Zettel in seinem Mund. Auf der Vorderseite war ein Bild vom Attentat auf Franz Ferdinand und auf der Rückseite ein kurzer Text: ›So ergeht es jedem, der mit Feinden kooperiert. Gestern wie heute. G.P.‹«

Die Bestürzung über die Schreckensmeldung lähmte meine Synapsen. Ich war kaum mehr in der Lage, Gedanken in Worte zu fassen.

»Ja aber … ja aber, er ist doch mit Peter Lemming nach Mostar gefahren.«

»Der kam gerade in das Polizeipräsidium, als ich mich verabschiedete. Er wirkte sehr schockiert.«

»Das hört sich nicht nach Selbstmord an. Wieso sollte Nenad sowas tun?«

»An Selbstmord glaube ich auch nicht.«, stimmte Gabor Barna zu.

»Was hat er dann mit einem Kronprinzen aus längst vergangenen Zeiten zu tun? Das alles macht irgendwie keinen Sinn.«

»Soweit bekannt ist, wurden damals der Kronprinz und seine Gemahlin durch ein Mitglied der Mlada Bosna getötet. Gavrilo Princip, der Täter, war ein Serbe …«

Ich war skeptisch. »Aber es ist doch momentan kaum vorstellbar, dass in Sarajevo Serben eine derartige Tat begehen. Ist das nicht zu riskant für sie?«

»Mlada Bosna bestand nicht nur aus Serben. Zudem gab es mehrere Attentäter. Unter ihnen befand sich auch ein Muslim.«

»Ok, verstehe.«

»Gavrilo Princip, für dessen Namen vermutlich die Initialen auf dem Zettel stehen, war nur der erfolgreiche Schütze. Den Attentätern waren die eigentlichen Hintermänner unbekannt.«

»Nenads Tod bringt meine ganze Planung durcheinander.« Das musste erst verdaut werden, ich bestellte zwei Kurze für uns. Es dauerte dennoch eine Weile, bis ich mich fasste.

Auch ich hatte Neues zu berichten, ich erzählte Gabor Barna von der Begegnung mit Almir und die Einladung ins Saat Kula Hotel. Beim Revuepassieren des Tages fiel es mir auf, seitdem hatte ich keinen Verfolger mehr bemerkt.

Irgendwie komisch.

»Saat Kula«, sagte Gabor Barna. »Das beste Hotel in der Stadt. Überrascht mich nicht, dass er Sie in sein stolzes Hauptquartier einlädt.«

»Keine Ahnung, ob ich auf die Einladung eingehen soll.«

»Ich selbst verbrachte eine Nacht in dem Hotel, um mir einen Eindruck zu verschaffen.«

»Und? Man munkelt, dass dort das organisierte Verbrechen zu Hause ist. Stimmt das?«

»Die Gerüchte sind mir bekannt. Es wird auch von Prostitution berichtet«, sagte Gabor Barna. »Nichts davon konnte ich dort feststellen. Lediglich diese von allen Seiten angeleuchtete, imposante Nachbildung des Uhrturms.«

»Und die Kundschaft?«

»Meist Geschäftsleute, einige wenige Familien. Kinder krabbelten im Foyer. Seien sie trotzdem vorsichtig. Wie sie sehen, passieren momentan seltsame Dinge.«


Am nächsten Tag platzierten alle Zeitungen des Landes die Nachricht über den Mord an dem Kreditmanager der CBB prominent auf der Titelseite und sie schlug ein wie eine Bombe. Für eine Bank, die um das Vertrauen von Kunden warb, ein Fiasko. Unter der Belegschaft herrschte Hektik und Panik. Nenad war äußerst beliebt in der Bank gewesen, folglich war deren tiefe Bestürzung ihren Gesichtern abzulesen. An einen normalen Arbeitstag dachte daher keiner mehr. Nahezu alle Filialleiter waren angereist, um ihre Anteilnahme und Trauer zum Ausdruck zu bringen. Peter Lemming saß gerade mit ihnen im Konferenzraum, als ich eintrat. Er war dieses Mal sehr zuvorkommend. Nachdem ich einen Gruß in die Runde gesandt hatte, nahm ich Platz und hörte seinen unaufhörlichen Besänftigungen zu.

»Dies ist eine Ausnahmesituation«, teilte er den Anwesenden mit. »Die Polizei ermittelt und wird hoffentlich die Schuldigen bald fassen.«

Die Runde aber ließ sich nicht so einfach beruhigen. Alle redeten durcheinander. Es wurde sehr laut im völlig überfüllten Raum. Die Luft sehr stickig.

»Wir müssen möglichst schnell zum Tagesgeschäft übergehen, damit das Ansehen der Bank nicht darunter leidet!«, setzte Peter Lemming verzweifelt fort.

Seine Beschwichtigungen halfen jedoch nicht. Der Schuldige schien schnell gefunden.

Samir, der Filialleiter aus Tuzla, gab sich sicher: »Nenad ist von Serben ermordet worden. Der Text auf dem Zettel und der Bezug auf Gavrilo Princip machen das mehr als deutlich.«

Claudia, die Managerin der Banja Luka Filiale - in serbischen Teilen waren die Filialleiter stets Internationals - hielt dagegen. »Wir müssen vorsichtig sein. Schnelle Schuldzuweisungen könnten gravierende Folgen haben. Schließlich können alle möglichen Motive dahinterstecken.«

»Genau, wir dürfen die mühsam aufgebaute harmonische Beziehung zwischen Muslimen, Serben und Kroaten in der Bank auf gar keinen Fall gefährden!« Peter Lemming war besorgt über die aufgeheizte Stimmung.

So ging die Diskussion noch eine ganze Weile weiter. Mehrfach drohte sie außer Kontrolle zu geraten. Peter Lemming hatte immer wieder Mühe, die Gemüter zu beruhigen. Ohne klare Erkenntnisse, zog ich es vor, mich mit einer Stellungnahme zurückzuhalten. Ein Vieraugengespräch mit Peter Lemming war für mich die bessere Alternative, den Vorfall zu verarbeiten.

»Wir sind gegen sechs Uhr nachmittags zurückgekommen«, sagte er. »Ich bin dann noch bis halb neun im Büro gewesen, als mich der Anruf der Polizei erreichte.«

»Hat sich Nenad irgendwie auffällig verhalten?«

»Nein. Es war ein ganz normaler Tag. Wir hatten einen Möbelproduzenten besucht, der einen Antrag auf einen großen Kredit gestellt hatte.«

»Der Vorfall ist nicht gerade förderlich. Ich kann ihn in meinem Bericht nicht unerwähnt lassen.«

»Wir brauchen das Geld von den Anteilseignern.« betonte Peter Lemming. »Es würde uns einen strategischen Vorteil gegenüber der Konkurrenz verschaffen.«

»Das ist richtig«, bestätigte ich.

»Serben gegen Muslime, Muslime gegen Serben, das ist normal hier.«

»Normal hier? Betrachten Sie den Verlust Ihres Managers als Kollateralschaden auf dem Weg zum Erfolg?«

»Der Frieden ist nicht gefestigt und derartige Vorfälle können in Bosnien immer wieder passieren. Wichtig ist, dass der Wunsch nach einem friedlichen Zusammenleben überhaupt steigt.«

»Ihre Argumentation legt nahe, dass auch Sie von Serben als Täter ausgehen. Was aber, wenn Nenad in dunkle Machenschaften verstrickt war?«

Peter Lemming war verblüfft, dass ich diesen Gedanken geäußert hatte. »Er war ein sehr guter Manager. Die Statistiken über das Wachstum unseres Kreditgeschäfts belegen dies.«

»Das ist richtig. Die Ausfallquote liegt bei unter einem Prozent. Dennoch …«

Nach alldem, was ich in Sarajevo bis dahin erlebt hatte, zweifelte ich an Mord aus patriotischen Gründen, begangen von Serben. Meine mysteriöse Beschattung, der Gruß an Nenad … Der Gruß an Nenad? Das alles passte nicht so richtig zu dieser Theorie. Für Serben wäre es schwierig gewesen, unbehelligt in die Stadt zu kommen. Er wurde ja nicht aus größerer Distanz von Scharfschützen in den Bergen erschossen, sondern mit erheblichem Körpereinsatz erhängt. Vielleicht waren es ja auch mehrere Täter.

»Haben Sie schon einen Nachfolger?«, fragte ich ihn.

»Ich bin noch nicht ganz sicher. Erwin, sein Stellvertreter, ist wohl am besten geeignet für die Position, denn er kennt bereits die Aufgaben.«

»Sehe ich genauso«, stimmte ich zu.

Der Kandidat für den Posten des Kreditmanagers würde vom Aufsichtsrat abgesegnet werden müssen. Das sollte möglichst schnell geschehen, da die Kreditabteilung nicht lange führungslos bleiben durfte. Während ich das weitere Vorgehen mit Peter Lemming besprach, klingelte mein Handy. Die eingeblendete Nummer kannte ich nicht, trotzdem nahm ich das Gespräch an. Zu meiner Überraschung war Tamara am anderen Ende der Leitung. Sie war auf dem Weg nach Sarajevo und fragte mich, ob ich Zeit hätte. Ich sagte zu, weil ich die Chance auf Zerstreuung nicht ungenutzt lassen wollte, denn die Vorfälle seit meiner Ankunft nagten bereits an meinem Selbstvertrauen. Ich war nicht mehr sicher, ob ich noch die Kraft hatte, meine kürzlich erst begonnene Analyse fortzuführen. Wir vereinbarten, uns in der Cafeteria der Bank zu treffen, und ich freute mich auf das Wiedersehen mit Tamara sowie den Anblick der bernsteinfarbenen Augen.


Passend zum traurigen Anlass erschien Tamara in dunkler Kleidung. Sie trug ein schwarzes Jerseykleid, welches farblich mit der Ledertasche in ihrer Hand und den schwarzen Ballerinas perfekt harmonierte. Anstelle der hohen Pumps hatte sie dieses Mal Schuhe mit niedrigen Absätzen an. Trotz des bewusst konservativ gewählten Styles fand ich sie sehr sexy. Die Ärmel waren nur oben mit dem Rest des Kleides befestigt, sodass die glatte Haut an ihren Schultern dezent sichtbar war. Tamara wusste sich zu kleiden, eine echte Stilikone eben. Eine wahre Künstlerin darin. Unabhängig vom jeweiligen Dress begleitete obendrein stets noch ein Hauch von Erotik ihre Aura. Über den Tod Nenads war sie sehr traurig.

»Ihr Erscheinen, als Serbin, gerade in diesem aufgewühlten Augenblick, zeigt innige Anteilnahme. Ein schönes Zeichen der Versöhnung.«

»Nenad war ein Freund. Wir haben uns stets sehr gut verstanden. Er zeigte mir oft Videos von seinen Auftritten.«

»Videos?«

»Ja, er war ein guter Entertainer. In seiner Freizeit ist er in Clubs aufgetreten und hat Volkslieder gesungen.«

Tamara holte ein Laptop aus ihrer schwarzen Ledertasche und zeigte mir das Video von Nenads letztem Auftritt. Ein Mann, Mitte dreißig, in einem silbern glitzernden Outfit stand auf der Bühne und sang zu dem tosenden Publikum vor sich. Sein überproportional großer Kragen erinnerte an den Anzug eines Idols aus den Siebzigern. Elvis Presley. Wüsste ich es nicht besser, würde ich beim Betrachten der Bilder nicht auf seinen Managerjob bei der CBB schließen.

»Er singt ein altes bosnisches Lied«, erklärte Tamara. »Kad ja podjoh na Bembasu. Das ist eine Sevdalinka

»Klingt sehr melancholisch. Erinnert mich an portugiesische Saudade

»Ja genau. Es ist eins meiner Lieblingslieder, handelt von Liebe und Wehmut. Jeder hier kennt das Lied.« Die Miene von Tamara wurde nun ernster. »Umso trauriger ist, was ihm widerfahren ist. Er war ein sehr guter Mensch.«

»Das sagen alle.«

»Nenad konnte sich zwar immer durchsetzen, machte aber auch oft kleine Scherze, um die Situation aufzulockern. Ich mochte ihn.«

Tamara bekam bald feuchte Augen. Natürlich wusste sie aus der Zeitung über die Textbotschaft in seinem Mund. Am morgen hatte mich Gabor Barna mit zusätzlichen Informationen versorgt. Offensichtlich hatte Nenad Vergiftungserscheinungen am Körper. Laut Vermutung der Ärzte sei er bereits tot gewesen, bevor er an der Brücke hing. Er konnte sich demnach gegen seine Henker nicht mehr wehren. Gewissheit sollte eine Obduktion in den nächsten Tagen erbringen.

»Ist Ihnen in der letzten Zeit etwas an Nenad auffällig erschienen?«

»Nein, absolut nicht. Ich habe ihn ja stets in Sarajevo getroffen, als ich für Kreditkomitees kam.«

»Hatte er direkten Kontakt zu Kunden in Pale?«

»Ich denke nicht. Er war nie in Pale. Das wäre zu gefährlich für ihn gewesen.«

»Kennen Sie Erwin gut?«

»Der ist sein Stellvertreter. Ich hoffe nicht, dass er den Job jetzt übernimmt.«

»Wieso denn?«

»Na, ich komme mit ihm einfach nicht klar. Er schaut stets sehr streng und ist meist spießig gekleidet. Ich habe den Eindruck, dass er mich nicht mag.«

»Und die Kunden in Pale? Wie haben die reagiert?«

»Die haben natürlich auch davon gehört. Ein Bauer rief an, er war besorgt, ob er den beantragten Kredit noch erhalten würde.«

»Ein Bauer? Ich hatte doch mit Bojan einen besucht.«

»Genau der, denke ich.«

Ich bat Tamara, mich auf dem Laufenden zu halten und wechselte das Thema, denn ich konnte kaum erwarten, mehr über diese geheimnisvolle Frau zu erfahren. Sie wirkte in dem eleganten Kleid und den Extensions an den Fingernägeln sehr fraulich. Nicht, dass ich auf Extensions stand, denn bei der Wahl meiner Freundinnen hatte ich sonst auf andere Aspekte geachtet, aber das betont Weibliche gefiel mir in ihrem Falle sehr. Auch sie hatte offenbar Sympathiegefühle für mich. Schließlich wollte sie mich treffen und ich witterte die Gelegenheit.

Komm schon, du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben. Was ist denn schon dabei, mit einer anderen Frau zu flirten? Überhaupt ist Natalie in letzter Zeit oft schlecht drauf, kritisiert dich bei jeder Kleinigkeit. Selbst aus einer nicht abgespülten Kaffeetasse macht sie eine Staatsaffäre und schweigt tagelang bis dein Mitgefühl groß genug ist, um dich bei ihr zu entschuldigen. Wie erniedrigend! Das hast du doch nicht verdient.

Das stimmt, warum bin ich stets derjenige, der nachgibt … Du hast recht.

Tamara erzählte mir, dass sie kurz nach dem Krieg zu Alex, ihrem Verlobten, nach Pale gezogen sei. Sie hatte zuvor in Belgrad Wirtschaft studiert und habe damals mehr Zeit mit dem Verlobten verbringen wollen. Die Beziehung zu Alex sei jedoch nach wenigen Monaten bereits zerbrochen, weil sich die Differenzen als unüberwindbar herausstellten. So hätte sie seit mehr als einem Jahr allein gelebt. Den Kontakt zu ihrem Verlobten hätte sie abgebrochen. Trotz Trennung habe sie sich entschieden, nicht zuletzt auch wegen des sicheren und gut bezahlten Jobs bei der CBB in Pale zu bleiben.

Latent sichtbare dunkle Ränder um ihre Augen verrieten dies, sie hat es nicht immer einfach gehabt. Ein weiterer Grund nach Pale zu gehen, waren die permanenten Streitigkeiten ihrer Eltern gewesen. Sie hatte es daheim nicht mehr ausgehalten. Für das Examen war sie aus diesem Grund in einen Belgrader Vorort zu ihrer Großmutter gezogen. Nur so konnte sie in Ruhe lernen. Die Großmutter sei ihre eigentliche Bezugsperson. Sie wäre jenseits der Achtzig, dennoch geistig und körperlich fit, von üblichen altersbedingten Wehwehchen abgesehen. Tamara mochte sie wohl sehr gerne und schwärmte sehr von ihr. Während sie aus ihrem beschwerten Leben plauderte, kreuzten sich unsere Blicke auffällig oft. Grundsätzlich mochte ich keine Menschen, die mit langgezogenen Gesichtern durch das Leben wanderten und permanent ihr Leid beklagten. Trotz der Schicksalsschläge, die diese Frau schilderte, bewahrte sie stets ein freundliches Gesicht. Das faszinierte mich wiederum. Ich nutzte jede Gelegenheit, um ihr Lächeln zu erwidern, aber es knisterte irgendwie nicht. Ein Wink ihrerseits, dass sie aufgeschlossen wäre, war nicht zu erkennen. Der Funke wollte einfach nicht rüberspringen und die Gedanken hinter ihren Augen waren unerreichbar für mich.

Vielleicht bin ich auch zu ungeduldig? Schließlich wirft Natalie mir dies oft vor. Vielleicht sind Frauen hierzulande aber auch komplett anders gepolt und ich habe etwas falsch interpretiert?

Insgesamt fiel mir auf, dass Frauen auf dem Balkan gerne ihre Kurven zur Schau stellten und femininer gekleidet waren. In den Staaten hätte Tamara mit ihrem Outfit sicherlich den Vogel abgeschossen, aber hier trugen alle Frauen zu jeder Gelegenheit ihre besten Kleider. Sie zeigten ungeniert, was sie zu bieten hatten.

Vielleicht ist es genau diese Grundhaltung, die ich bei Tamara überinterpretiere? Vielleicht hat sie kein weitergehendes Interesse an mir, vielleicht wollte sie einfach nur mit jemandem reden?

Da waren wieder die Gedanken an Natalie, wie sie traurig an der Tür stand und mein Mitgefühl erzwingen wollte. Keine Frage, ich liebte meine Freundin abgöttisch. Ich kannte sie schon seit meiner Kindheit. Wir sind zusammen in die Schule gegangen. Jahrelang hatten wir uns, als wäre ich ein Mädchen, wie Busenfreunde gesehen. Wir hatten lange keinen Sex miteinander. Nur allmählich, mit der Zeit wurde aus den vermeintlichen Busenfreunden ein Paar. Die Beziehung ist also, ähnlich wie bei einer Pflanze, über Jahre hinweg gewachsen und befände sich gerade in ihrer Blütezeit, wäre da nicht diese ungerechtfertigte Kritik an meinem Verhalten.

Natalie und ich wären dann wie füreinander geschaffen. Sie erdet mich und ich brauche sie. Ich weiß nicht, wie ich auf einen Verlust reagieren würde, trotzdem können wir so nicht weitermachen. Eine Auszeit wäre …

Es fühlte sich daher umso falscher an, die Grenze des über Jahre Gewachsenen zu überschreiten. Allein die Gedankenspiele mit Tamara provozierten quälende Schuldgefühle in mir. Mein Gewissen ermahnte mich, den naturgegebenen männlichen Trieb in mir besser zu kontrollieren. Trotz der Gewissensbisse aber drohte mir beim Anblick von Tamara ein gewaltiger Kontrollverlust. Sie elektrifizierte mich vom ersten Augenblick an ungemein. Das Testosteron in meinem Körper war einfach nicht zu bändigen. Tamara weckte augenblickliches Verlangen in mir.

Ein krasser Unterschied zu der Beziehung mit Natalie.

Beklemmt durch den innerlichen Kampf mit männlichen Hormonen, bemühte ich mich, auf gar keinen Fall meine unzüchtigen Gedanken zu verraten, während ich der süßen Stimme Tamaras lauschte.

Schon gar nicht, wenn von ihr kein klares Zeichen kommt.

Jede falsche Geste, jede Art von Errötung in meinem Gesicht und der Blick, der zu lange dauerte, wären verräterisch gewesen.

Bloß nicht alles aufs Spiel setzen. Warum sich unnötig aus der Deckung wagen?

Doch dann kam die Frage. Die Frage, die nicht hätte gestellt werden dürfen. Tamaras Augen begutachteten gerade den Ring an meinem Finger. »Sind Sie verheiratet?«

»Nein, nur verlobt«, antwortete ich verdutzt.

Hätte ich doch bloß diesen Ring vorher ausgezogen. Jetzt muss ich mit der Sprache raus.

Tamara zog ihre Augenbraue hoch und verstand nicht, warum auf die Verlobung keine Hochzeit folgte. Ich erzählte ihr von Natalie. Vor zwei Jahren hatten wir uns verlobt. Die Absicht, zu heiraten, hatten wir dabei überhaupt nicht. Die Verlobung war nicht allein eine Bestätigung unserer Liebe. Natalie und ich waren eigentlich der Ansicht, dass das althergebrachte Modell der Eheschließung nicht mehr zeitgemäß war. Dabei spielte keine Rolle, ob es sich um eine kirchliche oder standesamtliche Trauung handelte.

»Früher war es problematisch unehelich zusammenzuleben. Gerade wenn Kinder in die Welt gesetzt wurden«, sagte ich.

»Das ist hier immer noch so!«, bemerkte Tamara.

Wir alle kannten ja Begriffe, wie ›Bastard‹ oder ›Hurensohn‹, die in diesem Zusammenhang benutzt wurden. Diese Begriffe fanden jedoch kaum noch Verwendung. Das uneheliche Zusammenleben war jetzt absolut normal, sollte man meinen. Heutzutage war die Heirat nicht erforderlich.

»Im Gegenteil, nach Natalies Meinung braucht echte Liebe keine Beurkundung«, setzte ich fort. »Sie würde sich eher im Verhalten der Beteiligten zeigen. Ich teile diese Meinung.«

»Ok, aber wieso haben Sie sich dann überhaupt verlobt?«

»Eine berechtigte Frage. Die Verlobung kam auf Druck meiner Eltern zustande. Ich komme aus einer religiösen Familie, in der eine außereheliche Beziehung verteufelt wird.«

Tamara lachte. »Dann erging es ihnen genauso wie mir.«

»Natalie und ich haben damals lange überlegt, wie wir auf den Druck reagieren sollten. Zum einen wollten wir dem System trotzen, denn nach unserer Ansicht bedurfte unsere Liebe keiner Eheschließung, andererseits aber wollten wir meine Eltern besänftigen.«

»Also beschlossen Sie einen Kompromiss«, vervollständigte Tamara. »Sie verlobten sich mit allem religiösen Tamtam und beließen es einfach dabei. Ganz schön clever.«

»Richtig«, sagte ich. »Die Verlobung ermöglichte uns aus religiöser Sicht das unbeschwerte Leben in einer gemeinsamen Wohnung. Die Gerüchte der Nachbarn über unsere wilde Ehe verstummten und meine Eltern übten keinen Druck mehr aus.«

»Klar, sie mussten sich nicht mehr in der Gemeinde rechtfertigen. Aber wissen die Eltern, dass Sie beide nicht heiraten wollen?«

»Nein, die denken schon, wir würden in der Zukunft irgendwann heiraten.«

Tamara kicherte und verdrehte die Augen, als ob sie sich auf die Antwort der nächsten Frage insgeheim freute.

»Haben Sie Natalie jemals betrogen?« Ein breites Lächeln zierte jetzt ihr Gesicht.

»Oh, das ist aber jetzt eine sehr direkte Frage.« Ihre Offenheit verblüffte mich und ich wusste keine schnelle Antwort.

Ist das ein Zeichen? Oder die Vorstufe eines Zeichens, nach dem ich Ausschau halte.

Sicher war ich mir nicht. Dennoch freute es mich, dass sie das Gespräch auf eine doch sehr private Ebene hob. Das Schamgefühl in mir löste sich allmählich. Artikulieren fiel mir nun deutlich leichter. Meine inneren Grenzen waren jetzt weit weg geschoben und mein Aktionsradius erweitert.

»Ich bin ein treuer Typ!«, bekräftigte ich. »Nur einmal. Es war ein One-Night-Stand mit einer Frau, die ich in Bolivien kennengelernt hatte.«

Als es zwischen Natalie und mir wieder einmal kriselte, suchte ich bei Prostituierten Trost. Ich war damals schlecht drauf und brauchte eine Schulter zum Anlehnen. Der bezahlte Sex erfüllte zwar in keiner Weise die ersehnte Funktion, aber immerhin erleichterte er den Druck in meinen Lenden und verdeutlichte mir dennoch, wie wichtig die beiden essentiellen Zutaten - Zärtlichkeit und Liebe - gerade beim Sex sind. Sex ohne Gefühle ist wie Suppe ohne Gewürze. Sie schmeckt nicht besonders gut. Die Nutten zählten daher nicht. Stattdessen schilderte ich ihr die Geschichte vom einzigen Mal, als ich Natalie wirklich betrogen hatte.

Auch wenn Natalie und ich lange Zeit gut klar kamen, gab es in den letzten Jahren Momente, in denen es gewaltig knallte. Solch eine Situation war vor drei Jahren. Im Nachhinein konnte keiner von uns beiden verstehen, warum eigentlich. Vielleicht war es die dunkle Jahreszeit, es war damals Herbst und wir hatten beide Urlaub. Vielleicht musste aber auch Dampf aus dem Kessel abgelassen werden, ohne triftigen Grund. Quasi als ungeplante Wartungsarbeit für eine Beziehung. Wir konnten uns damals nicht darauf einigen, was wir mit der so seltenen Freizeit anfangen sollten. Natalie wollte mit mir nach Paris fliegen und das Grab von Jim Morrison besuchen.

»Wenn wir mal ein Kind zusammen zeugen sollten, dann nur auf dem Grab von Jim Morrison«, hatte Natalie damals gesagt.

Das war überhaupt das erste Mal, dass sie ihren Kinderwunsch geäußert hatte. In jenen Tagen wussten wir noch nicht, dass sie unfruchtbar war und wir zusammen keine Kinder zeugen konnten. Dieser Wunsch von ihr bewies aber, Natalie war die personifizierte Form von Rebellion und ein riesiger Fan von Jim Morrison dazu. Der Eiffelturm, die Kathedrale Notre-Dame und nicht zuletzt der Friedhof Père Lachaise waren sicherlich Sehenswürdigkeiten, die mich interessierten, jedoch zog ich es zu dem Zeitpunkt vor, mit Tim gemütlich in den Adirondack Mountains zu wandern. Wir hatten uns bereits eine schöne Tour zusammengestellt. Sie beinhaltete zehn Tage Wandern und Zelten. Neben Natalie sollte auch Sharon, Tims Frau, mitkommen. Und das war vielleicht das Problem. Natalie mochte die Nähe von Sharon nicht besonders. Schon gar nicht zehn Tage lang. Niemals würde sie ihre Abneigung offen zugeben, aber ich hatte sie zu unterschiedlichen Gelegenheiten gespürt und sie war meiner Ansicht nach nicht gerechtfertigt.

So bestand Natalie darauf, nach Paris zu fliegen und ich freute mich sehr auf die Wanderung. Keiner gab nach. Normalerweise lenkte einer von uns beiden immer ein, meistens übrigens ich. Nicht so damals. Beide beharrten auf den eigenen Plan. Als Resultat blieben wir daheim und sprachen nahezu die gesamten zehn Tage kein einziges Wort miteinander. Unser Zwist ging sogar soweit, dass ich auf der Couch im Wohnzimmer schlief, während sie es sich im gemeinsamen Bett bequem machte. So wurde der Urlaub für beide zur Tortur, denn am Ende war ich froh, wieder arbeiten zu gehen. Zu meinem Glück sandte mich der Boss gleich am ersten Tag nach Bolivien, wo die Foundation ein Bewässerungsprojekt für Ackerland finanziert hatte. Das Projekt wurde zusätzlich von einer schwedischen Organisation unterstützt, für die Beatrisa arbeitete. Eine temperamentvolle Frau mit spanischen und schwedischen Wurzeln, die genau wusste, was sie wollte. Ich hatte bis dahin noch nie eine Frau getroffen, die ihren Wunsch auf erotische Abenteuer ganz offen artikulierte. Am Ende der Galaveranstaltung, bei der wir uns kennengelernt hatten, flüsterte sie mir das Angebot ins Ohr, mit auf ihr Zimmer zu gehen. Aus ihrer Absicht machte sie dabei nicht den geringsten Hehl, versteht sich. Es war spät in der Nacht und die halbe Flasche Cognac, die wir den ganzen Abend lang weggenippt hatten, schwemmte alle Barrieren in meinem Kopf hinweg.

»Beatrisas Offenheit beeindruckte mich.« erklärte ich Tamara. »Ein Neinsagen war nicht möglich. Es war ein riesiger Spaß. Vor lauter Lachkrämpfen brauchten wir diverse Anläufe, um zum Geschlechtsakt zu kommen. Aber darauf gehe ich jetzt besser nicht ein.«

Tamara kicherte nun nicht mehr, sondern brach gleich in ein schallendes Gelächter aus. Sie konnte vor Belustigung kaum sprechen.

»Kann … kann ich mir schon vorstellen, wie das ausging. Wie war das Gefühl danach?«

»Ich fühlte mich so leer«, sagte ich. »So leergesaugt.«

Und wieder brach das Gelächter aus, bis sich bei beiden Freudentränen an den Augenrändern rauspressten und wir uns jeweils zur anderen Seite drehen mussten, um sie heimlich abzuwischen. Ich konnte mich selbst kaum halten, als das Kopfkino die Bilder von damals abspielte. Die vielen Anläufe, um die richtige Stelle mit meinem wabbeligen Schwanz zu treffen, hatten Comedycharakter. Man hätte eine dartscheibengroße Markierung an der Vagina von Beatrisa anbringen können und ich hätte dennoch Probleme gehabt, zu treffen. Am nächsten Tag, nachdem sich der Kater verflüchtigt hatte, plagten mich in der Tat starke Gewissensbisse.

»Es war gut, den Seitensprung für mich zu behalten. Mit Beatrisa hatte ich danach keinen Kontakt mehr«, sagte ich.

Tamara zog eine Augenbraue hoch, als würde sie das in Frage stellen.

»Wirklich?«

»Ja! Wirklich!«

»Schaaade.«


Es war wohl die langgezogene Art, wie Tamara das Wort ›Schade‹ aussprach, selbst Stunden später, während ich unterwegs zur Lateinerbrücke war, hofierten ihre Laute hartnäckig wie ein Ohrwurm mein Gehör, baten regelrecht darum, so leicht nicht aufzugeben. Erst vor Ort kam ich auf andere Gedanken. Wieder war ich an der Brücke, die es einerseits selbst schaffte, Jahrhunderte zu überstehen, andererseits für viele Menschen Leid und Tod brachte. Ein Symbol für die Ewigkeit und Endlichkeit zugleich. Eine Brücke, die dazu gebaut wurde, zu verbinden, aber gleichzeitig auch Leben vom Tod trennte.

Ich ging bis zum dem Scheitel auf der Westseite. Dort über dem zweiten Bogen hatte vermutlich Nenads lebloser Körper runtergehangen. Weiße Markierungen der Polizei zierten hier das Geländer und den Boden unmittelbar davor. Auf dem Handlauf befand sich ein aufgesprühtes Kreuz, demnach musste das Seil genau an dieser Stelle befestigt gewesen sein. Einen betäubten menschlichen Körper hier runterzuwerfen, war für einen kräftigen Einzeltäter durchaus machbar, wie ich feststellte. Meine Augen schweiften über die anderen Abschnitte der Brüstung und den restlichen Boden, suchten aufmerksam nach irgendwelchen Spuren, aber außer den Markierungen waren keine Auffälligkeiten zu entdecken. Nicht der geringste Hinweis auf mögliche Täter. Der Fluss führte insgesamt wenig Wasser, denn auf beiden Seiten ragte das Flussbett heraus, und entblößte die Steine, mit denen es garniert war. Auch an beiden Ufern schien alles normal zu sein.

Ich wollte schon aufgeben. Frustriert über die erfolglose Suche, bewegte ich mich wieder runter von der Brücke auf die Obana Kulina Bana und bog nach links ab. Gleich an der Ecke befand sich eine Straßenbahnhaltestelle, an der einige wenige Fahrgäste auf die nächste Bahn warteten. Zwischen einer Laterne und dem Glasdach der Haltestelle schimmerte etwas Weißes auf dem Boden. Bei näherem Hinsehen entpuppte es sich als eine Visitenkarte. Ich hob sie auf. Auf deren Vorderseite stand: ›Nenad Papic, Director of Credit Department, Commercial Bank Bosnia‹. Doch viel interessanter war der handschriftliche Vermerk inklusive Angabe einer Telefonnummer auf der Rückseite: ›Tomislav Stankovic, Concrete & Cement Wholesale, Brčko District‹. Es war unwahrscheinlich, dass Tomislav Stankovic seinen eigenen Namen auf Nenads Visitenkarte geschrieben hatte. Das musste die Handschrift von Nenad selbst sein, der die Visitenkarte vermutlich als Zettel benutzt hatte, weil er sonst nichts Greifbares zum Draufschreiben hatte. Eins war klar, die Polizei hatte ganz offensichtlich schlampig gearbeitet, da sie die Karte übersehen hatte. Nenad musste die Visitenkarte aus seiner Tasche verloren haben, während er aus einem Fahrzeug rausgezerrt worden war. Das Tatfahrzeug hatte vermutlich in der Bucht von der Haltestelle angehalten. Dieser Stadtteil war abends nicht besonders belebt, da die Cafés und Bars weiter entfernt waren. Zudem wurde es schnell dunkel in der Winterzeit und wegen der Kälte hielten sich Menschen nur unmittelbar bevor die Straßenbahn ankam an der Haltestelle auf, wenn sie denn überhaupt fuhr. Ausfälle wegen technischen Defekten oder mangels Strom waren an der Tagesordnung. Insofern war es durchaus möglich, sich der Brücke unbeobachtet zu nähern.

Ich steckte die Karte ein und eilte dann zu Fuß zum Café Violine, wo Gabor Barna bereits auf mich wartete. Wir waren wieder zwecks Austausch verabredet. Er hatte neue Details. Die Resonanz auf Annoncen der Polizei in Zeitungen sowie im Fernsehen war laut Gabor Barna zunächst eher dürftig. Es war anzunehmen, dass sich mögliche Zeugen eher scheuten die Polizei anzurufen, weil diese deren Sicherheit nicht garantieren konnte. Aber dann rief eine alte Dame an. Laut ihrer Beobachtung traf sich Nenad wohl am Abend vor seinem Tod mit Almir. Jedenfalls wurde er von der Zeugin beim Betreten des Saat Kula Hotels gesehen.

»Sie sah, wie Nenad um neun Uhr abends in das Hotel reinging«, erklärte Gabor Barna. »Mehr konnte sie nicht sagen.«

»Ok, dann gibt es eine geschäftliche Verbindung zwischen den beiden«, mutmaßte ich. »Vielleicht ein Kreditantrag? Nenad wird sich wohl nicht zu seinem privaten Vergnügen dorthin begeben haben.«

»Denkbar ist sogar eine tiefere Verbindung. Was, wenn Nenad diesem Gangster bei der Kreditgewährung geholfen hat, gegen Bestechungsgelder versteht sich?«

»Durchaus möglich. Als Bonus durfte er sich dann mit seinen Mädels vergnügen. Wer weiß?«

Gabor Barna schlürfte gerade an seinem Kaffee, als ich ihm die Visitenkarte präsentierte. Der Kaffee war wohl noch ein wenig zu heiß für seine schmalen Lippen. Er verschluckte sich und ein Teil der braunen Flüssigkeit lief am Tassenrand runter, befleckte sein Hemd. Es verschlug ihm die Sprache, dass ich gleich mit einem Beweisstück aufkreuzte.

»Tomislav? Der Typ ist ein bekannter serbischer Geschäftsmann. Er dominiert den Markt für Zementprodukte.«

»Oh, kann ich mir vorstellen. Zement ist für den Wiederaufbau des Landes wichtig. Für das zerstörte Bosnien ein großer Markt.«

»Wir müssen mehr über die Verbindung der beiden erfahren«, sagte Gabor Barna. »Ob Tomislav Stankovic einen Kredit bei der CBB laufen hat?«

»Bestimmt. Der wird wohl auch mit anderen Banken arbeiten.«

»Könnten Sie das überprüfen?«

»Ja.«

Zusammen mit der Visitenkarte und dem Hinweis der alten Dame waren gleich zwei Fährten vorhanden. Es musste aber auch eine Querverbindung zwischen Almir und Tomislav Stankovic geben, soweit war ich mir sicher. Vielleicht ließe sich der Fall ja auflösen. Irgendwie packte mich der Eifer, trotz der seltsamen Vorkommnisse weiter an meiner Aufgabe hier in Bosnien zu arbeiten, an der Auflösung des Mordes an Nenad mitzuwirken. Und natürlich Tamara wiederzusehen. Das war sehr aufregend für mich und meine Sicherheitsbedenken hatte ich daher bald in den Hintergrund gedrängt. Unmittelbar nach meinem Gespräch mit Gabor Barna beschloss ich, auf das Angebot von Almir einzugehen und bat ihn um einen Termin in seinem Hotel. Almir war keinesfalls überrascht als ich anrief. Ganz im Gegenteil, er war sich offenbar ziemlich sicher gewesen, dass ich mich früher oder später melden würde und bat mich im Laufe des nächsten Nachmittages vorbeizuschauen.









5

Das Angebot


DIE junge Dame von der Rezeption bat mich, im Foyer Platz zu nehmen. In der Mitte des runden Raumes befand sich tatsächlich, wenn auch in einem kleineren Maßstab, eine originalgetreue Nachbildung des Saat Kula Turmes mit Monduhren an den Seiten, darin integriert die Rezeption. Der Uhrturm war von allen Seiten mit Strahlern angeleuchtet und das reflektierte Licht erhellte beinahe das gesamte Foyer mit einem angenehmen Licht. Um den Turm herum befanden sich verschiedene Sitzgelegenheiten für Gäste. Die in dunkelbraunem Leder gehaltenen Sitzgarnituren waren gruppenweise zusammengestellt und umkreisten jeweils einen großen Designertisch mit stilvoll gewölbten Chrombeinen. Nahezu alle Plätze waren belegt. Die Gäste auf ihnen hätten jedoch unterschiedlicher nicht sein können.

In einer Sitzgruppe unterhielten sich zwei Männer in Anzügen mit drei ihnen gegenübersitzenden gut aussehenden Frauen, deren Haarfarbe jeweils eine der Grundfarben weiblicher Haarpracht repräsentierte. Rot, Blond, Schwarz. Für jeden etwas dabei. Ihre Röcke waren kurz gehalten, ziemlich kurz. Ganz offensichtlich Professionelle, die genau wussten, Kraft ihrer weiblichen Kurven und erotischen Gestik zu überzeugen. In einer anderen Sitzgruppe saßen ein älterer Mann, vielleicht so um die sechzig, und sechs Frauen komplett verhüllt in schwarzen Burkas. Nicht einmal ihre Augen waren zu sehen, denn sie waren hinter einem dicken Netz aus Stoff verborgen. Vielleicht zwei Ehefrauen und vier Töchter, dachte ich. Über die Kombination konnte man letztendlich nur spekulieren. Sie unterhielten sich in einer Sprache, die ich geografisch nicht zuordnen konnte. Nur die Gesichtszüge des Mannes ließen anmuten, dass die Gruppe aus Asien kam. Wiederum eine andere Sitzgruppe war belegt durch ein westlich aussehendes Paar, der Sprache nach waren es Deutsche.

Die Einrichtung des Hotels war insgesamt sehr geschmackvoll zusammengestellt und überraschte positiv. Meine Augen suchten die Szenerie ab und waren bemüht, irgendwas Auffälliges, auf dunkle Machenschaften Verweisendes zu finden. Vergeblich. Bis auf den Turm mit der Monduhr kannte man die Szenerie aus gehobenen Hotels. Die Wahrscheinlichkeit, sich in einem Moskauer Fünfsterne-Hotel im Foyer mit Prostituierten zu unterhalten, war mindestens genauso hoch. Alles schien ganz normal zu sein, als die Frau an der Rezeption zu mir kam und mich hoch in die elfte Etage führte, wo sich das Büro von Almir befand. Gleich nach dem Aufzug bogen wir nach links in einen langen Flur, an dessen Ende sich eine schwere aber stilvoll verzierte Metalltür befand.

»Kommen Sie herein!«, hörte ich Almir sagen. Er bat mich, an seinem monströsen Schreibtisch aus Sheeshamholz Platz zu nehmen. An beiden Ecken des Tisches waren im Neunziggradwinkel Ledersofas angeordnet. Die Rezeptionistin verschwand wieder.

»Es freut mich ganz besonders, dass Sie in diesen schweren Stunden Zeit gefunden haben.« Die Prise Sarkasmus in seinem Unterton war nicht zu verkennen. »Mein tiefstes Beileid.«

»Vielen Dank. Der Mord hat die Belegschaft der Bank stark getroffen. Meinen Aufenthalt in Bosnien habe ich mir anders vorgestellt.«

»Kann ich mir denken. Nenad war nicht nur ein ehrgeiziger Manager, sondern auch ein begnadeter Entertainer.«

»Habe ich gehört. Kannten Sie ihn gut?«

»Was heißt gut? Er hat mich, als Großkunden, mehrmals besucht.« Noch bevor ich Almir fragen konnte, wann er Nenad das letzte mal gesehen hatte, kam dieser mir zuvor. »Er war einen Tag vor seiner Ermordung hier bei mir. Wir sprachen über die Finanzierung eines Hotelbaus in Tuzla. Mein neues Projekt.«

Das hämische Grinsen in seinem Gesicht verriet es, natürlich wusste er bereits von der Zeugenaussage der alten Dame und hatte sich vermutlich eine passende Antwort überlegt. Dennoch war es gut möglich, dass es bei dem Besuch wirklich nur um einen Kredit ging. Zwischenzeitlich ging die Tür auf und eine Bedienung mit einem Tablett voller Getränke spazierte herein. Sie stellte das Tablett auf die Kante des Sheeshamholztisches. Durch die geöffnete Tür konnte ich einen Augenblick lang die Konturen von Tarik draußen erkennen. Er musste später gekommen sein, denn als ich eintrat stand er nicht dort. Es beunruhigte mich, dass Tarik, mein Verfolger, draußen vor der Metalltür wartete. Mein Magen zog sich zusammen und verbreitete eine unwohlige Anspannung in mir. Trotzdem wollte ich nicht, dass Almir meine Angst vor seinem Handlanger spürte und sprach mit demonstrativ kräftiger Stimme.

»Dann scheinen ja Ihre Geschäfte zu laufen. In welchen Bereichen sind Sie noch tätig?«

»Ich betreibe diverse Baumärkte und habe darüber hinaus noch Supermärkte, die ein großes Sortiment an Waren anbieten.«

»Sie sind ziemlich breit aufgestellt. Kein Wunder, dass unsere Bank Sie umgarnt.«

Almirs Brust schwellte vor Stolz. »Probieren sie unbedingt den Kefir, den lasse ich selbst anfertigen.« 

Er deutete mit seinem Kinn auf das Glas voller milchig-weißer Flüssigkeit neben meinem Kaffee. Es war ein Getränk aus sauer vergorener Milch.

Nach anfänglichem Zögern trank ich. »Schmeckt vorzüglich!«

»Dieser Kefir ist sehr gesund. Von meinem eigenen Bauernhof«, beteuerte Almir.

»Na, dann wollen wir hoffen, dass ich lang genug lebe, um das beurteilen zu können.« Ich trank das Glas leer.

Diese Anspielung erheiterte Almir ganz besonders. Er verschluckte sich beim Lachen und ein Teil seines Kefirs quoll aus seinem Mundwinkel. Er wischte das weiße Zeug mit einem Tuch aus seiner Tasche weg. »Wollen Sie mehr?«

»Nein danke, ich trinke jetzt besser einen Kaffee.« Ich zog eine der vollen Tassen vom Tablett und goss etwas Milch hinzu. »Kommen wir zum eigentlichen Grund meines Besuches.«

Almirs Augenbraue wanderte auf einer Seite hoch. »Und der wäre?«

»Mich würde wirklich interessieren, wieso meine Anwesenheit Ihre Belange berührt.«

Jedes Mal, wenn Almir nachdachte, zog er seine wulstigen, stark behaarten Augenbrauen so zusammen, dass sie sich fast über der Nase trafen.

»Wissen Sie, in Bosnien hängt alles miteinander zusammen. Wir mögen zwar geteilt sein, aber der serbische Teil kann nicht ohne die beiden anderen Teile existieren. Genau so wenig der bosnische oder kroatische Teil ohne den serbischen.«

»Ich kann mir vorstellen, dass das vor allem für die Wirtschaft gilt«, unterbrach ich ihn. »Aber was hat das alles mit mir zu tun?«

»Ganz einfach. Ihre Bank will den Häuserbau finanzieren und das geht nicht ohne Baumaterialien. Meine Firma ist der größte Anbieter dafür.«

»Es ist nicht meine Bank. Ich bin nur ein Analyst.«

»Tun Sie bitte nicht so, als ob Sie keine Rolle spielen. Von ihrem Bericht hängt viel ab.« Almir sprach jetzt lauter. »Gerade in Bosnien, wo viele Maßnahmen nur durch eine Finanzierung möglich sind, hängt die Existenz von Baufirmen stark von Banken ab.« Die Stimme von Almir wurde zunehmend rauher und klang beim nächsten Satz schon fast drohend. »Finanziert Ihre Bank vermehrt Baumaßnahmen der Konkurrenz, würde meine Firma benachteiligt werden. Klar?«

»Hatten Sie das Gefühl, dass Sie benachteiligt wurden?« Ich ließ mich nicht einschüchtern und antwortete ruhig. »Für die Kreditgewährung sollte lediglich das Risiko eine Rolle spielen. Das ist Gebot bei der CBB.«

»So steht es zwar in Ihren Statuten, leider sieht die Realität anders aus.«

»Inwiefern?«

»Ihre Mitarbeiter bevorzugen Freunde und Verwandte. Anfragen von anderen werden erst gar nicht ernst genommen, oder nur wenn für die Angestellten damit ein Nutzen verbunden ist. Ich wurde oft um Hilfe gebeten.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752132847
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Februar)
Schlagworte
Wirtschaftsthriller Thriller Abenteuer Bosnien Spannung Erotik Krimi Ermittler Roman

Autor

  • Jem Saylor (Autor:in)

Jem Saylor wurde 1970 in Melbourne, Australien, geboren und ist in Deutschland aufgewachsen. Im Rahmen seiner langjährigen Tätigkeit als Consultant leitete er diverse umfangreiche Projekte von global tätigen Entwicklungsbanken. Die Idee zum vorliegenden Buch entstand in den Jahren 2002 - 2007, als er für den Aufbau von Bankenstrukturen in die vom Krieg zerstörten Regionen des ehemaligen Jugoslawiens entsandt wurde.