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Bestseller-Doppelpack: Todesfährte & Wolfssünde

Robert Hartmanns erster und zweiter Fall

von Moritz Hirche (Autor:in)
743 Seiten

Zusammenfassung

Der erste und zweite Fall des BKA-Ermittlers Robert Hartmann - Bestseller-Höchstspannung jetzt im Doppelpack! Erster Fall: Todesfährte Zwei Foltermorde in einer entlegenen Burg bei Koblenz erschüttern die Weinberge an der Mosel. Zwischen den bizarr entstellten Opfern, einem Offizier und einem Studenten, existiert keinerlei Verbindung. Staatsanwalt Robert Hartmann in Berlin wird um Amtshilfe gebeten. Während seiner atemlosen Reise durch eine brutale Vergangenheit verschwimmen die Grenzen zwischen Freund und Feind. Die Ermittlungen zwingen ihn, sich in den Nebel seiner eigenen, unheilvollen Erinnerungen zu begeben. Die blutige Spur reicht bis in seine unmittelbare Umgebung. Als weitere Menschen auf unerklärliche Weise sterben, muss Hartmann erkennen, dass diese Bedrohung vor niemandem zurückschreckt. Auch er ist nur Figur in einem mächtigen Spiel, dessen Regeln andere bestimmen. Als er ahnt, dass der nächste Zug ihm gilt, steht er längst im Fadenkreuz Zweiter Fall: Wolfssünde Südlich von Berlin, in Brandenburg... Im Nebel einer Herbstnacht versucht eine junge Försterin, ein neu angesiedeltes Wolfsrudel zu beobachten. Dabei trifft sie tief im Wald auf eine verwirrte Frau, die sie zu einem grausigen Fund führt: Die schrecklich zugerichteten Leichen dreier Menschen, die offenbar von den Raubtieren getötet wurden. Die Forstbeamtin steht vor einem Rätsel. Die örtliche Polizei scheint ratlos. Das Bundeskriminalamt wird gebeten, Licht ins Dunkel der Ereignisse zu bringen. Denn die Toten hinterließen eine seltsame Botschaft, die niemand zu deuten vermag... Robert Hartmann, der als Zielfahnder mit einer heiklen internationalen Ermittlung befasst ist, wird nach Deutschland zurückbeordert, um die mysteriösen Todesfälle zu untersuchen. Schnell entwickelt sich der Fall zu einer gefährlichen Jagd, die Hartmanns eigene Sünden ebenso an die Oberfläche bringt wie die finstere Vergangenheit des Waldes. Die Bedrohung kommt näher und sie ist persönlicher, als Hartmann ahnt. Doch niemand außer den Wölfen scheint ihm dabei helfen zu wollen, das tödliche Geheimnis zu lüften...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog

Montag, 08. August

Wie schnell kann sich eine glückliche Verheißung zum unerwarteten Alptraum wenden...
Reiß dich zusammen! Es ist nur der Regen, das geht vorbei.

Feine Wassertropfen flogen nach allen Seiten, als er den Kopf schüttelte. Blonde Haare hingen in wirren Strähnen durch sein Gesicht. »Verdammtes Scheißwetter!«

Niemand war da, der seine meteorologischen Verwünschungen hätte wahrnehmen können. Doch er fühlte sich besser, wenn er fluchen konnte. Tatsächlich regnete es im Grunde seit Wochen. Es war ein sehr deutscher Regen, der in seiner unvergleichlichen Tristesse Selbstmordgefährdeten vermutlich die Entscheidung erleichterte. Fetzen bedrohlicher Kumuluswolken erstickten auch an diesem Tag die liebliche Landschaft in schwermütigem Dunkelgrau. Mit einiger Phantasie betrachtet schienen sie sich für einen kurzen Moment zu einer hämisch grinsenden Fratze zu vereinen, bevor sie von der nächsten Böe wieder auseinander gerissen wurden. Die gesamte Natur schien in eine Depression verfallen zu sein, die die Wärme verdrängt hatte. In der einsetzenden Dämmerung dieses Tages begannen Nebelschwaden durch die Hügel mit sorgsam angelegten Rebstöcken und die Bäume des nahen Waldes zu kriechen. An den höheren Zweigen riss wütend ein kühler Wind. Es war die schlechte Karikatur eines Sommers, der sich zudem bereits seinem Ende zuneigte. Selbst ältere einheimische Bauern konnten sich nicht an Vergleichbares erinnern. Sie rechneten bereits mit einem miserablen Jahrgang ihres namhaften Rieslings. Möglicherweise wäre den erschreckend kleinen Trauben noch eine passable Spätlese zu entlocken. Sollte die durch ständigen Regen einsetzende Fäulnis nicht auch diese Hoffnung im feuchtgrauen Dunst ersticken. Das Wetter übertrug sich allmählich auf die Menschen, ließ selbst robuste Gemüter mürrisch und missmutig werden.

Mirko Harnisch war ein Mensch ausgesprochen sonnigen Gemüts. Allmählich verdüsterte das Wetter jedoch ebenfalls seine Stimmung. Innerlich verfluchte er zusätzlich den Job, den er über die freien Monate seiner Semesterferien angenommen hatte. Als er den Aushang in einem Café der Koblenzer Innenstadt nahe der Universität gesehen hatte, war ihm das Angebot fast wie ein Hauptgewinn erschienen.

»Werden Sie Verwalter von Burg Rothenfels! Arbeiten und leben Sie eine Zeit lang auf einer der ursprünglichsten Burgen im Südwesten Deutschlands. Verdienen Sie ihr Geld, wo andere Menschen Urlaub machen! Entlohnung auf Verhandlungsbasis.«

Noch in derselben Minute wählte er die angegebene Telefonnummer. Der ältere Mann am anderen Ende sagte sofort zu. Laut dem Gespräch sollte sich seine Aufgabe darauf beschränken, zu den Besuchszeiten Eintrittskarten an Touristen zu verkaufen, die den Weg zu dem recht einsam gelegenen Bauwerk fänden. Ansonsten müsste er einfach nur anwesend sein, als eine Art Hausmeister.

Ein echter Traumjob.

Darüber hinaus würde sich viel Freizeit bieten, die er zum Lernen für die anstehenden Examensklausuren gut gebrauchen konnte. Als er zwei Wochen später das mächtige Burgtor durchschritt, konnte er sich erster Zweifel nicht erwehren, ob das Angebot tatsächlich ein Glücksfall gewesen sei. Mehrmals verpasste er den kleinen Waldweg, der von der Landstraße abzweigte. Er fragte sich, wie potenzielle Besucher das winzige Hinweisschild »Zur Burg« im Vorbeifahren wahrnehmen sollten. Harnisch nahm sich vor, auf diesen Marketingfehler aufmerksam zu machen. Die Bedenken verstärkten sich in den folgenden Tagen. Nur wenige Menschen interessierten sich für das unscheinbare Festungsbauwerk. Es lag zu weit abseits ausgetretener Touristenpfade. Die Tage verliefen monoton.

Was ihn jedoch mittlerweile an den Rand der Verzweiflung trieb, war die Einsamkeit, vor allem nachts. Als ängstlicher Typ galt der vierundzwanzig Jahre alte Mirko Harnisch gemeinhin nicht. Eher als einer, der auch allein gut zurechtkam. Seine von Natur aus große, kräftige Statur widersprach eher den Klischees eines Chemiestudenten. Man hätte ihn wahrscheinlich für einen Bauarbeiter oder Surflehrer gehalten. Die dunkelblonden Haare trug er etwas zu lang, sie verlangten eigentlich nach einem Schnitt. Doch irgendwie gab gerade das ihm eine verwegen-romantische Ausstrahlung. Er wusste um seine Wirkung und genoss sie. Die Aufgabe in der Burg brachte ihn erstmals seinen Grenzen näher. Nur anders, als er es sich vorgestellt hatte.

Wenn er um achtzehn Uhr das schwere, hölzerne Tor hinter dem letzten Besucher abschloss, begannen eintönige Stunden des Wartens. Des Wartens auf die Nacht. Zu seiner Verwunderung hatte Harnisch festgestellt, sich in der absoluten Ruhe und Einsamkeit nur schwer auf die komplexen Reaktionsgleichungen in seinen Aufzeichnungen konzentrieren zu können. Inmitten der unerträglichen Stille wurde er ständig durch Geräusche aufgeschreckt, deren Ursprung er nicht unmittelbar lokalisieren konnte. Von einigen glaubte er, sie noch nie vorher gehört zu haben. Oft setzte sich das fort, wenn er sich in sein karges, im Burgfried gelegenes Zimmer zurückzog. In dem schmalen, unbequemen Bett empfand er die Ruhe als quälende Belastung. Für die Zerstreuung durch einen Fernseher hätte er mittlerweile einiges gegeben. Doch der fehlte und wäre mangels Empfang höchstwahrscheinlich nutzlos gewesen. Ein Knarren oder Knirschen irgendeiner jahrhundertealten Holztür ließen ihn dann alsbald wieder hochschrecken, um einen späten Kontrollgang einzulegen. Auch die Treppen führten ein reges Eigenleben und hatten es auf seinen Schlaf abgesehen.

In der ersten Nacht – im Rückblick erschien es ihm lächerlich – entwendete er einer der aufgestellten Rüstungen das Schwert. Schlagbereit postierte er sich hinter einem antiken Holzschrank. Jemand schien in den verwinkelten Gängen unterwegs zu sein. Die Minuten verstrichen und der junge Student musste sich alsbald eingestehen, vergeblich aufgestanden zu sein. Eichenbohlen knarrten und die uralten Eisenscharniere der Holztüren gaben von Zeit zu Zeit jaulende Laute von sich. Der imaginäre Eindringling blieb jedoch im Dunklen.

Am Ende dieses zweiten Montags im August hätte Mirko Harnisch eigentlich besserer Stimmung sein müssen. Der Besuch eines befreundeten Kommilitonen lag nur wenige Stunden zurück. Silvio war bisher der einzige, der seine Ankündigung einhielt, ihn an seinem abgelegenen Arbeitsplatz zu besuchen. Es war eine enttäuschende Erfahrung, dass kaum einer der Bekannten zu den bierselig abgegebenen Zusicherungen stand. Zugegeben, der Weg war selbst mit dem Auto beschwerlich. Andererseits lag die Universitätsstadt Koblenz nicht weit entfernt. Man musste nur wollen.

Schöne Freunde, dachte er mit einem Anflug von Bitterkeit. Der Besuch ließ ihn an den verbleibenden Zeitraum von anderthalb Monaten denken, die ihm noch bevorstanden. Sarkastisch redete er sich selbst ein, bis dahin dem Wahnsinn anheimgefallen zu sein. Nachdem sein Freund aufgebrochen war, fühlte er sich unwohl und noch einsamer als vorher. Aufzugeben wäre allerdings eine zu große Blöße gewesen.

Ich werde durchhalten.

Kurz überlegte er, zum Auto zu laufen und ins nächste Dorf zu fahren. Er könnte dort wenigstens einkaufen gehen. Es würde ihn ablenken. Nach einem Blick auf seine digitale Armbanduhr verwarf er die Idee wieder. Es war bereits nach neunzehn Uhr. Kein Geschäft in der näheren Umgebung würde noch geöffnet sein. Nicht, dass er dringend an diesem Abend etwas hätte besorgen müssen. Er suchte einfach nach einer Chance, Burg Rothenfels zumindest vorübergehend zu verlassen. Der Ort übte eine eigenartige, tief beklemmende Wirkung auf ihn aus. Manchmal fühlte er sich hinter den dicken Mauern, die einst Angriffen von außen standhalten sollten, als Gefangener. Sobald er die immer gleichen Handgriffe verrichtete, die immer gleichen Türen abschloss, spürte er etwas, das nur als Endgültigkeit zu beschreiben war. Es war ein Gefühl, als müsste er für immer hier verharren.

Resigniert lief er über den gepflasterten Innenhof, steuerte das Tor an. Eine bleierne Regenwolke hing schwer über ihm am Himmel, der bereits in Dämmerung begriffen war. Sie schien nur auf eine Gelegenheit zu warten, die nächsten Wassermassen gen Erde fallen zu lassen. Er beschleunigte seine Schritte.

Bloß nicht schon wieder nass werden.

Hektisch zog er an der mächtigen Holztür, hielt aber plötzlich inne. Im lehmigen, vom dauernden Regen aufgeweichten Erdboden vor dem Portal zeichneten sich vom Wald her deutliche Fußabdrücke ab. Sie waren ihm zugewandt, führten demnach zur Burg.

Die letzten Besucher hatte er am frühen Nachmittag verabschiedet: Eine holländische Touristin, die mit ihren zwei schlecht erzogenen Söhnen heillos überfordert zu sein schien. Den älteren der beiden schätzte er auf höchstens dreizehn Jahre.

Skeptisch betrachtete er einen der Abdrücke. Grobes Profil hatte seine Spuren im Boden hinterlassen. Sie konnten unmöglich von den Niederländern stammen. Im Übrigen hätte der Regen sie seitdem längst beseitigt. Beunruhigt ließ er den Blick durch den Wald schweifen. Unter den dichten Zweigen war nur noch wenig zu erkennen. In höchstens einer Stunde würde hier tiefes Dunkel herrschen. »Denk nach!«, zwang er sich zur Ruhe. »Es gibt für alles eine Erklärung, auch hierfür.« Nach einem Moment der Überlegung atmete er erleichtert aus, merkte dabei erst, dass er den Atem angehalten hatte. »Idiot, Silvio ist doch eben erst gegangen«, entfuhr es ihm fast lachend. Der Wald beantwortete sein Eingeständnis mit dem kehligen Schrei einer Eule.

Bald konnte sie lautlos von ihrem Ast gleiten, um im Schutze nahender Dunkelheit zu jagen. Sie würde nicht zurückkehren, ohne ihren spitzen Schnabel in das Fleisch einer Feldmaus oder einer Ratte geschlagen zu haben. Mit erbarmungsloser Geduld würde der Raubvogel den Körper mit scharfen Krallen am Boden halten, bis die letzten Zuckungen des Opfers erstarben. Unbemerkt wäre es möglich, sich mit der toten Beute zurückzuziehen. Nicht etwa als Flucht, nur als Rückzug. Bis der Instinkt das Tier erneut auf die Jagd schickte.

Tatsächlich war Silvio erst vor weniger als einer halben Stunden diesen Weg zu seinem Auto gelaufen. Harnisch grübelte weiter, fühlte sich aber schon entspannter, nachdem er der Meinung war, die Spuren annähernd plausibel erklären zu können.

Doch warum führen die Schuhabdrücke zur Burg, nicht zum Parkplatz?

Der Zweifel hielt an. In diesem Augenblick öffnete sich die Regenwolke wie eine Schleuse, während gleichzeitig der Wind auffrischte. Nach wenigen Momenten stand Wasser in den Fußspuren, verwischte sie. Innerhalb von Minuten würde nichts mehr auf denjenigen hindeuten, der sie hier hinterlassen hatte. Fröstelnd zog er das Tor zu und drehte den Schlüssel wie jeden Abend zweimal. Mit einem metallischen Geräusch schob sich der Riegel ins Schloss. Er hatte es nicht mehr eilig, war er dank der großen Wassertropfen, die der Wind aus allen Richtungen auf ihn einprasseln ließ, doch inzwischen ohnehin völlig durchnässt. Der Regen schien nur der Anfang zu sein. In einiger Entfernung zuckten bereits kleinere Blitze. Schwacher Donner deutete auf ein nahendes Gewitter hin. Die meisten Fenster der Burg waren noch hell erleuchtet. Der graue Himmel zwang ihn dazu, die überwiegende Zeit des Tages die Beleuchtung eingeschaltet zu lassen. Schon aufgrund der spärlichen Besucher. Da Harnisch bisher keinen Hauptschalter gefunden hatte, musste er nun am Abend überall manuell das Licht ausschalten. Ihm war das eigentlich egal. Auch die Stromkosten interessierten ihn kaum.

Das ist ja wohl Sache der Eigentümer dieser gottverlassenen Festung. Die müssen bestimmt nicht auf den Cent schauen.

Ihm wurde bewusst, dass er keine Ahnung davon hatte, wem die Burg eigentlich gehörte. Ein Bevollmächtigter hatte ihn in Empfang genommen, kurz eingewiesen und war sogleich wieder verschwunden.

Egal, Hauptsache jemand wird mir diese Tortur hier bezahlen.

Er betrat die Burg durch den Seiteneingang, schloss hinter sich ab und lenkte seine Schritte durch die Eingangshalle der kleinen Wendeltreppe zu. Sie führte zu seinem Zimmer im Turm. Modriger Geruch von feuchten Steinen und alten Teppichen stieg ihm in die Nase. Nachdem er das Schlüsselbund und die schwere Stabtaschenlampe aus seinem Zimmer geholt hatte, begann die Runde wie jeden Abend. Die Lichter waren auszuschalten und die Türen abzuschließen. Während er routiniert die immer gleichen Handgriffe durchführte, dachte er daran, wie lächerlich das alles war.

Wer sollte schon hier sein? Selbst die paar Touristen verschwinden nach den obligatorischen Erinnerungsfotos schnell wieder.

Es gab imposantere Bauwerke in dieser an Burgen und Schlössern reichen Region. Zu stehlen gab es kaum etwas. Der größte Teil des Interieurs hatte bestenfalls ideellen Wert. Sein Weg führte ihn durch die beiden Stockwerke der Festung, die vor mehreren Jahrhunderten einem Angehörigen des niederen Adels Unterkunft geboten hatten.

Dessen Name überdauerte die Zeiten. Der Grund dafür lag weniger in seinem nicht allzu beachtlichen Besitz als vielmehr in der berüchtigten Grausamkeit gegen Feinde als auch Untergebene. Mirko Harnisch hatte das in der großen Halle auf einem hölzernen Ständer ausgelegte Buch inzwischen fast ausgelesen. Die Mixtur aus uralten Chroniken und mündlichen Überlieferungen ließ jeden Leser schaudern. Eindringlich wurden die ausgeklügelten Folterpraktiken beschrieben, die während der Herrschaft des ehemaligen Burgherrn zu einer schrecklichen Kunst erhoben worden waren. Dabei hatte er stets große Mühe darauf verwendet, die Unglücklichen möglichst lange am Leben zu lassen, während einer seiner Folterknechte das Opfer langsam ausweidete. Gliedmaßen und Zunge wurden bei dieser Prozedur bevorzugt. Sie waren am leichtesten zu entfernen, ohne das Opfer unmittelbar zu töten. Das eigene Schicksal ereilte den Tyrannen schließlich im Jahre des Herrn 1456. Wer die Tat letztendlich fertiggebracht hatte, war umstritten geblieben. Lediglich ein dunkler Blutfleck blieb der Legende zufolge nach seiner Enthauptung an der Außenmauer haften. Harnisch hatte tatsächlich eine Verfärbung am fraglichen Stein gefunden, ohne sich über den wahren Ursprung sicher zu sein.

Nachdem alle Lampen ausgeschaltet und alle Türen geschlossen waren, lag wie jeden Abend eine düstere Verlassenheit über dem Gemäuer. Dieser Zustand war Mirko Harnisch aus der Stadt unbekannt. In den ersten Tagen hatte er die Stille als unerträglich empfunden. Mittlerweile stellte sich eine gewisse Gelassenheit ein. Zusätzlich erhellte ein Gedanke sein Gemüt.

Ein frisches Bier.

Er dachte daran, wie sehr er die einfachen Annehmlichkeiten des Lebens zu schätzen gelernt hatte. In seinem Zimmer angekommen setzte er sich an den wackligen Holztisch am Fenster. Er stellte neben dem Bett und einem kleinen Schrank das einzige Mobiliar im Raum dar. Die Tischplatte war abgenutzt und zerkratzt.

Wie viele frustrierte, gelangweilte Menschen haben an diesem Tisch gesessen?

Er entfernte den Kronkorken. Zischend entwich Kohlensäure aus der Flasche. Das Bier hatte ihm sein Kommilitone Silvio Meier mitgebracht. Der tiefe Schluck war eine Erlösung. Er sah aus dem kleinen Fenster über die Baumwipfel, um die wie immer zu dieser Tageszeit unermüdlich einige Fledermäuse kreisten. Inzwischen war die tiefschwarze Nacht hereingebrochen, während der Regen mit gleichbleibender Intensität vom Himmel rauschte. Die unablässige Geräuschkulisse wirkte gleichzeitig beruhigend und bedrückend. Das Gewitter, das sich am Horizont angekündigt hatte, war wider Erwarten in der Ferne vorbeigezogen. Im Wald hätte man die Hand vor Augen nicht erkennen können.

Schnell leerte er die erste Flasche. Im Begriff, die zweite zu öffnen, hielt er unvermittelt inne. Bereits in den letzten Minuten war er das Gefühl nicht losgeworden, etwas vergessen zu haben. Er hatte es nicht vergessen, er hatte es verdrängt. Der Keller war von Beginn an ein Ort des Unbehagens für ihn geblieben. Harnisch überlegte kurz. Es war eine Sache, das Licht die Nacht über brennen zu lassen. Der Keller verfügte jedoch mittels einer Treppe über einen separaten Ausgang zum Hof. Diese stand tagsüber für die Besucher offen. Da er sie nicht geschlossen hatte, musste sie das auch jetzt noch sein. Nein, es half nichts. Er musste noch einmal dort hinuntergehen.

In den Keller.

Seufzend stellte er die Bierflasche auf den Tisch, griff nach Schlüssel und Taschenlampe. Die weichen Gummisohlen der Sportschuhe dämpften die Geräusche der Schritte auf den engen Treppenstufen. Im Erdgeschoss angekommen tauchte der Lichtschein aus dem Kellerabgang die eine Seite der dunklen Eingangshalle in mattes Licht. Es wurde von den aufgestellten Rüstungen reflektiert. Die grob gezimmerte Tür stand offen. Harnisch blieb stehen. Er hatte fest geglaubt, die Tür an diesem Tag nicht geöffnet zu haben, konnte sich aber nicht genau erinnern. Doch, er war sich sicher. Kein Besucher hatte sich die Gewölbe heute angesehen. Das konnte er nachvollziehen, waren es doch hauptsächlich Familien gewesen. Kurz neben der Tür war in Augenhöhe ein unauffälliges Schild angebracht. Darauf wurde empfohlen, diese Räumlichkeiten mit Kindern nicht zu besichtigen.

Unsägliches Leid hatte sich dort unten zugetragen. Viele große und kleine, inzwischen verrostete Instrumente unterschiedlicher Form lagen ordentlich aufgereiht. Sie waren intelligent konstruiert, um den Opfern bei möglichst lang ausgedehnter Lebensdauer Schmerzen zuzufügen, die den Bereich der Vorstellungskraft überschritten hatten. Wahnsinn oder Ohnmacht mussten die wie von einem Metzger aufgeschnittenen, anschließend von grausamen Spezialisten gequälten Opfer bereits lange vor dem gnädigen Moment des Todes in eine andere Welt geführt haben. Allerlei Pressen und Zangen zeugten von scheußlichem Einfallsreichtum. Vor Hunderten von Jahren waren wahrscheinlich entsetzliche Schreie von den dicken Wänden widergehallt. Zur morbiden Faszination der Touristen war alles weitgehend im Originalzustand belassen. Sogar das tief in den Kellerboden eingelassene Loch, in dem die vermeintlichen Verschwörer verdurstet oder bei lebendigem Leib verfault waren, war unversehrt.

Harnisch war im Begriff die steinerne Kellertreppe zu betreten, als er von unten ein leises, metallisches Geräusch wahrzunehmen glaubte. Unsinn, dachte er, spürte aber wie sich sein Magen zusammenzog. Er stand am Rand der Treppe und lauschte angestrengt in die Tiefe. Nichts als Stille und das kaum hörbare Rauschen des Regens, der unablässig gegen das massive Mauerwerk peitschte. Er blickte hinunter, sah aber nur eine andere Steinwand, da die Treppe halbkreisförmig nach unten führte. Sekunden verharrte er in dieser Position. So sehr er die Sinne anstrengte, konnte er doch keinen Laut mehr ausmachen.

Sicher, sich getäuscht zu haben, setzte er den Fuß auf die erste Stufe. Alles wirkte normal. Tastend setzte er den Weg fort, bis sich der Blick auf die beiden Kellerräume öffnete. Das helle Licht der Neonröhren war ihm schon beim ersten Mal unpassend erschienen, ermöglichte den Besuchern aber die Wahrnehmung jedes grausamen Details der Folterstätte. Das gleichmäßige Flackern im hinteren Raum erschreckte ihn nicht. Es deutete lediglich auf den notwendigen Austausch einer der Leuchtstoffröhren hin. Er würde es morgen erledigen, sofern irgendwo Ersatz zu finden wäre.

Ein leichter Luftzug erinnerte ihn daran, weshalb er hier war. Die Tür zum Hof befand sich am Ende des zweiten Raumes. Er durchquerte den kurzen Gang zwischen den beiden Verliesen, fand sie erwartungsgemäß geöffnet vor. Im Gegensatz zu den übrigen Türen der Burg war sie nachträglich eingebaut worden und bestand aus schwerem Metall. Für einen Moment trat er nach draußen. Der kurze, gemauerte Aufgang endete im Hof. Wassertropfen schlugen ihm scharf ins Gesicht. In der Schwärze konnte er gerade einmal die Umrisse der Burg erkennen. Schnell trat er in die Helligkeit zurück und zog die Tür zu, bis das Schloss einrastete. Ein Knall ließ ihn zusammenzucken. Der Luftzug hatte anscheinend die obere Kellertür zugeschlagen. Das war sonst nie geschehen, doch da hatte auch kein starker Wind geherrscht.

Nicht so schlimm.

Er hatte den Schlüsselbund bei sich und würde sie wieder öffnen können. Dennoch fühlte er sich augenblicklich wie gefangen. Als Harnisch sich umdrehte, um den Rückweg anzutreten, blieb sein Blick an einem der hölzernen Tische hängen. Sie muteten wie Werkbänke an. Nur dass sie vor Jahrhunderten einem anderen Zweck gedient hatten. Das zu bearbeitende Material war menschliches Fleisch gewesen. Zur Veranschaulichung waren darauf in regelmäßigen Abständen die eisernen Folterinstrumente gleich Werkzeugen ausgelegt. Manche ähnelten Messern. Andere schienen der Form von Zangen oder Korkenziehern entlehnt worden zu sein. Die Reihe der Grausamkeiten wies jetzt deutliche Lücken auf. Mehrere der Instrumente fehlten. Der Schreck fuhr Harnisch durch den gesamten Körper. Mühsam zwang er sich zur Ruhe. Das Wahrscheinlichste schien ihm, einer der Touristen hätte einige schaurige Erinnerungsstücke gestohlen.

Schließlich lagen sie lose auf den Tischen.

Er wünschte sich, die Erklärung würde ihn beruhigen. Leider konnte sie es nicht. Zu sicher war er sich, morgens alles an seinem Platz gesehen zu haben. Vielleicht hatte sich jemand heimlich tagsüber hier herunter geschlichen? Jeder Erklärungsversuch schien ihm unwahrscheinlich, ließ ihn nur nervöser werden.

Erst einmal hinaus hier, das Licht löschen.

Morgen würde sich schon alles klären lassen. Seine Hand berührte bereits den Lichtschalter, als eine plötzliche Eingebung ihn herumfahren ließ. Irgendetwas anderes schien ebenfalls nicht zu stimmen.

Sekundenlang ruhte sein Blick auf der Öffnung im Boden, die sich wenige Meter neben ihm auftat. Es war der Eingang zu der kleinen Höhle, in der vor Jahrhunderten die Gefangenen ihrem sicheren Tod entgegengesehen hatten. Normalerweise war das Loch mit einer runden Holzscheibe verschlossen. Damals sollten die absolute Einsamkeit und das Fehlen jeglichen Lichtes die Inhaftierten noch vor ihrem Todeskampf in den Wahnsinn treiben.

Das Loch im Boden war allzu leicht zu übersehen. Es maß im Durchmesser ungefähr einen dreiviertel Meter. Jetzt lag die Holzscheibe neben dem Eingang. Mirko Harnisch fühlte seine Schläfen pulsieren, als er sich der schwarzen Öffnung näherte. Sein Herz schlug rasend. Die rechte Hand verkrampfte sich um die Stabtaschenlampe. Der Blick drang in den schmalen Abgrund, konnte in der dort herrschenden Dunkelheit aber nichts erkennen. Die Deckenbeleuchtung vermochte die enge, mehrere Meter nach unten führende Höhle nicht zu erhellen. Kurz überlegte er, was er dort zu sehen erwartete. Er fand keine Antwort und schaltete die Taschenlampe ein. Der fokussierte Lichtstrahl glitt über die unbearbeitete Wand in die Tiefe. Er beugte sich über die Öffnung. Das Licht erreichte ebenen Sand, den Boden der Höhle.

Der Blick auf die verzerrte Grimasse traf Harnisch wie ein Schlag in den Magen. Der Strahl fiel auf eine blutige Masse, die einmal ein Gesicht gewesen sein musste. Entsetzliche Verstümmelungen nahmen ihm alles Menschliche. Die fehlenden Lippen gaben ihm einen furchtbaren Ausdruck, der an ein teuflisches Grinsen erinnerte. Die Nase war als blutiger Brei in der Mitte des Kopfes nur noch zu erahnen. Die Ohren fehlten ebenfalls. Das Schrecklichste aber waren die leeren Augenhöhlen.

Schwer atmend kämpfte Harnisch mit aufkommender Übelkeit. Die Gedanken überschlugen sich. In seinen Emotionen vermischte sich der Ekel mit hämmernder Angst. Was war hier geschehen? Wer war in der Lage, so etwas zu tun?

Warum?

Widerwillig, aber von dem Drang getrieben alles zu sehen, richtete er die Lampe nochmals in die schwarze Leere. Erneut überkamen ihn Abscheu und Brechreiz beim Anblick der entstellten Leiche. Zitternd umklammerte er die Taschenlampe. Der Lichtkegel hüpfte in der Frequenz seines Zitterns. Er erkannte Kleidung und nackte Haut. Das Blut darauf war von Sand und Schmutz zu Klumpen geformt.

Ein Geräusch war leise, aber hörbar. Die Erkenntnis, möglicherweise nicht alleine im Gewölbe zu sein, ereilte ihn plötzlich und unvorbereitet. Lähmende Todesangst ließ klares Denken unmöglich werden. Der Laut schien von der Treppe zur Halle gekommen zu sein.

Dann war es auch nicht der Wind, der die Tür zufallen ließ.

Wie lange beobachtete die unbekannte Person ihn schon? Die Gedanken überschlugen sich. Angst rann als kalter Schweiß langsam seinen Rücken hinab. Der einzige Ausweg führte jetzt über die Stahltür in den Hof.

Bitte Gott, was auch immer hier passiert, lass mich entkommen. Ich will so nicht sterben.

Während er mit verzweifelter Schnelligkeit die Tür erreichte, schaute er kurz zurück. Er sah den Schatten im Halbkreis der Kellertreppe, der sich ohne Hast zu nähern schien. Instinktiv griff Harnisch den passenden Schlüssel und drehte ihn hastig herum. Während er die schwere Tür nach außen drückte, blickte er wiederum hinter sich. Im ersten Raum des Verlieses bewegte sich etwas Schwarzes in seine Richtung. Er zwängte sich durch die zur Hälfte geöffnete Tür nach draußen. Im gleichen Moment schob er sie mit ganzer Kraft zurück ins Schloss. Schnell verriegelte er sie, um anschließend abwartend zu verharren. Kein Laut war zu hören.

Die Regenwolken hatten sich vom dunklen Himmel verzogen. Nur von den Zweigen der Bäume fielen noch Wassertropfen. Er sah kaum seine eigenen Schuhe in der Schwärze, traute sich aber nicht, die Lampe zu benutzen. Endlich hatte er das Gefühl, wieder eine Chance zu haben, klar denken zu können. An dem großen Bund in seiner Hand war neben den Schlüsseln der Burg auch sein Autoschlüssel befestigt. Nur das Burgtor und der kurze Weg durch den Wald trennten ihn von seinem Wagen. Er konnte es schaffen. Nein, er musste es schaffen. Leise und zügig bewegte er sich auf das große Portal zu. Kurz bevor er das Holztor erreichte, hielt er inne. Für einen Moment hatte er geglaubt, Schritte zu hören.

Unsinn, unmöglich.

Alles blieb still. Einzig von den Blättern einer großen Eiche fielen in rhythmischer Folge Wassertropfen hinab. Am Tor angelangt, versuchte er schnell das Schloss zu öffnen, wählte aber diesmal den falschen Schlüssel. Auch der zweite passte nicht in das geschmiedete Schloss. Das Zittern der feuchten Hände nahm erneut zu. Alle Schlüssel sahen in der Dunkelheit so gut wie gleich aus. Während er weiter versuchte, den Richtigen zu finden, entglitt ihm das große Bund und fiel metallisch klirrend auf die Steine. Er entschloss sich, kurz die Taschenlampe zu Hilfe zu nehmen und betätigte den Schalter.

Beeil dich, schneller.

Die Schlüssel lagen unmittelbar vor seinen Füßen. Er hob sie nicht mehr auf. Die Einsicht, nicht schnell genug gewesen zu sein, hatte etwas grausam Existenzielles. Im Lichtschein erkannte er deutlich den Schatten der massiven Gestalt hinter sich. Sein Herz schien stehen zu bleiben. Während er sich umdrehte um davonzulaufen, fiel ein kurzer Blick auf den, der ihn tötete. Mirko Harnisch blieb kein Hauch einer Chance, dem blitzartigen Stoß auszuweichen.

Unbeschreibliche Schmerzen breiteten sich in seiner Brust aus. Das rostige Metall, das jetzt aus seinem Oberkörper ragte, kam ihm bekannt vor. Es erinnerte entfernt an die Form eines Korkenziehers. Blut lief warm über sein T-Shirt und tropfte auf die regennassen Steine. Schwindel breitete sich hinter seinen pochenden Schläfen aus. Er torkelte. Das Herz schlug weiter, als wolle es das Ende nicht hinnehmen. So einsam wie in diesem Augenblick hatte er sich noch niemals gefühlt. Mühsam drehte er sich um, vergeblich nach Rettung suchend.

Mit einem Mal starrte er in kalte, teilnahmslose Augen ohne Gesicht, in denen weder Wahnsinn noch Mitleid zu erkennen waren. Gleichsam war ein Leuchten darin. Menschliche Züge schienen dagegen ausradiert worden zu sein. Sie musterten ihn als ein Stück Fleisch, annähernd gelangweilt und ohne Reue. Beiläufig wurde er an die Mauer gedrückt. Mit einem Ruck riss ein schwarzer Handschuh an dem Instrument, das schrecklich vulgär aus ihm ragte. Kraftvoll sprudelte das Blut aus der Mitte seiner Brust. Eine Frage, die er sich einmal in der Kindheit gestellt hatte, zuckte durch sein Gehirn.

Wie viel Blut ist in einem Menschen?

Die Antwort verteilte sich in einer ständig größer werdenden Lache vor ihm, versickerte bereits zwischen den nassen Fugen der Steine. Seine letzten Atemzüge fühlten sich heiß und schwer an. Schließlich ließ die blutgefüllte Lunge das Atmen unmöglich werden.

Einmal streckte er noch den Arm aus, als wollte er fragen: »Warum ich?«, doch ungerührt wandte sich sein Mörder ab, lief mit ruhig kontrollierten Schritten zur Burg zurück. Aus seiner geballten Faust ragte noch die skurril gedrehte Klinge, mit der er wenige Momente zuvor den jungen Studenten getötet hatte. Braun-rot vermischte sich die Farbe des Rostes auf dem alten Metall mit frischem Blut. Nach jedem zweiten Schritt der Silhouette löste sich ein roter Tropfen und fiel auf den Hof.

Als Harnischs Beine nachgaben, fühlte er schon keine Schmerzen mehr. Der Himmel war fast klar, offenbarte helle Sterne, deren ewig gleicher Anordnung die Menschen den Namen Großer Wagen gegeben hatten. Es war das Letzte, was er sah. Sein erlöschendes Bewusstsein ließ ihn noch erkennen, dass, wenn der Morgen anbräche, er nicht mehr auf dieser Welt sein würde. Die unbeweglichen Himmelskörper nahmen keinen Anteil an seinem irdischen Leid. Scheinbar neutral, doch voller Trost blickten sie auf den sterbenden Menschen. Um ihn breitete sich helles Licht aus. In Leichtigkeit schien er zu schweben. Dann fühlte er gar nichts mehr.

Als kurze Zeit später in seinem Zimmer im Turm das Licht gelöscht wurde, lag in der Dunkelheit nur noch ein aufgerissener Körper auf blutnassen Steinen.

Hauptteil

Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.

Freitag, 19. August, Berlin

Deprimierende Leere, gepaart mit schmerzender Eifersucht und einem diffusen Gefühl des Alleinseins beherrschten Robert Hartmann. Am frühen Abend dieses Spätsommertages war die Französische Straße belebt. Mit schnellen, nervösen Schritten ließ er die hell erleuchteten Schaufenster hinter sich und bog in die Hedwigskirchgasse ab.

Er hatte den alten, tiefschwarzen Porsche an einer Stelle der Friedrichstraße geparkt, an der ihm ein Strafzettel so gut wie sicher war, trotz der vorgerückten Stunde des Mittwochabends. Es war ihm gleichgültig. Was zählten schon ein paar Euro, wenn man sich fühlte wie er? Im Übrigen hatte er lange genug mit der Suche eines Parkplatzes vergeudet. Leise fluchend stellte er den Sportwagen schließlich in einer kleinen Lücke neben einer der allgegenwärtigen Baustellen ab. Sie erhoben sich immer noch überall wie offene Wunden aus dem zerrissenen Herz der Hauptstadt. Die regelrechte Bauwut, mit der die Neugestaltung der historischen Mitte Berlins einherging, nahm kein Ende. Ohne ersichtlichen Grund war die Stelle unmissverständlich als Parkverbotszone deklariert.

Dunkle Wolken hingen seit dem Morgen wie bedrohliches Schwermetall über der Stadt. Das angekündigte Gewitter indes war bisher ausgeblieben. Nach einer viel zu kalten Phase präsentierte sich dieser Abend schwül und warm. Die feuchte Luft vermischte sich mit Abgasen und dem typischen Gestank der Großstadt.

Nachdem er spürte, wie mehrere Schweißtropfen sich auf seinem Rücken langsam abwärts bewegten, zog er das helle Sakko aus und legte es über seinen Arm. Mit einer beiläufigen Geste wischte er sich über die Stirn. Sie war ebenfalls feucht. Er strich die mittellangen, dunkelblonden Haare zur Seite. Auffrischender Wind trug loses Papier vor sich her, ließ langsam eine leere Bierflasche über die Straße rollen. Der Flaschenhals fehlte. Erst die gegenüberliegende Bordsteinkante stoppte die klirrende Bewegung.

Mein boulevard of broken dreams.

Die Wettervorhersage hatte ergiebige Niederschläge angekündigt. Der Regen würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Er beschleunigte seine Schritte. Eine Gruppe junger Touristen stand vor einer wenig einladenden Pizzeria. Im Vorbeigehen hörte er begeisterte Fetzen englischer Sprache.

Aus welchem trostlosen Teil des Königreichs mögen sie ihren Weg hierher gefunden haben, dass ihnen diese Stadt so viel Begeisterung zu entlocken vermag?

Unwillkürlich sah er sich um. Die Fassade neben ihm hatte wohl Kriege und Diktaturen überlebt, schön war sie seit langer Zeit nicht mehr. Einzelne Einschusslöcher aus dem letzten Weltkrieg waren nie beseitigt worden.

Liegt der Reiz dieser Stadt für Außenstehende eben im morbiden Charme ihrer Unvollkommenheit?

Jemand hatte das Zerstörungswerk der Geschichte komplettiert und ein hässliches, dafür großflächiges Graffiti angebracht. Sollte ein Passant danach trachten, das bunte Machwerk tolerant als Kunst zu identifizieren, so hatten andere Sprayer auch diese Illusion zunichte gemacht. Ihrer Verachtung war mit einem durchkreuzenden schwarzen Schriftzug Ausdruck verliehen worden. Ein Sinn war dem Gekritzel nicht zu entnehmen. Einzig das Wort »Fuck« drängte sich dem Betrachter überdeutlich auf. Hartmann murmelte es vor sich hin und erntete sogleich verwunderte Blicke der jungen Briten. Vermutlich war einfach noch kein Investor für die kostspielige Sanierung des Objekts gefunden worden.

Im Nachbarhaus hatte sich dagegen ein italienischer Modekonzern einquartiert und zahlte wahrscheinlich eine horrende Miete für die winzige Verkaufsfläche, auf der minimalistisch geschmackvolle Herrenanzüge drapiert waren. Die Preise für die edlen Stoffe wirkten geradezu obszön. Um die Haute Couture nicht allzu deplatziert wirken zu lassen, war die gesamte untere Fassade mit glänzendem Marmor verkleidet worden. Was als nobler Hauch gedacht war, wirkte eher grotesk inmitten der Schäbigkeit der umliegenden Gebäude.

Doch die Immobilien in Nähe der Stadtmitte galten als zukunftsträchtige Investition. Internationale Luxusmarken waren bestrebt, Präsenz zu demonstrieren. Das Ziel war jetzt nicht mehr weit entfernt.

Ein kleines, aber empfehlenswertes Lokal. Er hatte es in besserer Laune schon einige Male mit Kollegen besucht. Als exklusiv war in erster Linie das Angebot der Drinks und Cocktails zu bezeichnen. Hartmann passierte ein Baugerüst, unter dem der stechende Geruch von Urin schwerlich zu ignorieren war. Er atmete durch den Mund. Im Eingangsportal lag angesammelter Unrat. Ansätze von Stuck ließen eine herrschaftliche, zumindest aber bürgerliche Vergangenheit erahnen. Er steuerte das Nebenhaus an. Äußerlich wirkte die Bar rustikal. Die rote Holztür war notdürftig gestrichen worden und knarrte beim Öffnen. Er trat ein.

Der Inhaber, ein stets jovialer Australier, legte Wert auf persönlichen Kontakt zu seinen Gästen. Möglicherweise versuchte er damit, die erschreckenden Preise auszugleichen. Hartmann war dennoch überrascht, mit seinem Namen begrüßt zu werden. Das Gedächtnis musste definitiv eine Stärke des Besitzers sein. Mike zeichnete sich darüber hinaus durch eine positive Ausstrahlung aus, die meist auf seine Gäste übersprang. Herzlichkeit gehörte zum Geschäftsmodell. Auch Hartmann animierte er zu einem gequälten Lächeln.

»Ist hinten noch was frei?« Die Frage bezog sich auf die Lounge im hinteren Teil der Bar und war eher rhetorischer Natur. Es waren kaum andere Gäste anwesend.

»You’re welcome.« Der Satz des Barkeepers klang wie ein Schild, das man an die Tür hängt.

Hartmann ließ die Theke hinter sich und steuerte einen zurückgesetzt gelegenen Raum der Bar an. Dieser war durch eine Glastür getrennt und erlaubte das Rauchen. Er hatte vor längerer Zeit damit aufgehört, erwog an diesem Abend aber, das zu vergessen. In einer Ecke hängte er sein Jackett über einen Lederstuhl und setzte sich an den dazugehörigen polierten Holztisch. Sekunden später stand Mike vor ihm, um die Bestellung aufzunehmen: »Was darf ich ihnen bringen, Herr Staatsanwalt?«

Zum Teufel, woher weiß er das nun wieder?

Er hatte es wohl bei einem vorherigen Besuch zufällig mitbekommen.

»Dunkel sollte es sein, mit Eichenholz und Feuer.« Es klang übertrieben pathetisch, aber Mike schien unbeirrt.

»Ich finde bestimmt etwas ganz Besonderes für Sie.«

Der Barkeeper entfernte sich. Hartmann stützte den Kopf auf seinen Arm, blickte sich um und seufzte etwas gequält. Wenige Tische entfernt saß ein liebevoll ineinander vertieftes Pärchen. Sie redeten leise, warfen einander schmachtende Blicke zu. Auf dem winzigen Tisch vor ihnen standen zwei riesige, mit exotischen Früchten übermäßig dekorierte Cocktails. Hartmann fragte sich mit einem Anflug von Gehässigkeit, warum sie nicht gleich eine Schale Obstsalat geordert hatten. Der Anblick der beiden schmerzte, ohne dass er sich das eingestehen konnte. Seine linke Hand glitt zum rechten Ringfinger. Bedächtig drehte er an dem wertvollen Stück aus Platin und zog daran. Der Ring bewegte sich nur Millimeter. Er drehte und zog stärker. Der Finger begann, sich dunkelrot zu färben, gab den Ehering jedoch nicht frei. Aus seiner Hosentasche förderte er das Gegenstück zutage. Er legte es vor sich auf den Tisch.

Seine Frau Silvana hatte ihn mühelos entfernt, ihm überreicht und dann das Haus verlassen. Sie stritten sich zu häufig. Im Grunde war es eine Frage der Zeit gewesen.

Ich hätte wissen müssen, dass der Zeitpunkt kommen würde.

Der Barkeeper riss ihn aus seinen Gedanken, als er schwungvoll ein schweres Kristallglas vor Hartmann platzierte. Aus einer dunklen Flasche schenkte er einen über achtzehn Jahre gelagerten Single Malt Whisky ein. Erwartungsvoll blieb er am Tisch stehen. Hartmann begriff, dass er auf sein Urteil wartete. Er hob das halbvolle Glas, schwenkte es langsam und blickte in die Flüssigkeit, die im gedämpften Licht eine edle, goldbronzene Färbung annahm. Der erste Schluck verteilte sich wärmend in seinem Mund und offenbarte dem Kenner Anklänge an Holz, Torffeuer und Wasser, das auf seinem langen Weg durch das schottische Hochland weich geworden war. Ein runder Tropfen, der ihm behagte. Mike schien über die Meinung erfreut: »Sie haben einen feinen Geschmack.«

Er hätte vermutlich das gleiche, freundliche Lob abgegeben, wenn ich ihm gesagt hätte, sein Whisky schmecke nach Erdbeeren, dachte Hartmann, blieb aber ebenso höflich.

»Ein erstklassiger Malt. Kann ich die Flasche hier behalten?«

Der Whisky blieb am Tisch und Mike zog sich zurück. Hartmann leerte das erste Glas zügig und schenkte sich nach. Allmählich stellte sich leichte Entspannung ein. Doch die quälenden Gedanken widerstanden dem Alkohol hartnäckig.

Verdammt, wie konnte es nur soweit kommen? Wie groß ist mein Anteil an unserem Scheitern? Ich kann mich erst seit wenigen Stunden als Single betrachten und fühle mich bereits einsam. In den meisten Filmen wäre dies wohl der Moment, in dem das Leben einem hart geprüften Menschen eine neue Chance eröffnet, sämtliche Verzweiflung hinter sich zu lassen, um mithilfe einer neuen Herausforderung den demütigenden Anflug von Schwäche wieder ins rechte Licht zu rücken. Eine unverhoffte, aber dennoch unausweichliche Begegnung mit dem Schicksal. Die unerbittliche Realität beschert einem in diesen Momenten hingegen meist die Einsicht, dass sich niemand in einer die übliche Heuchelei übersteigenden Weise für einen interessiert.

Es schien eine Szene aus einer der miserablen Seifenopern zu sein, mit denen ihn Silvana häufig am frühen Abend gequält hatte.

Fand sie dort ihre Inspiration für dieses Schmierentheater?

Als er nach der Arbeit das Haus betreten hatte, war ihm eiskalte Stimmung entgegengeschlagen. Er ahnte bereits, Unschönes kündigte sich an. Irgendetwas war anders als sonst. Silvana wartete bereits im Esszimmer auf ihn. Gefasst, fast förmlich. Ihre Offenheit schockierte: »Ich trenne mich von dir. Es hat keinen Sinn mehr, Robert. Ich habe jemanden kennen gelernt. Endlich habe ich die Kraft zu diesem Schritt.« Die Worte trafen wie Fausthiebe. Ein lächerliches »Verstehe« entfuhr ihm. Eine wortkarge, verkrampfte Konversation schloss sich an. Silvana war offenbar fest entschlossen und einzig noch darauf bedacht, die Formalitäten zur Abwicklung der Ehe zügig zu erledigen.

Wieder trank er einen großen Schluck.

Das Klingeln des Handys riss ihn aus seinen Gedanken. Kurz überlegte er, es einfach auszuschalten, besann sich dann aber eines anderen und blickte auf das Display. Die Überraschung war perfekt. Mit Peter Zimmermann hatte er vor vielen Jahren Jura in Heidelberg studiert. Nach dem zweiten Examen waren sie jedoch im Wortsinne unterschiedliche Wege gegangen. Fast 20 Jahre vergingen. Sie betrachteten sich als gute Bekannte. Zur echten Freundschaft fehlte seitdem vielleicht nur häufigerer Kontakt. Anfangs hatten sie noch an Geburtstagen und Weihnachten telefoniert. Irgendwann endete auch das. Zimmermann war in den Südwesten Deutschlands gezogen und inzwischen seit Jahren verheiratet. Hartmann hatte die Stelle in Berlin angenommen und seine zukünftige Ex-Frau kennen gelernt. Beide Männer waren seitdem als Staatsanwalt tätig, wenngleich mit unterschiedlichen Aufgaben.

Dankbar über die Ablenkung nahm er das Gespräch an und meldete sich mit einem kurzen: »Hartmann«

»Hallo Robert, wie geht es dir denn so?«, Zimmermann klang, als bemühe er sich um Lockerheit.

»Da Du fragst, es ging schon besser.«

»Klingt nicht berauschend. Ist mit deiner Frau alles in Ordnung?« Sein Interesse wirkte echt.

»Mit ihr schon denke ich, nur mit unserer Ehe nicht.«

»Das ist schade. Bringt ihr das wieder in Ordnung?«

»Nur durch einen Besuch beim Familiengericht. Aber genug davon. Wie ist es dir ergangen?«

»Danke der Nachfrage. Ich komme hier gut zurecht.«

Hartmann wurde bewusst, wie lange sie keinen Kontakt mehr gehabt hatten. Bei ihrem letzten Telefonat war Peters Tochter Nathalie noch in den Kindergarten gegangen.

»Das ist schön zu hören.« Er begann sich zu fragen, ob der Anruf außer seichtem Smalltalk noch einen anderen Sinn verfolgte.

Zimmermann schien seine Gedanken zu ahnen, verfolgte aber scheinbar die Taktik, nicht mit der Tür ins Haus fallen.

»Und beruflich? Arbeitest Du noch bei der Sonderabteilung für Serientäter?«

»Mord, Totschlag, Vergewaltigung, womit kann ich helfen?« Hartmann spürte Resignation in seiner eigenen Stimme.

»Ich meinte eher, ob Du noch für die schwierigen Fälle zuständig bist.«

»Du meinst, ob ich mich noch damit beschäftige, Psychopathen zu jagen?« Er erschrak über seine eigene Unprofessionalität. Der Whisky hinterließ anscheinend erste Spuren.

»Wenn Du das so nennen möchtest, ja.«

»Da hat sich nicht viel geändert. Ich versuche Profile der Täter zu erstellen und ihnen damit näher zu kommen. Fast wie früher beim BKA. Nur, dass die Ermittlungen vor Ort meist die Kripo übernimmt.«

»Man hört, Du seiest ziemlich gut.«

»Hört man das? Rufst Du etwa an, um mich zu meinen beruflichen Erfolgen zu beglückwünschen?«

»Schön, dir macht man nichts vor. Wir brauchen deine Hilfe.«

»Wir?«

»Am besten fange ich von vorne an. Ich habe einen Fall, bei dem unsere hiesigen Ressourcen«, er zögerte, »sagen wir etwas überfordert sind. Es handelt sich dabei um die Ermittlungen in einem Doppelmord. Wenn man die Tat überhaupt noch so bezeichnen kann. Gestern wurden im Keller einer Burg nicht weit entfernt von hier zwei Leichen gefunden. Ein Abstieg in die Hölle, im mehrfachen Sinne. Natürlich gibt es bisher weder Hinweise auf Täter noch gar ein Motiv.«

»Klingt tatsächlich kompliziert. Aber Tötungsdelikte werden eben leider nicht nur in Großstädten begangen.«

Zimmermann überging den Hinweis und fuhr unbeirrt fort: »Eine der Leichen ist in geradezu unvorstellbarem Maße verstümmelt. Es deutet einiges auf irgendeinen rituellen oder sonst wie außergewöhnlichen Hintergrund hin. Und noch etwas verkompliziert das Ganze. Bei dem einen Toten handelt es sich um einen hohen Offizier der Bundeswehr, um einen – warte mal kurz – um einen Oberst. Wie und warum das Opfer so verunstaltet wurde, wissen wir noch nicht.«

Hartmann nahm einen tiefen Schluck.

»Verstehe. Jetzt stehst Du unter Druck.«

Die Antwort bestand aus einem knappen, freudlosen Lachen. »Druck? In der Gegend gibt es solche Verbrechen sonst nicht. Diebstähle oder Schlägereien ja, Kapitaldelikte sehr selten. Neulich eine Messerstecherei in Koblenz. Aber etwas Vergleichbares ist hier noch nicht vorgekommen. Der Landrat der betreffenden Gemeinde ist außer sich. Der hiesige Generalstaatsanwalt steigt mir aufs Dach. Und als wäre das nicht genug, will jetzt auch noch das Verteidigungsministerium bei den Ermittlungen mitmischen.«

»Und ich dachte, ich hätte Probleme«, erwiderte Hartmann lakonisch.

Ahnend, auf was der Anruf hinauslaufen würde, begann er bereits, sich eine Antwort zurechtzulegen. Er hätte es nicht zugegeben, war aber dankbar für die unverhoffte Gelegenheit, den heimischen Problemen für eine gewisse Zeit den Rücken kehren zu können. Sicher war andererseits auch, dass sie sich während seiner Abwesenheit nicht lösen würden.

Eine Flucht löst niemals Probleme.

Zimmermann schien nicht zu wissen, wie er fragen sollte. Sein Kollege kam ihm zuvor.

»Ja, ich stehe dir zur Verfügung. Aber ihr müsst das noch offiziell mit meiner Dienststelle klären. Von wegen Amtshilfeersuchen und dem ganzen Quatsch.«

Für weitere Konversation fehlte Hartmann an diesem Abend die Geduld.

Sein Gesprächspartner wirkte plötzlich enorm erleichtert.

»Ich danke dir.«

»Eins noch Peter, erwarte bloß nichts Unmögliches von mir. Du weißt, wie Ermittlungen laufen. Ich kenne noch keine Einzelheiten, aber wir werden weitere Unterstützung brauchen. Pathologen, forensische Experten, möglicherweise weitere Gutachter. Und natürlich die volle Unterstützung aller örtlichen Behörden.«

»Ich werde mein Bestes tun, Robert.«

Hartmann hatte mit der Zeit gelernt, aus Stimmen zu lesen. In diesem Fall konnte er nur wenig Zuversicht aus der belegten Äußerung seines Kollegen heraushören.

»Manche Leute hier waren dagegen, jemanden von außerhalb hinzuzuziehen. Ich wollte nur, dass Du das weißt. Vielleicht wird dir an mancher Stelle kalter Wind entgegenschlagen.«

»Auf kaltes Wetter bin ich vorbereitet. Hitze liegt mir nicht mehr.«

Mit der suggestiven Kraft des Whiskys drängte er eine unliebsame Erinnerung zur Seite.

Zimmermann lachte auf. »Das kannst Du wörtlich nehmen. Wir haben hier vermutlich den miesesten Sommer seit Generationen. Die Winzer beschweren sich schon darüber, dass ihre Weinberge langsam verfaulen.«

»Dann hoffe ich, Du hast noch eine Flasche im Keller.«

»Da mach dir keine Sorgen, der Weinkeller ist sozusagen mein Hobby.« Er wurde wieder sachlich. »Ich schicke dir vorab die Ermittlungsakte, damit Du dich mit den Details vertraut machen kannst. Viel steht allerdings nicht darin. Genau genommen ist sie so dünn wie unsere bisherigen Erkenntnisse.«

Die Verabschiedung verlief schnell. Sie würden sich demnächst ja persönlich sehen.

Wie und warum eines der Opfer so verunstaltet wurde, wissen sie noch nicht.

Nachdenklich drehte Hartmann das halbgefüllte Glas in der Hand vor sich auf dem Tisch, hob es dann an und ließ das samtige Brennen der Flüssigkeit am Gaumen verweilen. Geschmack von unergründlicher, torfiger Erde breitete sich aus. Ohne es näher beschreiben zu können, verstärkte sich das Gefühl, mit der Zusage einen großen Fehler begangen zu haben.

Wenige Jahre zuvor

Mazar i Scharif, Provinz Balkh, Afghanistan

Deutscher ISAF – Stützpunkt »Camp Marmal«

Als Siegfried Schilling nach dem kurzen Briefing aus der klimatisierten Baracke trat, schlug ihm warme Luft entgegen. Nach dem Halbdunkel überreizte das Sonnenlicht seine Augen. Sofort setzte er die Sonnenbrille auf. Erbarmungsloser afghanischer Himmel. An keinem Ort hatte er jemals einen so makellos azurblauen Himmel gesehen. Spätestens zur Mittagszeit würde die Sonne jede Bewegung zur Qual werden lassen.

Wie an jedem anderen Tag in diesem Land.

Ein planierter Sandweg führte ihn zum Fuhrpark. Neben einer Reihe von Transportern lehnte ein weiterer Soldat an einer Mauer und rauchte. Alle Fahrzeuge trugen die Namen von mehr oder weniger wehrhaften Tieren. Die Gattungen der nur leicht gepanzerten Patrouillenfahrzeuge nannten sich Dingo oder Mungo. Doch in diesem Fall hatten sie sich für den sogenannten Wolf entschieden, einen einfachen Mercedes-Geländewagen. Nicht gerade neuster Bauart und vollkommen ungeschützt, dafür unauffällig und zuverlässig.

Als er seinen Kameraden bemerkte, schnippte Heiner Lynd die Kippe neben die Reifen und schwang sich hinter das Steuer. Ein wenig war Schilling darüber verwundert, dass er die Instruktionen allein entgegengenommen hatte. Wahrscheinlich war Lynd bereits informiert worden. Sie nickten sich wortlos zu.

Scheppernd sprang der Dieselmotor an, gab dann ein heiseres Brummen von sich. Der Wagen beschleunigte. Sie passierten zahlreiche Container und einige behelfsmäßige Bauten, bis die stark gesicherte Zufahrt hinter ihnen lag. Auf einem großen Holzschild stand »Camp Marmal.« Der Name stammte vom nahe gelegenen Gebirgszug. Darunter waren Sicherheitshinweise in der einheimischen Sprache Paschtu abgedruckt. Erst vor wenigen Tagen war ein mit Sprengstoff beladener Lieferwagen auf das Tor zugefahren, jedoch noch außerhalb der Mauern explodiert. Obgleich nur die Attentäter dabei ums Leben gekommen waren, herrschte seitdem nervöse Wachsamkeit.

Um das Feldlager breitete sich Ödnis aus. Die mit Schlaglöchern übersäte Piste durchquerte ausgezehrte Landstriche. Karger Boden ließ, abgesehen von dornigen Büschen, kaum Vegetation zu. Im Schein des Sonnenaufgangs erhob sich am Horizont die atemberaubende Kulisse der schneebedeckten Gipfel des Hindukusch.

Schilling griff nach einem der kompakten Sturmgewehre, die im hinteren Teil des Wagens neben anderem Equipment lagen. Er lud die Waffe durch und legte sie auf seinen Schoß. Auf dem schwarzen Lauf spiegelten sich Sonnenstrahlen. Der ergonomische Griff des Gewehrs lag wie immer perfekt in seiner Hand. Die Waffe beruhigte ihn. In wenigen Stunden würde sich das dunkle Metall so erhitzt haben, dass man sich ohne Handschuhe daran verbrannte.

Ruhelos schweifte sein Blick umher und analysierte die Landschaft nach möglichen Bedrohungen. Noch einmal ging er die Informationen durch, die Oberst Seyfart ihm in gewohnt kurzer Form übermittelt hatte.

Ein Mitglied der Aufständischen hätte sich mit einem verlockenden Angebot an den Militärgeheimdienst gewandt. Der Mann gab angeblich vor, über detaillierte Kenntnisse feindlicher Planung und Strategie zu verfügen. Im Gegenzug dafür, dass er sein Wissen teilte, verlangte er eine noch unbestimmte Summe in Dollar und die Möglichkeit der Ausreise in ein westliches Land seiner Wahl. Das Geld war kein Problem, der zweite Wunsch schon eher. Bei einem ersten Treffen sollte der Informant abgeleuchtet werden. Dies würde ihre Aufgabe sein. Als Treffpunkt hatte er einen Bergkamm zwischen dem kleinen Ort Zurmat und der Stadt Gardez im Distrikt Paktia vorgegeben. In einer Hütte, die als sicheres Haus bezeichnet worden war. Gegenvorschläge hatte der Mann nicht akzeptiert.

Siegfried Schilling wusste, es war eine Fahrt in die Ungewissheit. Es konnte sich genauso gut um eine Falle handeln. Wiederholt die Seiten zu wechseln, hatte in diesem Land nichts Ehrenrühriges, solange der Stammeskodex gewahrt blieb. In diesem Fall würden sie schlimmstenfalls vor einer Webcam hingerichtet werden. Schilling fühlte sich unwohl, was jedoch nicht an ihrem Auftrag lag.

Berufsrisiko

Er hasste vielmehr das Gefühl, nicht dort zu sein, wo er am dringendsten gebraucht wurde. Er hasste es, hier zu sein und er hasste seinen Vorgesetzten. Oberst Seyfart hatte ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er keinesfalls früher nach Deutschland zurückkehren könne. Ob seine Mutter bei seiner Rückkehr noch leben würde, war ungewiss.

Der Krebs wartet nicht auf mich. Das ist mir egal. Sie sind Soldat.

Alles war ihm fremd geworden, auch Lynd. Er blickte über die rötliche Ebene. Ein großer, grauer Vogel kreiste über den Furchen eines verdorrten Ackers. Dann schien er etwas erspäht zu haben, stieß pfeilartig hinab.

»Ich denke, das wird ein unvergesslicher Ausflug«, sagte Lynd plötzlich vieldeutig. Sein Blick blieb dabei unbewegt.

»Darauf kann ich verzichten«, erwiderte Schilling genervt, »wie heißt unser Mann eigentlich?«

»Wer?«

»Der Spitzel, der Informant. Wer sonst?«

»Ach richtig. Er nennt sich Azim.«

»Der Weise.«

Lynd zog die Augenbrauen in die Höhe.

»Was?«

»Das ist die Bedeutung des Namens im Arabischen. Habe ich irgendwo einmal gelesen.«

»Von mir aus.«

Die Sonne stieg. Die angenehmen Temperaturen des Morgens waren längst verflogen und unbarmherziger Hitze gewichen. Der Geländewagen quälte sich weiter durch Schlaglöcher und Geröll. Sie kamen nur langsam voran. Die Piste führte jetzt durch ein lange ausgetrocknetes Flussbett. Hin und wieder säumten Panzerwracks sowjetischer Bauart den Weg. Ausgeschlachtet und jeden Sinnes beraubt wirkten sie wie rostige Mahnmale. Dazu bestimmt, jedem Fremden die Aussichtslosigkeit seiner Unternehmung vor Augen zu führen. Der Anblick ließ Siegfried Schilling für einen Moment nachdenklich werden.

Alle sind hier gescheitert. Alexander der Große, die Briten, die Russen. Alle haben einen schrecklichen Blutzoll für ihre Anmaßung gezahlt. Wie wird es uns ergehen?

Das Fahrzeug war ein Stück von der Piste abgekommen. Die Reifen wirbelten knirschend kleinere Steine zur Seite. Sofort steuerte Lynd den Wolf wieder in die Mitte der Straße. Die erste Ortschaft auf ihrer Route deutete sich an. Äußerste Wachsamkeit war gefragt. Im Getümmel der Gassen und Märkte konnten sich Angreifer leichter verstecken und aus dem Hinterhalt zuschlagen. Improvisierte Sprengfallen stellten eine weitere Gefahr dar. Lynd behielt die Geschwindigkeit bei, um kein leichtes Ziel zu bieten.

Bloß nicht anhalten.

Schäbige Exotik empfing sie. Am Ortsrand duckten sich niedrige Lehmhütten neben abgeerntete Felder. Die ärmlichen Menschen wirkten misstrauisch und ängstlich. Niemand schien die ungläubigen Fremden noch als Befreier betrachten zu wollen.

Die Straße war für afghanische Verhältnisse in Ordnung und erlaubte eine zügige Fahrt. In der Mitte der Siedlung erblickte Schilling eine Ruine, deren ursprüngliche Bedeutung nicht mehr auszumachen war. Der massiven, protzigen Bauart nach handelte es sich um ein Überbleibsel der sowjetischen Besatzungszeit. Vor langer Zeit hatte es vermutlich Repräsentationszwecken gedient. Um die geborstenen Mauern gruppierten sich die spärlichen Stände eines Basars. Unzählige Einschüsse klafften im Beton. Ausgeblichene Fragmente einer Malerei im naiven Stil des sozialistischen Realismus bedeckten die Fassade. Der abblätternde Handschlag zwischen Bauer und Soldat demonstrierte wohl einst die Illusion brüderlicher Verbundenheit der Völker. Die plumpe Darstellung wirkte in ihrer Banalität bereits historisch. Fasziniert schaute Schilling der Vergangenheit hinterher.

Lynd widmete sich hingegen stoisch konzentriert dem Fahren. Der Ausdruck in seinem Gesicht war hart und abwesend. Sie stoppten nur einmal nach knapp vier Stunden. Lynd füllte Dieseltreibstoff aus einem Kanister in den Tank. Schilling sah auf die Ziffern am Armaturenbrett. 14.30 Uhr. Er gab eine kurze Funkmeldung durch. Wenn es ihnen gelänge, die Geschwindigkeit beizubehalten, würden sie Gardez vor Anbruch der Dämmerung erreichen.

Die Landschaft veränderte allmählich ihr Gesicht. Statt steiniger Ödnis dehnten sich rote Felder zu beiden Seiten der Straße. Die Bauern schienen wenig Getreide, dafür umso mehr Mohn anzubauen. In einem langen chemischen Prozess wurde aus den Blüten der Pflanzen schließlich der weiße Stoff trügerischer Träume. Auf verschlungenen Pfaden wurde er außer Landes geschafft und fand seinen beschwerlichen Weg nach Europa und Amerika. Keiner versuchte bisher ernsthaft, dem Drogenanbau entgegenzutreten. Ein unkontrollierbarer Guerillakrieg mit den mächtigen Warlords wäre zwangsläufig die Folge gewesen. Kilometerweit erstreckte sich die rote Blumenpracht bis an einen kleinen Fluss. Sie sprachen nur wenig. Am frühen Abend erreichten sie die Provinzhauptstadt Gardez. Die Narben der kriegerischen Vergangenheit waren überall ersichtlich. Mauern eines alten Forts krallten sich in die Felsen. Die kleine Festung diente seit Alexander dem Großen allen Invasoren als Stützpunkt. Auch diese Stadt ließen sie hinter sich. Die staubige Ebene begann unmittelbar hinter den letzten Gehöften. Über dem nahen Felsmassiv von Tora-Bora hatten sich Wolken zusammengebraut. Sand fegte über die Piste. Die Steigung nahm zu. Laut Karte und GPS näherten sie sich ihrem Ziel. Lynd lenkte den Wagen von der Straße in eine Mulde.

»Den Rest gehen wir zu Fuß. Bedingungen checken.«

Schilling nickte. Bisher war alles verlaufen wie geplant. Ein rätselhafter Impuls alarmierte ihn dennoch. Etwas störte ihn. Er konnte jedoch nicht sagen, um was es sich handelte.

Unsinn, ich werde paranoid.

Sie stiegen aus, griffen Waffen und notwendigste Ausrüstung. Ihre sandfarbene Tarnkleidung verschmolz annähernd mit der Umgebung. Dornen rissen an Schillings Beinen. Als wollten die vertrockneten Büsche ihn davon abhalten, Lynd zu folgen. Er hatte weitaus stärkere Sandstürme erlebt. Doch außerhalb des Fahrzeugs prasselten die winzigen Körner wie Millionen feiner Nadeln auf jedes Stück ungeschützter Haut. Sie zogen ihre Halstücher bis unter die Brillen. Laut dem kleinen Monitor des tragbaren Navigationsgeräts hatten sie sich dem vereinbarten Treffpunkt bis auf wenige hundert Meter genähert. Der gelbliche Staub, der gleich einer Wolke über dem Boden schwebte, trübte die Sicht stark ein.

Fast erschraken sie, als sich unmittelbar vor ihnen die Reste einer Lehmhütte vom felsigen Untergrund erhoben. Es waren nicht mehr als die Grundmauern, die sich vor dem aufragenden Gebirgsmassiv abzeichneten. Das Dach war vermutlich einmal mit Stroh gedeckt gewesen. Inzwischen war davon nichts mehr übrig. Mit einer Handbewegung bedeutete Lynd seinem Begleiter, alle unnötigen Bewegungen zu unterlassen. Nur ein paar große Geröllbrocken boten ihnen noch Sichtschutz. Keinerlei Zeichen deuteten auf die Anwesenheit weiterer Menschen hin. Lynd wandte sich Schilling zu. Sein Flüstern glich mehr einem Zischen, um den tosenden Sand zu übertönen.

»Ich kläre die Lage. Du wartest.«

Siegfried Schilling hatte nichts gegen die Vorgehensweise einzuwenden. Ohnehin hätte er viel dafür gegeben, zu diesem Zeitpunkt an einem anderen Ort zu sein. Er versuchte die Gedanken an seine Mutter beiseite zu schieben. Es war der falsche Zeitpunkt. Nach wenigen Schritten entzog sich Lynd seinem Blickfeld. Minutenlang kauerte Schilling hinter dem Felsbrocken, ohne etwas wahrzunehmen.

Es dauert zu lange. Wenn ich nur etwas sehen könnte. Verfluchter Sand.

Weitere Minuten verstrichen. Vollkommen unerwartet peitschten plötzlich drei Schüsse durch das unentwegte Rauschen. Schilling zuckte zusammen. Doch seine antrainierten Reflexe funktionierten. Er verlor nicht die Nerven. Dicht an die Felswand gepresst näherte er sich geduckt der Baracke. Der Eingang erinnerte ihn eher an den Zugang zu einer Höhle. Zusammengenagelte Bretter ersetzten die Tür. In diesem Moment öffneten sie sich. Zwei Gestalten stachen aus dem Staubnebel hervor. Er glaubte zu erkennen, dass sie sich die Hand gaben. Was sie sagten, konnte er nicht verstehen. Nur ein Wort trug der Wind zu ihm. »Nizar.«

Sein Partner hatte ihn offenbar nicht bemerkt. Laut rief er in seine Richtung.

»Lynd?«

Schilling war sich nicht sicher, ob ihn die Situation erschrecken oder erleichtern sollte. Immerhin war sein Kamerad am Leben.

»Was ist hier geschehen?«

Sein Blick fiel auf einen Gegenstand, den Lynd mit einem Griff an der linken Hand trug.

»Was ist das? Wo ist der Informant?«

Sie standen sich in einem Zustand befremdlicher Unentschlossenheit gegenüber.

»Tot. Er hat auf mich geschossen, ich habe das Feuer erwidert. Es war eine Falle.«

Siegfried Schilling versuchte seiner verwirrenden Gedanken Herr zu werden.

»Für mich klang das eher, als wären die Schüsse hintereinander aus einer Waffe abgegeben worden.«

»Irrtum!«

Er drängte Lynd zur Seite und trat in die Hütte. Die Lehmmauern dämpften die Windgeräusche. Ungläubig schob Schilling die sandverkrustete Sonnenbrille in die Stirn. Im Halbkreis lagen drei männliche Körper auf dem festgestampften Boden. Alle schienen mittleren Alters zu sein, keinesfalls älter als fünfzig. Zwei Leichen wiesen klaffende Löcher in der Mitte der Stirn auf. An der dritten konnte er zunächst keine tödliche Wunde ausmachen. Erst bei näherem Hinsehen entdeckte er den Einschuss auf der linken Brustseite.

In diesem Augenblick wurde unweit der Hütte ein Motor gestartet. Ein Wagen entfernte sich. Schilling fuhr herum. Heiner Lynd blockierte weiterhin den mit groben Holzbalken befestigten Eingang.

»Was ist hier los, zum Teufel?«

»Wovon redest Du, Schilling?«

»Für wie dumm hältst Du mich? Bei einem überraschenden Feuergefecht hättest Du die Schüsse nicht präzise auf Kopf und Herz richten können. Außerdem sehe ich keine Waffen bei den Leichen.«

Die bebende Stimme vermochte Lynd nicht aus der Ruhe zu bringen. Triumphierend hielt er ein abgenutztes Kalaschnikow-Gewehr in die Höhe.

»Schon wieder falsch.«

Schilling war keineswegs überzeugt. Was er vorfand, verwirrte ihn.

»Die Waffe beweist gar nichts. Du wurdest niemals angegriffen, nicht wahr?«

Lynds unschuldige Miene formte sich zu einem bösen Lächeln.

»Ganz richtig. Mein Fehler. Mir hätte klar sein müssen, dass man dir nichts vormacht.«

»Also? Du solltest mir besser sofort erklären, warum Du die Männer erschossen hast. In was ziehst Du mich hinein?«

Lynd hob besänftigend die Hände.

»Natürlich. Mach dir keine Sorgen, es ist alles in Ordnung.«

»Nichts ist in Ordnung. Du hast offenbar Unschuldige getötet. Das ist Mord, auch im Krieg.«

Die Stimme seines Gegenübers veränderte sich in bedrohlicher Weise. Siegfried Schilling hatte mittlerweile den Eindruck, einem Fremden gegenüberzustehen.

»Mach keinen Fehler. Du weißt nicht, worum es geht. Noch können wir alle Probleme vermeiden.«

Schilling griff zum Pistolenhalfter, der seitlich an seinem Oberschenkel saß.

»Du bist ja wahnsinnig. Das kannst Du alles der Militärpolizei erzählen. Wir gehen jetzt zum Wagen, dort werde ich eine Funkmeldung durchgeben.«

Lynds Stimme hatte den grollenden Klang abgelegt. Bedauernd sah er seinen Kameraden an.

»Wirklich schade. Ich dachte, Du würdest es verstehen.«

Der Sandsturm nahm noch einmal an Intensität zu, bevor ein vierter Schuss durch den frühen Abend schlug. Kurz darauf übertönte der startende Dieselmotor des Geländewagens das stetige Pfeifen des Windes.

Sonntag, 21. August

Alle Prognosen erwiesen sich glücklicherweise als unzutreffend. Der Spätsommer hatte sein Gesicht binnen weniger Tage zum Freundlichen gewendet, glänzte jetzt mit milden Temperaturen und kaum Niederschlägen. Die Meteorologen sprachen von einem Zwischenhoch, das sich völlig unerwartet nach Mitteleuropa verlagert hätte. Es hinterließ jedoch mehr den Eindruck einer improvisierten Ausrede für falsche Vorhersagen. Hartmann blickte zum Himmel.

Wie trügerisch erweisen sich allzu oft die Gewissheiten der Vergangenheit. Nichts ist sicher, nichts bleibt.

Als er am Vormittag in Berlin aufgebrochen war, schienen die Biergärten und Straßencafés bereits bis auf den letzten Platz besetzt zu sein. Die Straßen wirkten hingegen wie leergefegt. Die Tageshöchsttemperatur sollte angeblich 29 Celsius erreichen. Er entschied darauf hin, bereits einen Tag früher als geplant aufzubrechen.

Was sollte mich jetzt noch zuhause halten?

Lieber wollte er das sonnige Wetter im offenen Wagen genießen. Im Haus, das er mit seiner Frau bewohnt hatte, überkamen ihn Gefühle von Wut und Verlust. Sie war lediglich noch einmal kurz dort erschienen, um Kleidungsstücke und persönliche Gegenstände abzuholen. Betont lässig hatte sie zu verstehen gegeben, alles andere könne auch später geregelt werden. Hartmann fühlte sich hilflos und gedemütigt. Andererseits erleichterte die Wut über den abgeklärten Auftritt, die Realität zu akzeptieren. Es war keine Traurigkeit zurückgeblieben, höchstens Leere und Enttäuschung. Tatsächlich gelang es ihm, während der Autofahrt nicht ständig über das Ende seiner Ehe nachzudenken.

Er hatte die Autobahn 7 bereits in der Nähe von Kassel verlassen, um das letzte Stück der Reise über malerische Landstraßen zurücklegen zu können. Saubere Luft und Natur ließen einen Teil der Anspannung der letzten Tage von ihm abfallen. Mit geöffnetem Verdeck ließ er das Cabrio bei gemächlichem Tempo dahinrollen, um die liebliche Landschaft der Pfalz in sich aufzunehmen. Die Straße wand sich durch lichte Wälder. Etwas später durchbrachen immer häufiger in präzisen Linien angepflanzte Weinstöcke die Laubbäume. Hügel und kleine Berge prägten bald die Umgebung. Gelegentlich thronten Burgen darauf. Hartmann geriet fast in euphorische Stimmung. Ähnlich musste Wagners Burgund ausgesehen haben, das Herz Europas.

Das Autofahren empfand er hier im Gegensatz zur Großstadt mehr als Genuss denn als Anstrengung. Hin und wieder überholte er mühelos einen großen LKW. Laut dem Navigationssystem konnte es nicht mehr weit sein. Er stellte sich die sinnlose Frage, ob seine Entscheidung für den Arbeitsplatz in Berlin damals richtig gewesen sei. Vieles hatte sich in den Jahren verändert. Er begann manches zu verabscheuen, das ihm einst als Herausforderung erschienen war.

Die Stadt mit ihrer Hektik, ihrem Schmutz, ihrem Gestank, ihrer Gewalt. Alles scheint so weit entfernt angesichts der Ruhe, die das Land hier ausstrahlt.

Die ständige Beschäftigung mit Abgründen der menschlichen Existenz hinterließ Spuren, die sich nicht mehr verleugnen ließen. Wissender fühlte er sich, vielleicht stärker, aber auch müde und ausgezehrt. Wie ging es anderen, die sahen, was er gesehen hatte? Selten war es ihm möglich, sein Leben so zu reflektieren, wie in diesem Moment auf einer kleinen Straße in der Provinz. Hatte er etwas verändert? Was wollte ihm sein Schicksal hier zeigen? Verschwommen erschien so viel, worauf er früher eine klare Antwort gewusst hatte.

Gerade noch rechtzeitig, bevor seine Gedanken unvermeidlich in Selbstmitleid gemündet wären, wies ihn die sachliche Frauenstimme aus dem Navigationssystem darauf hin, dass er demnächst den Zielort Lahnstein erreichen würde. Der sonnige Nachmittag neigte sich seinem Ende zu. Nur wenige schneeweiße Wolken standen am Himmel wie harmlose Schafe. Sie würden den Abend nicht trüben können.

Der Sportwagen passierte ein schmuckes Ortsschild aus Holz, das von künstlichen Weinreben umrankt wurde. Unter dem deutschen »Willkommen« wurden die Besucher auch mit »Welcome« und »Bienvenue« begrüßt. Die graugrünen Wassermassen des Rheins wälzten sich unmittelbar am Ort vorbei. Straßen und Häuser zeigten sich in einwandfreiem Zustand. Weinlokale und Straßencafés waren geöffnet. Ein älteres asiatisches Paar, er tippte auf Japaner, überquerte die Straße. Der Ort schien darauf ausgerichtet, alle Erwartungen seiner Besucher zu erfüllen. Der mittelalterliche Kern war erhalten geblieben, lieferte passendes Ambiente. Außerhalb der Kleinstadt erhoben sich Weinberge. Manche Anbaulage erschien steil und felsig, andere eher sanft hügelig. Man konnte sich hier sicher wohlfühlen, ob als Gast oder Einwohner. Die Sauberkeit des Ortes erschien fast übertrieben, jedoch nicht unangenehm. Die Hauptstraße durchquerte Lahnstein in zahlreichen Windungen.

Das Grundstück der Zimmermanns war eines der letzten der Straße, lag fast schon außerhalb des Ortes. Vor dem wunderschönen Fachwerkhaus tönte die Stimme: »Sie haben ihr Ziel erreicht.« Er lenkte das Auto auf die breite Einfahrt neben einen dort geparkten Saab und stieg aus.

Beeindruckend.

Durch den liebevoll bepflanzten Vorgarten führte ein geschwungener Kiesweg zum Eingang. Das Haus musste sehr alt sein, war aber aufwendig restauriert worden. Die Liebe zum Detail war überall ersichtlich. Kieselsteine knirschten unter seinen Schritten.

Plötzlich fiel ihm ein, dass sein Bekannter ihn erst am nächsten Tag erwartete. Möglicherweise würde überhaupt niemand zuhause sein. Das fabelhafte Wetter bot sich für einen Ausflug mit der Familie in idealer Weise an. Hartmann blickte durch die Fenster. Was er sah, stellte offenbar das Wohnzimmer dar. Dunkles Holz dominierte die Einrichtung. Alles wirkte geschmackvoll, wenngleich der Raum durch die schweren Möbel etwas überladen anmutete.

Der Klingelknopf löste ein altmodisches Läuten aus, das durchaus mit der Ausstrahlung des alten Haus harmonierte. Im Inneren regte sich nichts. Nach einem weiteren Klingeln gab er auf und wollte bereits zu seinem Wagen zurücklaufen. Plötzlich glaubte er, leise Stimmen wahrzunehmen. Der Kiesweg führte ihn seitlich am Haus entlang. Nach wenigen Schritten fand er sich im großzügigen Garten wieder. Alles machte den gleichen gepflegten Eindruck. Eine betagte Eiche bildete den Mittelpunkt der weitläufigen Rasenfläche. An einem der dickeren Äste hing eine Schaukel, die nur für die kleine Nathalie dort angebracht worden sein konnte. Leichter Wind ließ das Brett an den Seilen schwingen. Über einer Wäscheleine in einiger Entfernung blähten sich zwei weiße Laken und große Badetücher im Luftzug. Jetzt sah er auch Peter Zimmermann mit seiner Frau. Sie standen sich im hinteren Teil des Gartens gegenüber, schienen zu diskutieren oder zu streiten.

Schwache Wortfetzen einer weiblichen Stimme drangen zu Hartmann herüber. »... dass noch so weitergehen? ... furchtbar... endlich... begreifen... zurückkommen.« Das Verhalten der sonst so zurückhaltenden Frau ergab keinen Sinn.

Was regt Regina dermaßen auf?

Hartmann kam sich wie ein Eindringling vor, hätte sich am liebsten davongeschlichen. Es war zu spät. Seine Anwesenheit war den beiden nicht verborgen geblieben. Sofort beendeten sie die aufgeregte Konversation und liefen auf ihn zu. Ihre Mienen hellten sich auf, wobei es Zimmermanns Frau nicht so recht gelingen wollte. Hartmann stellte fest, dass sich sein Bekannter kaum verändert hatte. Die dunkelbraunen Haare trug er immer noch ordentlich zurückgekämmt. Die grauen Strähnen dazwischen störten keineswegs. Bei näherem Hinsehen wirkte das Gesicht kantiger als früher, so wie seine große Gestalt im Ganzen hagerer geworden war. Seine Frau war ebenso attraktiv wie zu dem Zeitpunkt, als er sie das letzte Mal gesehen hatte, wobei ihr Gesicht nun etwas schmaler wirkte. Zum warmen Ausdruck in ihren braunen Augen hatte sich ein Anflug von Traurigkeit gemischt.

»Hallo Robert. Du bist früher losgefahren?«

Die Frage war überflüssig, entspannte aber die Situation.

Lächelnd kam Zimmermann auf ihn zu, reichte ihm die Hand. Tat, als hätte es den Vorfall mit seiner Frau nicht gegeben. Regina blieb weiter hinten stehen. Sie schien nach Fassung zu ringen, lächelte aber, als Hartmann sie anschaute. Unter ihren Augen erkannte er tiefe Ringe. Ihre Züge wirkten angespannt und beherrscht.

»Guten Tag, ihr beiden. Entschuldigt, ich hätte wirklich vorher anrufen müssen.«

Regina hatte sich endgültig gefangen, kam auf ihn zu und umarmte ihn herzlich. »Ach Unsinn. Es ist schön, dass Du hier bist. Wir haben uns ja seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.«

Er war noch nicht überzeugt. »Nein wirklich, ich kann doch morgen vorbeikommen und suche mir jetzt erst mal eine Möglichkeit zum Übernachten.«

Peter Zimmermann machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nun hör aber auf, es ist wirklich in Ordnung. Bei dem wundervollen Wetter wäre doch jeder früher losgefahren.« Und etwas leiser zu Hartmann gewandt: »Kleine Meinungsverschiedenheiten gibt es doch überall.«

Sie schlenderten langsam Richtung Terrasse, auf der sich hübsche Teakstühle um einen großen Tisch gruppierten. Kübel aus Terrakotta erzeugten ein angenehmes, fast mediterranes Flair. Der große Steingrill komplettierte die Atmosphäre, schien aber eher selten benutzt zu werden. Hartmann ließ sich schmunzelnd auf einen der Stühle fallen: »Hier lässt es sich wirklich aushalten. Ich glaube, ihr habt damals die richtige Entscheidung getroffen, euch hier niederzulassen.«

Regina drehte sich zur gläsernen Terrassentür um und verschwand im Haus. Fast wäre ihm der flüchtige Ausdruck in ihrem Gesicht entgangen. Für Sekundenbruchteile glaubte er, etwas Gehetztes aus ihrem Blick lesen zu können.

Warum sollte jemand hier nicht zufrieden sein? Nur weil es mir selber schlecht geht, darf ich nicht überall nach Negativem suchen. Ein Streit ist doch nichts Unnormales.

Sein Kollege setzte sich ihm gegenüber, blickte ihn interessiert an: »Ich will dich nicht ausfragen. Falls Du über die Trennung nicht sprechen willst, lassen wir das Thema einfach weg.«

»Das wäre mir sehr recht. Darüber habe ich fürs Erste genug nachgedacht. Ändern kann man es nicht mehr.«

Sie versanken in ein angeregtes Gespräch, das sich hauptsächlich mit ihrer beruflichen Entwicklung befasste. Zimmermann arbeitete als Staatsanwalt in Koblenz. Es war die einzige größere Stadt in der Umgebung. Sein Zuständigkeitsbereich erstreckte sich über mehrere Landkreise und Gemeinden. Die Fälle schienen sich bisher eher im Bereich der Wirtschafts- und Kleinkriminalität abgespielt zu haben.

»Das einzige Kapitalverbrechen in all den Jahren war ein Mord in einem Dorf nicht weit von hier. Ein Erbstreit. Im Grunde eine einfache Sache. Nach zwei Tagen hatten wir ein Geständnis. So klar sieht es bei deinen Fällen wohl nicht immer aus?«

»Nein, leider nicht.«

Sie unterbrachen sich, da Regina mit einer Flasche Weißwein und zwei Gläsern zurückkehrte. Nachdem sie alles abgestellt hatte, entschuldigte sie sich und ging zurück ins Haus. Hartmann versuchte, ihre Mimik zu deuten, konnte hinter dem unverbindlichen Lächeln aber keine eindeutigen Zeichen entdecken. Zimmermann bemühte sich, das Gespräch wieder aufzunehmen.

»Warum hast Du eigentlich damals beim Bundeskriminalamt aufgehört? Die Arbeit als Zielfahnder hat dich wohl nicht mehr gereizt?« Zimmermann lächelte.

»Die Gründe dafür waren vielfältig. Die ständigen Reisen sind dauerhaft nicht eben eine Bereicherung für ein Privatleben. Irgendwann siehst Du dich um und stellst fest, dass Du gar kein Privatleben mehr hast. Es gibt einen Zeitpunkt, an dem ich eine Entscheidung treffen musste. In Berlin wurde jemand gesucht, der sich mit Serientätern auskennt, da habe ich die Chance genutzt. Aber genug davon, kommen wir zu dem Anlass meiner Reise.«

Er hoffte, die Erklärung klänge wahrer als sie es war. Sein Kollege schien sich damit zufrieden zu geben. Betont langsam entkorkte Zimmermann die Flasche, füllte die Gläser zur Hälfte mit der blassen Flüssigkeit, ehe er fortfuhr.

»Auf Gesundheit und gute Zusammenarbeit.« Als sie die Gläser aneinander stießen, erklang ein kristallklarer Ton. Mit Erstaunen registrierte Hartmann, dass sein Kollege ein Zigarettenpäckchen aus der Tasche zog. Fast gierig inhalierte er den blauen Rauch.

»Ich hatte dich als geradezu militanten Nichtraucher in Erinnerung.«

»Tja Robert, Dinge ändern sich. Du hingegen hast aufgehört, wie ich sehe. Kommst Du noch gelegentlich in Versuchung?«

»Ständig«, antwortete Hartmann, während tatsächlich wieder einmal das Verlangen nach einer Zigarette in ihm aufkeimte.

Der trockene Riesling schmeckte vorzüglich. Dennoch drang Hartmann darauf, endlich über alle Fakten informiert zu werden.

»Tja, das ist wirklich eine schmutzige Angelegenheit«, begann Zimmermann. »Die Leichen wurden vor drei Tagen in der Burg Rothenfels gefunden. Gut zwanzig Kilometer entfernt von hier. Laut unserer Gerichtsmedizinerin geschah der Mord aber nach erster Einschätzung schon vor ungefähr zwei Wochen. Sie befinden sich in dementsprechendem Zustand.«

»Zwei Wochen?«, wiederholte Hartmann erstaunt. »Gibt es einen Grund dafür, warum die Morde erst so spät bemerkt wurden?«

Zimmermann zuckte mit den Achseln: »Das Gemäuer liegt sehr weit abseits. Die wenigen Touristen dachten wohl, es wäre geschlossen. Der Eigentümer der Burg, angeblich ein entfernter Nachkomme des Erbauers, schaut dort nur alle paar Wochen vorbei. Kein Wunder, er ist knapp achtzig Jahre alt. Bei seinem letzten Besuch erwartete ihn der Schock.«

Hartmann hatte einen Notizblock aus seiner Tasche gezogen, notierte beiläufig, was ihm wichtig erschien. Notwendig war es nicht. In entscheidenden Dingen konnte er sich auf sein Gedächtnis verlassen.

»Zu den Toten. Kommen sie aus dieser Gegend?«

»Mirko Harnisch studierte an der Uni in Koblenz Chemische Verfahrenstechnik. Seine Leiche wurde am Burgtor gefunden. Er wurde erstochen. Harnisch war während der Semesterferien in dem Gebäude als Verwalter tätig. 23 Jahre alt. Bei dem anderen Opfer handelt es sich um den besagten 58-jährigen Offizier. Er wurde in einem Verlies im Keller gefunden. Oberst Henry Seyfart war in einer Kaserne tätig, ebenfalls nicht weit von hier. Womit er genau beschäftigt war, konnte ich bisher nicht in Erfahrung bringen. Auf dem Stützpunkt sollen hauptsächlich Fallschirmspringer stationiert sein.«

»Du meinst Fallschirmjäger?«

In militärischen Begrifflichkeiten schien sein Bekannter nicht bewandert zu sein.

»Ja richtig. Jedenfalls lässt sich schwer beschreiben, was mit ihm geschehen ist.«

Er nutzte eine kurze Pause, um nach Worten zu ringen.

»Das Opfer wurde nicht einfach getötet, es wurde... «

Hartmann unterbrach ihn sachlich: »Du sagtest, eine der Leichen sei verstümmelt worden. Gibt es eine Einschätzung, inwieweit die Verletzungen vor oder nach dem Tod beigebracht wurden?«

Zimmermann hatte wieder zur beruflichen Professionalität zurückgefunden.

»Nach einer ersten Laboruntersuchung muss man wohl sagen sowohl als auch. Welche der zahlreichen Gewalteinwirkungen ihn letztendlich getötet hat, steht noch nicht fest. Vermutlich aber die Stiche und Quetschungen im Kopfbereich.«

»Die Leichen würde ich mir gerne gleich morgen früh ansehen.«

»Das habe ich mir schon gedacht. Sie befinden sich in unserem gerichtsmedizinischen Labor.«

Hartmann spürte leichte Müdigkeit, die Zeiger seiner Uhr zeigten 19.30 Uhr. Die lange Fahrt und der Stress der letzten Tage forderten ihren Tribut.

»Ich muss mir noch ein Hotel suchen. Weitere Fragen hebe ich mir für morgen auf.«

»Da ist noch eine Sache, Robert.« Sein Kollege klang fast entschuldigend.

»Ja?«

»Wie ich bereits erwähnte, ist natürlich das Verteidigungsministerium überaus interessiert an dem Fall.«

»Kann ich mir denken, es geht ja um einen Oberst. Wollen die informiert werden?«

Zimmermann knetete hektisch seine Hände. »Das reicht nicht. Sie wollen, dass jemand von ihren Leuten bei allen Ermittlungen dabei ist. So eine Art Verbindungsmann oder -frau.«

Überrascht zog Hartmann die Augenbrauen in die Höhe. »Meine Ermittlungen führe ich mit der Kriminalpolizei. Ob anderweitige Spezialisten hinzugezogen werden, schreibt mir kein Verteidigungsministerium vor.«

Zimmermanns Erwiderung klang ebenso verständnisvoll wie kompromisslos.

»Verstehe ich gut, aber mir sind da leider die Hände gebunden. Das Ministerium hat sich an den Generalstaatsanwalt gewandt und der an mich. Du weißt, wie das läuft, man nennt es Weisungsgebundenheit.«

»Nein, man nennt es Babysitter. Das hättest Du mir vorher sagen müssen«, schnaubte Hartmann verächtlich. Von Natur aus Einzelgänger, ging er seiner Arbeit vorzugsweise alleine nach. Natürlich war er dabei auf die Expertise zahlreicher Fachleute angewiesen. Letztendlich blieb ein Fall aber eine Ansammlung von Puzzlesteinen. Wann und wie er das Bild zu einer Lösung zusammensetzte, entschied er allein.

»Dann hättest Du nicht angenommen«, erwiderte sein Bekannter mit entwaffnender Ehrlichkeit, »außerdem hat der Mitarbeiter des Ministeriums keine exekutiven Befugnisse, sondern wird sich auf eine subsidiäre Rolle beschränken. Die Entscheidungen triffst Du.«

»Subsidiär?«, wiederholte Hartmann spöttisch. »Was ist los, Peter? Denkst Du, geschraubt formuliert gefällt es mir besser?« Dennoch beschwichtigte ihn die Aussage etwas. Er leerte den Rest seines Glases und stand auf.

»Kannst Du ein Hotel empfehlen?«

»Der Ritterhof soll ganz ansprechend sein, soweit ich gehört habe. Ein kleines Hotel, nur wenige Straßen entfernt. Aber übernachtet habe ich dort noch nicht.«

»Danke für den tollen Wein. Richte Regina einen Gruß aus.«

Zimmermann gab ihm die Hand: »Mach ich, dann bis morgen früh.«

Der Abend ist schnell hereingebrochen. Die Dunkelheit hat auf dem Land eine andere Dimension als in der Stadt. Sie ist nicht vom Menschen trivialisiert. Nicht zu einem beliebig zu verändernden Zustand degradiert. Hier bestimmt sie immer noch den Rhythmus des Lebens, ist Schutz und Bedrohung zugleich. Bald wird sie ebenso schwarz sein wie das Auto in der Einfahrt des großen Hauses. Ich sehe es vor mir. Weiß, wem es gehört. Er ist hier. Gekommen, um mich zu jagen. Wenn er wüsste, wer hier der Jäger ist. Ein wenig reizt es, ihm seine Schutzlosigkeit vor Augen zu führen. Ich bin so nah. Etwas ärgerte es mich, als die beiden da im Garten saßen. Sie sprachen routiniert wie zwei Kaufhausdetektive, die einen Ladendieb stellen wollen. Ist das etwa mein Stellenwert? Doch ich werde mich beherrschen. Übermut wäre jetzt der falsche Ratgeber. Über diese Versuchung bin ich erhaben. Für ihn werde ich die Dunkelheit sein. Mein Handwerk wird er zu sehen bekommen. Ein schwieriges Werk, aber am Ende hat es sich gelohnt. Die Sache danach war nicht geplant. Entsprechend improvisiert musste ich dabei zu Werke gehen. Wäre er doch in seinem Turm sitzengeblieben. Kein Haar hätte ich ihm gekrümmt. So war er ein Risiko. Wie man Risiken ausschaltet, das habe ich gelernt. Es hat nicht geschadet. Mit jedem Mal werde ich stärker. Jetzt sehe ich ihn und fühle, er könnte ein ernstzunehmender Gegner sein. Vielleicht der Erste. Seine Augen sagen es mir. Sie sind wie meine.

Nachdenklich und leicht fröstelnd lief Hartmann Richtung Einfahrt. Es dämmerte. Die Sonne war bereits glutrot untergegangen, nun sank die Temperatur erstaunlich zügig. Er beschloss, vor der Fahrt einen wärmenden Pullover aus dem Kofferraum zu nehmen. Per Fernbedienung betätigte er die Zentralverriegelung. Schnell öffnete er den engen Kofferraum, kramte ziellos in der Reisetasche und fand das gesuchte Kleidungsstück schließlich.

Für einen Moment glaubte er, Opfer einer Sinnestäuschung zu sein. Meinte eine Reflektion im spiegelnd schwarzen Lack wahrzunehmen. Doch hinter ihm befand sich lediglich die dunkle, leere Straße. Große Rhododendren begrenzten seitlich das Grundstück. Das dahinterliegende Bauland lag brach. Demnächst würde dort ein Neubau entstehen.

Nachdem das Verdeck des Cabriolets geschlossen war, fuhr er zurück in Richtung Zentrum. Das Hotel befand sich in einer schmalen Gasse innerhalb des historischen Ortskerns. Dem äußeren Eindruck nach zu urteilen, musste das Haus sehr alt sein. Der Name Ritterhof ging auf die angebliche historische Tradition des Etablissements als Gasthof zurück. Hartmann war es gleichgültig. Alles wonach er sich sehnte, war ein Essen, eine Dusche und ein Bett. Innen strahlte das Hotel einladende Wärme aus. Alles schien ebenfalls sehr alt, aber auf rustikale Weise gemütlich. Am hölzernen Tresen der Rezeption begrüßte ihn eine junge attraktive Frau. Sie bedachte ihn mit einem reizenden Lächeln. Ihre Schüchternheit schien dagegen eher gespielt.

»Herzlich willkommen im Ritterhof. Was kann ich für Sie tun?«

»Guten Abend. Ich brauche ein Zimmer für einige Tage«, kurz überlegte er, ob sie zu allen Gästen so nett wäre, oder ob es an ihm läge. Er entschied sich selbstbewusst für letzteres und lächelte ebenfalls. Es war lange her, dass er mit einer Frau unbefangen geflirtet hatte. Sein Lächeln fühlte sich merkwürdig verkrampft an.

Sie blies eine blonde Strähne von der Stirn und intensivierte ihr Lächeln. Instinktiv spürte er, wie sie ihn unauffällig musterte. Auf dem Namensschild ihrer weißen Bluse stand:

Melanie Andersen, Rezeption & Service.

Die Hotelangestellte löste den Blick von ihm und sah auf den flachen PC-Monitor vor sich. Das bläuliche Licht des Bildschirms gab ihrem Gesicht eine interessante Note und brachte ihre Augen zur Geltung. Doch dann kräuselte sie die Stirn, schaute ihn bedauernd an:

»Für heute kann ich ihnen gerne ein Zimmer anbieten. Ab morgen sind wir bedauerlicherweise ausgebucht. Es tut mir leid.«

»Da kann man nichts machen. In dieser Nacht würde ich trotzdem gerne bleiben.«

Er dachte nach. »Ausgebucht sagen Sie? Das ist etwas überraschend. Ihr schöner Ort wirkt momentan nicht gerade überfüllt.«

»Sie haben recht. Das Wetter war einfach zu schlecht die letzten Wochen«, sie grinste keck, »Aber jetzt scheint es ja besser zu werden.« Plötzlich flüsterte sie, als verrate sie ein Geheimnis: »Hat bei uns aber damit nichts zu tun. Eine größere Gesellschaft hat ab morgen unser Hotel für mehrere Tage gemietet.«

Die anstehende Auslastung des Hotels schien ihr Unbehagen zu bereiten. Der Zimmerschlüssel, den sie vor Hartmann auf den Tresen legte, war an einem massiven Anhänger aus Messing befestigt, auf dem die Nummer 63 in schwarzen Lettern eingestanzt war.

Er bedankte sich, füllte die Anmeldung aus und begab sich zum Zimmer. Sein Gepäck bestand lediglich aus einer kompakten Reisetasche, die er selber trug. Nachdem Hartmann das Zimmer in Augenschein genommen und sich umgezogen hatte, beschloss er, etwas essen zu gehen.

Das Hotelrestaurant machte einen soliden Eindruck. Zum Steak bestellte er einen trockenen Rotwein. Beides schmeckte vorzüglich, ließ ihn aber schläfrig werden. Im Zimmer angekommen verzichtete er auf die geplante Dusche, ließ sich der Länge nach auf das dunkle Holzbett fallen und schlief sofort ein.

Montag, 22. August

Die Abstände zwischen den monotonen Pieptönen des Reiseweckers wurden immer kürzer, je länger er nicht ausgeschaltet wurde. Als Hartmann die Augen aufschlug, versuchte das Gerät bereits seit mehreren Minuten, den erholsamen Schlaf zu beenden. Schließlich erbarmte er sich, griff mit geschlossenen Augen zum Nachttisch und betätigte den erlösenden Knopf, woraufhin der Ton sofort verstummte. Die roten Leuchtziffern zeigten sieben Uhr.

Wider Erwarten hatte er in der vergangenen Nacht tiefen, traumlosen Schlaf gefunden und fühlte sich einigermaßen erholt. Sonne, frische Luft und die neue Umgebung hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Entgegen seiner Gewohnheit gab er sich mit einer kurzen Dusche zufrieden. In Anbetracht des milden Wetters entschied er sich nach kurzer Überlegung für einen leichten, beigefarbenen Anzug ohne Krawatte. Er bemühte sich, die blonden Haare etwas zu zähmen, warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel und verließ das Zimmer. Obwohl kein Grund zur Hast bestand, beeilte er sich.

Es gibt viel zu tun.

Zwei rätselhafte Morde hatten ihn an diesen Ort geführt, verursachten innere Unruhe. Er betrat den Frühstückssaal. Das Buffet wirkte reichhaltig. Hartmann begnügte sich trotzdem mit etwas Rührei und einem Cappuccino. Die anwesenden Gäste sprachen kaum. Jeder blieb mit seinen Gedanken für sich. Die gleiche Anonymität, die sich der gesamten Gesellschaft bemächtigt hatte, herrschte auch hier.

Auf einem Tisch am Eingang waren einige Zeitungen ausgelegt. Die fett gedruckte Überschrift war kaum zu übersehen: »Die Foltermorde in der Horrorburg«. Es handelte sich dabei nicht um eine Regionalzeitung, sondern um ein landesweit erscheinendes Boulevardblatt. Er überflog den Artikel, stellte jedoch fest, dass er kaum Substanz enthielt.

Wie sollte er auch, wenn selbst die Ermittlungsbehörden noch ahnungslos sind.

Reißerisch wurde lediglich von verstümmelten Leichen berichtet. »Verdammt, wer hat das an die Presse gegeben?«, murmelte er vor sich hin, während er sich die Oberlippe am heißen Getränk verbrannte.

Gottverdammt.

Die Presse konnte eine Ermittlung sehr erschweren. Unablässige Präsenz neugieriger Reporter würde auch diesen Fall nicht erleichtern. In diesem Augenblick klingelte sein Handy. Ein älteres Ehepaar am Nebentisch sah pikiert hinüber. Er ignorierte sie. Auf dem Display wurde »Peter Zimmermann« angezeigt. Den letzten Bissen hinunterschlingend nahm er das Gespräch an und ließ seiner Wut sofort freien Lauf: »Wie konnte das passieren? Wie soll ich den Mörder finden, wenn ständig ein Haufen blutgieriger Reporter hinter mir steht?«

»Tut mir echt leid. Ich wüsste auch zu gerne, wer denen das gesteckt hat«, bemühte sich sein Gegenüber um Beschwichtigung, »Ich finde es heraus und sorge dafür, dass ab jetzt nichts mehr nach außen dringt.«

»Wenn euer Kahn ein Leck hat, sollte das schnell geschlossen werden. Anderenfalls können wir hier nicht mehr effektiv arbeiten.«

»Ja, die Presse«, seufzte Zimmermann, »manchmal hilft sie, meistens stört sie.«

»Na schön, ich möchte mit den Leichen anfangen. Sag mir, wie ich zum Labor komme. Wir treffen uns dort, in Ordnung?«

Zimmermann nannte ihm die Adresse des Gerichtsmedizinischen Instituts und fügte hinzu: »Bei der Gelegenheit kannst Du auch deinen Verbindungsoffizier vom Verteidigungsministerium kennenlernen.«

»Wird sich nicht vermeiden lassen. Wir sehen uns dort«, gab Hartmann mit unterdrücktem Unmut zurück.

Als er das Hotel verließ, empfing ihn ein angenehmer Morgen mit blauem Himmel und frischen Temperaturen. Das mildwarme Wetter würde zumindest für diesen Montag erhalten bleiben.

Statt einer Klingel war am weißgetünchten Mauerwerk eine altertümliche Messingglocke angebracht, mit der sich Besucher ankündigen konnten. Der Schlägel, der an einem improvisierten Draht baumelte, war lange nicht mehr gegen das Metall geschlagen worden. Nur in besonders stürmischen Nächten, wenn der Wind die Glocke schwenkte, entlockte ihr die zarte Berührung des Messingstabes einen hellen, klaren Ton, der an einen Triangel erinnerte.

Von stürmischer Nacht schien dieser Morgen unendlich weit entfernt. Die Natur offenbarte spätsommerliche Harmonie. Kräftige Buchen beherrschten den Waldrand und schirmten das kleine Haus behutsam von der Sonne ab. Im schattigen, reichlich verwahrlosten Garten lag die Temperatur mehrere Grad niedriger als über der kleinen Landstraße, die sich keine fünfzig Meter vor dem bescheidenen Anwesen durch ein Feld wand. Dort flirrte bereits die Luft über dem erhitzten Asphalt. An ihrem brüchigen Rand wärmte sich ungestört eine träge Kreuzotter. Eine deutliche Verdickung in der Mitte ihres schuppigen Körpers kündete von der Unvorsichtigkeit einer kleinen Kröte. Sie hatte es versäumt, sich rechtzeitig im hohen Gras in Sicherheit zu bringen und war blitzschnell verschlungen worden. Das Reptil musste kaum befürchten, während des Verdauungsschlafes von Autoreifen zermalmt zu werden. Seit die breite Bundesstraße zur Umgehung der Dörfer ausgebaut worden war, rollten nur noch gelegentlich grob profilierte Reifen von Traktoren im Ernteeinsatz darüber. In strengen Wintern war der alte Asphalt an einigen Stellen aufgeplatzt. Niemand besserte die Schlaglöcher mehr aus. Für den Verkehr hatte die Landstraße ihre Bedeutung eingebüßt.

Die Reifen, die jetzt in langsamer Fahrt darüber hinweg rollten, gehörten indes zu keinem landwirtschaftlichen Fahrzeug. Stattdessen hielt ein unscheinbarer roter Kompaktwagen japanischer Herkunft wenig später vor dem ausgeblichenen, niedrigen Lattenzaun. Einige Leisten waren über die Jahre herabgefallen, nachdem die rostigen Nägel keinen Halt mehr geboten hatten.

Die ungestüm wuchernden Zweige verwilderter Rosenbüsche im Vorgarten verstärkten die Atmosphäre der Vergänglichkeit. Schmerz lag beklemmend über der Szenerie des kleinen Grundstücks. Der Eindruck täuschte nicht. Auf eigenartige Weise verewigte sich die melancholische Trauer der hier zurückgezogen lebenden Frau zwischen den alten Obstbäumen im Garten ebenso wie in den bröckligen Mauern des Hauses. Das Leben auf diesem Fleck Erde verharrte in der Vergangenheit, ließ der Zukunft keine Möglichkeit zur Entfaltung.

Schwungvoll wurde die Fahrertür geschlossen. Feste Schritte näherten sich dem Eingang. Erst der vierte Ton der Glocke erzeugte eine Reaktion im Inneren des Hauses. Langsam öffnete sich die Tür einen Spalt breit. Das verhärmte Gesicht einer etwa fünfzig Jahre alten Frau erschien aus dem Halbdunkel. Über den heraustretenden Wangenknochen hatten sich tiefe Furchen eingegraben. Es war ein vom Kummer gealtertes Gesicht. Blasse Haut spannte sich darüber wie bei einer Greisin. Müde Augen blickten den Besucher mit einer Mischung aus Desinteresse und Überraschung an:

»Ja?« Die Stimme schien aus einem tiefen Tal zu kommen.

Der Gegensatz hätte größer nicht sein können. Die tiefe, kräftige Männerstimme des Besuchers war um Freundlichkeit bemüht.

»Guten Tag. Frau Beate Schilling, nehme ich an?«

Sie bestätigte es mit einem kraftlosen: »Ja, das bin ich«, und fügte kurz danach skeptisch fragend hinzu: »Wer sind Sie?«

»Ich bin Mitarbeiter der Soldatenfürsorge. Wir kümmern uns auch um die Angehörigen. Es geht um ihren Sohn. Wir möchten ihnen helfen. Darf ich kurz hereinkommen?«

Sie blickte zu ihm auf, klang jetzt stärker: »Er ist tot. Daran können Sie auch nichts mehr ändern. Ich habe genug gelitten.«

»Das verstehe ich. Es geht nur um ein paar Fragen, dann werde ich Sie nicht weiter belästigen.«

Eindringlich setzte er hinzu: »Bitte, es ist in ihrem Interesse.«

Resigniert wurde die Tür ein Stück weiter aufgeschoben. »Na schön, ich hoffe, es dauert nicht lange.«

»Nein, es wird ganz schnell gehen, Frau Schilling. Das verspreche ich.«

Er zog den Kopf ein, um nicht anzustoßen, als er durch den niedrigen Eingang trat. Der Wohnraum begann unmittelbar dahinter in Form einer wahllos zusammengestellten Sitzgruppe. Es schlossen sich Küche und weitere Räume an. Das Schlafzimmer war nur über eine kleine, steile Holztreppe zu erreichen und befand sich unter dem Dach. Überrascht fiel ihr Blick auf die Handschuhe, deren schwarzes Leder sich um seine Hände spannte.

»Setzen sie sich, Herr... , wie heißen Sie eigentlich?«

»Mein Name ist Schenkenberg.«

Sie nickte, setzte sich auf einen abgewetzten Cordsessel, ohne etwas anzubieten. Der Gast blickte sich um, blieb stehen und lief dann langsamen Schrittes durch den Raum.

»Als vor zwei Jahren ihr Sohn starb, hatten Sie bereits ihren Mann verloren. Ist das richtig?«

»Das wissen Sie doch schon.«

»Entschuldigen Sie, ich beeile mich.« Er hielt inne und blickte zur Wand. Neben altertümlichen Vorderladern hingen einige Revolver und große Messer. Über einem kleinen Kachelofen waren Jagdtrophäen, hauptsächlich Gehörne kleinerer Rehböcke angebracht. Seine Frage vorwegnehmend wies sie mit der Hand darauf: »Sind auch noch von meinem Mann. Er war Förster in dieser Gegend und hat das Zeug gesammelt. Ist lange her.«

»Ich verstehe. Und Sie kennen sich mit den Waffen nicht aus?«

»Nein. Habe mich nie darum gekümmert. Wahrscheinlich dürfte ich sie gar nicht hier haben.«

Die Antwort klang beruhigend: »Das macht nichts, deswegen bin ich nicht hier.«

»Gut, dann machen Sie weiter. Was wollen sie noch wissen?«

Prüfend nahm er einen der Revolver von seinem Nagel und öffnete die Trommel. Mit zufriedenem Blick ließ er sie wieder hinter dem Lauf einrasten.

»Eigentlich habe ich keine Fragen mehr, Frau Schilling.«

Sie reagierte jetzt gereizt: »Das war alles? Was hat das für einen Sinn? Dann können Sie ja endlich gehen.«

Lauernd klang die Erwiderung: »Leider kann ich noch nicht gehen. Ich bin noch nicht fertig mit ihnen.«

»Wie bitte. Was soll das?«

»Ich bin hier noch nicht fertig«, wiederholte er stoisch.

»Was heißt nicht fertig? Gehen sie sofort, verlassen sie mein Haus.« Der Versuch, ihrer Stimme einen respekteinflößenden Beiklang zu geben, scheiterte kläglich.

Er schien ihre Einwände nicht mehr wahrzunehmen. Der alte Revolver hing weiter in seiner rechten Hand neben ihm herab. Mit angstgeweiteten Augen registrierte Frau Schilling die Waffe. War sie geladen? Seit ihr Mann gestorben war, hatte sie die Jagdwaffen kaum eines Blickes gewürdigt. Wer war dieser Fremde? Um ihre Gesundheit war es nicht zum Besten bestellt. Der Kreislauf bereitete ihr seit einiger Zeit Probleme. Schwindel stieg in ihr auf.

»Bitte... Was wollen Sie von mir? Ich habe ihnen nichts getan, ich kenne Sie nicht einmal«, stammelte sie keuchend.

Seine Erwiderung klang geduldig. Als spreche er zu einem Kind.

»Das stimmt, Sie haben mir nichts getan. Sie haben sogar genau das Richtige getan. Aber jetzt müssen Sie mir noch einen letzten Gefallen erweisen.«

Mit dröhnenden Schläfen verfolgte sie seine Schritte auf den Dielen, bis er schließlich an der Tür stehenblieb. Selbst wenn er den einzigen Ausweg nicht versperrt hätte, wäre die Flucht ein aussichtsloses Unterfangen gewesen. Es gab kein Entkommen.

Mit flehendem Blick sah sie zu ihm auf. Die Augen des Besuchers schienen ihre menschlichen Züge eingebüßt zu haben. Der Ausdruck darin trieb Schweißperlen auf ihre Stirn. Beate Schilling spürte, sie wurde nicht länger als Mensch wahrgenommen. Sie war ein Gegenstand. Nicht mehr und nicht weniger. Würde er wenigstens schreien, könnte ich es besser ertragen, dachte sie.

»Dann können wir jetzt beginnen, Frau Schilling«, tönte der Fremde mit emotionsloser Sachlichkeit und schlug gleichzeitig neben ihr auf den Tisch. Sekunden später hob er die flache Hand. Ein Gegenstand blieb dort liegen. Beate Schilling zitterte, während ihr Gesicht in maskenhafter Lähmung erstarrte. Vorsichtig blickte sie über die helle Platte aus Kiefernholz. Sie versuchte den grausamen Besucher zu fragen, was ihr bevorstünde. Doch lähmende Todesangst ließ den Laut krächzend in ihrer Kehle ersterben.

Ohne Grund war Hartmann deutlich zu schnell gefahren und stand vor der vereinbarten Zeit auf dem Parkplatz des Instituts für gerichtliche Medizin der Stadt Koblenz. Es war organisatorisch und baulich an die medizinische Fakultät der Universität angegliedert. Untergebracht waren die Labors in einem schmucklosen, kastenförmigen Zweckbau der, so vermutete Hartmann, wahrscheinlich in den siebziger Jahren erbaut worden war.

Der riesige Parkplatz war fast leer, was auf die momentan herrschenden Semesterferien hindeutete. Das Hochschulgebäude daneben wirkte ebenso wenig einladend. Allerdings war die Fassade etwas heller als die schmutzigen Mauern des Instituts. Es erinnerte in vielerlei Hinsicht an ein altes graues Ungeheuer. Kurz zog er in Erwägung, sich eine Zigarette anzuzünden, verwarf dann den Gedanken und schlenderte ziellos über den Parkplatz. Einer der wenigen anderen Wagen war ein silberfarbener BMW. Er stand etwa vierzig Meter entfernt. Gegen die Sonne blickte er in Richtung des Autos, in dem sich die Silhouetten dreier Menschen abhoben. Genaueres konnte er im gleißenden Licht nicht erkennen.

Endlich sah er Zimmermanns dunkelblauen Saab von der Straße abbiegen. Er parkte direkt neben ihm und stieg mit zwei weiteren Männern aus. Den einen schätzte Hartmann auf etwa fünfzig Jahre, der andere war höchstwahrscheinlich noch keine fünfundzwanzig. Während der ältere einen abgeklärten, mürrischen Gesichtsausdruck zur Schau stellte, konnte er in den Zügen des jungen Mannes einen aufmerksamen, interessierten Blick ausmachen. Zimmermanns Begrüßung wirkte geschäftsmäßig. Seine Laune schien am Vortag besser gewesen zu sein. Sein Gesicht hatte selbst in der Sonne eine graue Färbung angenommen. Aus müden Augen sah er Hartmann an und deutete auf seine Begleiter.

»Die Herren sind Hauptkommissar Harald Bolgin und Kommissaranwärter Thilo Sievers von unserer Kripo. Sie werden mit dir die Ermittlungen führen.«

Er blickte in Richtung der beiden, deutete auf Hartmann und fuhr fort: »Ich stelle ihnen Staatsanwalt Robert Hartmann vor. Er ist Spezialist für Delikte dieser Art und leitet diese Untersuchung. Bitte leisten Sie ihm alle notwendige Unterstützung.«

Zimmermann wirkte, als trüge er eine ungeheure Last. Er schien unter großem Druck zu stehen. Hartmann lächelte, ging auf beide Kriminalpolizisten zu und gab ihnen die Hand. Einerseits gebot es die Höflichkeit. Andererseits war er der Meinung, eine Begrüßung sage viel über einen Menschen aus.

Es bedurfte allerdings keiner tiefenpsychologischen Analyse, um Bolgins Abneigung zu erkennen. Der Kommissar zog ein letztes Mal kräftig an seiner Zigarette und ließ sie dann zu Boden fallen. Unwillig erwiderte er den Händedruck. Die kleinen listigen Augen passten nicht recht zu dem breiten, massigen Gesicht. Obwohl es noch nicht heiß war, breiteten sich dunkle Flecken auf seinem Hemd aus. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn und befeuchteten seine kurzen, graubraunen Haare. Dies lag ebenso an seiner Körperfülle wie auch an seiner Wut, überhaupt hier zu sein.

Vergeblich hatte er dagegen protestiert, jemanden von außerhalb zu diesem Fall hinzuzuziehen. Hartmann war jünger als er, kam aus Berlin und würde ihm gegenüber weisungsbefugt sein. Er litt bereits jetzt darunter. Bolgins Minderwertigkeitskomplex hatte aus ihm einen ehrgeizigen Ermittler gemacht, ihn aber auch unflexibel werden lassen. Er konnte sich regelrecht an einem Fall festbeißen, was Kollegen und Vorgesetzte anerkannten. Leichte Defizite in Bildung und Auftreten vermochte er mit Beharrlichkeit und Einsatz auszugleichen. Das hatte seine Karriere nicht zu Unrecht befördert.

Eine Zäsur bildete der Tod seiner Frau vor etwas mehr als zwei Jahren. Zu Lebzeiten hatte sie es nicht immer leicht gehabt mit ihm, ihn dennoch immer rückhaltlos unterstützt. Seit ihrem Tod hatte er sich unzählige Male gewünscht, ihr öfter gezeigt zu haben, was sie ihm bedeutet hatte. Zu oft säuberte er sein Gewissen seitdem mit Alkohol.

Unbestritten war jedoch sein entscheidender Beitrag zur Lösung mehrerer Fälle. Jetzt wurde Hartmanns Wissen ihm vorgezogen. Man betrog ihn um die Früchte seiner Arbeit. Ein Fremder würde den Ruhm ernten, der ihm zustand. Hartmann zählte es zu seinen Vorzügen, jederzeit Kritik zuzulassen. Bolgin spürte aber instinktiv, dass er ihm keinerlei sonstige Allüren durchgehen lassen würde und bemühte sich vorläufig um Neutralität.

»Morgen, Herr Staatsanwalt.«

Dem Angesprochenen war der Unterton nicht entgangen. Er lächelte überlegen.

»Guten Morgen, Herr Bolgin. Hartmann reicht, Ergebnisse sind mir wichtiger als Förmlichkeiten.«

Kommissaranwärter Sievers hatte einen festen, trockenen Händedruck. Mit seiner Körpergröße überragte er Hartmann um einen halben Kopf und wirkte dank seines weiten Hemdes etwas schlaksig. Die blauen Augen trugen einen ehrlichen Ausdruck in sich. Respektvoll blickte er ihn an, wirkte aber keineswegs unterwürfig.

Hartmann wandte sich ihm zu: »Sie sind noch in der Ausbildung. Ist das ihr erster Einsatz im Bereich der Tötungsdelikte?«

»Nun ja, also ... schon«, druckste der junge Polizist herum.

»Das ist in Ordnung. Wenigstens noch nicht vom Berufsalltag ermüdet. Ich werde mich bemühen, dass Sie bei der Sache hier etwas lernen.« Die Anspielung wurde von Bolgin registriert. Er ließ sich jedoch nichts anmerken und stellte in seinem Blick weiterhin Desinteresse zur Schau.

Hartmann hatte genug von Formalitäten und brannte darauf, die Leichen zu besichtigen. Zimmermann bremste ihn leise. »Eine Kleinigkeit noch, Robert. Die Leute vom Verteidigungsministerium würden dich gerne in der Stadt treffen, wenn Du hier fertig bist. Sie melden sich bei dir.«

»Großartig«, murmelte Hartmann, nickte aber unmerklich.

Sein Kollege stieg grußlos in sein Auto und fuhr zügig davon. Die drei Männer betraten das Institut. Im Inneren erwartete sie der spröde, etwas abgenutzte Charme vergangener Jahrzehnte. Die Farben Weiß und Gelb dominierten die Einrichtung. Sie durchquerten den Eingangsbereich. Der kleine Empfangsschalter war unbesetzt, die Stelle des Pförtners Sparmaßnahmen zum Opfer gefallen. Seitdem mussten die Besucher den Weg alleine finden.

Der Geruch eines Krankenhauses ist schwer präzise zu beschreiben, da er sich aus vielerlei Einflüssen zusammensetzt. Gummi, verschiedene Desinfektions- und Reinigungsmittel, Verbandsmaterial, menschliche Gerüche und vieles mehr. Der Geruch eines gerichtsmedizinischen Labors gleicht ihm weitgehend, unterscheidet sich aber ebenso deutlich davon. Die Grundlage beider Gerüche bilden die überall anzutreffenden, leicht zu reinigenden Fußböden aus Gummi- oder Linoleummatten. Tragend für die Wahrnehmung ist auch eine Mixtur aus Reinigungschemikalien. Deren notwendige Wirksamkeit wird durch eine gewisse Konzentration ihrer scharfen Inhaltsstoffe erreicht. Ebenfalls prägend sind in beiden Einrichtungen stets die Ausdünstungen des menschlichen Körpers, worin sich aber ebenso der größte Unterschied beider Gerüche manifestiert. Während in einer Klinik diffizile Noten von Schweiß, Blut, diversen Sekreten, Ausscheidungen und Atemluft in unterschiedlicher Mischung und Intensität vorherrschen, durchdringt in der Pathologie der nicht zu ignorierende süßliche Gestank des Todes die Raumluft und widersteht dabei allen Lüftungen. Natürlich existieren auch hier unterschiedliche Abstufungen. Sie werden im Wesentlichen durch zwei Fragen bestimmt:

Wo lag der tote Körper? Wie lange lag er dort?

Diese Parameter bestimmen hauptsächlich Grad und Art der Fäulnis. Sie sind damit ausschlaggebend für die Geruchsentwicklung.

In diesem Fall hielt sich die Verwesung der ersten Leiche in Grenzen. Das Mordopfer schien im Sand des unterirdischen Verlieses regelrecht konserviert worden zu sein. Aus irgendeinem Grund waren nicht wie üblich Myriaden von Maden über den toten Körper hergefallen. Die Männer standen schweigend im Halbkreis um zwei Metalltische.

In Form eines großen Y zogen sich über jeden der beiden Körper jeweils große Einschnitte. Wie üblich waren die tiefen Schnitte, die nach der Obduktion zurückblieben, wieder zusammengenäht worden. Dennoch war genau nachzuvollziehen, wo das Skalpell angesetzt worden war. Von einem der Köpfe hatte ein Sektionsassistent zusätzlich mit einer Säge die Schädeldecke entfernt, um das Gehirn entnehmen zu können.

Sievers spürte, wie Magensäure seinen Hals emporstieg. Trotz des sauren Geschmacks hielt er tapfer durch. Es waren die ersten toten Menschen, die er in seinem Leben zu Gesicht bekam. Der Anblick würde ihn verfolgen. An der Decke befanden sich große Leuchtstofflampen, die alle Details der Leichenöffnungen genau ausleuchteten.

Als Hartmann und seine Begleiter die menschlichen Überreste in Augenschein genommen hatten, trat unauffällig die Gerichtsmedizinerin hinzu. Ihre Erscheinung strafte die vielen Klischees ihres Berufsstandes Lügen. Frau Dr. Yilmaz war Deutsche mit türkischer Abstammung und in den Enddreißigern. Der bronzene Teint ihrer Haut setzte sich markant vom Weiß ihres Kittels ab. Seitdem sie ihren pensionierten Vorgänger ersetzte, überzeugte sie mit kühler Professionalität. Ihrem unauffälligen Äußeren war das ausgezeichnete Medizinstudium nicht anzusehen. Doch innerhalb kurzer Zeit hatte sie es zu einer anerkannten Kapazität im Bereich der forensischen Pathologie gebracht.

»Der Tod trat, wie ihnen wahrscheinlich schon bekannt ist, vor fünfzehn bis siebzehn Tagen ein.«

Ihre ruhige Stimme strahlte Kompetenz aus. Alle brachten ihr ungeteilte Aufmerksamkeit entgegen. Sie deutete auf die nackten Körper.

»Beide wurden vollständig bekleidet aufgefunden. Der unterschiedliche Zustand der Leichname rührt von ihren jeweiligen Fundorten her.«

Hartmann beugte sich über eines der Opfer. Er zeigte auf die zahlreichen halbrunden Schnitte am Rumpf, mit denen teilweise ganze Hautlappen vom Torso entfernt worden waren. Aus einigen besonders tiefen Rissen im Bereich des Bauchraums quoll grüngelbe Masse hervor. Viele Leute erschreckten über den Anblick des in jedem Menschen vorzufindenden Körperfettes, das als gelbe, zähflüssige Substanz so gar nicht dem erwarteten Anblick entspricht. Aufgrund der Vielzahl von Schnitten und Stichen waren für die Ermittler die Tatverletzungen kaum von den Einwirkungen der Obduktion zu unterscheiden.

»Welche der Verletzungen hat den Tod verursacht?«

»Bei der ersten Betrachtung der Leiche dachte ich an eine Tat im Overkill-Effekt. In diesen Fällen werden dem Opfer, meist aus Wut, deutlich mehr Verletzungen zugefügt, als nötig wären, um es zu töten.«

»Und auf den zweiten Blick?«, beharrte der Ermittler.

»Auch wenn es schwer zu glauben ist. Soweit ich es zum jetzigen Zeitpunkt beurteilen kann, war keine der sichtbaren Einwirkungen für sich allein genommen zur schnellen Tötung ausreichend. Die Stiche penetrierten allesamt keine lebenswichtigen inneren Organe. Von Herz, Lunge und Leber habe ich Gewebeproben zur Untersuchung entnommen. Der Tod trat schätzungsweise vier bis sechs Stunden nach Beibringung der Schnitte aufgrund des hohen Blutverlustes ein. Eine gewisse Kenntnis menschlicher Anatomie dürfte dafür Voraussetzung sein.«

Sie wandte ihren Blick dem Kopf zu und sah in die zwei hohlen, schwarzen Öffnungen.

»Auch die Entfernung der Augäpfel verursachte keine unmittelbar letalen Auswirkungen. Im Übrigen scheint dies mit relativer Präzision vorgenommen worden zu sein. Ebenso unerheblich für die Bestimmung des Todeszeitpunktes sind die massiven Verletzungen des Mundraumes und der Nase. Sie wurden im Gegensatz dazu durch stumpfe Schläge herbeigeführt. Gleiches gilt für die zahlreichen sichtbaren Hämatome im Bereich des Oberkörpers. Wie sie sehen, fehlen auch die meisten Zähne. Augäpfel und Zähne befanden sich nicht bei der Leiche.«

Sie sah ernst in die Runde.

»Ungeachtet des Todeseintritts durch Blutverlust wäre es mit Sicherheit aufgrund der diversen Traumata schon vorher zu einer schockbedingten Bewusstlosigkeit gekommen.«

»Wäre?«, forschte Hartmann. Er versuchte sich vorzustellen, wie das Gesicht vor den Torturen ausgesehen haben mochte.

Die Gerichtsmedizinerin ließ eine kurze Pause, bevor sie erwiderte. »Es gibt Anzeichen, dass dem bewusst entgegengewirkt wurde. Wir verfügen hier nicht über Mittel zur toxikologischen Analyse. Ich habe deswegen eine Probe des Mageninhalts sowie Blut- und Gewebeproben dem Labor des Landeskriminalamts zur Untersuchung übersandt. Für Spekulationen habe ich normalerweise nichts übrig. Aber in diesem Fall wurde dem Opfer höchstwahrscheinlich eine Mischung verschiedener Schmerz- und Aufputschmittel verabreicht.«

Zum ersten Mal mischte sich Hauptkommissar Bolgin mit düsterer Stimme in das Gespräch ein.

»Wer auch immer das getan hat, wollte das Leiden von Oberst Seyfart demnach verlängern. Wer veranstaltet so ein Schlachtfest und verabreicht dem Opfer zwischendurch einen Medikamentencocktail?« Er konnte nicht verbergen, wie angewidert er war. Für einen Augenblick herrschte absolute Stille, in der jeder versuchte, sich das schwer Vorstellbare auszumalen. Hartmanns Antwort war leise, aber eindringlich. »Eine Person mit unvorstellbarem Hass oder extremer seelischer Krankhaftigkeit. Andererseits zeigen die Art und Ausführung der Verletzungen auch große Kaltblütigkeit und Präzision, was gegen diese Annahme spricht. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es für irgendwelche Einschätzungen zum Täter zu früh.«

Bolgin blickte mürrisch zur Pathologin auf, die ihn etwas überragte.

»Wurde die Leiche bewegt?«

»Sie meinen post mortem? Die Totenflecke sprechen jedenfalls eindeutig dagegen. Aber ich erinnere daran, dass der Todeskampf mehrere Stunden gedauert haben muss. Natürlich kann das Opfer in dieser Zeit an den späteren Fundort gebracht worden sein.«

Hartmann wandte sich der zweiten Leiche zu. Sie zeigte im Gegensatz zu dem anderen Toten deutliche Spuren von Verwesung. Neben einem klaffenden Loch im Brustraum warf die grünlich-schwarze Haut an nahezu allen Körperregionen Blasen. Abstoßender Geruch ging von ihr aus.

»Was können Sie uns zur Leiche des Herrn Harnisch sagen, Frau Dr.?«

»Er muss ungefähr zur gleichen Zeit verstorben sein, vielleicht etwas später.«

Der fragende Blick des Kriminalanwärters ermunterte die Medizinerin zu einer Erklärung.

»Lassen Sie sich vom Grad der Verwesung nicht täuschen. Die Leiche war über mehrere Tage den Witterungseinflüssen ausgesetzt. Sonne und Regen haben die Reaktionen der Bakterien und Enzyme beschleunigt.«

Der scharfe Blick der Wissenschaftlerin hatte etwas entdeckt, das ihr Interesse weckte. Mit dem feinen Griff einer Metallpinzette drang sie in die linke Augenhöhle ein. Aus der gallertigen Substanz, die inzwischen kaum noch an ein menschliches Sehorgan erinnerte, förderte sie etwas Undefinierbares zutage. Fast liebevoll betrachtete sie den unbeweglichen Gegenstand, der entfernt an eine winzige Zigarre erinnerte. Sievers trat näher an den Körper, der sich in Auflösung befand.

»Meine Herren, ein geradezu klassisches Exemplar einer verpuppten Larve der Calliphora vicina.«

Bolgin verdrehte gekünstelt die Augen.

»Weit und breit kein Wörterbuch in der Nähe.«

»Es ist der Kokon einer Schmeißfliege«, klärte Hartmann ihn auf.

Dr. Yilmaz hob bedeutsam den freien Zeigefinger.

»Einer blauen Schmeißfliege.«

Das Gesicht des jungen Polizisten hatte annähernd das Grün des verwesenden Fleisches angenommen. Trotzdem beugte er sich über die Leiche, um das verpuppte Insekt aus der Nähe betrachten zu können. Die Übelkeit ließ seine Stimme brüchig erscheinen.

»Was sagt uns das?«

»Die Entwicklungsstadien verschiedener Insekten geben Aufschluss darüber, wie viel Zeit seit der Tötung vergangen ist. Auch die Umweltbedingungen lassen sich zumeist daraus ableiten.«

»Ich verstehe«, stieß Sievers hervor. Er erblickte etwas, das die Standhaftigkeit seines Magens endgültig zu überfordern drohte. Der Saum seines Baumwollhemdes hatte das tote Gewebe berührt. Aus einigen aufplatzenden Gasblasen ergoss sich milchige Flüssigkeit auf seine Kleidung. Mit leerem Gesichtsausdruck trat er einige Schritte zurück. Der verständnislose Blick der Gerichtsmedizinerin folgte ihm, während sie ungerührt fortfuhr.

»Die Todesursache ist hier offensichtlich. Ein massiver frontaler Stich mit deutlicher Punktion des rechten Lungenflügels ließ den Tod schnell eintreten. Er ist praktisch an seinem Blut erstickt. Allerdings wurde der Stich nicht mit einem Messer ausgeführt. Die Wundränder wären dann glatt und würden der Klingenform entsprechen. Hier sind die Ränder jedoch ausgefranst und die Form fast rund. In Frage kommen dürfte eher eine Art Werkzeug, das im Übrigen älter sein muss. Es finden sich Partikel oxidierten Metalls in der Wunde. Das trifft übrigens auch auf die Leiche des Henry Seyfart zu.«

»Rost?«, Sievers stand mit nachdenklichem Gesicht etwas hinter seinem Vorgesetzten Bolgin. »Das würde zu den Folterinstrumenten im Keller der Burg passen. Allerdings lagen die, soweit wir wissen, alle an ihrem Platz. Es befand sich auch kein Blut darauf.«

»Der Täter kann das Blut entfernt und sie zurückgelegt haben. Möglicherweise zur Verdeckung von Spuren. Oder einfach, um Verwirrung bei der Suche nach der Tatwaffe zu stiften. Die Untersuchung der einzelnen Instrumente läuft noch. Mit irgendwas muss ja schließlich auch der andere zerfleischt worden sein. Ich bin mir sicher, dass darunter die Tatwerkzeuge zu finden sind.«

Bolgins Erwiderung klang ungeduldig. Sachlich musste Hartmann ihm jedoch Recht geben.

»Sobald ich die mutmaßlichen Tatwerkzeuge erhalte, kann ich den Stichkanal damit vergleichen«, warf Yilmaz ein.

Was hatten die Augen des jungen Mannes, der nun als toter Körper vor ihnen lag, im letzten Moment seines Lebens ausgedrückt? War es Überraschung, Schmerz oder Angst gewesen? Hartmann war der Meinung, in den Gesichtern der Opfer oftmals etwas ablesen zu können. Der letzte Gesichtsausdruck eines Ermordeten eröffnete ihm gelegentlich ein fehlendes Puzzlestück, das zur Lösung eines Falles beigetrug. Hier konnte er darauf nicht zurückgreifen.

Eine Leiche ging bereits in fortgeschrittene Verwesung über. Die andere war so zerfetzt worden, dass in ihrem Gesicht keine menschlichen Regungen mehr erkennbar waren. Nach einigen weiteren Erläuterungen von Frau Dr. Yilmaz, die jedoch keine neuen kriminalistischen Erkenntnisse boten, verließ Robert Hartmann mit den Polizisten das Institut.

Gedankenverloren richtete sich sein Blick auf den Boden, während sie wortlos nebeneinander liefen. Was steckte hinter dieser blutigen Tragödie in dem verlassenen Gemäuer? Peter Zimmermann hatte nicht übertrieben. Es waren tatsächlich keine alltäglichen Morde. Sievers war von den Eindrücken noch immer überwältigt. Erleichtert atmete er die frische Vormittagsluft ein. Er war froh, dem Drang sich zu übergeben, widerstanden zu haben. Der unbeteiligte Blick Bolgins war geblieben. Doch statt Trotz konnte man jetzt Nachdenklichkeit in seinen dunklen Augen erkennen. Nach wie vor trat der Schweiß aus allen seinen Poren. Mehrfach fuhr er mit dem Handrücken über Stirn und Wangen. Gerade als die weiße Schwingtür hinter ihnen zugeschlagen war, klingelte wie auf Kommando Hartmanns Handy. Innerlich zuckte er zusammen. Das Display zeigte keine Rufnummer.

Gott sei Dank.

Bei jedem Klingeln befürchtete er, sie würde anrufen. Die ersten Tage nach der Trennung von Silvana hatte er erstaunlich leicht überstanden. Würde er ihre abgeklärte Stimme jetzt hören, befürchtete er, doch noch in ein tiefes Loch gerissen zu werden.

»Robert Hartmann«

»Major Lisa Malmedy«, tönte die weibliche Stimme fest und sachlich. Sie lenkte ohne Umschweife auf den Grund ihres Anrufes:

»Ich bin vom Bundesministerium der Verteidigung beauftragt, an den Ermittlungen zum Tod von Oberst Seyfart teilzunehmen. Haben Sie Zeit, die Einzelheiten persönlich zu besprechen?«

»Tja, Sie rufen bestimmt nicht zufällig gerade jetzt an, Frau... , Entschuldigung, ich habe ihren Namen nicht richtig verstanden. Natürlich habe ich Zeit für Sie.«

Sein Tonfall klang etwas schnippisch, was daran lag, dass er sich immer noch nicht mit der ungewollten Unterstützung abfinden konnte.

Mit leichter Ungeduld wiederholte sie: »Major Malmedy. Gut, dann sehen wir uns gleich, Herr...ähm...Hartmann.«

Bevor er reagieren konnte, legte sie auf.

In Gedanken versuchte er, sich die Frau vorzustellen, die sich hinter der relativ jungen, selbstbewussten Stimme verbarg. Er kam zu keinem schlüssigen Ergebnis.

Zu den abseits stehenden Polizeibeamten gewandt bemerkte er: »Wir bekommen Besuch von den Kollegen des Opfers.«

Beide nickten. Anscheinend waren sie von Zimmermann schon informiert worden.

Suchend blickte Hartmann umher. Auf dem verwaisten Parkplatz hatte sich nichts verändert. Außer Hartmanns Porsche war die silberfarbene Limousine das einzige Auto geblieben. Der Lack funkelte in der erstarkenden Sonne. Während er darüber nachdachte, warum der Wagen dort stünde, öffneten sich langsam die Türen. Aus gegen die Sonne zugekniffenen Augen erkannte Hartmann, wie dem geräumigen Fond drei Personen entstiegen. Eine Frau und zwei Männer liefen zügig, aber ohne Hast auf die Ermittler zu. Sie hatten demnach seit vorhin gewartet und gesehen, wie er mit seinen Begleitern das Institut betrat.

Warum suchen sie mich erst jetzt auf? Wollten sie sich den verstörenden Anblick der Leichen ersparen? Das spräche nicht gerade für einen Ermittler.

Vor sich sah er einen feisten Mann in den späten Fünfzigern oder frühen Sechzigern, eine brünette Frau, vermutlich die Anruferin, sowie einen weiteren Mann in US-amerikanischer Uniform. Die beiden Offiziere der Bundeswehr trugen die graue Dienstuniform des Heeres, unterschieden sich aber im Dienstrang. Der Amerikaner stand, wie Hartmann fachkundig registrierte, im Dienstgrad eines Army-Captains.

Der uniformierte Bundeswehroffizier blickte Hartmann aus kalten, wasserblauen Augen an.

»Tag, ich bin Oberstleutnant Revers. Mit Major Malmedy haben Sie ja bereits gesprochen«, er zeigte auf den Amerikaner, »Wundern Sie sich nicht über die Anwesenheit Captain Kilpatricks, unseres Verbindungsoffiziers der US-Streitkräfte. Seine Anwesenheit hängt mit einer gemeinsamen Besprechung zusammen, nicht mit unserem Fall. Sie sind der ermittelnde Staatsanwalt?«

Seine Art wirkte verbindlich, die Miene hingegen blieb undurchdringlich.

»Das bin ich wohl. Die beiden Herren hier«, er zeigte auf Bolgin und Sievers, »sind die zuständigen Beamten der Kriminalpolizei.«

Hartmann musterte sein Gegenüber unauffällig. Der Offizier wirkte aufgrund seines Körperumfangs behäbig, verfügte aber wahrscheinlich über einige Kräfte. Vermutlich hatte er früher eine athletischere Figur besessen. Das Hemd schnürte den breiten Hals etwas ein. Die ergrauenden Haare waren akkurat gescheitelt. Trotz seiner Korpulenz und geschlossener Uniformjacke schien er nicht zu schwitzen.

Der Gegensatz zum weiterhin heftig transpirierenden Hauptkommissar Bolgin hätte nicht größer sein können. Der Händedruck des Oberstleutnants war erwartungsgemäß kräftig, fast schmerzhaft. Der Amerikaner zeigte keine Anstalten einer Begrüßung, hielt sich im Hintergrund. Die Ermittler spürten jedoch seinen durchdringenden Blick, der auf ihnen ruhte. Er strahlte überaus amerikanisches Selbstbewusstsein aus.

Ist es wahrscheinlich, dass ein Offizier der US-Streitkräfte die beiden zufällig begleitet? Welches Interesse könnte ihn mit zwei Morden in Deutschland verbinden?

Hartmann entschied sich, diese Frage vorerst für sich zu behalten. Es gab noch zu viele Hintergründe, die ihm unbekannt waren.

»Ich will Sie nicht länger als nötig von ihrer Arbeit abhalten. Sie wollen sicher mit den Untersuchungen fortfahren. Frau Major Malmedy wird Sie dabei ab sofort unterstützen. Sie ist gewissermaßen unsere Spezialistin für interne Ermittlungen. Nicht, dass wir ihren kriminalistischen Fähigkeiten misstrauen. Aber in einem Fall wie diesem werden Sie verstehen, dass wir uns ein eigenes Bild verschaffen müssen.«

Der gönnerhafte Unterton und das joviale Lächeln missfielen Hartmann. Er sah aber keinen Sinn darin, einen Konflikt zu provozieren.

»Wir wurden so freundlich gebeten, da konnten wir nicht ablehnen.« Seine Stimme klang sarkastisch, bevor er mit Bestimmtheit fortfuhr: »Jegliche Entscheidungen im Ermittlungsverfahren obliegen allerdings der Staatsanwaltschaft. Die Tat fand nicht auf militärischem Gelände statt. Demnach handelt es sich nicht um eine interne Ermittlung der Streitkräfte. Ich denke, das ist ihnen bekannt. Insofern wird sich ihr Verbindungsoffizier auf eine beobachtende Funktion beschränken müssen.«

Demonstrativ freundlich blickte er Malmedy an. Ein kurzes Blitzen huschte über ihre grünen Augen. Sie sagte aber nichts.

Oberstleutnant Revers‘ Mimik schien aus Stein gemeißelt. Nicht einmal Widerwillen war aus den starren Zügen zu schließen.

»Wir halten uns natürlich an alle geltenden Vorschriften, Herr Hartmann. Major Malmedy wird Sie sicher nicht bei der Arbeit stören.«

»Sagen Sie, kannten Sie eigentlich das Opfer persönlich? Immerhin waren Sie Offizierskameraden.«

Für einen Moment glaubte Hartmann einen veränderten Ausdruck in Revers‘ Gesicht wahrzunehmen. Dann wirkte es wieder unbewegt und kontrolliert.

»Nicht privat. Dienstlich nur von irgendeinem Kongress vor längerer Zeit. Schreckliche Sache das Ganze.«

Der letzte Satz klang eher gezwungen als ehrlich gemeint.

»Berührten sich möglicherweise ihre dienstlichen Aufgaben? Wo waren Sie die letzten Jahre? Ehemaliges Jugoslawien, Kosovo, Afghanistan, Afrika?«, forschte Hartmann.

»Ihre Fragen dazu kann ich leider nicht beantworten. Sie unterliegen der Geheimhaltung. Soweit Sie Oberst Seyfart betreffen, richten Sie diese bitte an mein Ministerium.«

»Werde ich dort mehr erfahren?«

»Vermutlich nicht.« Das Lächeln war süffisant. »Ich nehme wieder Kontakt mit ihnen auf. Im Übrigen wird mich Frau Major auf dem Laufenden halten. Auf Wiedersehen, meine Herren.«

Hartmann hatte nicht erwartet, Antworten zu erhalten. Ihm war es lediglich darum gegangen, die Reaktion des Mannes zu beobachten. Augenscheinlich ließ sich Revers aber so leicht nicht in die Enge treiben. Wie aus dem Nichts war inzwischen ein zweiter Wagen auf den Parkplatz gerollt.

Abschließend bedachte der Offizier Malmedy mit einem durchdringenden Blick. »Ich verlasse mich auf Sie, Frau Major.« Sie salutierte.

»Ja, Herr Oberstleutnant«, erwiderte sie pflichtgemäß.

Bei den wenigen Schritten, die Revers zum Wagen zurücklegen musste, bemerkte Hartmann ein leichtes Nachziehen des linken Beines, das er zu verbergen versuchte. Kaum wahrnehmbar fiel es ihm dennoch auf.

Unangenehme Stille beherrschte für einen Augenblick die Szene, nachdem die Limousine das Gelände verlassen hatte. Malmedy und Hartmann standen sich gegenüber, ohne etwas zu sagen. Bolgin und Sievers hielten sich abwartend im Hintergrund. Während Hartmann die uniformierte Frau vor sich unwillkürlich fixierte, musste er sich eingestehen, als Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums etwas Anderes erwartet zu haben.

Die Uniform betonte ihre schlanke, durchtrainierte Figur nicht unvorteilhaft, wenngleich die graue Farbe trist wirkte. Sie trug keinen Rock, sondern Hosen. Überhaupt schien sie keinen Wert auf übermäßige Betonung weiblicher Reize zu legen. Möglicherweise machte sogar gerade das ihre Attraktivität aus. Er schätzte ihr Alter auf Mitte dreißig. Auf dem dezent gebräunten Gesicht fand sich kein Make-up. Lediglich die tiefgründigen, ernsten Augen waren mit einem leichten, dunklen Schleier betont. Die braunen Haare waren zu einem strengen Knoten nach hinten gebunden. Wahrscheinlich verlangte sie von ihrer Frisur hautsächlich, dass sie praktisch sein müsse. Sie fixierte ihr Gegenüber ebenfalls, durchbrach dann aber die Stille:

»Ich wollte Sie nicht aufhalten. Fahren Sie einfach mit ihrer Arbeit fort.«

Hartmann hätte ihr gern einige Fragen gestellt, entschied sich aber dagegen. Stattdessen legte er mit starrer Miene die rechte Hand an die Schläfe und entgegnete in schneidigem Ton: »Jawohl, Frau Major.«

Sievers musste sich zusammennehmen. Sogar Bolgin konnte sich eines Grinsens nicht erwehren. Nur Malmedy gewann dem Scherz offensichtlich nichts ab und kam sich vor den Beamten veralbert vor.

Böse funkelte sie den Staatsanwalt aus dunklen Augen an.

»Falls Sie ein Problem mit meiner Anwesenheit haben sollten, ist mir das vollkommen egal. Obwohl ich mir diesen Auftrag nicht ausgesucht habe, werde ich ihn, so gut ich kann, erfüllen. Davon werden Sie mich nicht abhalten.«

Aus dem Klang ihrer Stimme ließ sich heraushören, dass Sie es gewohnt war, Anweisungen zu geben, die befolgt wurden.

Mit aller Galanterie entschärfte Hartmann die Situation:

»Sie haben mich missverstanden. Wir sind froh, Sie bei uns zu haben, Frau Malmedy. Ich würde vorschlagen, sich erst einmal den Tatort anzusehen. Oder das, was uns seit dem Fund der Leichen davon übriggelassen wurde.«

Humor gehört nicht zu ihren Stärken, dachte er bei sich.

Doch Malmedy trug plötzlich unerwartetes Lächeln zur Schau.

»Sie haben Glück, dass ich mit dem Auto gekommen bin. Oder wollten Sie einen ihrer Kollegen auf dem Schoss transportieren?«

Mit einer beiläufigen Handbewegung wies sie auf den mit nur zwei Sitzen ausgestatteten Porsche. Hartmann ärgerte sich kurz über Peter Zimmermann, der die Polizeibeamten einfach hier abgesetzt hatte, ohne zu bedenken, wie sie weiterkommen würden.

»Da haben Sie recht. So schnell sind Sie unentbehrlich geworden. Was würden wir nur ohne Sie tun?«

Den ironischen Unterton überhörend, erwiderte sie: »Keine Ahnung, Laufen vielleicht?«

Schmunzelnd versuchte sich Hartmann vorzustellen, wie Sievers und Bolgin sich neben ihn auf einen Sitz gepfercht hätten.

Alle vier stiegen in Malmedys Dienstwagen. Sie bestand darauf, einer der Männer könne fahren. So nahm Hauptkommissar Bolgin hinter dem Steuer Platz. Malmedy stieg hinten ein. Sie setzte sich neben den Polizeianwärter Sievers, der verlegen zur Seite rutschte. Offensichtlich waren ihm ihre körperlichen Vorzüge nicht entgangen. Hartmann sah es in seinem Gesicht. Bolgin ließ keinerlei Interesse erkennen, legte jedoch eine sportliche Fahrweise an den Tag. Der schnelle, komfortable Wagen schien seinen Geschmack zu treffen. Mit geübten Handgriffen stellte er die automatische Klimaanlage auf eine angenehme Temperatur ein. Inzwischen stand die Sonne fast senkrecht am wolkenlosen Himmel und erfüllte den Spätsommertag mit angenehmer Wärme.

Ihr Ziel war der Tatort: Die seit dem Fund der Leichen für Besucher gesperrte Burg Rothenfels. Bolgin hätte das Ziel sicher auch ohne die Hilfe des Navigationssystems erreicht. Doch er schien die technischen Finessen des Wagens unbedingt in Anspruch nehmen zu wollen. Die Fahrt führte sie aus Koblenz hinaus über eine malerische Allee. Es waren zumeist betagte Eichen, die die Straße säumten. Mehrmals fielen Eicheln mit einem blechernen Aufschlag auf das Wagendach. Die Vorboten des Herbstes waren nicht mehr zu leugnen. In wenigen Wochen würden sich die grünen Bäume in gespenstische Gerippe verwandeln. Die trostlosen Zeiten der Stürme und Kälte überdauern, bis wieder Frühling anbräche. Wie viele hundertmal mochten diese uralten Zeugen der Zeit den Zyklus von Vergänglichkeit und Neuentstehung schon erlebt haben?

Der sonore Klang des Motors war im Wageninneren nur stark gedämpft wahrzunehmen. Hartmann drehte den Kopf zu Malmedy. »Wenn Sie wussten, wo wir waren, warum haben Sie sich nicht ebenfalls die Leichen angesehen? Allerdings muss ich zugeben, dass der Anblick unschön war.«

»Dieser Anblick ist mir bereits bekannt. Die körperlichen Überreste standen uns kurzzeitig zur Verfügung, bevor sie der Gerichtsmedizin übergeben wurden. Noch einmal musste ich mir das nicht antun.«

Hartmann ereiferte sich.

»Wie bitte? Sie haben die Leichen vor der Justiz versteckt? Das kann doch nicht ihr Ernst sein. Es wird immer besser.«

Sie versuchte zu beruhigen: »Wir haben sie nicht versteckt. Sondern nur eine gewisse Zeit für eigene Untersuchungen... sagen wir ausgeliehen.«

»Ausgeliehen«, echote Hartmann tonlos. Er wandte sich Bolgin zu: »Wussten Sie davon?«

»Wir konnten da nichts machen. Die Anweisung kam vom Generalstaatsanwalt. Nach einem Tag wurden sie dem Institut übergeben«, beteuerte er aufgeregt seine Unschuld.

Als eine der wichtigsten Lektionen während seiner Karriere hatte er gelernt, sich aus unangenehmen Fragen hinauszuhalten und auf höhere Stellen zu verweisen. Meistens funktionierte es.

Die Äußerung quittierte Hartmann mit Kopfschütteln.

»Hier läuft einiges falsch.«

Malmedy versuchte, das Gespräch der sachlichen Ebene zuzuführen. »Hat ihnen der Blick auf die Tatopfer neue Erkenntnisse gebracht?«

»Vielleicht sollte ich Sie das fragen. Sie hatten sie vor uns. Aber davon abgesehen glaube ich nicht, dass die beiden Taten zusammenhängen. Es mag der gleiche Täter sein. Dennoch wurden sie auf sehr unterschiedliche Weise ermordet. Die Tötung des Studenten wirkt geradezu flüchtig, wenn man ermisst, wie viel Zeit er oder sie sich mit dem Oberst gelassen hat. Es liegt auf der Hand, dass die zweite Tat sekundär ist. Aber ich habe das Gefühl, das wissen Sie schon.«

»Sagen wir, meine Gedanken gehen in die gleiche Richtung«, antwortete sie leise.

»Vielleicht wurde der Mörder gestört. Vielleicht genügte ihm die erste Tat nicht. Es kann viele Gründe geben, warum Harnisch sterben musste. Bisher verfügen wir über deutlich zu wenig Informationen, um uns der der Psyche des Täters zu nähern.«

»Dennoch, auf diesem Gebiet eilt ihnen der Ruf einer Koryphäe voraus.« Die Anerkennung klang ehrlich.

»Darauf sollten sie nichts geben«, erwiderte er übertrieben bescheiden.

»Vielleicht doch. Sonst hätten einige Kollegen vom BKA Sie nicht so ungern gehen lassen.«

»Jedenfalls sind Sie gut informiert«, lenkte er ab, »über Sie wissen wir dagegen gar nichts.«

»Nun, zu meinen Aufgaben gehört es auch, gut informiert zu sein.«

Sie überhörte die implizierte Frage. Plötzlich wurden alle zur Seite geworfen, da Bolgin unerwartet hart einlenkte. Er hatte trotz der Ansagen des Navigationssystems fast die Abfahrt von der Landstraße verpasst. Zu unscheinbar präsentierte sich die Zufahrt zur Burg. Für einen Moment gewannen sie den Eindruck, er würde die Kontrolle über den BMW verlieren. Die Reifen rutschen mit einem unangenehmen Quietschen über den trockenen Asphalt. Es war mehr die Elektronik als Bolgins fahrerisches Können, die sie vor einer Kollision mit einer mächtigen Buche bewahrte.

»Zum Teufel, wollen Sie uns umbringen?«, fuhr Malmedy den Kriminalbeamten ärgerlich an. Sievers war durch das abrupte Manöver förmlich auf sie gefallen und entschuldigte sich mehrmals. Bolgin schwieg.

Mit gedrosseltem Tempo rollte der Wagen über den unbefestigten Waldweg. Gelegentlich sprangen die Reifen über Wurzeln oder Steine. Nach oben hin ließ das reife Grün der Bäume nur einen schmalen Streifen des Himmels erkennen. Nach Einbruch der Dunkelheit musste hier schwärzeste Finsternis herrschen. Kein Vollmond würde das dichte Blätterdach durchdringen können. Nach kurzer Fahrt erreichten sie den kleinen Parkplatz, der im Grunde nur aus einer Lichtung bestand. Ein lehmiger Fußweg führte das letzte Stück durch den Wald zur Burg. Umständlich parkte Bolgin das Auto zwischen zwei Bäumen. Angesichts der Tatsache, dass die Sehenswürdigkeit momentan für Besucher gesperrt war, erschien seine Sorgfalt überflüssig. Hartmann schlug die Tür zu, zog die sauerstoffreiche Waldluft tief in seine Lunge. Sie fühlte sich unvergleichlich rein an. Kein Vergleich zu der mit Abgasen gesättigten Großstadtluft in Berlin.

Zielstrebig lief er den Pfad zur Burg entlang. Seine Begleiter folgten. Nach geschätzten dreihundert Metern erhob sich vor ihnen eine Mauer, durchbrochen durch ein schmiedeeisern beschlagenes Holztor. Sievers, der das nach den Morden beschlagnahmte Schlüsselbund trug, öffnete. Sie betraten den Hof und stießen sofort auf die in weißer Farbe umrandete Stelle, an der der erstochene Student Mirko Harnisch gefunden wurde. Deutlich hoben sich noch immer angetrocknete Flecken von den hellen Steinen ab. Im Halbkreis blieben sie wie andächtig stehen.

Doch Neues war hier nicht zu entdecken. Die Spurensicherung hatte den Bereich bereits akribisch untersucht. Hartmann interessierte sich auch weniger für den eigentlichen Fundort, als für die Umgebung. Er hatte gelernt, sie zu deuten, sie zu lesen. Welchen Weg war das Opfer gekommen, wie schnell war es gelaufen? War es bereits verfolgt worden, oder hatte der Täter es überrascht?

Gedankenversunken betrachtete er den Hof und die angrenzende Burg, als ihn eine blecherne Melodie aus seinen Betrachtungen riss. Bolgin zog sein Handy hervor. Er hörte hauptsächlich dem Anrufer zu. Nur ab und an gab er ein »Ja« oder »Verstehe« von sich. Das Mobiltelefon zwischen Kopf und Schulter gezwängt entzündete er währenddessen umständlich eine Zigarette. Mehrmals löschte ein Windzug die Flamme des Feuerzeuges, bis der Tabak endlich zu glimmen begann. Abschließend wies er den Anrufer an: »Fahr damit gleich zu Yilmaz.« Als er sich schließlich verabschiedet hatte, blickten ihn alle erwartungsvoll an. Die Aufmerksamkeit genießend berichtete er mit bedeutungsschwerer Stimme:

»Das war ein Kollege aus der KTU. Sie sind mit den Folterwerkzeugen fertig. Auf keinem wurden Blutanhaftungen oder sonstige verwertbare Spuren gefunden. Soweit so gut, aber jetzt wird es interessant. Ein Teil der Werkzeuge wurde kürzlich mit verdünnter Schwefelsäure behandelt. Spuren davon finden sich jedenfalls auf dem Metall.«

»Heißt das, der Täter hat sich nach dem Mord die Zeit genommen, die Tatwerkzeuge derart zu reinigen?« Major Malmedy klang ungläubig.

»So ungewöhnlich ist das gar nicht«, belehrte sie Hartmann, »Im mexikanischen Drogenkrieg wurden bisher unzählige Mordopfer von den Tätern ganz und gar in Wannen voller Säure aufgelöst, um die Tat zu verschleiern. In unserem Fall müssen die Gründe aber mehr im Täter als in der Tat selber liegen. Er musste schließlich damit rechnen, dass wir das bald herausfinden.«

»Warum hat er die Tatwerkzeuge, so sie es denn waren, nicht einfach mitgenommen?«, warf Sievers ein.

»Berechtigte Frage. Vielleicht hielt er es einfach für die bessere Lösung. Oder aber er will uns damit etwas mitteilen. Eine Botschaft, die wir noch nicht deuten können.« Er hielt inne. »Schauen wir uns erst einmal in den Kellergewölben um.«

Der junge Polizist öffnete die Tür zur Eingangshalle. Er benötigte mehrere Versuche, da Schloss und Scharnier klemmten. Aus dem schummrigen Halbdunkel strömten den Ermittlern Gerüche alten Holzes, klammer Wandteppiche und kalten Steins entgegen.

Vom Sonnenschein des Tages war hinter den dicken Mauern wenig zu spüren. Mit dem Betreten des Bauwerks schien die Temperatur um mehrere Grad gefallen zu sein. Unter seinem Jackett, dessen er sich bereits im Wagen entledigt hatte, trug Hartmann nur ein kurzärmliges Hemd. Er spürte den kalten Lufthauch auf seinen Armen.

Sie blickten sich um. Alles wirkte alt und auf unedle Art abgenutzt. Die Schäbigkeit der großen Läufer auf dem Boden kontrastierte auffällig mit dem künstlichen Glanz der Rüstungen an den Wänden. Wohl der kleinste Teil der Einrichtung entstammte dem Spätmittelalter. Das meiste musste deutlich später hinzugefügt worden sein, schien keineswegs authentisch.

Hartmann begutachtete die steile Wendeltreppe, die hinauf zum Turm führte. Dort hatte Mirko Harnisch in einer Kammer geschlafen. Er beneidete ihn nicht. Malmedy strebte mit Harald Bolgin und Thilo Sievers dem Eingang zum Keller zu. Ihre Absätze klangen hart auf der geschwungenen Treppe. Die Deckenbeleuchtung flimmerte kurz, bis sie die Räume in unangenehm weißes Licht tauchte. Eine der Röhren im hinteren Gewölbe versagte den Dienst und verharrte in nervösem Flackern. Die drei Ermittler verteilten sich, während Robert Hartmann die engen, steinernen Stufen zum Turm erklomm. Der Instinkt hatte ihn während seiner Karriere selten im Stich gelassen. Einerseits war er sich mittlerweile relativ sicher, dass der Mord an dem Studenten entweder nur aus Gelegenheit begangen wurde, oder weil er den Täter überrascht hatte. Andererseits riet ihm seine innere Stimme, zuerst den Schlafraum zu besichtigen, nie voreilig zu urteilen.

Nach gefühlten hunderten von Stufen drückte er schwer atmend die Klinke zu der kleinen Kammer. Hier also hatte Harnisch vorübergehend gewohnt. Auf den ersten Blick gab es nicht viel zu sehen. Im Bericht der Kripo war das Zimmer nur kurz erwähnt worden, obgleich das spätere Mordopfer sich hier vermutlich unmittelbar vor seinem Tod aufgehalten hatte. Ein schmales Bett, eher eine Pritsche, ein winziger Schrank und ein wackliger Holztisch stellten das einzige Mobiliar dar. Der Schrank war leer. Die wenigen Habseligkeiten waren bereits an die Angehörigen des Ermordeten weitergegeben worden. Die dünne Matratze wirkte durchgelegen, aber nicht schmutzig.

Ein Traumjob war das sicher nicht, dachte der Ermittler. Das Bettzeug wies keine Besonderheiten auf. Hartmanns Schritte entlockten den alten Holzbohlen knarrende Geräusche, als er sich dem Tisch zuwand. Auf der zerkratzten Tischplatte standen zwei Bierflaschen, ein Öffner lag daneben. Auch der Tisch zeigte außer der allgegenwärtigen Abnutzung keine untypischen Spuren. Einen letzten Blick ließ er über die Flaschen schweifen. Eine war leer, die andere noch mit einem Kronkorken verschlossen und gefüllt. Das braune Glas glänzte in der Sonne, die spärlich durch das kleine Fenster drang.

Gerade wollte er sich abwenden, als die leere Flasche sein Interesse weckte. Im Licht war etwas am Boden des Behältnisses zu erkennen. Er zog dünne, weißen Handschuhe über die Finger, hielt die Bierflasche vor dem Fenster in die Höhe und versuchte, sie mit seinem Blick zu durchdringen. Etwas lag auf dem Grund. Aus zusammengekniffenen Augen spähte er in den Flaschenhals. Der Schock lähmte ihn für einen kurzen Moment.

Die Sucht war aus der Not geboren worden. Seit sich ihr Leben auf grausame Weise verändert hatte, konnte sie sich anders nicht mehr über den Tag retten. Regina Zimmermanns schlanke Hände suchten Halt an der kleinen Plastikdose. Ungelenk öffnete sie den Schraubverschluss, ließ zwei weiße Kapseln auf ihre Handfläche fallen. Kaum lagen sie auf der Zunge, breitete sich der vertraute, bittere Geschmack an ihrem Gaumen aus. Sofort spülte sie alles mit einem halben Glas Wasser hinunter. Die Bewegungen verrieten Gewohnheit. Immer geringer wurden die Abstände. Immer kürzer die Zeit der trügerischen Erleichterung. Immer stärker die Dosis. Jetzt hieß es warten, bis die Chemie in die Blutbahn gelangt war und ihre Wirkung entfaltete. Zuerst normalisierte sich der Herzschlag. Die eben noch unruhig zitternden Hände lagen bald bewegungslos auf der dunklen Tischplatte. Verzweiflung wich dumpfer Benommenheit. Es waren die wenigen Momente, in denen ihr Innerstes sich noch zu entspannen vermochte. Sie wusste, was sie tat, war falsch. Doch das Gefühl von Verlust war einfach zu groß, der Schmerz zu unerträglich geworden.

In der Stille des großen Hauses fühlte sie Einsamkeit. Das fröhliche Leben war daraus verbannt. Plötzlich wurde die Hintertür zur Küche geöffnet, die Ruhe gestört. Das leise schleifende Geräusch der Holztür über dem gefliesten Boden war nur wahrnehmbar, wenn man es unzählige Male gehört hatte. Regina Zimmermann ließ es erneut anfangen zu zittern. Sie fürchtete sich. Sie fürchtete sich vor dem Mann, dem sie seit vielen Jahren in ehrlicher Liebe verbunden war. Seit dem einen Moment, der alles in den Abgrund gestürzt hatte, veränderte er sich von Tag zu Tag. Nach außen lebte er sein Leben weiter, als wäre nichts geschehen. Doch hinter der gespielten Normalität ging eine allmähliche Veränderung vor sich. Er war nicht mehr Derselbe. Sie spürte, etwas Schreckliches würde geschehen. Lange würde es nicht mehr dauern. So sehr sie darum bat, dass er die Realität endlich zulassen würde, so viel Angst hatte sie doch gleichzeitig vor der Tragweite dieses Wunsches. Mit einem Mal stand er vor ihr im Raum.

»Tag Schatz, ich hatte etwas Zeit zwischendurch. Dachte, ich schaue einfach vorbei. Wie ist dein Tag?«

Vor ihr hingen künstliche Schwaden chemischen Nebels. Aus tränenverhangenen Augen blickte sie zu ihm auf.

»Bitte... «

Er nahm die Pillendose und schüttelte sie leicht.

»Du sollst doch nicht ständig diese Tabletten nehmen. Das ist einfach nicht gut für dich.«

Den Blick noch immer auf ihn gerichtet, erkannte sie die Kälte in seinen Augen, die sich hinter der trügerischen Fassade zu verbergen suchte.

»Ich weiß es... «

»Was weißt Du, mein Schatz?«, unterbrach er mit ebenso kräftiger wie scheinbar verständnisvoller Stimme den zaghaften Ansatz.

»Ich weiß es. Ich weiß, was Du vor hast.«

In der Tiefe der Flasche blickte Robert Hartmann auf die starre Pupille eines blutverschmierten Augapfels. Zahlreiche Adern des Organs waren geplatzt, hatten Weiß in schmutziges Rot verwandelt.

Ekel ließ ihn die Flasche schnell auf dem Tisch abstellen. Der Schreck beschleunigte den Herzschlag. Doch seine Hände blieben ruhig wie immer. Sie zitterten fast nie. Nach wenigen Augenblicken hatte sich sein Puls wieder normalisiert. Erneut hob er die Flasche an, wobei sich der klebrige Klumpen am Grund träge bewegte. Wieder blickte er durch den Flaschenhals, dem ein Gemisch aus Bierdunst und fauligem Fleischgeruch entstieg. Die Zersetzung hatte bereits begonnen. Mit Zeigefinger und Daumen der zweiten Hand drückte er die Nasenflügel zusammen, um der schwer erträglichen Kombination zu widerstehen. Das ursprünglich runde Organ war deformiert, lag in einer Lache schimmernden Schleims. Es bedurfte keiner Ermittlung oder gesteigerten Phantasie, um seinen Ursprung zu erahnen. Das Organ war Oberst Seyfart während der Folterung entfernt worden.

Hartmann bemühte sich, seine Gedanken in kühler Ordnung zu halten. Sich emotional in eine Ermittlung zu involvieren, half niemandem, am wenigsten dem Opfer. Mittlerweile konnte er sich jedoch des Eindrucks nicht mehr erwehren, auf einen ebenso kühl berechnenden Gegner gestoßen zu sein. Seine Erfahrung hatte ihn eine triviale Wahrheit gelehrt. Viele Täter neigen dazu, im Verlauf ihrer Taten unvorsichtig zu werden. Werden die Morde aus einer seelischen Krankhaftigkeit begangen, mündet das Geschehen oftmals in einen Strudel der Eskalation. Das Töten verschafft dem Täter Befriedigung. Doch sie ist nicht von Dauer. Die Befriedigung ist undankbar und gierig. Um sie erneut zu erreichen, bedarf es Steigerungen in Qualität und Quantität der Verbrechen. Im Verlauf dieser Spirale der Gewalt vermag der Mörder seine anfängliche Umsicht nicht aufrechtzuerhalten. Er wird waghalsiger. Zehrt vom Gefühl der Allmacht über Opfer und Verfolger. In Wahrheit sind ihm die Ermittler in diesem Stadium bereits oft sehr nah und warten auf eine Unvorsichtigkeit. Doch während die Schlinge sich zuzieht, wird er töten. Bis jemand käme, ihn aufzuhalten.

Wie oft hatte Robert Hartmann diesem Druck standgehalten? Wie oft hatte ein simpler formeller Fehler, ein Gutachter oder Richter den Erfolg zunichte gemacht. Enttäuschung über eine Justiz, die das Böse gewähren ließ, hatte seinen festen Glauben allmählich verdrängt. Gefühle von Ohnmacht und Verbitterung gehörten zu seiner Existenz. Ein Teil von ihm hatte sich an einem maroden, schwerfälligen System zerrieben, das zu oft die begünstigte, die es missachteten. Unfähig geworden, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, degenerierte Gerechtigkeit zu einem beliebig deutbaren Zustand. In Augenblicken wie diesem spürte er, wie müde er seines Berufs geworden war. Seine Abstumpfung irritierte ihn. Er empfand Ekel.

Die dunkle Flasche hielt er weiter vorsichtig mit zwei Fingern. Abdrücke oder sonstige Spuren würden darauf höchstwahrscheinlich nicht gefunden werden. Doch die Möglichkeit von vornherein auszuschließen, wäre fahrlässig gewesen. Ohne den Raum eines weiteren Blickes zu würdigen, eilte er hinaus. Er hatte das Gefühl, unter Menschen sein zu müssen.

Am Abgang zum Keller nahm er den beruhigenden Klang von Stimmen wahr. Bolgin und Sievers standen an einer der leeren Bänke, auf denen die Foltergeräte ausgestellt gewesen waren, die sich jetzt im Labor zur kriminaltechnischen Untersuchung befanden. Lisa Malmedy hockte neben dem Loch im Boden, in dem Henry Seyfart gefunden worden war. Mit einer kleinen Taschenlampe leuchtete sie in die Tiefe. Die Militärermittlerin wirkte nachdenklich. Erst als sie Hartmann bemerkte, schaute sie auf. Sie richtete ihren Blick auf die Bierflasche in seiner Hand und lächelte.

»Haben Sie sich ein Getränk besorgt? Ich habe hier etwas gesehen, dass ich ihnen gerne zeigen würde.«

Hartmann musste ungewollt schmunzeln. »Nein, trinken würde ich daraus nicht mehr. Aber das erkläre ich ihnen gleich. Was haben Sie gefunden?«

Er trat zu ihr an den Rand der Öffnung. Malmedy reichte ihm die Lampe.

»Leuchten Sie dorthin, wo die Leiche lag.«

Im Lichtkegel war die Stelle deutlich auszumachen, an der der Körper eine Vertiefung im Sand verursacht hatte.

»Jetzt ein Stück weiter links. Sehen Sie den rechteckigen Abdruck?« Hartmann kniff die Augen zusammen. Tatsächlich hob sich dort ein gleichmäßiges Rechteck vom unebenen Sandboden ab.

»Sie haben recht. Als ob dort etwas mit einem geraden Untergrund gelegen oder gestanden hätte. Möglicherweise ein Gepäckstück oder Ähnliches. Was auch immer diesen Abdruck erzeugt hat, wurde entfernt, bevor der Mord entdeckt wurde.«

»So sieht es aus. Dieser Gegenstand muss jedenfalls recht schwer sein. Anderenfalls hätte er den Untergrund nicht so tief eingedrückt. «

»Interessant. Merkwürdig nur, dass es bisher niemand bemerkt hat.«

»Man hat sich wohl auf die Toten konzentriert«, gab Malmedy zu bedenken.

»Da werden Sie wahrscheinlich recht haben.« Er wandte sich an die Polizisten. »Herr Bolgin, würden Sie bitte umgehend eine Überprüfung dieses Abdrucks auf Größe und Gewicht veranlassen? Vielleicht gelingt es uns auf diese Weise einzugrenzen, was die Spur hinterlassen haben könnte.«

Der Angesprochene nickte kurz, entfernte sich etwas und telefonierte. Noch einmal hielt Hartmann die Lampe in das finstere Loch im Boden. Der fokussierte Strahl wanderte über den Sand. Man konnte noch die Position des Mannes erkennen, der vermutlich dort unten seine letzten Atemzüge getan hatte. Es war, als bauten sich ständig neue Rätsel vor dem Ermittler auf. Sie verfügten über keinen echten Anhaltspunkt. Welches Geheimnis hatte den Offizier auf so qualvolle Weise das Leben gekostet?

»Frau Malmedy, wir benötigen ein Seil.«

Verständnislos sah Sie ihn an.

»Nun schauen Sie nicht, als hätte ich eine tote Ratte verlangt. Die Länge eines Abschleppseils würde genügen.«

Er hielt ihrem wütenden Blick stand.

»Mein Gott, Hartmann. Ich bin nicht ihre verdammte Assistentin.«

Resignierend wand er sich an Sievers.

»Würden Sie mir den Gefallen tun, Frau Major nach ihrem Autoschlüssel zu fragen, um im Kofferraum nach einem Seil zu sehen? Aber seien Sie dabei vorsichtig.«

Verhalten lächelnd näherte sich der Kriminalanwärter den beiden Ermittlern, die weiterhin neben der Öffnung auf dem Boden knieten.

»Kein Problem. Aber warum soll ich mit dem Kofferraum vorsichtig sein?«

Hartmanns Blick schwenkte zu Malmedy.

»Vorsichtig mit dem Major meinte ich. Sie ist leicht reizbar.«

Demonstrativ verdrehte sie ihre dunklen Augen.

»Machen Sie nur weiter so, Hartmann. Dann landen Sie da unten, aber ohne Seil.«

»Immerhin wissen Sie, was ich damit vorhabe. Ihre weibliche Intuition verdient Respekt.«

Bevor sie sich anderen Details zuwenden konnten, war der junge Mann samt einem kräftigen Seil zurückgekehrt. Mit dem Karabinerhaken befestigte Hartmann es an einem Geländer.

»Wirklich sportlich für einen Staatsanwalt«, spottete Malmedy, half Sievers aber, das Abschleppseil straff zu halten. Im Gegensatz dazu vermittelte Bolgin den Eindruck, sich nicht an ihren Bemühungen beteiligen zu wollen. Hartmann schlug die Ärmel seines Hemdes um. Er benötigte Bewegungsfreiheit. Von dem Loch im Boden ging fühlbares Unbehagen aus.

Wie viele Menschen sind dort unten lebendig begraben worden? Doch Aberglauben ist hier fehl am Platz.

Entschlossen packte er das Seil, glitt vorsichtig daran in die Tiefe. Trotz aller Bemühung, Berührungen der porösen Sandwände zu vermeiden, fielen einige Brocken herab. Wenige Sekunden später setzte er seine Füße auf den Grund, der ebenfalls aus losem Sand bestand. Um die Spuren am Tatort nicht zu verwischen, versuchte er ausladende Bewegungen zu vermeiden. Mithilfe der kleinen Lampe waren die Ausmaße der Höhle gut zu erkennen. Von der Mitte aus gesehen waren in jede Richtung höchstens drei Meter ausgeschachtet worden. Ein Teil davon war zu niedrig, um ihn betreten zu können. Über jeden Zentimeter kroch der Lichtkegel.

Sievers‘ Stimme hallte seltsam hohl durch das Gewölbe: »Rufen Sie, wenn Sie wieder hoch wollen.«

»Ja«, er zögerte, »ich denke, hier erwarten uns keine Überraschungen.«

»Gut, klettern Sie. Wir halten das Seil straff.«

Hartmann war im Begriff, sich mit festem Griff nach oben zu ziehen, als sein Blick auf einen kleinen silbernen Ring fiel. Er steckte direkt neben seinem rechten Schuh im Sand. Vielleicht war er seinem Blick gerade deshalb bisher entgangen.

»Geben Sie mir noch einen Moment.«

Gebückt zog er an dem Schlüsselring und förderte einen daran befestigten Gegenstand länglicher Form zutage.

Ein USB-Stick! Bisher übersehen wie manches andere. Unwahrscheinlich, dass er einem Besucher aus der Tasche gefallen ist.

Immer noch überrascht hielt er den Speicherstick in die Höhe. Von etwas Sand abgesehen, der jetzt rieselnd seinen Weg aus dem technischen Innenleben des Speichermediums fand, waren keine Beschädigungen daran ersichtlich. Er ließ ihn in eine kleine Tüte fallen.

»Was ist nun Herr Hartmann, wollen Sie noch unten bleiben?«

»Nein, das war lange genug.«

Naturgemäß gestaltete sich der Weg nach oben schwerer als der nach unten. Die groben Kunststofffasern des Seils schnitten tief in seine Finger, während er sich mühevoll hinaufzog. Hartmann hielt sich nicht für unsportlich, musste sich aber eingestehen, die Schwierigkeit unterschätzt oder seine Kraftreserven überschätzt zu haben.

Egal, dieser Fund rechtfertigt hoffentlich den Einsatz.

Den letzten Meter zogen Sievers und Malmedy den Staatsanwalt mit vereinten Kräften über den Rand der Öffnung. Erwartungsvoll richteten sich drei Augenpaare auf ihn. Sogar Hauptkommissar Bolgin strahlte gedämpftes Interesse aus. In gebückter Haltung knetete Hartmann seine schmerzenden Hände.

Malmedy ertrug die Ungewissheit nicht länger.

»Nun sagen Sie schon! Was war dort unten?«

Statt einer Antwort zog er den durchsichtigen Beutel aus der Tasche, in dem der kleine Gegenstand metallisch glänzte. Bolgins Ahnungslosigkeit wirkte authentisch. In technischen Fragen befand er sich selten auf der Höhe seiner Zeit.

»Was ist das?«

Sievers setzte zu einer Antwort an, besann sich dann jedoch eines Besseren. Eine altkluge Belehrung seines missgelaunten Vorgesetzten erschien ihm nicht karrierefördernd. Malmedy sprang in die Bresche, triumphierte mit einem umfassenden Vortrag über Speichertechnik.

»Schon gut, Sie müssen kein Referat halten«, knurrte Bolgin gereizt.

»Nicht? Ihr Wissen in diesem Bereich schien mir ergänzungswürdig zu sein. Außerdem sollten Sie sich fragen, warum Ihrer Spurensicherung der Stick entgangen ist.«

Abseits gewandt hatte Hartmann den Disput seiner Begleiter nicht weiter verfolgt. Schließlich unterbrach er die beiden.

»Wichtiger ist, ob und welcher Inhalt darauf zu finden ist. Aber vorher lassen Sie ihn bitte äußerlich untersuchen. Damit meine ich hauptsächlich auf vorhandene Fingerabdrücke.«

Lässig warf er Sievers den kleinen Plastikbeutel zu. Der Polizist fing ihn mit aufgerissenen Augen, als habe Hartmann ihm eine entsicherte Handgranate zur Verwahrung überreicht.

Warum hat sich der Mörder die Mühe gemacht, sein Opfer an einem solch abgelegenen Ort auf derartig qualvolle Weise zu töten? Dagegen wirkt die Tötung des Studenten im Burghof auf den ersten Blick geradezu improvisiert. Was lag dort unten neben der Leiche und seit wann? Warum die zusätzliche Provokation mit dem Augapfel? Ich hoffe, der USB-Stick kann uns wenigstens einen Teil der Fragen beantworten. Der Zusammenhang der dürftigen Indizien ist bisher völlig unklar.

»Was hat es denn nun mit ihrer Bierflasche auf sich?«

Er erschrak mit einer ruckartigen Kopfbewegung aus seinen Überlegungen. Lisa Malmedy sah ihn prüfend an. »Sie sind, wie es scheint, etwas schreckhaft.«

Die Antwort klang leise und schwer: »Berufskrankheit.«

Er hob die am Boden stehende Flasche in die Höhe. »Ich habe sie oben in der Kammer gefunden. Sie enthält etwas, dass dort nicht hineingehört. Es ist das zweite Detail, das offenbar bei der ersten Besichtigung übersehen wurde.«

Hauptkommissar Bolgin drehte sich um. »Was wurde hier übersehen?« Er sagte es provozierend langsam. Hartmann war nicht zum Scherzen aufgelegt. Stattdessen fragte er sich, wie schlampig der Tatort untersucht worden war. Doch statt einer Antwort reichte er das Fundstück Sievers. Der fand zunächst nichts Besonderes daran, bis er schließlich hineinsah. Er rang würgend nach Luft, hielt aber die Flasche fest. »Ist das... Ist das... ?«

»Ein Augapfel von Oberst Seyfart?«, unterbrach Hartmann ihn, »Davon können wir ausgehen.«

»Meine Herren, was wurde hier für eine Farce von Spurensicherung veranstaltet? Bezeichnen Sie das als eine sachgerechte Beweissicherung bei einem zweifachen Tötungsdelikt?«

Seine beherrschten Worte schienen die Luft zu durchschneiden. Bolgins Miene drückte gleichsam mühsam beherrschte Wut und Schuldbewusstsein aus. Ihm war klar, wie unzulänglich die Maßnahmen durchgeführt worden waren. Das lag zum Teil daran, dass die hiesige Polizei mit einer Mordermittlung dieser Komplexität schlichtweg überfordert war. Andererseits hatte er als verantwortlicher Leiter der eilig gebildeten Sonderkommission einfach nachlässig gearbeitet. Und er wusste es. Es war seine Reaktion auf die Hinzuziehung eines externen Ermittlungsleiters gewesen. Dennoch erschien es schwer vorstellbar, dass die Kollegen so offensichtliche Hinweise übersehen hatten.

Die Demütigung, vor der Mitarbeiterin des Verteidigungsministeriums gemaßregelt zu werden, machte ihm schwer zu schaffen.

»Jetzt sind Sie ja da. Mit einem Spezialisten aus Berlin wird es ab jetzt keine Fehler mehr geben«, erwiderte er mit vor Sarkasmus tropfender Stimme. Unbeirrt fuhr Hartmann fort: »Von jetzt ab möchte ich, dass dieser Fall mit der nötigen Sorgfalt und Priorität behandelt wird. Wir reden hier nicht von einem Fahrraddiebstahl. Mir ist auch egal, warum sich offensichtlich keiner mit dem Zimmer im Turm beschäftigt hat. Oder warum der Abdruck neben der Leiche ebenso übersehen wurde wie der USB-Stick. Aber keine weiteren Fehler mehr.«

»Mir ist durchaus klar, wovon wir reden.« Bolgin wirkte trotzig und verletzt.

Hartmanns Stimme klang versöhnlicher. »Gut, dann kümmern Sie sich bitte um den Abdruck. Ich habe das Gefühl, er könnte sich als wichtig erweisen. Wir müssen wissen, woher er stammt. Holen Sie sich notfalls Unterstützung beim LKA.«

Der Kommissar deutete mit gerötetem Kopf ein Nicken an. Mithilfe der kleinen Digitalkamera versuchte er die Spuren aus mehreren Perspektiven zu fotografieren, so gut es möglich war. Die Qualität der Aufnahmen ließ trotz Zoom zu wünschen übrig. Schließlich verließ er den Keller. Sievers nickte dem Staatsanwalt zu, bevor er seinem Vorgesetzten nach draußen folgte. Mit einem Seufzen schaltete Hartmann die kleine schwarze Taschenlampe aus, die er immer noch in der Hand hielt und reichte sie Malmedy. Die Eskalation hatte er nicht gewollt, sie aber als unausweichlich empfunden. Schlampereien bei der Ermittlungsarbeit konnte er nicht ausstehen. Zu groß war das Risiko, dadurch Entscheidendes zu übersehen. Lisa Malmedy blickte ihn vielsagend an, er erwiderte ihren Blick. Sie schien ihn zu analysieren. Ein Moment unangenehmer, fast verlegener Stille entstand. Er glaubte sogar, für einen Augenblick Schüchternheit in ihrem Gesicht ausgemacht zu haben. Als sie es bemerkte, kehrte wieder der gewohnt strenge, professionelle Ausdruck zurück. So kurz er sie kannte, so wenig schlau war er bisher aus ihr geworden.

Die folgenden Stunden inspizierten sie alle zugänglichen Räumlichkeiten der Burg. Jeden Raum, jede Halle und jeden Gang nahmen sie in Augenschein. Spektakuläres förderte die Besichtigung nicht mehr zutage. Auch innerhalb der Kellergewölbe entging nichts ihrem gründlichen Blick. Mit dem Gefühl, alle vorhandenen Steine des Bauwerkes mehrmals gesehen zu haben, ließen sie sich anschließend erschöpft auf einer Bank in der großen Eingangshalle nieder. Der gemeinsame Schluss, am Tatort keine weiteren Hinweise entdecken zu können, bedurfte keiner Worte. Hartmann bereute die zeitraubende Gründlichkeit dennoch nicht. Zu wichtig war ihm die Gewissheit, kein Indiz übersehen zu haben. Die Bierflasche, der weiterhin abstoßender Geruch entströmte, stand neben ihm. Er nahm sich vor, sie noch am gleichen Tag Dr. Yilmaz zur Untersuchung zu übergeben.

Lisa Malmedy machte trotz der ermüdenden Tatortbegehung einen frischen Eindruck. Sie hatte die Uniformjacke ausgezogen und sie lässig über ihre gekreuzten Beine gelegt. Wie Hartmann festgestellte, war daran neben anderen Auszeichnungen das grüne Abzeichen der Einzelkämpfer befestigt. Das hellblaue Hemd darunter entbehrte jeden modischen Chics, saß aber wie maßgeschneidert. Ohne die steife Uniform erkannte er ihren schlanken Oberkörper. Die Schulterklappen eines Heeresmajors mit silbernem Eichenkranz und Stern wirkten darauf fast zu breit. Doch er spürte, dass es ein Fehler gewesen wäre, sie zu unterschätzen. Ihre Willenskraft und Zähigkeit konnten sie sicher zu einer gefährlichen Gegnerin werden lassen. Lässig blies sie wieder einmal eine widerspenstige Strähne von ihrer Stirn.

»Ich denke, hier kommen wir nicht mehr weiter. Mit leeren Händen gehen wir dennoch nicht. Vielleicht hilft uns der USB-Stick weiter. Die Bierflasche ist auch ein neuer Hinweis.«

»Ganz ihrer Meinung. Die bringen wir noch zur Gerichtsmedizin.«

In seiner Tasche vibrierte das Handy. Thilo Sievers erkundigte sich, ob er die beiden abholen solle.

»Sie rufen genau im richtigen Moment an. Hatte ganz vergessen, dass der Wagen nicht hier ist«, bejahte Hartmann. »Wir laufen ihnen durch den Wald bis zur Landstraße entgegen.«

»Ist gut, Herr Hartmann. Ich mache mich gleich auf den Weg.«

Die offene, freundliche Art des Polizeianwärters war Hartmann sympathisch. Gewissenhaft verschlossen sie den Eingang und das Burgtor, schlenderten ohne Eile den Waldweg entlang. Die Flasche befand sich samt ihrem schockierenden Inhalt in einer Plastiktüte. Das Laub der Bäume schirmte die Wärme ab, so dass darunter milde Temperaturen herrschten. Die Natur schien in diesem unverhofft schönen August noch einmal alle Reichhaltigkeit des Lebens zelebrieren zu wollen, die der Wald hergab. Hummeln und Libellen schwirrten durch moosiges Unterholz, Vogelstimmen erfüllten die Luft. In den Blüten der farbenfrohen Wildpflanzen, die sich trotzig zwischen den dicken Stämmen behaupteten, gingen Bienen mit Emsigkeit ihrer Arbeit nach. Lisa Malmedy erspähte mit scharfem Blick einen Fuchs, der sich sofort ins Dickicht flüchtete, als er die menschlichen Eindringlinge witterte.

Hartmann sah den Waldbewohner nicht, sein Blick richtete sich etwas gedankenverloren auf den Weg vor ihnen, während er versuchte, die wenigen vorhandenen Indizien zusammenzufügen.

Seine Begleiterin wirkte gut gelaunt: »Glücklicherweise jagen wir nur einen Mörder, hier würden Sie wahrscheinlich nicht einmal eine Feldmaus erwischen. Das Tier war doch keine fünfzehn Meter von uns entfernt.«

»Mir fehlt eben ihr militärisch trainierter Scharfblick«, erwiderte er mit gespielter Gekränktheit. Kurz lächelten beide, ehe die Ungezwungenheit unpassend erschien, ihnen bewusst wurde, warum sie an diesem Ort waren:

Um einen Mörder zu stellen, der scheinbar sinnlos zwei Menschen förmlich zerfleischt hatte. Wenige hundert Meter vor ihnen mündete der unbefestigte Forstweg auf die Straße. Der Wald endete dort abrupt wie eine grüne Wand, aus der man ins Licht trat. Sievers hatte den silberfarbenen BMW abseits der Straße geparkt. Gleißend reflektierte der Lack die Sonnenstrahlen. Um die Klimaanlage in Betrieb zu halten, erwartete er sie mit laufendem Motor. Obwohl es sich um Malmedys Dienstwagen handelte, stieg sie ebenso wie Hartmann erneut in den Fond des BMW.

»Danke fürs Abholen.«

Hartmann hielt die Tüte mit der Flasche in die Höhe.

»Fahren Sie doch bitte später am Institut vorbei. Diese Raffinesse möchte ich möglichst schnell loswerden«, er überlegte einen Moment, »vorher würde ich mir aber gerne ansehen, wo Oberst Seyfart gewohnt hat.«

»In Ordnung. Wir müssen ja sowieso in die Stadt zurück.« Vorsichtig lenkte Sievers die Limousine auf die Straße und beschleunigte.

Nachdem sich der Wagen auf gerader Strecke befand, griff er neben sich.

»Der USB-Stick. Wir haben im Laufe des Tages die Fingerabdrücke des Opfers Henry Seyfart darauf identifizieren können.«

Hartmann nahm die Plastikhülle in Empfang, musterte den Stick darin, als könne sein Blick die Speicherzellen durchdringen.

»Schneller als erwartet, danke. Das Ergebnis ist nicht überraschend. Ist das alles?«

Sievers wirkte plötzlich unsicher.

»An Fingerabdrücken schon. Im Labor wurde allerdings noch etwas Anderes herausgefunden.«

»Ja, nun sagen Sie schon.«

»Strahlung.«

»Wie bitte?«

»Auf der Metalloberfläche des Speichersticks wurde eine erhöhte Radioaktivität gemessen.«

»Herr Sievers, nun berichten Sie doch möglichst zusammenhängend.«

»Seit einiger Zeit beinhaltet die Untersuchung von Beweismitteln auch den Nachweis von radiologischer Strahlung. Ein einfacher Test mit einem Geiger-Müller-Zählrohr.

Mithilfe des Geigerzählers wurde, warten Sie... «, der Polizeibeamte zog ein gefaltetes Blatt aus seiner Jeans,

»... eine Alpha-Strahlung von 0,9 Bequerel/pro Quadratzentimeter gemessen, die Beta- und Gammastrahlung betrug 8,00 Bequerel. Natürlich gibt es weit präzisere Geräte als unseres.«

Malmedy kam dem Staatsanwalt mit ihrer Frage zuvor.

»Unser aller Physikunterricht ist schon eine Weile her, nehme ich an. Sind die Werte gefährlich?«

»Ich bin Kommissaranwärter, kein Kernphysiker«,

dämpfte der Angesprochene die Erwartungen an seine Antwort,

»aber soweit sich die Kollegen informiert haben, liegen die Werte nicht im kritischen Bereich. Es sei denn, jemand wäre der Strahlung andauernd ausgesetzt. Andererseits überschreiten sie beispielsweise die zulässigen Grenzwerte eines Transportes von Atommüll deutlich.«

»Welche Schlussfolgerung ziehen Sie daraus?«,

drängte Malmedy den jungen Mann zur Preisgabe weiterer Informationen.

Sievers zuckte mit den Schultern.

»Welche Schlussfolgerung soll er denn daraus ziehen?«, brummte Hartmann, »Offenbar war der Speicherstick leichter radioaktiver Strahlung ausgesetzt.«

Eindringlich blickte er ihn an.

»Und der Inhalt?«

»Ich habe ihn noch nicht ausgelesen. Dachte, Sie möchten dabei sein.«

»Richtig. Dann wollen wir sehen, was Oberst Seyfart uns darauf hinterlassen hat.«

Das kompakte Notebook, das der Staatsanwalt aus einer Hülle zog, war zum alltäglichen Begleiter seiner Arbeit geworden. Nachdem er es per USB-Anschluss mit dem Stick verbunden hatte, wurde ein Ordner mit mehreren Unterdateien auf dem Display angezeigt.

»local aerial reconnaissance«, las er laut vor, »Luftaufklärung«

Nach einem Klick des Cursors öffnete sich das Verzeichnis.

»Es sind drei Bilddateien vorhanden. Alle sind als mission image daylight bezeichnet. Dahinter stehen die Ziffern I, II und III. Eine weitere Datei ist mit dem Begriff »Leviathan« überschrieben, aber sie ist leer.«

Mit dem Cursor tippte er die erste der Bilddateien an. Eine grobkörnige Landschaftsdarstellung aus der Vogelperspektive überzog den kleinen Bildschirm.

Malmedy rückte dichter an Hartmann heran, um trotz spiegelnder Sonne etwas erkennen zu können. Bei näherem Hinsehen setzten sich die unterschiedlichen Grautönungen der Pixel zur Topographie einer Gebirgslandschaft zusammen. Mehrere Gipfel und Gebirgskämme waren offenbar aus großer Höhe aufgenommen worden. Die zweite Aufnahme zeigte einen Ausschnitt der gleichen Szenerie, war jedoch detaillierter.

»Dieses Bild scheint aus geringerer Höhe aufgenommen worden zu sein.« Hartmann tippte mit dem Finger auf das Display. »Diese Linien stellen anscheinend Straßen oder Pisten dar. Ist dieses Objekt hier ein Haus?«

»Lassen Sie uns die dritte Aufnahme ansehen«, drängte Malmedy.

Der Bildausschnitt war noch weit dichter heran gezoomt als der vorhergehende und beantwortete damit Hartmanns Frage. Auf der Ebene eines Kamms war eindeutig eine Hütte oder ein kleines Haus zu erkennen.

Malmedy saß fast auf dem Schoß ihres Begleiters, als ihr schlanker Zeigefinger die dunkle Fläche des mutmaßlichen Hauses umkreiste.

»Sehen Sie diese hellen Formen daneben?«

»Natürlich. Erinnert an die Anatomie menschlicher Körper. Allerdings wären aus dieser spitzen Perspektive weder Rumpf noch Gliedmaßen zu erkennen. Es sei denn... «

»Ja, es sei denn sie stehen nicht, sondern liegen«, fiel sie ihm ins Wort.

»Mein Gott, dann sind sie alle... tot? Es sind vier Körper zu identifizieren. Interessant wäre, wo die Bilder aufgenommen wurden. Das Ganze sieht mir doch sehr nach militärischer Aufklärung aus.«

Malmedy nickte. Auf ihrer Stirn hatten sich nachdenkliche Falten ausgebreitet. Sie hielt das Notebook dicht vor ihre Augen.

»Es sind vielleicht nicht alle tot«, sie zeigte auf eine der hellen Silhouetten, »dieser Körper hat eine aufrechte Position.«

»Es könnte demnach einen Überlebenden geben. Oder diejenige Person ist später angekommen«, stellte Hartmann fest.

»Wer hat die Fotos gemacht? Ein Flugzeug, eine Aufklärungsdrohne?«, mischte sich Sievers ein, der bis dahin schweigend den Wagen über die schnurgerade Landstraße gesteuert hatte.

Es vergingen Sekunden, bis Malmedy endlich nachdenklich antwortete.

»Nein, in dem Fall würde es sich um optische Bilder handeln. Was wir hier vor uns haben, sind hingegen Aufnahmen eines Radars.«

Hartmann forschte nach: »Könnten Sie das genauer ausdrücken?«

»Ich tippe auf Satellitenradar.«

Die fragenden Blicke ihrer Begleiter ließen auch ohne weitere Nachfragen deutlich werden, dass eine Erklärung notwendig war.

»Ich bin keine Spezialistin. Aber für mich sieht das nach Radar aus. Ganz einfach gesagt, sendet der Satellit, wie im Übrigen jedes andere Radar auch, Wellen aus. Diese werden dann von Hindernissen reflektiert, woraus sich ein Geländeprofil ablesen lässt. Diese Technik reicht für die Bilder, die wir vor uns haben, allerdings nicht aus.«

»Gut, dann lassen Sie uns teilhaben an ihrem Wissen«, ermunterte Hartmann sie, fortzufahren.

»Eine Methode, die Auflösung zu verbessern besteht darin, das Ziel mehrmals aus unterschiedlichen Winkeln aufzunehmen. Außerdem werden die Strahlen in bestimmten Impulsen abgegeben. Wird das Ganze noch mit entsprechender Software nachbearbeitet, entstehen solch wunderbare Fotos wie unsere hier.«

Hartmann bohrte weiter.

»Ich nehme an, nur das Militär verfügt über diese Fähigkeiten?«

»Soweit mir bekannt ist, ja«, bestätigte sie. »Neben den amerikanischen Lacrosse-Satelliten haben vergleichbare Systeme die Russen, die Japaner und... «

»Und wer?«

»Wir. Die Bundeswehr hat vor einigen Jahren die SAR-Lupe-Satelliten in Betrieb genommen.«

Der Ermittler verdrehte die Augen. »Was heißt das denn nun wieder?«

»Es ist die Abkürzung für Synthetic Aperture Radar. Der Begriff Lupe steht für die Möglichkeit hochauflösender Aufnahmen.«

Hartmann sah ihr in die Augen.

»Wie diese hier.«

»Wie ich schon sagte, ich bin keine Spezialistin für Satellitenaufklärung. Geben Sie mir den Stick. Ich lasse ihn auswerten und informiere Sie.«

Hartmann lächelte abwehrend.

»Entschuldigen Sie, Frau Kollegin. Es handelt sich um ein mögliches Beweisstück in einem Kapitalverbrechen. Damit unterliegt zumindest das Original unserer Obhut.«

Wie zur Untermalung seiner Worte ließ er den Stick in den Plastikbeutel zurückfallen und reckte sich zu Sievers.

»Nehmen Sie ihn vorerst. Fertigen Sie drei Kopien an. Eine bekommt unsere eifrige Frau Major. Eine weitere schicken Sie zum Bundesnachrichtendienst. Irgendjemand wird uns sicher weiterhelfen. Noch etwas. Geben Sie das Original nicht aus der Hand.«

Das strahlende Gesicht des jungen Kriminalbeamten konnte die Freude über den Vertrauensbeweis nicht verleugnen.

»Sie können sich darauf verlassen.«

Major Malmedy ließ ihren Blick kopfschüttelnd durch die sommergrüne Landschaft schweifen.

Hartmann wandte sich erneut Sievers zu.

»Wie weit ist die KTU mit unserem Abdruck aus dem Verlies?«

Er spürte Unruhe in sich aufsteigen. Sie fanden Hinweise, doch worauf? Von den dürftigen Fakten passte bisher nichts zusammen.

»Nun, die Fotos waren nicht sehr aussagekräftig. Die Beamten der Spurensicherung werden sich das mit Herrn Bolgin vor Ort ansehen müssen. Aber das werden sie erst morgen schaffen. Angesichts der Tiefe des Abdrucks und der Größe deutet wohl alles auf einen schweren Koffer aus Kunststoff oder Metall hin, mit dem technische Geräte oder Ähnliches transportiert werden.«

Hartmann bremste seine Ungeduld. Natürlich hatte Sievers recht. Sie hatten die Spur erst vor wenigen Stunden entdeckt und schon erwartete er definitive Ergebnisse. Im Übrigen bestätigte sich mit dem von Sievers Gesagten, was er bereits vermutet hatte. Viel war das jedoch nicht. Seufzend lehnte er sich zurück, scrollte im Nummernspeicher seines Handys auf »Hauptkommissar Bolgin«. Die Begrüßung fiel kurz aus.

»Bitten Sie Frau Yilmaz um Untersuchung der Leichname auf radioaktive Strahlung. Das gleiche gilt für den Tatort in der Burg und das erweiterte Umfeld.«

Bolgin triumphierte.

»Was meinen Sie, was ich veranlasst habe, nachdem unsere Leute die Strahlung auf dem Speichermedium entdeckten?«

»Jetzt begreife ich, warum Sie Hauptkommissar sind. Informieren Sie mich doch bitte, wenn es Ergebnisse gibt. Egal, wann es soweit ist.«

Vor der blitzsauberen Autoscheibe jagte ein Roggenfeld vorbei. Die reifen Ähren neigten sich im Sommerwind. Die Ernte war nicht mehr weit. Weit entfernt schien der blaue Himmel die Felder zu berühren. Die Sonne hatte ihren Zenit bereits weit überschritten.

Eigentlich wussten sie bisher gar nichts. Der Grund für den Tod zweier Menschen lag in einem Nebel, der immer dichter wurde. Lisa Malmedys gedankenverlorener Blick reichte durch die Scheibe ebenfalls weit in die Ferne. Für Minuten der Schweigsamkeit hing jeder seinen Gedanken nach. In diesem Zustand verging die Fahrt unerwartet schnell.

Schon deuteten sich die Ausläufer der Stadt Koblenz an, in der alle maßgeblichen Behörden des Landkreises zu finden waren. Darunter die Staatsanwaltschaft, die Polizei und natürlich das Gerichtsmedizinische Institut. Es genoss ungeachtet seiner überschaubaren Größe unter Wissenschaftlern des Fachs einen vorzüglichen Ruf.

Die Stadt war gegen Ende des Zweiten Weltkrieges durch Bombardements erheblich zerstört worden, bestand bis auf den kläglichen Rest eines historischen Stadtkerns hauptsächlich aus einfallslosen Bausünden der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Anhand der zahllosen, teilweise überdimensioniert wirkenden Schnellstraßen, die sich durch die Industrieansiedlungen wanden, war die Bedeutung zu ermessen, die die Stadtplaner der motorisierten Mobilität damals eingeräumt hatten. Eine unscheinbare westdeutsche Stadt mittlerer Größe. Ihren dennoch unbestreitbaren Reiz verdankte sie hauptsächlich der Tatsache, dass sie von den beiden großen Flüssen Rhein und Mosel eingefasst war.

Zügig lenkte Sievers den Wagen durch die Innenstadt, die von Einkaufszentren und Wohnsiedlungen dominiert wurde. Nachdem der Ortskern durchquert war, änderte sich alsbald der Charakter. Einfamilienhäuser und schmucke Villen schmiegten sich in Wohnstraßen, die von zahlreichen kleineren Grünanlagen gesäumt waren. Nach weiteren Kilometern durch entspannte Urbanität kündigte sich der Stadtrand mit dem üblichen, unübersehbar gelben Ortsausgangsschild an. Der BMW rollte jetzt auf einer schnurgeraden Allee dahin. Nach wenigen hundert Metern lenkte Thilo Sievers, der sich offenbar bestens auskannte, scharf ein.

Eine Zugangsstraße führte zum Militärstützpunkt, der durch ein Kiefernwäldchen verdeckt wurde und von der Straße aus nicht zu sehen war. Hinter einer wenig beeindruckenden Schrankenanlage hing die schwarz-rot-goldene Flagge schlaff am Fahnenmast. Die Liegenschaft war nach General Fellgiebel, einem eher unbekannten Mitglied des militärischen Widerstandes gegen Hitler benannt. Sein Name prangte in angerosteten gotischen Lettern an der Backsteinmauer. Mannshoch umgab sie das weitläufige Areal, auf dem keinerlei Zeichen militärischer Bereitschaft zu entdecken war. Der Soldat vor dem kleinen Kontrollhaus, ein junger Obergefreiter, trug den Riemen seines Sturmgewehrs betont lässig über der Schulter. Aus seinen Zügen sprach die geballte Langeweile des monotonen Wachdienstes.

Sievers ließ den Wagen vorsichtig vor die Schranke rollen. Der Soldat, der ihn bereits erwartete, wirkte nur unwesentlich jünger als er. Der vorgezeigte Kripo-Dienstausweis schien ihn nicht sonderlich zu beeindrucken.

»Guten Tag. Wir ermitteln im Mord an Oberst Seyfart.«

»Verstehe, aber ohne Genehmigung kann ich Sie nicht durchlassen. Da muss ich erst beim wachhabenden Offizier rückfragen.«

Seine Antwort erschien korrekt, aber etwas schroff. Im gleichen Augenblick öffnete sich die hintere, leicht getönte Autoscheibe. Major Malmedy sah den jungen Mann wohlwollend, aber durchdringend an, ohne herablassend zu wirken.

»Obergefreiter, das geht schon in Ordnung. Ich werde uns bei ihrem kommandierenden Offizier anmelden.«

Mit unübersehbarer Überraschung in den Augen wich der Angesprochene ein Schritt zurück, fing sich aber schnell und führte seine flache rechte Hand neben den Helm.

»Entschuldigen Sie, Frau Major. Mir war nicht bekannt... «

Mit schneller Handbewegung erwiderte sie den militärischen Gruß.

»Ihr Verhalten war vollkommen korrekt. Sie können jetzt die Schranke öffnen.«

»Jawohl, Frau Major.«

Sekunden später öffnete sich der Schlagbaum. Sievers steuerte die Limousine über die breite Straße des Stützpunkts. Robert Hartmann hatte die natürliche, ungezwungene Autorität gespürt, die von Malmedy ausgegangen war. In der Männerdomäne der Bundeswehr war es sicher nicht immer leicht für sie. Doch hatte sie dadurch offenbar an Stärke gewonnen.

Hinweisschilder erleichterten die Orientierung zwischen den verschiedenen Gebäuden. Unterkünfte wechselten sich mit Verwaltungsgebäuden und großen Hallen ab. Vermutlich hatten sie früher während des Kalten Krieges einmal Panzerfahrzeuge oder anderes Großgerät beherbergt. Inzwischen standen sie leer und verwitterten. Unkraut nutzte jeden Spalt der brüchigen Mauern. Einige Fenster waren zerbrochen. Nach kurzer Fahrt durch die deprimierende Kulisse des Niedergangs erreichten sie einen Teil der Anlage, der weiterhin bewirtschaftet wurde. Hier waren die Gebäude saniert worden. Die Fassaden leuchteten in freundlichem Gelb. An einem schlichten Wegweiser stoppte der Polizist den Wagen. »Offiziersquartiere« nach rechts, »Kasernenkommandantur« links.

Malmedy bewegte sich auf vertrautem Terrain.

»Ich melde uns beim Kommandanten an. Nehmen Sie doch schon Seyfarts Wohnung in Augenschein.« Es klang nicht wie ein Vorschlag. Nachdem ihm kein Grund einfiel zu widersprechen, nickte Hartmann und stieg aus. Durch das geöffnete Wagenfenster blickte Sievers mit fragendem Blick zu ihm auf.

»Kommen Sie mit. Vier Augen sehen bekanntlich mehr. Außerdem sitzen Sie schon lange im Auto. Zeit für etwas Abwechslung.«

»Da haben Sie recht.«

Hinter den beiden näherten sich die gleichmäßigen Laufschritte vieler Stiefelpaare. Eine Gruppe Fallschirmjäger quälte sich unter dem strengen Blick ihres Unteroffiziers durch die Sonne. Unter den Gefechtshelmen sah Hartmann junge, schweißüberströmte Gesichter. Sie zeichneten sich dennoch durch eine gewisse Entschlossenheit aus. Vermutlich kehrten die Soldaten von einem Geländelauf oder einer Übung zurück Sie mussten unter den dunklen Tarnuniformen furchtbar schwitzen.

»Haben Sie das auch hinter sich?« Hartmann stellte sich den jungen Polizeianwärter als Wehrpflichtigen vor.

»Habe ich«, erwiderte der nicht ohne Stolz, »damals bei einem Panzerbataillon. Etwa fünfzig Kilometer entfernt. Und Sie?«

»Ja, sicher.« In der Betonung lag etwas Abschließendes, das keine weiteren Fragen zuließ.

Die Wohnungen der Offiziere befanden sich in einem dreistöckigen Komplex, wie man ihn auch außerhalb militärischer Liegenschaften antraf. Die Fassade war auch hier unlängst restauriert worden. Alles wirkte sauber und gepflegt, aber auch sonderbar verlassen.

»Irgendwie recht ausgestorben hier, was meinen Sie?« Hartmann öffnete die Haustür und ließ dem Polizeianwärter den Vortritt.

»Scheinbar alle im Dienst.«

»Möglich. Hier ist es.« Die Wohnung des Obersten Seyfart lag im Erdgeschoss und war nicht zu übersehen. Kreuzförmig spannte sich rot-weißes Plastikband über die Wohnungstür.

Militärpolizei - Feldjäger - Zutritt untersagt.

Ohne der Absperrung Beachtung zu schenken, drückte Hartmann die Klinke. Die unverschlossene Tür überraschte ihn. Eine schmucklose Unterkunft erwartete die Ermittler.

»Für einen hohen Offizier ganz schön dürftig«, entfuhr es Sievers.

»Sie haben recht, ein verkannter Innengestalter war er nicht.«

Behutsam, aber gründlich sahen sie sich in den drei Räumen um, die von einem kurzen Flur abgingen.

»Mit der Ordnung nahm er es privat auch nicht so genau.«

Nachdem sie Handschuhe übergestreift hatten, hob Hartmann vorsichtig einige Kleidungsstücke von einem beigefarbenen Sofa, ließ sie jedoch wieder fallen. Überall lagen Haufen von Wäsche, Zeitschriften und Büchern. In der kleinen Küche türmten sich abgewaschene Teller zu waghalsigen Stapeln.

»Nicht dreckig, aber unordentlich«, bestätigte er. Sein Vorgesetzter überhörte ihn. In sich gekehrt stand Hartmann im chaotischsten der drei Räume. Er hatte offenbar als Arbeitszimmer gedient. Ein ausladender Glastisch nahm die gesamte Fensterseite ein. Er fügte sich stilistisch unvorteilhaft in eine Anzahl weiterer Möbelstücke ein. Der halb gefüllte Aschenbecher darauf wurde von einer Vielzahl Bücher und Hefte eingerahmt, die wahllos herumlagen. Teilweise in kyrillischer Schrift oder englischer Sprache schien es sich dabei vorwiegend um militärische Fachliteratur zu handeln.

Der Ermittler hielt inne.

Wir übersehen das Wesentliche. Etwas ist hier anders, als es scheint.

Hartmann stocherte weiter ziellos in der Ansammlung von Schriftsammlungen und anachronistisch anmutender Disketten herum, als ihm die glänzende Unterseite einer DVD auffiel. Sie ragte aus einem zerfledderten Atlas. Zahllose Bücher und Speichermedien lagen lose herum. Dennoch öffnete er das großformatige Buch. Die Oberseite der DVD war mit fremdländischen Schriftzeichen beschrieben und verdeckte teilweise eine abgegriffene Karte des südasiatischen Raumes. Sofort stellte sich wieder Konzentration ein. Der dicke Atlas stammte augenscheinlich aus einer Epoche, in der Internet-Recherchen und Online-Bibliotheken noch unbekannte Begriffe dargestellt hatten. Die umfangreichen Länderbeschreibungen wirkten altmodisch. Bläulich schimmernd hob sich die Disk von der vergilbten Färbung der Buchseite ab. Bei der kunstvoll gerundeten Schrift auf der Vorderseite handelte es sich zweifelsfrei um Arabisch. Deutlich zogen sich einige Kratzer über die Oberfläche.

Sievers‘ ungewohnt laute Stimme hallte durch die Räume.

»Das sollten Sie sich ansehen. Hier vorne.«

Hartmann legte die DVD vorerst zurück in die Doppelseite, auf der sich die unendlichen Weiten der asiatischen Landmassen bis an die Ozeane ausbreiteten.

Neben der Garderobe am Eingang stand eine Kommode, deren untere Fächer Schuhe enthielten. Die oberen Schubläden boten zusätzlichen Stauraum. Mit triumphierendem Gesichtsausdruck erwartete Sievers ihn davor.

»Seyfart hat einige Briefe aufbewahrt. Darunter habe ich das hier gefunden.« Bedächtig hielt er seinen Fund vor dem erstaunten Staatsanwalt in die Höhe. Auf billigem Recyclingpapier waren grob ausgeschnittene Buchstaben aufgeklebt. Es musste viel Zeit gekostet haben, die Ziffern unterschiedlicher Größe aus Zeitungen und Illustrierten auszuschneiden und wieder aneinanderzufügen. Dennoch erinnerte das Ergebnis eher an die ungeliebte Bastelarbeit eines Kleinkindes als an das Werk eines Erwachsenen mit klarem Verstand.

Vorsichtig nahm er das Beweisstück entgegen und legte es vor sich auf die Kommode. Er spürte den erwartungsvollen Blick des Polizisten und hatte gleichzeitig das Gefühl, etwas Anerkennendes sagen zu müssen.

»Gute Arbeit, Herr Sievers.«

Er konnte diese Phrase nicht leiden. In diesem Augenblick fiel ihm jedoch nichts Treffenderes ein, um dem jungen Mann seine Wertschätzung mitzuteilen. Bevor Hartmann die zusammengefügten Worte las, wendete er das Blatt bedächtig zwischen den Händen und schob es zwischen Daumen und Zeigefinger. Unbedingt wollte er sich einen Eindruck der äußeren Erscheinungsform des Schreibens verschaffen, ohne dabei bereits vom Inhalt beeinflusst zu werden. Das graue, dicke Papier vermittelte den Eindruck schlechter Qualität. Es erinnerte ihn unangenehm an das billige Toilettenpapier schäbiger Autobahnraststätten. Er behielt den Vergleich für sich.

»Fühlen Sie, grobporig und einfach. Drucken ließe sich darauf nichts, taugt höchstens als Einkaufszettel. Die Buchstaben sind alle schief aufgeklebt. Die Groß- und Kleinschreibung passt nicht ansatzweise. Ein Ordentlichkeitsfanatiker scheint auch unser Hobbybastler nicht zu sein.«

Sievers rieb etwas unkoordiniert auf dem Papier herum.

»Richtig. Außerdem wurde mehr Klebstoff verwendet als benötigt. Deswegen ist das Ganze so steif geworden. Was halten Sie vom Inhalt?«

Der Staatsanwalt las die wirr zusammengefügten Worte laut vor:

»bAld Ist ZAhlTaG HeRr ObersT!!
DachTeN sie wirkLich sIe WERdeN vErSChOnt?
LEIden werdEn sIe wie ich GeliTTen haBe.
BlutEn Werden Sie wiE AndEre für sie GeblUtet hAben!
DaS ist kEin ScherZ, sIE weRden SehEn. ihR eiGENes BlUT WiRD das LEtzTe sEIn WAs sIe sEheN. SCHmeRZ wirD dAs lETZte SeIn waS SiE FühLEN
iCh haBE nIchTs MeHr ZU verlIeRen«

Er ließ die letzte Silbe bedeutungsschwer ausklingen, starrte weiter auf das Pamphlet. Dabei war ihm förmlich anzusehen, dass er über irgendetwas angestrengt grübelte. Seine Antwort wirkte zögerlich:

»Klingt auf den ersten Blick recht deutlich.« Er hielt inne, ohne den Blick abzuwenden.

»Etwas passt nicht. Genau genommen stören mich zwei Sachen.«

»Was meinen Sie?«

»Dieses Machwerk ist in Art und Herstellung unsauber, bestenfalls improvisiert. Denken Sie daran, was Frau Yilmaz über die Ausführung des Mordes an Oberst Seyfart gesagt hat. Wer oder was auch immer ihn getötet hat, ist dabei sehr kaltblütig, geradezu präzise zu Werke gegangen. Glauben Sie, diese verunglückte Bastelei passt dazu?«

Die Frage war rhetorischer Natur. Der Beamte schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Mag sein. Andererseits ist kaum eine eindeutigere Mordankündigung denkbar. Der undifferenzierte Hass, der daraus spricht.

Leiden werden Sie... Bluten werden Sie... Das Ergebnis haben wir schließlich gesehen.«

»Da kann ich nicht widersprechen, mein lieber Sievers. Damit haben Sie unzweifelhaft recht. Dennoch, das passt schlecht zusammen.«

»Und die zweite Sache?«, forschte der Kriminalanwärter.

»Was?«

Hartmann war aufgrund mehrerer Stimmen vor dem Haus kurzzeitig abgelenkt. Er ließ den Blick durch das übersichtliche Treppenhaus schweifen. Nachdem sich die Stimmen entfernt hatten, wandte er sich wieder Sievers zu.

»Was stört Sie noch an dem Schreiben?«, insistierte dieser.

»Nicht an dem Schreiben an sich. Nur, dass wir es hier finden, mutet doch eigenartig an.«

»Warum, wie meinen Sie das?«

Der Staatsanwalt sah sich um. »Haben Sie den Eindruck, wir sind die Ersten, die sich seit dem Mord in dieser Wohnung umsehen? Falls jemand vor uns hier war, hätte er den Brief wohl kaum übersehen. Und warum wurde dieses wichtige Beweisstück dann hier zurückgelassen?«

»Ich weiß nicht. Immerhin hat die Militärpolizei den Tatort versiegelt.«

Hartmann sah für einen kurzen Moment unter den wilden Locken eine Emotion aufblitzen, die er einzuordnen versuchte. War der junge Polizist enttäuscht über seine Andeutung? Oder war es die Überraschung darüber, dass der Tatort möglicherweise schon durchsucht worden war?

Er glaubte, etwas Aufmunterndes sagen zu müssen.

»Trotzdem gut aufgepasst. Ob jemand außer uns in dieser Sache ermittelt, werden wir jetzt nicht klären können. Wir sollten aber die Augen offen halten.«

Er resümierte, was er soeben gesagt hatte, begriff dabei erst die Tragweite. Jemand außer uns...

Was rede ich für einen Unsinn? Wer sollte noch daran Interesse haben? Das Verteidigungsministerium ist bereits in unsere Ermittlungen eingebunden. Und überhaupt, wir sind trotz allem immer noch ein Rechtsstaat. Verschwörungstheorien sind fehl am Platz.

Während er überlegte, ob er seine Anschuldigungen gegen ominöse Unbekannte relativieren sollte, waren Schritte zu hören. Sekunden später wurde kraftvoll die Eingangstür des Mehrparteienhauses aufgestoßen. Lisa Malmedy schritt mit tatkräftigem Gesichtsausdruck auf die beiden Ermittler zu. Sie schien guter Stimmung zu sein.

»Meine Herren.«

»Tag, Frau Major«, erwiderten die Männer wie mit einer Stimme.

»Klappt gut inzwischen, haben Sie das eingeübt?«, lachte sie.

»Nein, ganz zufällig.« Hartmann war wieder ernst geworden.

»Ich habe meine Wirkung anscheinend unterschätzt. Aber genug davon. Ich hatte ein interessantes Gespräch mit General Weidner, dem Kommandanten dieses Stützpunktes.«

Sie sprach die Worte hastig. Ihre leicht geröteten Wangen unterstützten den Eindruck, sie wolle unbedingt etwas mitteilen. Doch sie besann sich, fragte fast beiläufig: »Haben Sie in der Wohnung etwas gefunden, dass uns weiterbringt?«

»Wir sind noch nicht mit dem ganzen Gerümpel fertig. Die Behausung ihres Offizierskameraden ist nicht eben ordentlich. Demnach dauert das Ganze etwas länger. Der Kollege hat immerhin ein wichtiges Beweisstück gefunden, ohne Übertreibung.«

»Was ist es? Nun sagen Sie schon.«

In diesem Moment erschien die uniformierte Ermittlerin Hartmann wie ein ungeduldiges Mädchen. Unruhig taxierte ihr Blick abwechselnd die Männer. Ein wenig genoss er die seltenen Augenblicke, in denen er sie aus der Reserve locken konnte.

»Das kann er ihnen gleich selbst berichten. Aber erzählen Sie doch bitte zuerst. Dann kann ich anschließend die Sache hier beenden.«

Mit einer wegwerfenden Handbewegung zeigte er auf die Einrichtung. Malmedy deutete einen Schmollmund an, um seiner Bitte dann doch seufzend nachzukommen.

»Schön, wie Sie wollen. Glücklicherweise kenne ich Herrn Weidner ein wenig von früher. Er war einer der Dozenten an der Militärakademie in München. Inzwischen ist er zum Brigadegeneral befördert worden. Wie dem auch sei, ich habe ein paar interessante Dinge erfahren. Dafür musste ich ihm allerdings zusichern, dass er als Quelle nicht genannt wird.«

Sievers wandte sich vorsichtig zu Hartmann, warf flüsternd ein:

»In einem Mordprozess dürfte das schwer möglich sein.«

Lisa Malmedy, der sein Einwand nicht entgangen war, zischte aufgeregt: »Wollen Sie nun hören, was General Weidner mir anvertraut hat, oder nicht?«

Hartmann bedeutete dem Kriminalanwärter, seine Kritik vorerst nicht weiter zu verfolgen.

»Sie haben unsere volle Aufmerksamkeit. Bitte fahren Sie fort.«

»Gut. Nach dem Gespräch mit dem General konnte ich sogar einen kurzen Blick in die Personalakte des Opfers werfen. Ich fasse zusammen. Tatsache ist, dass seine dienstlichen Beurteilungen in der letzten Zeit immer negativer wurden. Er soll zunehmend seine Pflichten vernachlässigt haben. Anfangs wurde ihm anscheinend relativ freie Hand gelassen. Er hatte wohl einige, nun ja besondere Aufgaben. Allerdings schien irgendwann wochenlang keiner mehr gewusst zu haben, wo sich Henry Seyfart eigentlich aufhielt.«

»Wo soll er schon gewesen sein? So groß ist der Stützpunkt hier auch nicht. Vielleicht war er im Urlaub«, unterbrach Robert Hartmann etwas zu abgeklärt ihren Vortrag.

Malmedy ließ eine kurze, spannungssteigernde Pause, bevor sie auftrumpfte:

»Tja, wenn er hier gewesen wäre. Nur ist er erst vier Tage vor seinem Tod aus Afghanistan nach Deutschland zurückgekehrt. Was er dort getan hat, liegt völlig im Dunkeln. Seine Akte enthält jedenfalls kein Material darüber. Sicher ist, er gehörte nicht zur normalen ISAF-Truppe.«

»Und was meint dieser General Weidner dazu?«, mischte sich Sievers ein.

»Sagt, er wüsste nichts über diese Zeit. Der Oberst sei von Oben abkommandiert worden.«

»Von Oben«, äffte Hartmann nach. »Wer ist denn Oben

Hinter seiner Stirn spürte er leichte Kopfschmerzen und im Magen ein starkes Hungergefühl. Seit dem Morgen hatte er nichts gegessen. Vielleicht strapazierte auch etwas Anderes seine Nerven. Er wurde das Gefühl nicht los, wie eine Puppe an dünnen Seilen zu hängen. Unbekannte zogen in verschiedene Richtungen daran. Er war es nicht, der die Situation bestimmte. Jemand spielte mit ihnen, schien ihr Vorgehen zu kontrollieren. Er hasste das Gefühl, nicht Herr der Lage zu sein.

»Hören Sie. Beim Militär gibt es nun einmal eine Hierarchie. Sonst funktioniert das Ganze nicht. Auch der General hat Vorgesetzte und die wiederum auch«, belehrte ihn die Soldatin, jetzt ebenfalls mit angespannter Stimme.

Neben der Haustür befand sich ein Fenster, das zur besseren Durchlüftung ein Spalt weit geöffnet war. Zwei Wespen flogen hindurch, umkreisten sich spielerisch. Nervöses Summen erfüllte den Eingangsbereich. Ihre uralten Instinkte hatten die Insekten nicht davor bewahrt, in die Falle zu gehen. Sie würden den Weg in die Freiheit nicht wiederfinden und erschöpft auf irgendeinem Fensterbrett verenden. Zuvor flögen sie in verzweifelter Suche nach dem Ausweg über Stunden ebenso unermüdlich wie sinnlos gegen das Glas.

Hartmann verfolgte ihre Flugbewegungen und stellte überrascht fest, dass sich hinter dem Fenster allmählich Dämmerung einstellte. Sie waren schon länger hier, als er gedacht hatte.

»Und weiter?«, nahm er das Gespräch wieder auf.

Ihr Ton wurde zaghafter. »Es gibt noch etwas. Weidner wusste es nur zufällig.« Sie zögerte. »Warum auch immer er in Afghanistan war, Oberstleutnant Revers war mit dabei.«

»Ihr Chef? Na der macht mir Spaß. Ich dachte, er kannte das Opfer kaum?«

Malmedy klang jetzt beteuernd ehrlich. »Davon wusste ich nichts. Das können Sie mir glauben.«

»Glauben? Den verliere ich hier allmählich.« Nachdenklich drehte sich Robert Hartmann um, starrte auf das Parkett des kleinen Flurs. Er betrat erneut das Durcheinander des Arbeitszimmers. Der Atlas lag aufgeschlagen auf Stapeln von Büchern, wo er ihn zurückgelassen hatte. Mit seiner kleinen Digitalkamera fotografierte er die Situation so, wie er sie vorgefunden hatte. Plötzlich stand Malmedy in der Tür.

»Na, schon fündig geworden in all dem Chaos?«

Er hielt die Disk in die Höhe. Sie wirkte nicht beeindruckt.

»Eine DVD. Scheint mir nicht die einzige dieser Art im Raum zu sein.«

Ohne auf den spöttischen Ton ihrer Stimme einzugehen, wies er auf die Schriftzeichen darauf.

»Richtig, aber es ist die einzige, die arabisch beschriftet ist. Außerdem ist sie zerkratzt und liegt in einem Atlas.«

»Qualifizieren sie diese Tatsachen schon als wichtiges Beweisstück?«, bohrte sie weiter.

»Nein, natürlich nicht. Ich werde sie dennoch mitnehmen. Richten Sie Sievers doch bitte aus, er möge die Untersuchung aller weiteren Datenträger veranlassen. Bisher ist meines Wissens nur der PC des Opfers mitgenommen worden.«

»Ja, ohne Ergebnis. Die Festplatte enthielt nichts von Bedeutung«, entgegnete sie.

»Genau. Deswegen müssen wir nun etwas tiefer graben.«

Behutsam verstaute er die Disk in einer Papierhülle. Malmedy hatte recht, es war eine von vielen im Raum. Dennoch brannte er darauf, den Inhalt zu sehen. Falls sie zu stark beschädigt wäre, würde nur eine professionelle technische Analyse helfen.

Es gab vermutlich tausend Erklärungen, warum Seyfart sie in den Atlas gelegt haben könnte. Zu viele, um zu mutmaßen.

Wenn ich wenigstens das Arabisch entziffern könnte. Wir verlieren Zeit.

Hartmanns Blick wanderte über die abgegriffene Doppelseite. Auf einer Landkarte wurden in großem Maßstab hauptsächlich der Iran, Irak, Afghanistan und Pakistan im Relief dargestellt. Das winzige Bangladesch schien zwischen seinen großen Nachbarn zu versinken. »All die bezaubernden Urlaubsländer«, murmelte Hartmann. Von den angrenzenden asiatischen Kolossen Indien und China waren nur Randprovinzen erkennbar. Sie wurden zusätzlich auf separaten Seiten abgebildet.

Vermutlich an die tausend Bücher und Zeitschriften lagen hier durcheinander. War es da wahrscheinlich, dass Seyfart dieses Buch und diese Seite absichtlich ausgewählt hatte? So unmöglich das auch erschien, klemmte er sich dennoch den schweren Atlas unter den Arm, bevor er den Raum verließ.

Urplötzlich musste er an Silvana denken. Im nächsten Moment verabscheute er sich dafür. Welcher verrückte Teil seines Unterbewusstseins rief ihm gerade jetzt diese offene Wunde in Erinnerung?

Sie ist es nicht wert, zurückzublicken. Nicht mehr.

Wahrscheinlich dachte sie an alles Mögliche außer an die letzten fünf Jahre Ehe. Die Gedanken stießen ihn ab.

Mit dieser Frau wollte ich mein Leben verbringen. Was wäre das für eine Verschwendung gewesen.

Seine Härte diente hauptsächlich der Selbstvergewisserung. Sich die Verletzung einzugestehen, die sie hinterlassen hatte, empfand er als schmerzhafter. Die Wahrheit war, dass er trotz allem begann, sie zu vermissen. Ihr Lächeln, das ihn nach einem langen Tag erwartete, sobald er die Haustür aufschloss. Ihr verletzlicher Gesichtsausdruck. Wie er sie in den Arm genommen hatte. Warum waren die guten Zeiten präsenter als die schlechten, wenn es zu spät war? Sein Herzschlag beschleunigte sich, obwohl er dagegen ankämpfte. Schließ damit ab. Vergiss sie.

Vergiss es!

Malmedy stand noch immer mit Sievers in der kleinen Diele und diskutierte. Offenbar hatte sie Hartmanns abwesenden Gesichtsausdruck wahrgenommen.

»Alles in Ordnung?«

»Natürlich«, erwiderte er ohne Überzeugungskraft. »Wollen wir gehen?«

Sie folgten ihm nach draußen. Hartmann registrierte schmunzelnd, wie höflich der Kriminalanwärter Lisa Malmedy den Vortritt ließ und ihr die Tür aufhielt. War es beruflicher Respekt oder beeindruckte ihn ihre Ausstrahlung? Ihre etwas burschikose Anziehungskraft war unbestreitbar. Sie musste immerhin über zehn Jahre älter sein als der junge Mann.

Facettenreiche Orangetöne verklärten den frühen Abendhimmel. Noch immer herrschten dabei milde Temperaturen. Wer konnte, würde diesen Tag unter freiem Himmel bei einem Glas Wein ausklingen lassen.

Der Wind trug sechs Schläge einer entfernten Kirchturmuhr herüber. Sievers steuerte den Wagen über die breite Betonstraße des Heeresstützpunktes. Der wachhabende Soldat öffnete die Schranke, als er den BMW von Weitem erkannte. Er grüßte, während sie das Tor passierten. Hartmann atmete vernehmbar aus, während er erneut sein Notebook einschaltete. Sievers drehte sich zu ihm.

»Sollten wir die DVD nicht auch zuerst auf Fingerabdrücke untersuchen lassen?«, warf Sievers ein.

»Grundsätzlich haben Sie recht. In diesem Fall wette ich allerdings meine Pension darauf, dass wir nur Spuren des Opfers finden würden.«

Er legte die DVD in das vorgesehene Laufwerk ein, das seitlich im kompakten Gehäuse untergebracht war.

Aus diversen Lautsprechern der Limousine erklangen währenddessen die eingängigen Akkorde eines Achtziger-Hits von Men at Work. Das Lied Down Under erinnerte Robert Hartmann an die Bar in Berlin-Mitte. Dort hatte er den Anruf entgegengenommen, der ihm diesen schwierigen Fall eingebrockt hatte. Der Moment erschien ihm bereits weit entfernt.

Das DVD-Laufwerk gab surrende Geräusche von sich. Nach wenigen Sekunden präsentierte das Display eine Auflistung der gespeicherten Daten. Die diversen Kratzer hatten die Oberfläche des Datenträgers offenbar nicht ernstlich beschädigt. Erleichtert atmete er aus. Der Computer identifizierte zwei Ordner. Nachdem er die Buttons angeklickt hatte, wurde ihr Inhalt erkennbar. An den Endungen der Dateien war zu sehen, dass es sich um Dokumente und Bilddateien handelte. Als er sich durch die Textdatei gescrollt hatte, stellte sich Enttäuschung ein. Auch hier reihten sich ausschließlich arabische Schriftzeichen aneinander. Keiner von ihnen konnte ihre Bedeutung ermessen. Begierig, wenigstens den Bilddateien neue Erkenntnisse entnehmen zu können, öffnete er sie. Alle Fotos waren Unterwasseraufnahmen. Sie zeigten verschiedene Ansichten eines wenig ästhetisch anmutenden Tieres.

»Was ist denn das?«, entfuhr es ihm.

»Für mich sieht das nach einer Schlange aus. Anscheinend haben Sie eine Naturdokumentation beschlagnahmt«, spottete Malmedy amüsiert. Robert Hartmann bedachte sie mit einem humorlosen Blick und drehte den Laptop zu Sievers. Abwechselnd blickte der Polizist auf die Straße und das leuchtende Display.

Vor dem leicht verschwommenen Hintergrund des Wassers war der längliche, schwarze Körper der Kreatur aus unterschiedlichen Perspektiven festgehalten worden. Bevor Sievers seine Meinung über die Herkunft des Tieres abgab, schien er sich vollkommen sicher sein zu wollen.

»Es muss sich um einen seltenen Aal handeln. Diese Art ist mir allerdings unbekannt.«

Malmedy warf einen verächtlichen Blick zu ihm hinüber. Ihre Erwiderung klang altklug.

»Wie kommen Sie denn darauf? Ich bin keine Biologin, aber nach meiner Ansicht verläuft der Kopf eines Aals in spitzer Form, während dieser hier platt ausläuft. Es kann sich um eine Wasserschlange oder Ähnliches handeln.«

»Ganz sicher bin ich mir nicht. Aber als Angler erkenne ich darin eher einen Aal«, verteidigte er seine Ansicht. »Es sind eindeutig Ansätze von Brustflossen zu erkennen. Keine Wasserschlange hat eine zylindrische Körperform. Die Form des Kopfes gibt mir aber auch Rätsel auf.«

Hartmann unterbrach die Kontroverse.

Interessant zu sehen, wie er seinen Standpunkt trotz Malmedys einschüchternder Attitüde beibehält.

»Um was für ein seltenes Geschöpf es sich auch immer handelt, wir werden es herausfinden. Mir stellt sich eher die Frage, ob das alles überhaupt mit unserem Fall zu tun hat. Ich muss zugeben, etwas Ergiebigeres erhofft zu haben.«

»Was haben Sie erwartet, ein unterzeichnetes Geständnis?«, erwiderte Malmedy angriffslustig.

»Ja, Frau Admiral. Am besten mit ihrer Unterschrift«, konterte Hartmann.

Er griff zum Handy, wählte die gespeicherte Nummer seines Kollegen. Es dauerte lange, bis Zimmermann den Anruf annahm. Hartmann unterrichtete ihn über die bisherigen Ermittlungsergebnisse. Er hörte interessiert zu ohne zu unterbrechen. Neue Erkenntnisse hatte er nicht beizutragen. Auch Bolgin hatte sich nicht bei ihm gemeldet. Hartmann verabschiedete sich, als ihm etwas einfiel:

»Bist Du noch dran, Peter?«

»Bin ich. Hast Du etwas vergessen?«

»Ja, und zwar dich zu fragen, wo ich heute schlafen soll. Im »Ritterhof« konnte ich nur eine Nacht bleiben. Ab heute ist das Hotel dank irgendeiner Veranstaltung ausgebucht. Bei diesem Wetter dürfte es spontan in den anderen Unterkünften ebenfalls schwierig werden, etwas zu bekommen. Hast Du einen Vorschlag? Ich wollte möglichst nicht im Auto übernachten.«

Es entstand eine Pause, in der sein Gegenüber nachdachte.

»Mit den Hotels hast Du wahrscheinlich recht. Aber warte. Ich kann dir etwas anderes anbieten. Wir haben ein kleines Wochenendhaus. Dort können wir dich einquartieren, wenn Du einverstanden bist. Es liegt sehr ruhig.«

»Danke für das Angebot, warum nicht.«

Hartmann hatte eher mit der Offerte gerechnet, im Wohnhaus seines Kollegen zu übernachten. Doch diese Möglichkeit erwähnte Peter nicht. Robert Hartmann war darüber erleichtert. Sein Bekannter hatte anscheinend irgendein Problem mit seiner Ehefrau, in das er sich ungern einmischen wollte. Das Ferienhaus erschien als ideale Lösung des Problems.

»Wo liegt es?«

»In der Nähe von Alken. Ein Dorf, ungefähr zwanzig Kilometer von hier entfernt. Folge einfach der Bundesstraße 49 entlang der Mosel. Es steht etwas abseits auf einem Hügel mitten im Wald. Schöne Aussicht. Vielleicht erholst Du dich dort von den Strapazen.« Zimmermann lachte. »Komm einfach vorbei, dann fahren wir zusammen hin und ich zeige dir alles.«

»Gut, kann aber dauern. Wir sind noch unterwegs.«

»Kein Problem. Bis später, Robert.« Er legte auf.

Hartmann wandte sich an Sievers, der den Wagen sicher über die kurvige Landstraße steuerte. In diesem Moment setzte er dazu an, einen riesig erscheinenden Holztransporter zu überholen.

»Es war ein langer Tag. Am Gerichtsmedizinischen Institut steht mein Wagen. Ich kann Sie zuhause absetzen. Für heute machen wir Feierabend.«

»Danke. Ich wohne nicht weit vom Institut entfernt, das schaffe ich zu Fuß. In dieser Stadt sind die Wege kürzer als bei ihnen in Berlin.«

»Da haben Sie vermutlich recht.«

In der aufziehenden Dämmerung wirkte der überdimensionierte Parkplatz vor der Medizinischen Fakultät noch verlassener als am Morgen. Im Institut waren noch mehrere Fenster erleuchtet. Die Toten ließen Dr. Yilmaz offenbar nicht los. Sievers hielt an der Einfahrt zum Gelände. Seine Augen zeigten eindeutige Zeichen von Müdigkeit. Hartman übergab ihm die DVD. Im Schein der Innenbeleuchtung waren die Kratzer deutlich zu erkennen.

»Könnten Sie die morgen früh zur Analyse zum LKA nach Mainz bringen? Die sollen uns die arabische Schrift übersetzen. Lassen Sie die Disk sicherheitshalber auch technisch analysieren. Ich weiß, es ist ein Stück zu fahren und es könnte auch jemand anders erledigen. Aber mir wäre wohler, das Material in ihren Händen zu wissen. Ich bin mir nicht sicher, wem wir hier vertrauen sollten und wem nicht.«

»Kein Problem, ich fahre morgen früh gleich los. Ich bin mit einem Mitarbeiter dort befreundet, Oberinspektor Erwin Rau. Mit etwas Glück kann er unser Anliegen beschleunigen.«

»Ich danke ihnen. Dann treffen wir uns mittags im Präsidium. Kommen Sie gut nach Hause.«

Thilo Sievers verließ den Parkplatz in Richtung des Stadtzentrums. Hartmann beschlich für einen kurzen Moment ein eigenartiges Gefühl, während sein Blick dem Polizisten folgte. Augenblicke später hatte ihn die Dämmerung verschluckt. Nach einem unterdrückten Gähnen sah er Malmedy an.

»Weiß nicht wie es ihnen geht, aber ich habe jetzt Hunger. Allerdings möchte ich erst noch die Bierflasche Frau Dr. Yilmaz übergeben. Auch auf die Gefahr hin, aufdringlich zu wirken. Möchten Sie anschließend etwas Essen gehen?«

»Ein anderes Mal gerne. Heute ist es leider schlecht. Aber in der Nähe gibt es eine brauchbare Pizzeria.« Sie brachte es fertig, die Absage freundlich klingen zu lassen.

»Kein Problem. Ich verhungere schon nicht. Nun, ich will Sie nicht aufhalten. Morgen früh im Präsidium?«

»Ich werde da sein. Bis morgen, Herr Hartmann. Und schlafen Sie gut.«

Sie nahm am Steuer ihres Dienstwagens Platz. Lenkte den BMW mit sportlicher Fahrweise vom Parkplatz auf die wenig befahrene Straße.

»Ich bin wohl etwas eingerostet, was Einladungen zum Essen betrifft«, dachte Hartmann, als er ohne Hast auf die Glastüren des Instituts zuschlenderte.

Hinter der grauen Silhouette der Universitätsgebäude war die Verwandlung der Sonne in einen blutroten Ball zu erahnen. Der ganze Himmel war in grandiose pastellfarbene Töne getaucht. Hartmann gab der aufkeimenden Melancholie jedoch keine Chance, ihn zu ergreifen.

Der gleißend weiße Lichtschein des kleinen Raums kontrastierte auffällig zwischen unzähligen dunklen Fenstern, die zum Parkplatz zeigten. Der Ermittler fand die Wissenschaftlerin über den Schreibtisch ihres bescheidenen Büros gebeugt. Hoch konzentriert hatte sie die Schritte auf dem matt beleuchteten Gang überhört. Dr. Yilmaz erschrak, als sie Hartmann aus geröteten Augen wahrnahm. Er stand etwas unschlüssig auf der Türschwelle, hob die linke Hand zur Beruhigung.

»Entschuldigung, das war nicht meine Absicht. Die Tür stand offen.«

»Meine Güte, Herr Hartmann.« Sie atmete vernehmbar aus. »Ist nicht ihre Schuld. Bin ich etwa die letzte im Haus?«

»Es hat den Anschein. Außer in ihrem Büro herrscht Dunkelheit. Vielleicht sollten Sie die Eingangstür abschließen, wenn Sie sich abends allein hier aufhalten.«

»Sie haben ja recht. Andererseits glaube ich nicht, dass sich ein Einbrecher für die Einrichtung unseres Instituts interessiert.«

Die Selbstsicherheit hatte in ihre Stimme zurückgefunden.

»Es wird nicht nur eingebrochen, um zu stehlen«, gab Hartmann zu bedenken, »doch deswegen störe ich Sie nicht spät bei der Arbeit.«

Sie grinste schelmisch. »Ach nicht? Ich nahm an, ihr Besuch galt allein meiner Sicherheit.« Er erwiderte ihr Lächeln höflich.

»Sagen wir, ich habe daneben noch einen weiteren Grund.«

Vorsichtig stellte er die durchsichtige Plastikhülle auf den Tisch, in der die braune Flasche steckte.

»Eine Bierflasche, überaus interessant.«

Der trotz ihrer Müdigkeit stets interessierte Blick der Wissenschaftlerin ruhte schweigend auf dem unscheinbaren Behältnis, als handele es sich um ein seltenes Artefakt. Hartmann durchbrach die Stille.

»Ich bitte Sie, den Inhalt in ihre Untersuchungen einzubeziehen. Vermutlich gehört er zur Leiche des Oberst Seyfart. Recht unappetitlich die Sache. Nur zur Vorwarnung.«

Froh, der stickigen Enge des verwinkelten Gebäudes entkommen zu sein, überquerte er den Parkplatz. Der körnige Asphalt reflektierte die gespeicherte Hitze des Tages.

Selbst der schlampigste Polizist übersieht keine Bierflasche am Tatort, unmöglich. Was wäre, wenn sie erst nach der Spurensicherung dort hinterlassen wurde? Dann hätte ich Bolgin Unrecht getan. Was ist, wenn in diesem Fall weniger Zufälle existieren, als wir glauben.

Er bemühte sich erneut, alle bisherigen Indizien und Ermittlungsergebnisse in Einklang zu bringen. Was blieb, war die unangenehme Ahnung, sich von einer Lösung immer weiter zu entfernen.

Entferne ich mich von der Realität? Oder entfernt sich die Wirklichkeit von mir?

Der Schreck verdrängte seine wirren Überlegungen. Selbst aus gut zwanzig Metern Entfernung war die zerborstene Seitenscheibe an seinem Wagen unübersehbar. Er rannte die letzten Meter zum Ort des Geschehens, musterte die unzähligen dünnen Risse. Sie mündeten in ein faustgroßes Loch im Glas.

Ruhig bleiben. Ich war höchstens zweihundert Meter und keine zehn Minuten weg. Entweder hatte jemand Glück, oder... Nein, das ist unmöglich. Oder... werde ich beobachtet?

Sich der Sinnlosigkeit bewusst, blickte er dennoch angestrengt in alle Richtungen. Die Dämmerung ging allmählich in Dunkelheit über. Auf der ebenen Fläche wäre ihm jede Regung aufgefallen. Erneut richtete sich sein Blick auf die zerstörte Scheibe, dann auf den Boden davor. Splitter knirschten unter den Sohlen. Er riss die Fahrertür auf. Auf dem Beifahrersitz waren nur wenige Glasscherben erkennbar.

Die Scheibe wurde von innen eingeschlagen! Warum in aller Welt schlägt jemand sie ein, wenn er sich schon Zugang zum Wagen verschafft hat?

Das Türschloss wirkte auf den ersten Blick unversehrt. Auch wenn die Umstände dafür sprachen, dass es geöffnet worden war. Es war zu viel geschehen, um es für sich zu behalten, Hartmann spürte den seltenen Drang, sich mitzuteilen. Möglicherweise konnte Peter Zimmermann etwas Sinnvolles beisteuern. Anderenfalls würde er zumindest den Tag rekapitulieren können, ohne in Selbstgespräche zu verfallen. Er entfernte die Scherben, so gut es ging. Ohne sich weiter aufzuhalten, startete er den Motor und fuhr ruckartig an.

Die kleine Straße vor dem Hotel wurde von Edelkarossen geradezu erdrückt. Polierte Felgen an blitzenden Geländewagen und SUVs ließen darauf schließen, dass ihre Besitzer aus Angst um ihre hochmotorisierten Schützlinge auf Fahrten abseits der Straßen jedoch lieber verzichteten. Einige der Kennzeichen stammten aus anderen Bundesländern.

Der Staatsanwalt parkte wie üblich ordnungswidrig. Aufgrund der zahlreichen im Parkverbot abgestellten Wagen würde es auch kaum auffallen. Die gemütliche Lobby quoll über vor überwiegend männlichen Gästen. Die Mehrzahl war in Trachten- und Lodenkleidung ausstaffiert.

Die Jagdgesellschaft, von der mir die Hotelangestellte erzählt hat.

Hartmann bahnte sich seinen Weg zur Rezeption. Er fand dieselbe junge Frau vor, wie am Abend seiner Ankunft. Ein feister Gast in den Endfünfzigern hatte dem Alkohol offenbar bereits übermäßig zugesprochen. Seine glasigen Augen suchten Halt am Dekolleté der Angestellten. Wortfetzen drangen zu Hartmann, während er sich durch diverse Gesprächsrunden drängte. Unwillige Blicke prallten an ihm ab.

»... soll das? Fühlst dich wohl jetzt als etwas Besseres?«

»Lassen Sie mich in Ruhe, Gatzkow«, ihre Stimme klang bemüht neutral.

Aufgedunsene Gesichtszüge quittierten die unerwartete Zurückweisung mit ungläubiger Mimik. »Was ist mit dir, erkennst Du nicht, wer ich bin?«

Überraschend standhaft sah sie ihn an: »Doch. Sie haben wirklich schon genug angerichtet.«

Hartmann beobachtete die Szenerie ohne sich einzumischen, konnte aber ein freudloses Grinsen über den plumpen Versuch der Kontaktaufnahme nicht unterdrücken. Einen Sinn vermochte er dem kurzen Ausschnitt nicht zu entnehmen.

Melanie Andersen wirkte erfreut, als sie ihn erblickte. Sie wandte sich ihm demonstrativ zu.

»Herr Hartmann, schönen guten Abend.«

»Wünsche ich ebenfalls. Entschuldigen Sie mein spätes Erscheinen. Die Arbeit ließ mich nicht los.«

Gatzkow fühlte sich bloßgestellt. Die hervortretenden Augen illustrierten die Aggressivität seiner Stimme. Seine Alkoholisierung wirkte enthemmend.

»Warte lieber, bis Du dran bist.«

»Wie lange dauert denn diese Komödie noch? Dann warte ich solange. Unterlassen Sie aber weitere Belästigungen.«

Er baute sich so nah vor Hartmann auf, dass nur Zentimeter ihre Gesichter trennten. Alkoholdunst schlug dem Ermittler entgegen.

»Was hast Du für ein Problem?«

»Lassen Sie das lieber. Zwingen Sie mich nicht.«

Mit erstaunlicher Schnelligkeit schlug der Betrunkene plötzlich in Hartmanns Richtung. Der wuchtige Hieb hatte Hals oder Gesicht treffen sollen. Instinktiv riss Robert Hartmann seinen Arm in die Höhe und wehrte ihn seitlich ab. Die Reaktion dauerte nur Bruchteile von Sekunden und war genau dosiert. Der Schlag zum Solarplexus seines Gegners würde keine bleibenden Schäden verursachen. Er verfehlte seine Wirkung dennoch nicht. Gatzkow röchelte. Stürzte dann nach hinten und war zu weiteren Angriffen außerstande.

Erst jetzt fiel Hartmann die bleierne Stille auf, die das Geschehen umgab. Sämtliche Gespräche waren verstummt. Ungezählte Augenpaare richteten sich auf ihn. Zwei ältere Frauen tuschelten leise. In ihren Trachtenkleidern wirkten sie wie kostümiert. Nach endlos erscheinenden Momenten konnte Gatzkow sich mühsam aufrichten. Er verschwand in einem der seitlich abgehenden Säle. Hinter der Tür wummerte die Melodie eines traurigen Schlagers.

»Kann ich jetzt auschecken?« Er schaute Melanie Andersen an.

»Natürlich«, sie wurde leiser, »und vielen Dank für die Unterstützung. Dieser widerliche Kerl belästigt mich schon den ganzen Abend.«

Nur langsam widmeten die Umstehenden sich wieder ihren Gesprächen. Einige hatten peinlich berührt die Hotellobby verlassen. War es doch einer der ihren, der sich mit seinem Benehmen lächerlich gemacht hatte.

»Wer ist das, kennen Sie ihn?«

»Seinen Namen haben Sie ja gehört. Volkmar Gatzkow veranstaltet diese Feierlichkeit. Er ist sehr vermögend.«

Die Art, wie sie es sagte, klang weder neidisch noch respektvoll. Eher abschätzig. Etwas in ihrer Reaktion ließ Hartmann stutzen. Er konnte jedoch nicht einordnen, was ihn hatte aufhorchen lassen. Vielleicht war es ihr Blick, der etwas ausgedrückt hatte, das ihm trotz der vorangegangenen Belästigung unpassend erschienen war. Eine Emotion, für die es nur ein Wort gab: Hass.

»Ich glaube, er hat sein Vermögen geerbt. Vielleicht denkt er deshalb, man müsse sich von ihm alles gefallen lassen. Heute Nacht richtet er nicht weit von hier eine große Jagd aus.«

»Ich hätte die Eskalation gerne vermieden. Persönlich habe ich nichts gegen den Mann. Was bin ich schuldig?«

Sie präsentierte die nach einer Nacht überschaubare Rechnung.

»Ihre Tasche ist schon unten. Wir mussten das Zimmer bereits neu vergeben. Ich zeige ihnen den Gepäckraum.«

»Sehr freundlich.«

Den hätte ich auch selber gefunden. Der Wegweiser an der Wand ist nicht zu übersehen.

Ein Gang führte zu einem kleinen Zimmer, in dem das Gepäck der ein- und auscheckenden Gäste zwischengelagert werden konnte. Hinter weiteren Türen fanden sich die Toiletten. Die durchgehende Geräuschkulisse aus Stimmen und klingenden Gläsern war hier nur gedämpft vernehmbar.

»Schade, dass Sie abreisen müssen. Haben Sie schon eine neue Unterkunft gefunden?«

»Ja. Ein Kollege stellt mir sein Ferienhaus zur Verfügung.«

»Das heißt, Sie bleiben noch eine Weile?« Die blauen Augen versuchten nicht, ihr Interesse zu verbergen.

»Das verlangt meine Aufgabe«, er sah sie direkt an. »Außerdem beginnt es mir hier zu gefallen.«

»Das freut mich. Vielleicht begegnen wir uns zufällig in der Stadt.«

Die Schüchternheit schien ihm auch heute nicht zu ihr zu passen. Die blonden Haare fielen ihr über die Schulter.

Nichts passiert zufällig. Hier schon gar nicht. Aber das Risiko gehe ich ein.

»Nach meiner Erfahrung sollte man dem Zufall manchmal auf die Sprünge helfen. Was sollte uns davon abhalten, morgen gemeinsam etwas essen zu gehen? Natürlich nur, wenn es ihre Arbeitszeit zulässt. Was meinen Sie, Melanie? Mein Name ist übrigens Robert, für Freunde.«

»Sehr gerne, würde mich freuen. Ich habe um neunzehn Uhr Dienstschluss.«

Aus irgendeinem Grund hatte er den Eindruck, ihre Überraschung über seine Einladung halte sich in Grenzen.

»Das passt ausgezeichnet, ich hole Sie ab. Doch jetzt muss ich gehen«, er lächelte, »ich muss noch ein Ferienhaus finden. Und lassen Sie sich nicht von Betrunkenen ansprechen.«

Die Reisetasche trug sich federleicht. Er spürte kaum das Gewicht in seiner Hand.

Erleichtert meine Stimmung das Gewicht?

Er hatte sich bereits umgedreht um zu gehen.

»Was führt Sie eigentlich in unsere Gegend, Robert? Sie sprachen von einer Aufgabe.«

Er dachte kurz nach.

Es ist besser, die Hintergründe für mich zu behalten.

»Ich bin aus Berlin gekommen, um die Polizei in einigen Fragen zu beraten. Bis morgen.«

Er drängte sich erneut durch den mit Menschen gefüllten Eingangsbereich des Hotels. Wobei ihm deutlich bereitwilliger Durchgang gewährt wurde als zuvor. Einige Gäste zog es bereits in Richtung des Ausgangs. Die Abfahrt zur Jagd stand offenbar kurz bevor.

Der frühmittelalterliche Kirchturm aus Feldsteinen überragte die geduckten Gebäude der alten Ortsmitte Lahnsteins deutlich. Eine der wenigen Neuerungen, die der Denkmalschutz gestattet hatte, war es, die großen Messingzeiger der Turmuhr zu beleuchten. Sie zeigten kurz vor neun, als der Porsche die Kirche passierte. Neun kräftige Schläge erinnerten Hartmann daran, sich zu beeilen. Er hatte sich länger im Ritterhof aufgehalten, als geplant.

Wer geht von einer Auseinandersetzung mit einem Betrunkenen und einer Verabredung zum Essen aus, wenn man doch nur seinen Koffer abholen will? Beides habe ich nicht provoziert.

Der Boxermotor grollte tief, als der Wagen wenige Minuten später auf die Einfahrt der Zimmermanns rollte. Hektisch drückte Hartmann die Klingel neben der massiven Holztür. Eine leichte Brise ließ die Spitzen der Bäume schwanken. Das kräftige Rot des Sonnenuntergangs ging allmählich in die unfreundliche Schwärze der Nacht über.

Der künstliche Gong verhallte mehrmals scheinbar ungehört. Endlich zeichnete sich hinter dem Relief des kleinen Fensters eine zaghafte Bewegung ab. Schwerfällig wurde der Riegel bewegt. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit. Der Ausdruck auf dem Gesicht der Frau hatte nicht mehr viel mit der Regina aus Hartmanns Erinnerung gemein. Blutunterlaufene Ringe hatten sich unter ihren Augen eingebrannt. Blass dehnte sich die Haut über ein wie urplötzlich gealtertes Gesicht.

»Regina, was ist mit dir? Was ist geschehen?« Der Versuch, nicht schockiert zu klingen, klang wenig glaubwürdig. Zu nah ging ihm der Anblick.

»Ich... ich kann nicht. Peter... , er..«, stieß sie wirr hervor.

In diesem Moment trat Zimmermann hinter seine Ehefrau, legte den Arm um sie.

»Es geht ihr nicht gut. Regina hatte viel Stress in letzter Zeit. Sie braucht jetzt Ruhe. Ich bringe sie nach oben und bin dann gleich bei dir.«

Ehe Hartmann Gelegenheit zu einer Erwiderung gehabt hätte, wurde die Tür geschlossen.

Was ist mit ihr geschehen? Es schmerzt, die sensible Frau so zu sehen. Welche Tragödie ist für ihren Zustand verantwortlich? Wie heißt es? Viel Licht wirft viel Schatten. Hinter dieser Idylle scheinen sich ungeheuer große Schatten zu verbergen.

In seinem Gehirn vermengten sich die verfahrenen Ermittlungen mit dem verwirrenden Bild von Peters Ehefrau. Er spürte klopfenden Schmerz hinter seiner Stirn. Der Tag hatte mehr Eindrücke bereit gehalten, als er momentan verarbeiten konnte. Er wollte sich nur noch ausruhen. Schlafen.

Das würde er tun, sobald er konnte.

Mehrere Minuten später öffnete sich die Tür der Zimmermanns erneut, diesmal schneller. Sein Kollege schien unbeirrt vom Zustand seiner Frau. Er hielt etwas in seiner Hand.

»Hier ist der Schlüssel. Ich beschreibe dir den Weg, falls dein Navi...«

»Peter«, eindringlich unterbrach ihn Hartmann, »Was ist passiert? Warum geht es deiner Frau so schlecht?«

»Sagte ich doch, sie hatte Stress. Vielleicht ist sie momentan etwas depressiv. Es wird wieder bergauf gehen.«

»Welche Art von Stress?«

»Mit... mit ihren Eltern. Vielleicht hatten wir auch ein paar Probleme.« Merklich unwirscher fuhr er fort. »Zum Teufel, werde ich jetzt hier verhört?«

»Nein, ich mache mir nur Sorgen. Sie sah nicht gut aus.«

»Das weiß ich durchaus zu schätzen. Ich danke dir für dein Mitgefühl, es ist aber nicht nötig.«

Die Körpersprache ließ keinen Zweifel daran, dass er ihn möglichst schnell loswerden wollte. Es erschien Hartmann nicht sinnvoll, das Gespräch fortzuführen.

Er wird mir nichts anvertrauen. Oder er kann es nicht.

Nachdem Zimmermann in knappen Worten den Weg bis zum Ferienhaus der Familie beschrieben hatte, händigte er ihm mehrere Schlüssel aus. Anschließend verabschiedete sich sein Bekannter knapp, bevor er ihn in der Dunkelheit stehen ließ.

Seine dröhnenden Kopfschmerzen waren eine unheilvolle Verbindung mit lähmender Müdigkeit eingegangen. Peters unheimlicher Auftritt war ihm mittlerweile annähernd gleichgültig. Resigniert seufzend drehte er den Zündschlüssel.

Gemäß der Beschreibung folgte die Bundestraße 49 den Windungen der Mosel. Der große Fluss hielt sich zu seiner Rechten. Die schroffen Felsformationen auf der anderen Seite der Landstraße wurden häufig von Weinbergen durchbrochen. Die Bewirtschaftung der steilen Anbaulagen musste eine mühevolle Prozedur sein. Ohne die Kopfschmerzen im Hintergrund hätte er die Fahrt genossen. Die Uferstraße durchquerte Dörfer mit Namen Lay und Dieblich, die sich jedoch in der Dunkelheit kaum unterschieden.

Alken kündigte sich durch die kleine, aber spektakuläre Festung Thurant an. Sie thronte etwas oberhalb auf einem Berg. Er bog ab. Die Serpentinen der Landstraße entfernten sich vom Fluss. Je weiter er das kleine Dorf hinter sich ließ, desto stärker stiegen die Höhenmeter an. Streckenweise war die in den Fels geschlagene Strecke so schmal, dass Hartmann inständig hoffte, es würde ihm kein Fahrzeug entgegenkommen. Die runden Scheinwerfer des Autos waren die einzig sichtbaren Lichtquellen. Sie durchschnitten eine Nacht, die zwischen der dichten Vegetation des Waldes noch schwärzer wirkte. Hartmann fragte sich, wohin die scheinbar nur sporadisch befahrene Straße ihn führen würde. Die Fahrt näherte sich dem Ende.

Fast hätte er den kleinen Feldweg verpasst. Peter Zimmermann hatte ein Erkennungsmerkmal erwähnt, das in der Dunkelheit leicht zu übersehen war. Skurril schoben sich die kahlen Äste in den Nachthimmel. Das Gerippe der uralten Eiche schien über sein eigenes Lebensende erhaben. Der Anblick des beeindruckenden Stammes musste schon vor Jahrhunderten Reisende in seinen Bann gezogen haben.

Mit dem Rest seiner erschöpften Reflexe riss er das Steuer herum. Der Wagen rutschte ein Stück über Schotter und gehorchte. Lichter Laubwald säumte den Weg. Dann dehnten sich Weiden beiderseits der ausgewaschenen Fahrspuren. Hartmann fuhr Schritttempo, um das unschöne Geräusch des über die Erde schleifenden Unterbodens zu vermeiden. Zweige verwilderter Brombeersträucher schlugen auf die Frontscheibe. Unvermittelt erreichte er das Ziel. Die Fahrt war ihm länger erschienen, als zwanzig Kilometer vermuten ließen. Der Wagen kam auf sandigem Grund zum Stehen. Die schmucklose Fassade aus Steinplatten wirkte nicht edel, aber funktional. Leichter Moosbelag überzog die Dachschindeln unter dem Blätterdach. Fast unpassend erschien dagegen der neuwertige, in perfekter Geometrie um das große Grundstück ausgerichtete Metallzaun.

Die kleine leistungsstarke Taschenlampe, die er stets im Handschuhfach des Wagens aufbewahrte, leistete gute Dienste. Sie erhellte einen überraschend liebevoll gepflegten Teil des Gartens. Ziergehölze durchbrachen auf gelungene Weise die Beete. Sie waren im Stil eines Steingartens angelegt. Im Lichtkegel erkannte Hartmann, dass der hintere Teil des Grundstücks durch eine Hecke abgeteilt worden war.

Dort bot sich ein chaotisches Bild. Verstreut unter Kiefern wucherten wilde, dornige Büsche. Kniehoch gewachsenes Gras war von Wildblumen und Brennnesseln durchsetzt. Modernde Stapel vergessener Holzscheite komplettierten die Melancholie des sich selbst überlassenen Areals.

Über der Eingangstür hing das ausgeblichene Geweih eines Vierzehnenders zwischen zwei hölzernen Säulen. Hartmann musste sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür lehnen, bis sie endlich mit einem knarrenden Geräusch aufschwang. Sämtliche Fensterläden waren geschlossen. Es empfing ihn der typische abgestandene aber würzige Geruch leer stehender Häuser. Offenbar waren die Zimmermanns schon länger nicht mehr hier gewesen. Er betrat eine Diele, betätigte aus Gewohnheit den nächstliegenden Lichtschalter. Keine Lampe erhellte den Raum.

Ich muss wirklich müde sein. Wie konnte ich vergessen, dass es sich um Gaslampen handelt? Peter erwähnte ein Hauptventil. Es soll sich im Keller befinden.

Tatsächlich verfügte das Grundstück über keinerlei Stromanschluss. Da in der Nähe keine weiteren Häuser zu finden waren, lohnte die aufwendige Verkabelung nicht. Der Zugang zum Keller befand sich auf der anderen Seite des Hauses und war von innen nicht erreichbar.

Hartmann blieb vor der kurzen, moosbewachsenen Treppe stehen und lauschte. Den Grund für das ununterbrochene Geräusch in seinen Ohren fand er in einer kleinen Schlucht, die wenige Meter hinter dem Haus abfiel. Erst dahinter schloss sich der Wald an. In regelmäßigen Abständen übertönte der Ruf eines Uhus das Rauschen in der Tiefe. Die Lampe erhellte steinige, von dichtem Farn bewachsene Hänge. In einer Tiefe von ungefähr fünfzehn Metern wand sich ein kleiner, kristallklarer Bach durch die Schlucht. Er speiste die Wasserversorgung des Hauses. Das Licht folgte dem Wasserlauf bis zu einer Biegung. Reste einer kleinen Mauer ließen eine frühere Stauung erahnen. Möglicherweise war in dem sauberen Gebirgswasser Fischzucht betrieben worden.

Hartmann wand sich wieder der Kellertreppe zu. Schnell fand er die große Gasflasche. Mit erheblichem Kraftaufwand gelang es ihm, das Ventil zu öffnen. Zischend strömte Propangas durch die Leitungen. Wieder im Haus angekommen, ließ sich die Innenbeleuchtung problemlos einschalten. Die Einrichtung, die er im leichten Flackern entdeckte, bot die passenden Reminiszenzen an die Vergangenheit. Offenbar hatte es sich in früheren Zeiten um ein Jagdhaus gehandelt. An den Wänden fielen diverse Trophäen ins Auge. Ein gekachelter Kamin verlieh gemütliche Atmosphäre. Nicht weit entfernt gruppierten sich schwere Sessel um einen antiquarisch anmutenden Holztisch. Waidmännische Motive verzierten den Großteil der Möbel.

Die kleine Treppe führte Hartmann in die beiden Schlafzimmer. Sie lagen im Obergeschoss. Das bequeme Doppelbett schien seiner Erschöpfung angemessen. Es würde ihn hoffentlich in eine erholsame Nachtruhe entführen.

Epilog

Mittwoch, 31. August

Nein, einen Eindruck von Himmel oder Hölle – oder wo auch immer er gelandet wäre – vermittelten die apricotfarbenen Wände nicht. Trotz seiner Benommenheit zweifelte Hartmann keine Sekunde daran, dass er lebte. Das vollkommen irdische Geräusch profan klappernden Geschirrs auf dem Gang beseitigte die letzten Zweifel.

Zwei Männer liefen gleichsam ruhelos durch das große Zimmer. Er belegte darin das einzige Bett. Augenscheinlich war ihnen das zaghafte Blinzeln entgangen, mit dem sich sein Erwachen ankündigte. Hartmann war sich nicht sicher, ob ihm daran gelegen sein sollte, diesen Zustand zu ändern. Schließlich nahm einer der Kontrollblicke, die in unregelmäßigen Abständen auf ihn geworfen wurden, die Veränderung wahr.

»Er ist wach.«

In der Aussage steckte nicht die Art seliger Begeisterung, zu der sich vermutlich ein naher Verwandter hätte hinreißen lassen. Die Intensität, mit der er jetzt angestarrt wurde, berührte ihn unangenehm. Als noch unangenehmer empfand er es, den Personen weder Namen, noch konkrete Erlebnisse zuordnen zu können. Sie kamen ihm auf diffuse Weise bekannt vor, mehr nicht. Besonders mit dem korpulenteren der beiden verband sich etwas, das aber in einem Schleier hängenblieb. Ausdruckslos erwiderte er die Blicke.

»Herr Hartmann? Sie sehen aus, als wüssten Sie nicht, wer wir sind.«

Seine Antwort bestand aus einem unsicheren Blick. Die Kleidung des dickeren Mannes wirkte nachlässiger. Er bemühte sich um einen beruhigenden Tonfall.

»Schon gut. Der behandelnde Arzt hat uns darauf vorbereitet, dass Sie uns nicht erkennen würden. Er nannte es temporäre retrograde Amnesie. Bin mir nicht sicher, was es bedeutet, aber es klingt wohl schlimmer, als es ist.«

Der schlankere Besucher, in akkuratem Zweireiher gekleidet, glaubte einhaken zu müssen.

»Nur ein vorübergehender Gedächtnisverlust der Ereignisse vor ihrer Einlieferung.«

Hartmann sah ihn entgeistert an.

»Danke für die Übersetzung.«

Der andere unterdrückte ein Grinsen.

»Gut zu sehen, dass Sie noch der Alte sind. Ruhen Sie sich aus. Genießen Sie die Zeit, in der Sie von Erinnerungen verschont bleiben. Wir sehen morgen wieder nach ihnen.«

Der Versuch, seinen Oberkörper zu bewegen, mündete in drückenden Schmerzen.

»Wie lange habe ich geschlafen?«

»Ja, nennen wir es geschlafen«, der stattliche Besucher lächelte nachsichtig. »Ungefähr sechs Tage.«

»Wie bitte?«

»Ganz recht. Falls Sie sich fragen, wer wir sind: Mein Name ist Harald Bolgin. Und das«, er zeigte auf seinen Begleiter, als bereite ihm die Vorstellung Unbehagen, »ist Herr Staatsanwalt Linke-Waldek. Gute Besserung.«

Wieder allein im Raum, sah Hartmann flüchtig an sich herab.

Was immer mir wiederfahren ist, zumindest scheint alles Lebenswichtige noch vorhanden zu sein.

Eine Vielzahl von Kabeln und dünnen Schläuchen führte von seinem Bett zu einigen daneben aufgestellten Gerätschaften und Monitoren.

Während der folgenden Stunden schlief er mehrmals ein. Die Zeit verging schneller, als er erwartete. Kurz bevor sein geschwächter Körper aus der Dämmerung zurückkehrte, zogen unerklärliche Bilder wie Nebelschwaden an ihm vorbei. Gesichtslose Totenschädel hoben sich von einem dunklen Hintergrund ab.

Abgelöst wurden sie von der rätselhaften Vision eines großen Fisches. Zunächst schien nichts Außergewöhnliches an ihm. Bis sich dem träge dahin schwimmenden Tier von seiner Rückseite her drei schlangengleiche Kreaturen näherten. Ihre schwarzen Körper verschmolzen mit dem trüben Wasser. Als der Fisch begann, sich verzweifelt zu winden, war es zu spät. Mit scharfen Zähnen bohrten sich die Köpfe in sein Fleisch. Fast zur Hälfte verschwanden sie im Körper des Todgeweihten. Bald wurden die klaren Augen des Tieres glasig. Kurz darauf verließen die Räuber die leere Hülle und verschwanden.

»Herr Hartmann«, unsanft beförderte ihn die Stimme des Arztes ins Diesseits. Hartmanns Hände verkrampften sich um den Metallrahmen des Bettes. Schweiß perlte auf seiner heißen Stirn.

»Ich... ich habe etwas gesehen.«

»Erinnerungen kehren langsam zurück. Geben Sie sich Zeit.«

Er erzählte von seinem Traum. Der Stationsarzt vergrub die Hände in seinem weißen Kittel, wirkte ratlos.

»Höchstwahrscheinlich Bruchstücke von Erlebnissen. Vielleicht kann ihnen Hauptkommissar Bolgin damit weiterhelfen, sobald er wiederkommt.«

Die einzige Orientierung hinsichtlich der Tageszeit bot ein Fenster unweit des Bettes. Schneller als erwartet kehrte die jüngste Vergangenheit zurück. Es waren nur noch wenige Verbindungen, die sein Gehirn am nächsten Vormittag noch nicht wiederherstellen konnte.

Im Unterschied dazu prognostizierte der Doktor eine langsamere Regeneration der äußerlichen Gesundheitsschäden. Jede Bewegung, die Hartmann seinem Körper zumutete, endete in quälendem Schmerz. Als Beweis dafür, wie knapp seine Gratwanderung zwischen Leben und Tod gewesen sein musste, überreichte der Arzt ihm eine Kunststoffdose. Zwei deformierte Teilmantelprojektile lagen darin. Mit spürbarem Stolz erklärt er, beide Geschosse aus Hartmanns Oberkörper herausoperiert zu haben.

Es bedurfte eines Wunders und eines hohen Maßes an präziser Chirurgie, ihr Leben zu retten. Freuen sie sich daran, selbst wenn ihre gesundheitliche Rehabilitation noch einige Zeit dauern wird.

Der Satz blieb in Hartmanns wiedererlangtem Gedächtnis haften. Ihm war ein neues Leben geschenkt worden. Doch so oft er die Aussage in seinem Inneren auch wiederholte, vermochte er noch keine echten Glücksgefühle darüber zu empfinden. Zu beengend empfand er die Bewegungslosigkeit, zu der er vorläufig verdammt sein würde.

Als sich nach kurzem Klopfen ungefragt die Tür öffnete, erschien schon die Perspektive einer Unterhaltung als erfreuliche Ablenkung. Wiederum erschien Bolgin in Begleitung seines Vorgesetzten. Die Emotionen, die er mit beiden verband, waren ihm inzwischen fast vollständig wieder präsent. Der Kriminalpolizist platzierte einen Blumenstrauß auf dem fahrbaren Beistelltisch. Einige Blüten hingen bereits kraftlos an ihren Stielen. Das Gebinde wirkte lustlos zusammengestellt, in seiner Farbgestaltung trist. Hartmann war dennoch dankbar über die Geste. Wahrscheinlich hatte Bolgin den Strauß an einer Tankstelle gekauft, weil ihm ein Krankenbesuch mit leeren Händen unangemessen erschienen war. Er klopfte Hartmann auf die Schulter. Sie beantwortete den Druck sofort mit Schmerzen.

»Heute sehen Sie schon viel besser aus. Eigentlich beneidenswert gesund.«

Linke-Waldek rang sich lediglich ein aufmunterndes Nicken ab. Hartmann bemühte sich um einen freundlichen Gesichtsausdruck.

»Sehe ich nicht, aber nett von ihnen.«

Der Staatsanwalt lauerte darauf, etwas zu sagen. Jetzt schaltete er sich in das Gespräch ein.

»Seien Sie froh darüber, dass einige Leute denken, Sie wären noch nicht wieder fit«, er zeigte mit der Hand zur Tür, »Die Damen und Herren dort draußen können es sicher kaum erwarten, Sie mit allerlei Fragen zu traktieren.«

»Welche Damen und Herren?«

»Ich denke, Sie sind von Behörden geschickt worden, deren Mitarbeiter eher nicht mit Dienstausweisen wedeln. Außer dem BND scheinen auch die Amerikaner anwesend zu sein. Eine der Frauen spricht englisch. Ich schätze, das ist erst der Anfang.«

Hartmann reagierte entspannt.

»Das sind die Leute, die sich vor wenigen Tagen geweigert haben, unsere Anfragen zu beantworten. Nun, dann warten Sie eben. Außerdem sind meine Erinnerungen immer noch partiell lückenhaft.«

»An welcher Stelle lässt Sie ihr Gedächtnis im Stich?«, erkundigte sich Bolgin.

Hartmann überlegte kurz. Dann fiel ihm sein Traum wieder ein. Er bemühte sich, die verstörenden Eindrücke der Totenkopfmasken sowie die Unterwasserszene genau zu schildern.

»Vielleicht ein verstecktes Interesse für Aquaristik«, versuchte Linke-Waldek zu scherzen. Niemand lachte. Bolgin setzte ein.

»Da ich nicht einschätzen kann, wo es Sie verlässt, bringe ich Sie einfach auf den aktuellen Stand.

Am 18. Juli diesen Jahres wurde das Betriebssystem einer pakistanischen Forschungseinrichtung mithilfe einer hochqualifizierten Software außer Gefecht gesetzt. Der sogenannte Trojaner manipulierte das Netzwerk. Er täuschte einen Unfall in einer Zentrifuge vor.«

Linke-Waldek hatte offenbar entschieden, das wichtige Thema nicht dem Polizeibeamten zu überlassen. Bevor Bolgin fortfahren konnte, führte er die Schilderung weiter.

»Die Zentrifugen dienen der Urananreicherung. Eine Vielzahl davon wird in sogenannten Kaskaden hintereinandergeschaltet. Dieses Verfahren ist zwingend notwendig, um das Endprodukt in einem Reaktor oder gar einer Nuklearwaffe verwenden zu können. Der Anreicherungsgrad beträgt dabei je... «

Hartmann unterbrach den eifrig dozierenden Staatsanwalt.

»Herr Kollege, bitte. Mein Kopf dröhnt und mein Oberkörper fühlt sich an, als würde er von glühenden Nadeln durchbohrt. Ich glaube ihnen gern, dass auch Juristen ein Physikbuch lesen können. Aber konzentrieren Sie sich nach Möglichkeit auf das Wesentliche.«

Linke-Waldek tat, als hätte er die Bitte überhört. Er beschleunigte jedoch anschließend seinen Vortrag merklich.

»Wir stehen in Kontakt zum BKA, das Sie ohne unser Wissen ja bereits konsultierten. Nach deren Einschätzung fand der Cyberangriff in mehreren Stufen statt. Nachdem der besagte Betriebsunfall vorgegaukelt worden war, wurde der Bestand des Kernforschungslabors um mehrere Kilogramm einer radioaktiven Substanz erleichtert. Im System erschien die gelagerte Menge jedoch unverändert. Als der Diebstahl bemerkt wurde, war es zu spät.«

Je länger Hartmann mit den Männern sprach, desto weniger Lücken zerklüfteten seine Gedächtnislandschaft.

»Hat sich herausgestellt, was konkret gestohlen wurde? Und von wem?«, erkundigte er sich mit schwacher Stimme.

Die Antwort gab wiederum Linke-Waldek.

»Lynd ist wohl von Plutonium 239 ausgegangen. Der giftigste und gefährlichste Stoff, den das Periodensystem der Elemente bereithält. Soweit inzwischen bekannt wurde, handelt es sich jedoch um ungefähr 4, 7 Kilogramm H.E.U.«

Bolgin setzte an, die Abkürzung zu erläutern. Doch Hartmann winkte ab.

»Highly enriched Uranium, hochangereichertes Uran also.«

»Das ist korrekt«, bestätigte der Staatsanwalt.

»Zur Frage der Täterschaft sind unsere Behörden auf die Zusammenarbeit mit den Pakistanis angewiesen. Entweder wissen die auch nicht viel mehr oder sie haben kein Interesse, ihre Kenntnisse mit uns zu teilen.«

»Was ist mit Atif Nizar? Ich habe vor Lynd seinen Namen ins Spiel gebracht. Er hat eine Beteiligung des Rechtsanwalts zumindest nicht bestritten.«

Bolgin musterte den Blumenstrauß skeptisch. Dann hob er eine der hängenden Blüten an. Nachdem er sie einige Sekunden betrachtet hatte, ließ er das Gewächs in seine traurige Ausgangsstellung zurückfallen.

»Leider ist das allein kein Beweis. Sein Gesundheitszustand hat eine Vernehmung noch nicht zugelassen. Allerdings wurde uns inzwischen auch die Zuständigkeit für die Ermittlungen entzogen. Ist wohl eine Nummer zu groß für uns. Die Generalbundesanwaltschaft hat sämtliches Material beschlagnahmt, natürlich auch das Uran. Angeblich, um es untersuchen zu lassen.«

»... auf den Grad der Anreicherung«, ergänzte Hartmann, »was wiederum darüber entscheidet, ob es überhaupt waffentauglich gewesen wäre. Andererseits hätte die Substanz auch in einer sogenannten schmutzigen Bombe enormen Schaden anrichten können.«

»Man hätte es nur einem normalen Sprengsatz beigeben müssen. Eine Horrorvision«, bestätigte der Kripo-Beamte.

»Ist das alles?«, fragte Hartmann ungeduldig.

»Sie haben sechs Tage geschlafen, kein halbes Jahr. Was erwarten Sie?«, hielt Bolgin ihn zurück.

»Es wird ein Verbindungsbeamter nach Pakistan reisen, um die Aufklärung zu unterstützen. Mit Sicherheit gab es Insider vor Ort. Ob wir an den Ergebnissen teilhaben, wage ich aber zu bezweifeln. Bisher wissen wir nicht mit Sicherheit, wer den Trojaner programmiert hat. Auch, wer den Diebstahl vor Ort ausgeführt hat, ist nicht bekannt. Lynd war praktisch nur der Zwischenhändler. Aber im Alleingang kann er das natürlich nicht durchgezogen haben.«

Hartmann war mit den Erklärungen noch nicht zufrieden.

»Warum ist Heiner Lynd nur ein derart hohes Risiko eingegangen? Was trieb ranghöhere Offiziere dazu, sich daran zu beteiligen?«

Linke-Waldek war zum Fenster gelaufen, blickte auf die Grünanlage des Krankenhauses.

»Sein Geschäft beruhte ursprünglich auf dem Schmuggel von Waffen, vielfach aus russischen Beständen. Er benutzte mit seinen Komplizen die militärischen Transportwege aus Afghanistan nach Europa für einen recht einträglichen Handel. Diese internationalen Militärtransporte werden vom Zoll und anderen Behörden nicht kontrolliert. Etwas Bestechungsgeld an der richtigen Stelle und sie können jede Art von Fracht befördern. Es gab bereits erste Festnahmen. Das wahre Ausmaß werden erst weitere Untersuchungen zu Tage fördern.«

»Im illegalen Waffenhandel ist viel Geld im Spiel. Wir vermuten, er hat Verbindungen aus der Vergangenheit genutzt, um sein Netzwerk zwischen Asien und Europa aufzubauen. Malmedy, Revers und vermutlich noch mancher andere sind der Verlockung des schnellen Geldes erlegen. Sie fühlten sich unangreifbar«, ergänzte der Kommissar.

»Lynd und Revers sind während des Zugriffs getötet worden«, stellte Hartmann nüchtern fest, »was ist mit Lisa Malmedy?«

»Es ist uns gelungen, sie noch am gleichen Abend festzunehmen. Sie verweigert jegliche Aussage. Inzwischen haben wir sie in die Verantwortung der Bundesbehörden überstellt.«

Staatsanwalt Linke-Waldek schob seinen Hemdsärmel hoch, sah mit zusammengekniffenen Augen auf die Uhr.

»Ich muss gehen. Natürlich mussten wir die Dinge, die geschehen sind, an ihre Dienststelle in Berlin melden. Ich denke, es wird Sie nach ihrer Rückkehr ein Disziplinarverfahren erwarten.«

Robert Hartmann seufzte.

»Gegen meine Scheidung wird das vermutlich ein Spaziergang sein.«

Doch sein Kollege war mit der Abrechnung noch nicht am Ende.

»Ich will ehrlich sein. Einige Ermittlungsdetails mag ich falsch gedeutet haben. Doch auch darin kann ich keine Rechtfertigung ihrer Methoden sehen. Einbruch, Hausfriedensbruch, Amtsanmaßung, unerlaubter Waffenbesitz und so weiter. Die Liste ließe sich verlängern. Wenn ich mir ihre Vorgehensweise ansehe, hätte aus ihnen auch ein passabler Krimineller werden können.«

»Wer weiß. Vielleicht hätte aus ihnen auch ein passabler Staatsanwalt werden können«, entgegnete Hartmann ungerührt. Er blickte trotzig an ihm vorbei zur weißen Zimmerdecke.

Linke-Waldek rang um eine Reaktion, verließ dann jedoch wortlos den Raum. Bolgin blickte seinem Vorgesetzten hinterher.

»Sie wissen wirklich, wie man sich Freunde macht. Leider hat er darauf bestanden mitzukommen.«

»Vergessen Sie ihn. Sagen Sie mir lieber, wer Heiner Lynd wirklich war.«

»Ein Verbrecher, wie viele andere. Geldgierig und skrupellos.«

»Nein«, widersprach Hartmann knapp, »Sie wissen, dass das nicht die Wahrheit ist.«

»Sie wollen die Wahrheit? Wahr ist, dass wir nie erfahren werden, für wen er gearbeitet hat, bevor er seinen Waffenschmuggel aufgezogen hat. Wissen Sie, auch warum?«

Robert Hartmann schloss für einen Moment die Augen. Sie brannten.

»Weil diese Leute sich dann eingestehen müssten, ein Monster erschaffen zu haben.«

Bolgin nickte langsam.

»Sie haben verstanden, was ich meine.«

Hartmann griff nach einem Plastikbecher mit Mineralwasser. Die trockene Kehle erinnerte ihn an die Nacht, die um ein Haar seine letzte geworden wäre.

»Leider werden wir nie herausbekommen, wessen Instrument er wirklich war. Wir wissen nur, es ist außer Kontrolle geraten.«

Simultan blickten beide Ermittler in den blauen Himmel, der sich vor dem Fenster ausbreitete. Fernes Motorengeräusch drang bis in den Raum. Ein kleines Sportflugzeug beschrieb mit knatterndem Propeller einen ausgedehnten Halbkreis, bevor es aus ihrem Blickfeld verschwand.

Näher werden wir der Wahrheit niemals kommen. Wir sind den Weg so weit gegangen, wie es uns möglich war.

»Werden Sie erst einmal gesund. Egal, was Sie in Berlin erwartet, Sie werden es überstehen.«

»Ach wissen Sie Bolgin. Ich glaube, irgendwie hat Linke-Waldek recht.«

»Haben sie Fieber? Dieser Mann hat nie recht, schon prinzipiell nicht.«

»Als Staatsanwalt bin ich eine Fehlbesetzung. Ich bin am falschen Platz.«

»Ist das ihr Ernst, was haben Sie vor?«

»Ich weiß es nicht. Ob ein Weg richtig oder falsch ist, merkt man leider erst, nachdem man ihn beschritten hat.«

»Amen«, entgegnete Bolgin respektlos, »beim BKA würden ihnen wahrscheinlich trotz dieser Angelegenheit noch einige Türen offenstehen. Oder eventuell auch genau deswegen.«

»Tja, wer weiß«, sinnierte Hartmann versonnen,

»aber Sie haben mir immer noch nicht gesagt, was es mit meinem verdammten Traum auf sich hat.«

»Erinnern Sie sich immer noch nicht? Wer den Computertrojaner programmierte, verfügte offenbar über einen morbiden Sinn für Humor. Die gefährliche Software versteckte sich zwischen Bilddateien. Es waren Unterwasseraufnahmen von Fischen.

»Ist mir klar, nur was soll morbide daran sein?«

»Es wird Zeit, dass Sie hier herauskommen, Hartmann. Simenchelys parasiticus ernähren sich, indem sie sich in lebende Fische hineinbohren und sie von innen auffressen. Bevor das Opfer spürt, was mit ihm geschieht, ist es zu spät.«

»Sie meinen, etwa so wie der Trojaner in dem pakistanischen Nuklearinstitut vorgegangen ist?«

»Wenn die Bilder kein Zufall sind, drängt sich dieses Gleichnis auf.«

»Und diese eigenartigen Masken?«

»Sie werden darauf kommen. Denken Sie an den letzten Moment vor ihrer Bewusstlosigkeit.«

»Danke, Herr Bolgin. Ich glaube, ich sollte jetzt etwas schlafen. Bevor ich anfange, wirres Zeug zu reden.«

Der Kriminalpolizist wühlte ziellos mit dem Finger durch einen Stapel auf dem Tisch verstreuter Medikamentenschachteln.

»Ungewöhnlich wäre es nicht, bei dem, was Sie an Tabletten intus haben.«

»Die sind nur gegen die Schmerzen.«

»Und, funktioniert es?«

»Nein.«

Bolgin lachte auf. Auf dem Weg zur Tür blieb er kurz stehen.

»Wissen Sie Hartmann. Manche Leute waren mir auf Anhieb sympathisch. Erst danach stellte ich fest, was für einen beschissenen Charakter sie haben.«

Die Blicke der Männer trafen sich, bevor Bolgin fortfuhr.

»Manchmal ist es genau umgekehrt. Ich werde jetzt ein paar Zimmer weiter gehen und wieder einmal versuchen, Atif Nizar zu befragen. Sofern mir die Schlapphüte vom BND nicht zuvorgekommen sind.«

»Viel Glück.«

Er öffnete die Zimmertür. Aus dem Gang klang geschäftiges Treiben bis zum Krankenbett. Hartmann bemühte sich, die Stimme zu erheben. Sein Brustkorb schmerzte.

»Eines muss ich noch wissen.«

»Nun übertreiben Sie’s nicht.«

»Peter Zimmermann?« Er sprach den Namen als bange Frage aus.

Weitere Falten legten sich auf die ohnehin zerfurchte Stirn des Kommissars. Er schüttelte den Kopf.

»Er hat nicht mehr erfahren, dass seine Frau überlebt hat.«

»Wie meinen Sie das? Der Notarzt sagte, die Vergiftung wäre nicht lebensgefährlich.«

»Das war sie auch nicht. Er hat im Krankenhaus vollendet, wovon Sie ihn abgehalten haben. Peter Zimmermann hat sein Ende selbst gewählt.«

Nachdem sich die Tür geschlossen hatte, herrschte augenblicklich wieder Stille im Raum. Hartmanns erhöhter Herzschlag und das leise Brummen der medizinischen Überwachungsgeräte war alles, was er wahrnahm.

Trotz des Verbots von Mobiltelefonen im Krankenhaus öffnete er die Schublade des kleinen Schränkchens. Er griff nach dem Handy. Sekundenlang kreiste sein Daumen über dem Namen Melanie Andersen. Dann legte er das Gerät auf den Tisch.

Sie hat keine Ahnung, was geschehen ist. Besser, wenn es so bleibt.

Robert Hartmann schloss die Augen. Er fühlte sich viel zu aufgewühlt, um einschlafen zu können. Doch es gab nichts anderes, was er hätte tun können. Wider Erwarten kroch alsbald tiefe Müdigkeit durch seine Glieder. Minuten verstrichen. Er spürte, dass er einschlief.

Dass sich abermals zwei Männer im Raum befanden, registrierte er erst, als die Tür vernehmlich geschlossen wurde. Seine Stimme klang belegt, während er die Fremden schlaftrunken musterte.

»Haben Sie sich im Zimmer geirrt? Für heute erwarte ich keinen Besuch mehr.«

Sein Blick blieb am Gesicht eines Mannes haften, der sich im Hintergrund hielt. Er war sich sicher, den Ausdruck starrer Entschlossenheit schon einmal gesehen zu haben. Der andere erschien ihm hingegen vollkommen unbekannt. Dem Stoff seines marineblauen Tweedanzugs war anzusehen, dass er Wert auf einen gepflegten Auftritt legte. Dabei verströmte er eher das souveräne Flair eines Gelehrten als die hektische Effizienz eines Managers. Das Lächeln über dem leicht vorspringenden Kinn wirkte ebenso eloquent wie routiniert.

»Ich kann ihr Misstrauen nachvollziehen. Aber wir sind schon richtig bei ihnen. Erlauben Sie mir, mich vorzustellen. Mein Name ist Dr. Vangard-Rausen.«

»Noch ein Dr.? Wissen Sie, eigentlich fühle ich mich von den hiesigen Ärzten ganz gut versorgt.«

Das Lächeln steigerte sich zu einem herzhaften, warmen Schmunzeln.

»Das trifft sich gut. Ich bin nämlich kein Mediziner.«

Vangard-Rausen setzte sich behutsam auf einen der Besucherstühle. Sein Begleiter blieb hingegen unbewegt stehen.

»Beruhigend. Zu viele Ärzte in meiner Nähe machen mich nervös. Doch wer sind Sie dann?«

»Sagen wir einfach, ich bin ein Berater.«

»Berater für was?«

»Meine Tätigkeit bezieht sich im Allgemeinen auf Fragen der Sicherheits- und Außenpolitik.«

Unerheblich vom Inhalt haftete den Sätzen des Beraters stets ein gebildeter Wohlklang an. Möglicherweise lag es an der sauberen, präzisen Betonung der Konsonanten und der Klarheit der Vokale. Seine eigene Stimme klang dagegen, wie Hartmann missbilligend feststellte, krähenhaft und unausgeglichen. Er wies die Schuld den Medikamenten zu.

»Tja, tut mir leid. Ich bin nur ein einfacher Staatsanwalt. Und selbst das erscheint nicht mehr sicher.«

»Wer Sie sind, ist mir bekannt, Herr Hartmann. Ich bin vom Kanzleramt sowie dem Verteidigungsministerium beauftragt, ihnen für ihren Einsatz zu danken. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Sie unser Land vor großem Schaden bewahrt haben. Sie können sicher sein, dass ihre Leistung respektiert wird.«

Das Gespräch war Hartmann seit seinem Beginn unangenehm. Er spürte, wie er zu schwitzen begann und räusperte sich. Das Kratzen im Hals hatte sich verstärkt.

»Das war es jetzt? Kein Orden am Krankenbett?«

Hartmanns Ironie amüsierte Vangard-Rausen.

»Bedauere.«

Der Sinn dieses Besuchs ist mit Sicherheit nicht, mir zu danken. Was glaubt er, von mir noch Neues erfahren zu können?

Ungeniert zeigte Hartmann auf den zweiten Mann. Er trug ebenfalls einen dunklen Anzug, jedoch einfacherer Güte.

»Kann er auch sprechen?«

Vangard-Rausen schien die Frage keineswegs zu irritieren.

»Captain Kilpatricks Deutsch ist etwas holprig. Aber für Sie wird er bestimmt sein Möglichstes tun.«

Captain Kilpatrick.

Die Vergangenheit schoss durch seinen Kopf. Er sah Kilpatrick neben dem Wrack des zerstörten Wagens, in dem Thilo Sievers gestorben war. Oberstleutnant Revers hatte ihn als amerikanischen Verbindungsoffizier vorgestellt. Revers war im Kernkraftwerk erschossen worden. Was tat Kilpatrick noch hier, warum war er überhaupt damals mit Revers am Tatort gewesen? Der Captain schien seine Gedanken zu ahnen. Sein Deutsch war in einem breiten Slang gefärbt, darüber hinaus aber annähernd fehlerfrei.

»Sie wundern sich bestimmt über meine Rolle in diesem Fall. Der Grund meiner Anwesenheit war ein Anfangsverdacht gegen Oberstleutnant Revers. Dabei ging es um Waffenschmuggel in einem relativ großen Stil. Ich habe mich unerkannt in seiner Nähe aufgehalten, um die Hintergründe aufzuklären. Tatsächlich waren wir aber ziemlich ahnungslos. Wir haben die Zusammenhänge leider sehr spät begriffen.«

»Zumindest noch rechtzeitig, um mir das Leben zu retten.«

»Dafür können Sie sich bei Detective Bolgin bedanken. Ein Spezialkommando hat Sie gerade noch rechtzeitig gefunden. Ich war dabei nur als Beobachter anwesend, mit dem Einverständnis der deutschen Behörden natürlich.«

Nur spärliche Emotionen überzogen das harte Gesicht, als er hinzufügte: »It’s good to see you alive.”

Captain Kilpatrick reichte Hartmann die Hand. Er verströmte physische Kraft. Robert Hartmann hingegen fühlte sich schwach und deplatziert in seinem Krankenbett. Anschließend verließ der Amerikaner zügig den Raum. Auch Dr. Vangard-Rausen erhob sich, wand sich dann aber Hartmann zu. Mit gewichtigem Blick legte er eine Visitenkarte auf die Ablage am Bett. Hartman sah erwartungsvoll zu ihm auf.

»Ich nehme an, ich sollte die Karte auswendig lernen, weil sie sich in wenigen Minuten selbst zerstört?«

Vangard-Rausen lächelte nur beinahe.

»Wenn ich etwas für Sie tun kann, haben Sie keine Scheu, es mir zu sagen.«

Mit Mühe gelang es Hartmann, seinen Körper ein Stück aufzurichten.

»Wofür steht Leviathan

Der selbstgewisse Gesichtsausdruck seines Besuchers veränderte sich plötzlich. Fast glaubte Hartmann, etwas Ängstliches darin erkannt zu haben.

»Sie sollten sich auf ihre Zukunft konzentrieren und die Vergangenheit ruhen lassen.«

Mit der Erwähnung eines einzigen Begriffs habe ich ihn in die Enge getrieben.

»Wäre es ihnen lieber, ich würde selbst Ermittlungen anstellen, sobald ich hier heraus komme?«

»Lassen Sie es gut sein. Im Übrigen würden sie nichts finden.«

»Ich denke, Sie unterschätzen immer noch meine Hartnäckigkeit.«

Vangard-Rausen atmete vernehmlich aus. Es klang resignativ. Hartmann entließ ihn nicht aus seinem Blick.

»Noch einmal. Was hat es mit Leviathan auf sich? Worin besteht die Verbindung zu Heiner Lynd?«

»Meine Kenntnisse sind begrenzt. Und was ich weiß, kann ich nicht mit ihnen teilen. Nur so viel: Es treten gelegentlich Situationen ein, die mit herkömmlichen Mitteln nicht zu bereinigen sind. So grotesk und unverständlich es für Sie auch klingen mag. Manchmal müssen Gesetze gebrochen, gewisse Grenzen überschritten werden, um ein prekäres Gleichgewicht zu erhalten. Um die Freiheit zu bewahren, die wir alle jeden Tag in genießen.«

»Sie sprechen von Aufträgen, die das Militär oder die Polizei nicht ausführen kann, weil sie illegal sind.«

»Ich spreche von gar nichts. Genau genommen unterhalten wir uns nicht einmal.«

»Schon klar, Lynd hat Probleme auf unkonventionelle Weise gelöst, bis er selbst zu einem geworden ist. Was bedeutet Leviathan?«

»Glauben Sie wirklich, Kilpatrick war zufällig hier? Über Projekte unserer Alliierten kann ich nicht sprechen. Wir haben personelle Unterstützung geleistet, mehr nicht.«

»Wie konnte Lynd so lange unbemerkt bleiben, nachdem er seinen Tod vorgetäuscht hat? Er benötigte immerhin neue Papiere, eine neue Identität. Oder gab es ein übergeordnetes Interesse, seinen Handel mit Kriegswaffen gewähren zu lassen?«

»Ich habe bereits mehr gesagt, als ich sollte. Die Welt ist nicht immer so friedlich, wie einige Gutmenschen sie sehen wollen. Was meinen Sie, wo Leute wie Lynd eingesetzt werden? In einigen dieser Länder gibt es nicht einmal eine funktionierende Justiz. Oder sie ist in den Händen von Kriminellen und Fanatikern. Da diese Tatsachen nicht zu vermitteln sind, finden manche Dinge im Verborgenen statt, ohne öffentliche Rechtfertigung.«

»Heiner Lynd wollte nicht mehr mitspielen«, warf Hartmann ein.

Unter Vangard-Rausens gepflegter Frisur kräuselten sich Falten auf der hohen Stirn.

»Leider hat all das in seinem Fall wohl ein übersteigertes Überlegenheitsgefühl bewirkt. Möglicherweise wurde eine Persönlichkeitsstörung durch spezifische Aspekte der Ausbildung verstärkt.«

Es klang, als trage er einen Teil der Verantwortung für Lynds Verbrechen selbst. Hartmann glaubte, daraus seinen Platz in der Hierarchie ablesen zu können. Er musste weit oben stehen.

»Seitdem er außer Kontrolle geraten ist, mussten viele Unschuldige sterben.«

»Das ist uns bekannt. Glauben Sie wirklich, Kilpatrick war nur wegen Oberstleutnant Revers hier?«

Hartmann verstand.

Er war hier, um Heiner Lynd ein Ende zu bereiten, nicht nur seinen kriminellen Geschäften. Lynd hatte recht. Er wäre niemals vor einem Gericht erschienen. Zumindest nicht lebend.

Nachdem Dr. Vangard-Rausen das Zimmer verlassen hatte, trank Hartmann ein Glas Mineralwasser aus, ohne abzusetzen. Dann ließ er seinen Körper auf die Matratze fallen. Tiefe Leere beherrschte ihn.

Wissen macht nicht glücklich. Es entzaubert die Welt, raubt einem die letzten Illusionen. Andererseits habe ich das Gefühl, weniger zu wissen, als jemals zuvor. Als hätten wir lediglich an einer brüchigen Oberfläche gekratzt.

Die Müdigkeit kehrte nicht zurück. Etwas später erschien eine Krankenschwester, um ihm das Essen zu bringen. Die Konsistenz der Suppe war zu dünn, es fehlte ihr auch an Würze. Dennoch tat sie gut. Das Übrige schmeckte abscheulich. Als er das Essen beendet hatte, schloss er die Augen.

Ruhe.

In der Umgebung des Krankenzimmers erschien die Handymelodie schrill und unangemessen. Er hatte vergessen, das Gerät auszuschalten. Benommen nahm er das Gespräch an. Hartmann verstand den Namen des Anrufers nicht. Der Mann am anderen Ende der Verbindung trug professionelle Distanz in der Stimme.

»Ich rufe als Rechtsbeistand von Silvana Hartmann an. Ihre Frau hat mich beauftragt, im bevorstehenden Scheidungsverfahren ihre Interessen zu vertreten. Sind Sie mit einem ersten Termin zur Erörterung einer außergerichtlichen Klärung der beiderseitigen Ansprüche einverstanden?«

Hartmann legte auf, ohne etwas erwidert zu haben. Er hielt seinen Finger so lange auf der roten Taste, bis sich das Telefon ausschaltete.

Lasst mich bitte einfach wieder einschlafen.

Minutenlang starrte er an die Decke. Schließlich besann er sich und schaltete das Gerät wieder ein. Die Nummer, die er anrief, war die erste im alphabetisch geordneten Namensspeicher.

Quälend oft wiederholte sich der Freizeichenton, ohne dass das Gespräch angenommen wurde. Hartmann war bereits im Begriff, aufzulegen, als eine weibliche Stimme wie eine Befreiung aus dem Mikrofon drang.

»Andersen.«

Er zögerte.

»Melanie?«

»Robert, bist Du das?«

Es klang etwas scheu. Als müsse sie sich vergewissern, keiner Täuschung zu unterliegen.

»Ich versprach, mich zu melden, sobald es möglich ist.«

Sie überwand ihre Überraschung schnell.

»Es ist immer gut, seine Versprechen zu halten. Hast Du deshalb angerufen?«

»Nein, es war mein erster Gedanke, nachdem...«

»Nachdem was... ?«

»Nachdem ich erledigt hatte, weshalb ich hier bin.«

»Dann gibt es sicher keinen Grund, länger zu bleiben als notwendig. Berlin wartet auf dich. Wahrscheinlich vermisst Du es schon.«

Offensichtlich wollte sie, dass er widersprach. Er tat ihr den Gefallen.

»Berlin wartet auf niemanden. Vermissen würde ich etwas, wenn ich jetzt ginge.«

Ihre Stimme legte alle Zweifel ab.

»Wo bist Du?«

Er reckte sich ein Stück in die Höhe und sah aus dem Fenster auf die breiten Fahrspuren der Aachener Straße, die kurz darauf in die Rübenacher Straße überging. Er erinnerte sich, die Umgebung schon einmal gesehen zu haben.

»Dem Blick aus dem Fenster nach zu urteilen im Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz

Ihre letzten Worte klangen aus dem Telefon wie ein eiliger Windhauch, von dem man nicht sicher sein konnte, ihn wirklich gespürt zu haben.

»Ich bin gleich bei dir.«

Die Verbindung war beendet. Er lehnte den schmerzenden Körper zurück und wartete auf sein Schicksal.

Eines war ihm klargeworden. Seine Zukunft würde eine andere Welt sein, als die ihm vertraute. Er fragte sich, ob er für diese Welt hart genug war. Doch bis auf Weiteres genoss er das Gefühl, die Zukunft nicht beeinflussen zu können, ihr ausgeliefert zu sein.

Über den Autor

PIC

Moritz Hirche, geboren 1980 in Berlin, veröffentlicht mit
„Todesfährte“ seinen ersten Kriminalroman. Das Wissen um die Arbeit der Ermittlungsbehörden erwarb er unter Anderem während seiner Tätigkeit als Beamter der Staatsanwaltschaft und Justizverwaltung. Die ungeschönten Einblicke in diese Realität nutzt er für seine Thriller um den ehemaligen Zielfahnder und Staatsanwalt Robert Hartmann. Moritz Hirche lebt wieder in seiner Geburtsstadt Berlin und schreibt an Hartmanns zweitem Fall.

Inhalt


Titel

I - Im finsteren Wald

II - Die Kreuzigung

III - Das Haar in der Suppe

IV - Die Falle

V - Flashback

VI - Verbotene Stadt

VII - Kiefernruh

VIII - Fette Beute

IX - Wolfsfieber

X - Alte Wunden

XI - Schnell rein, schnell raus

XII - Die Pforte zur Hölle

XIII - Das Wurmloch

XIV - Das zweite Gesicht

XV - Der letzte Vorhang

Der Autor

Bücher



Wolfssünde


Hartmanns zweiter Fall










Schlicht und einfach die Wahrheit?


Die Wahrheit ist selten schlicht und niemals einfach


(Oscar Wilde)









Hinweis:

Es existieren keine Parallelen zu lebenden oder verstorbenen Personen. Etwa auftretende Ähnlichkeiten sind Zufall und nicht beabsichtigt. Die baulichen und landschaftlichen Hintergründe der Handlungsorte des Romans entsprechen überwiegend den realen Gegebenheiten, erheben jedoch keinen Anspruch auf Abbildung der tatsächlichen Verhältnisse.    

I



Im finsteren Wald



morituri non cognant 

(lat.: die Todgeweihten sind ahnungslos)




Landstraße 74, zwischen Wünsdorf und Töpchin


Das knurrige Motorengeräusch verebbte. Wie immer ließ sie den betagten, grünen Mercedes-Geländewagen vor der alten Schranke stehen. Vor Jahrzehnten musste sie einmal rot-weiß gestreift gewesen sein. Jetzt bedeckte Grünspan die Reste der Farbe, die noch nicht abgeblättert war. Der Schlagbaum versperrte den Zugang zu einem der verwilderten Forstwege, die das riesige Areal durchzogen wie blutleere Adern einen toten Körper. 

Das Blechschild, das sich an den rostigen Schlagbaum klammerte, wirkte hingegen noch recht neu: 

Naturschutzgebiet 

 (ehemaliges militärisches Übungsgelände)

Von dieser Fläche gehen erhebliche Gefahren für Leben und Gesundheit aus.   


Darunter stand noch irgendetwas Unheilvolles von alter Munition, Explosionsstoffen, Chemikalien, einsturzgefährdeten Bauwerken und unterirdischen Anlagen.  


Hinter der Schranke begann hügeliger, lichter Kiefernwald, gelegentlich durchsetzt von Eichen, Birken und Erlen. Letzte Sonnenstrahlen fielen durch die Stämme auf den bemoosten Boden. 

Julia Singer öffnete die Heckklappe, hinter der Cheetah geduldig wartete. Die große Hündin sprang heraus, schnupperte halbherzig, entfernte sich aber nicht vom Auto. Singer schulterte den kleinen Rucksack, der außer einer digitalen Nikon-Kamera eine Wasserflasche und einige nützliche Utensilien enthielt. Dann band sie in einer uneitlen Bewegung die brünetten Haare zum Pferdeschwanz. Zuletzt steckte sie den Revolver in das Holster am Gürtel. Nur für alle Fälle. Ein gut gepflegter 38er von Smith & Wesson. Beileibe kein High-Tech, aber zuverlässig. Für eine Försterin erfüllte er seinen Zweck. Ein Gewehr nahm sie, wie meistens, nicht mit. Ohnehin war das einzige, das sie zu schießen gedachte, Fotos. 

Der Weg, der sie tiefer in den Wald führte, war bald kaum noch als solcher zu erkennen. Eine Wildnis, mitten in Brandenburg. Über dreihundert Hektar Sumpf, Sand, Wiese und Wald. Nein, es war mehr als eine Wildnis. Ein vergessener, ein verbotener Ort. Seit 1994 die letzten sowjetischen Streitkräfte abgezogen waren, hatte man das riesige Areal sich selbst überlassen. Gebäude verfielen, Bunker wurden allmählich überwuchert. Erst ein paar Jahre später war halbherzig damit begonnen worden, zumindest die gefährlichsten Altlasten zu beseitigen. Offen herumliegende Granaten oder Ähnliches waren seitdem nicht mehr zu befürchten. Anschließend wurde das Sperrgebiet offiziell zum Naturschutzgebiet erklärt.  

Doch alle Dinge, vor denen das Schild warnte, waren noch da. 

Dort, wo niemand hinsah. 


Als zuständige Forstbeamtin war Julia Singer für den erfreulichen Teil dieser Entwicklung zuständig. Die Natur hatte das Terrain zurückerobert, soweit es ihr nicht schon vorher gehörte. Eine reichhaltige Flora und Fauna gedieh allerorten. Seltene Arten hatten hier ein ungestörtes Refugium gefunden. Darunter auch eine große, räuberische Spezies, deren Auftauchen nicht bei allen Begeisterung hervorrief. 

Cheetah trottete ohne Leine neben Singer her, ließ sich auch von einer Eidechse nicht ablenken, die neben ihr durch trockenes Laub raschelte. Nach etwa drei Kilometern verjüngte sich der Weg zu einem schmalen Pfad. Er führte einen Hügel hinauf. Ein Schutthaufen zwischen den Kiefern war von Gras und Flechten überwuchert. Unweit davon wuchsen wilde Heidelbeeren. 

Wenige Minuten später passierte die Försterin ein kleines Gebäude. Auf dem Dach fehlten die meisten Ziegel. Es war verlassen. Wie alles andere hier. Warum hatte man es einst  gebaut? An einer Mauer waren die Reste einer kyrillischen Aufschrift zu erahnen.  

Von hier aus war ihr Ziel nicht mehr weit. In einer Senke lichtete sich der Wald. Sie nahm Cheetah an die Leine. Ab jetzt durften sie keine Geräusche mehr verursachen und keine Spuren hinterlassen. Allmählich begann die Dämmerung.  Jagdzeit. Der kleine Hochstand am Waldrand, den sie kürzlich mit zwei Forstarbeitern errichtet hatte, bot gerade soviel Platz, dass sie es mit dem Hund ein paar Stunden darauf aushalten konnte. Singer legte Fernglas und Fotoapparat neben sich. Sie schraubte das Objektiv für Nachtaufnahmen auf und machte einige Probeaufnahmen von der Stelle auf dem Hügel, an der sie die Köder ausgelegt hatte. Cheetah saß neben ihr auf einer kleinen Decke. Wieder einmal hatte Singer festgestellt, dass es kein einfaches Unterfangen war, einen ausgewachsenen Rhodesian-Ridgeback auf einen Hochstand zu hieven. Es musste lächerlich ausgesehen haben. Aber wen interessierte das schon? In einem Umkreis von mindestens fünfzehn Kilometern um sie war kein Mensch. Davon war zumindest auszugehen. Verzichten wollte sie weder auf Cheetahs scharfe Sinne noch auf ihre Gesellschaft. Unten bleiben konnte sie auch nicht. Es war zu gefährlich. Denn die, auf die Singer wartete, würden die Hündin töten, falls sie sie witterten. Man hätte es ihnen nicht vorwerfen können. Sie waren es gewohnt, um das Überleben ihres Rudels zu kämpfen. In ihrer Welt gab es keinen Napf mit frischem Fleisch am Morgen und keine warme Decke am Abend. 

Canis Lupus war zurück. Ja, es gab wieder Wölfe in Brandenburg.  

Hundertzweiundfünfzig Jahre, nachdem ein Gutsherr stolz verkündet hatte, das letzte Exemplar in dieser Gegend erschossen zu haben. Die Menschen registrierten es mit einer Mischung aus Entsetzen und Faszination. Von Begeisterung bis Abscheu war alles darunter. Wie so oft lagen Liebe und Hass dicht beieinander. Die Aussicht, dass es in den Wäldern wieder ein großes Raubtier gab, polarisierte besonders die Bevölkerung in den angrenzenden Dörfern. 

Als Försterin sah Julia Singer es als ihre Aufgabe an, für den Wolf zu werben. Zur friedlichen Koexistenz zwischen Mensch und Tier beizutragen. Es handelte sich aus ihrer Sicht dabei eher um ein emotionales Problem. Der Wolf wollte im Normalfall mit Menschen nichts zu tun haben und nahm rechtzeitig Reißaus. Zumindest, solange man ihn nicht in die Enge trieb. Es würde alles kein Problem sein, wenn man dem Ärger aus dem Weg ging. 

Dass sie an diesem Abend bewusst die Nähe der Raubtiere suchte, war Teil dieser Mission. Ziel war es, möglichst viele Fotos des Rudels aufzunehmen. Wer war der Leitwolf, wie viele weibliche Tiere gab es? Waren womöglich schon Welpen geboren worden? Abgesehen vom wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn konnten gelungene Aufnahmen eine  Menge zum positiven Image des Wolfs beitragen. Vielleicht gelang es ihr sogar, ein Muttertier mit ihren Welpen zu fotografieren. Ein Anblick, der kaum weniger anrührte, als ein tapsiger  Wurf junger Hunde. 

Soviel zur Theorie, dachte Singer. Sie mochte Tiere. Eigentlich sogar lieber als Menschen. Dennoch beschlich sie ein mulmiges Gefühl, während sie zusah, wie die Dämmerung in Dunkelheit überging. Wer sich im Wald nicht auskannte, wurde regelrecht von der Nacht  überrascht. Cheetahs dunkle Augen starrten wachsam umher, die Ohren waren aufgerichtet. 

Singer trank einen Schluck Wasser, hielt dann jedoch inne. Der Drang, zur Toilette zu müssen, wäre jetzt denkbar unpassend. Sie hob das schwere Fernglas an. Es war kein Nachtsichtgerät, doch die Linsen waren für schlechtes Licht optimiert. Schemenhaft erkannte sie die Fleischköder im Moos. Dort, wo sie die Abdrücke der Tatzen gefunden und Cheetah die Losung der Wolfsrüden gewittert hatte. Die Fleischbrocken wirkten allesamt noch unberührt. Sie wartete. Und wartete. Eine Ewigkeit, so kam es ihr vor. Es wurde kühl. Singer fröstelte und zog den Reißverschluss ihres Parkas höher. Cheetahs Wachsamkeit hatte merklich abgenommen. Die Hündin schien stattdessen mit dem Gedanken zu spielen, sich trotz des beengten Raumes auf der Decke zusammenzurollen.  

Das Rudel würde an diesen Platz zurückkehren, das lag in der Natur der Tiere, versicherte sich Singer fast trotzig. Gleichzeitig war sie sich bewusst, dass es mit jeder Minute  unwahrscheinlicher wurde, dass sie in dieser Nacht einen Wolf zu Gesicht bekam. Der Biorhythmus der Tiere sprach ganz einfach dagegen. Die Armbanduhr war der Meinung, dass es bereits auf dreiundzwanzig Uhr dreißig zuging. Sie seufzte enttäuscht. Warum ignorierte das Rudel die Köder? Warum mieden die Wölfe ihren alten Lagerplatz, obwohl dort eine mühelose Mahlzeit wartete? 

War sie zu nah? Oder hatten die Tiere sie doch gewittert? 

Es gab viele mögliche Gründe. Erstmals gönnte sie sich ein langgestrecktes Gähnen. Die Anspannung ließ merklich nach. Während sie ihre Augen zusammenpresste, drang ein Geräusch an ihre Ohren. Ein Knacken. Wie ein Zweig unter einem Schuh. Die Tiere des Waldes erlaubten sich solche Unachtsamkeit nicht. Auch Cheetah war aufgeschreckt. Ihr kräftiger Körper straffte sich. 

Offenbar keine Täuschung. 

Singer kramte im Rucksack nach der Taschenlampe. Ob sie damit Tiere verscheuchte, spielte jetzt keine Rolle mehr. Es waren keine in der Nähe. Zumindest nicht die, wegen denen sie sich hier die Nacht um die Ohren zu schlug. Sie ließ den Lichtstrahl ziellos durch die Stämme wandern, die in der Dunkelheit wie ein unfreundliches Labyrinth wirkten. 

Nichts. Vielleicht doch nur ein Wildschwein.  

Das Geräusch wiederholte sich nicht. Sie wartete noch, wusste aber selbst nicht mehr, worauf. Ein zweiter Blick zur Uhr. Irgendetwas deutlich nach Eins. Die Geisterstunde war lange vorüber. Zeit zu gehen. Sie trank etwas Wasser, verstaute ihre Sachen und bereitete Cheetah darauf vor, dass der Rückweg keineswegs angenehmer sein würde. Die Holzsprossen ächzten, während sie mit dem Hund in die Dunkelheit hinabstieg. Eine Dauerlösung war das nicht. Unten angekommen, schaltete sie die Stablampe ein und entschied, Cheetah vorsichtshalber anzuleinen. Doch die Hündin wirkte mit einem Mal unruhig. Als habe sie etwas gesehen, gerochen oder gehört, was den untauglichen Sinnesorganen eines Menschen zwangsläufig entgehen musste. 

Im spärlichen Licht lenkte Singer ihre Schritte über den Hügel, hinter dem der Pfad begann, der sie zurück zur Landstraße führte. Der dicke Moosteppich verschluckte die Schritte ihrer Stiefel. 

Singer kannte sich hier aus, soweit das überhaupt möglich war. Dennoch war sie erleichtert, als sie endlich den Forstweg erreichte. Noch drei oder vier Kilometer bis zum Wagen. Sie kam schnell voran. Der Lichtkegel wanderte über das hohe Gras, das auf der einstigen Fahrspur von Panzerketten wuchs. Sie fühlte Müdigkeit in sich aufsteigen. Ein erneutes tiefes Gähnen lenkte ihren Blick für Sekunden vom Weg ab. 

Plötzlich zog der Hund so ruckartig an der Leine, dass ihr das Ende mit der Schlaufe aus der Hand rutschte. „Hierher, Cheetah“, rief sie ärgerlich. Der Lichtstrahl folgte dem Hund. Sie setzte an, das Kommando in gesteigerter Lautstärke zu wiederholen. Doch der Ton blieb ihr im Hals stecken. 

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739463407
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (August)
Schlagworte
Geheimnis Sammelbände Brandenburg Bundle Wölfe Sperrgebiet Zielfahnder Mosel Bundeskriminalamt Pfalz Psychothriller Krimi Noir

Autor

  • Moritz Hirche (Autor:in)

Moritz Hirche, geboren 1980, veröffentlicht mit "Wolfssünde" seinen dritten Roman. "Todesfährte", der erste Thriller um den BKA-Zielfahnder und ehemaligen Staatsanwalt Robert Hartmann, belegte mehrfach vorderste Plätze in den ebook-Charts. Sein zuletzt erschienener History-Thriller "Die Physikerin" wurde als ebook-Bestseller ausgezeichnet und fand auch in anderen europäischen Ländern Beachtung. Der Autor lebt wieder in seiner Geburtsstadt Berlin und schreibt an seinem nächsten Roman.
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Titel: Bestseller-Doppelpack: Todesfährte & Wolfssünde