Lade Inhalt...

Leuchtturmmusik

von Andreas Séché (Autor:in)
250 Seiten

Zusammenfassung

»Sie kam an einem Abend in unser Dorf, der von so makelloser Windstille war, dass manche später beteuerten, die Welt habe vor lauter Aufregung für eine Weile das Atmen vergessen. Und sie brauchte nur eine einzige Geste, um unser aller Leben auf den Kopf zu stellen.«


Als Tristan im Wald von einer Wildfremden geküsst wird, ist dies erst der Anfang eines ganzen Reigens wundersamer Ereignisse in einem idyllischen Fischerdorf. Und plötzlich beginnen die Ersten, sich ihrer längst vergessenen Lebensträume zu erinnern.
Steckt die Unbekannte dahinter? Tristan macht sich auf die Suche nach ihr – und findet schließlich Emily: natürlich, intensiv und sofort voller Zuneigung zu ihm. Doch Emilys Geheimnis wiegt genauso schwer wie Tristans eigenes.


Manche Menschen wirken über sich selbst hinaus.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog

Vier Sommer ist all dies nun her.

Seitdem versammeln wir uns einmal im Jahr oben am Leuchtturm auf dem Kliff und machen ein wenig Musik. Am Ende stimmen die Fischer einen leisen, respektvollen Gesang an, in den wir alle nach und nach einfallen, selbst die sonst so stille Gestalt im Rollstuhl. Manche summen einfach nur mit. Andere geben jedes einzelne Wort mit großer Sorgfalt in den Wind hinein. Am klarsten aber höre ich die Stimme von Emily.

Und wenn wir schließlich die letzte Strophe aus uns herausgesungen haben, stehen wir für eine Weile schweigend da und blicken unserem Lied hinterher, während es über den Ozean davonschwebt.

Erster Teil

Lebenslustwandeln

1. Sandkorn

Sie kam an einem Abend in unser Dorf, der von so makelloser Windstille war, dass manche später beteuerten, die Welt habe vor lauter Aufregung für eine Weile das Atmen vergessen. Sie sagte kein Wort, machte mit ihren Händen eine einzige Geste, nach der nichts mehr wie vorher war, und ließ uns alle sprachlos zurück.

Ich glaube, ausgerechnet die alte Gwen war die Erste, die sie bemerkte. Um diese Zeit kehrte sie wie immer vor ihrer Netzweberei den Straßenstaub beiseite, zu dem der Tag zerfallen war. Und wenn Gwen fegte, dann tat sie das mit einer Gewissenhaftigkeit, als gebe es für die Menschheit zwar kein Morgen mehr, wohl aber eine Verpflichtung, die Erdkugel in einem ordentlichen Zustand zu hinterlassen. Für gewöhnlich war sie so verbissen bei der Sache, dass einige sie verdächtigten, zu ihrem eigentlichen Lebenswerk nicht den Laden auserkoren zu haben, sondern den Gehsteig davor. Und so vermochte normalerweise nichts und niemand ihre Aufmerksamkeit zu erringen, solange sie dem Schmutz zu Leibe rückte. Doch an jenem Tag war es anders. Dieses eine Mal blickte sie auf.

Ich kann mich erinnern, dass ich überrascht die Kiste mit den Makrelen ins Kühlregal zurückgleiten ließ und Richtung Fenster sah, weil ich Gwen draußen plötzlich nicht mehr fegen hörte. Sie stand reglos im Abendlicht, hielt sich am Besen fest und starrte die Straße hinunter. Vor der Schwankenden Schenke unterbrachen zwei von den Schiffsjungen, die dort gegen Abend immer herumlungerten, ihr Gelächter und folgten Gwens Blick. Ich wischte mir die Hände an der Schürze ab und trat hinaus, um zu sehen, was los war.

Die Fremde schlenderte heran wie eine, die schon mal losgegangen war, noch bevor sie sich über ihre Absichten im Klaren war, wie aufs Geratewohl hierhergelangt, aber dieser Eindruck täuschte. Sie wusste genau, was sie tun würde und warum sie ausgerechnet zu uns gekommen war. Wenn ich so darüber nachdenke, wundert mich, dass wir damals, als wir ihre Beweggründe noch nicht kannten, diese eine Frage nie gestellt haben: weshalb sie gerade unser Dorf ausgesucht hatte. Auf der Landkarte fand man uns nur mit zusammengekniffenen Augen, und wir dachten immer, dass man jedem tiefgreifenderen Lebensziel schon sehr konsequent abgeschworen haben müsse, um für den Besuch eines solch abgelegenen Nestes bereit zu sein.

Die Fremde kam also über die alte Dorfstraße, hübsch und schlank und mit kurzen blonden Haaren. Sie trug ein einfaches helles Kleid, aber keinerlei Gepäck, nicht mal eine kleine Tasche. Hinter dem Gesicht versuchte sie irgendein Geheimnis zu verbergen, aber man konnte es in ihren Augen glimmen sehen. Einige sagten später, sie habe eine lodernde Wut in sich getragen, andere fanden, sie habe eher belustigt gewirkt, und wann immer Leon, der alte Leuchtturmwärter, dazu befragt wurde, schilderte er mit dramatischen Gesten, wie Ebbe und Flut in ihr miteinander gerungen hätten. Tatsächlich tobten hinter ihrem Gesicht so viele und unvereinbare Empfindungen, dass sie unmöglich allesamt ihre eigenen sein konnten. Die Arme hingegen bewegten sich locker und fast wie von selbst, als sei ihr bisher entgangen, dass sie welche hatte, und die Hände, mit denen sie in unserem kleinen Kosmos herumzurühren gedachte, schwangen leicht hin und her.

An Wohnhäusern und Geschäften vorbei führte die Straße direkt zum Strand hinunter. Ich hätte schwören können, dass sie kurz zu mir herübersah, als sie meinen Laden passierte, ansonsten hielt sie den Blick beharrlich nach vorn gerichtet. Die rote Sonne stand bereits am Horizont, aber das gehörte natürlich zu ihrem Plan, und sie ging geradewegs auf sie zu, mit ihrem verzerrten Schatten im Schlepptau. So kam sie an uns vorbei, wie ein Köder, den man durch einen Fischschwarm zog. Und als wir ihr nachsahen, während sie auf das Meer zusteuerte, ein einsamer, anmutiger Schemen vor dem Abendrot, bissen wir an. Selbst aus den Seitengassen traten sie heraus und gesellten sich zu der verwunschenen Prozession, die mit flüsternden Stimmen und raschelnden Kleidern der Gestalt folgte. Manche, die die Unbekannte für eine Lebensmüde hielten, die einfach schnurstracks in den Ozean hineinwaten und nie wieder daraus auftauchen würde, wägten ab, ob es anständiger sei, sie aufzuhalten oder sie ziehen zu lassen, aber so oder so schien es ihnen angebracht, dabei zu sein. Hinter mir tuschelte jemand etwas von einer Pilgerin, die so lange nur von ihren eigenen Gedanken begleitet gewesen sei, dass sie den Verstand verloren habe und mit theatralisch ausgestreckten Armen versuchen werde, das Meer zu teilen.

Ich weiß noch, wie seltsam einverstanden alle wirkten mit einer Wildfremden, die uns durch unser eigenes Dorf leitete, als weise sie ausgerechnet denen den Weg, die seit Jahrzehnten hier lebten und jede Straße tausendfach gegangen waren. Und ich bewundere sie dafür, dass bis zum heutigen Tag niemand etwas Anmaßendes daran findet. Aber eigentlich ist dies ein Kompliment an all die wunderlichen Gestalten, die schon so lange am Wasser wohnen und noch immer alles, was ihnen vor die Füße gespült wird, gewissenhaft untersuchen, um ihm seine Geschichte zu entlocken und vielleicht daran zu wachsen. Kein anderer Nachbar der Welt macht einen so neugierig wie der Ozean.

Als wir die Häuser hinter uns ließen und über den Strand stapften, verebbte das Geflüster. Die Fremde schritt auf das Meer zu, und kurz bevor sie es erreichte, hielt sie an, und wir verharrten in einiger Entfernung, gespannt, was sie nun tun würde. Zunächst blieb sie einfach vor der Sonne stehen und schaute auf den Ozean hinaus. Nach einer Weile drehte sie sich langsam um, und zum ersten Mal blickte sie uns alle an. Sie nickte leicht, als sei sie zufrieden mit dem, was sie sah. Dann schien sie sich auf das Bevorstehende zu konzentrieren und beachtete uns nicht weiter, aber das machte nichts. Die meisten von uns sind Fischer und deshalb Situationen gewohnt, in denen man schweigt und wartet.

Schließlich schüttelte die Fremde kurz ihre Finger, ging in die Hocke und kam mit zwei Handvoll Sand wieder hoch.

Und dann tat sie es.

Ich kann mich erinnern, dass ich von einem Augenblick auf den anderen vollkommen die Fassung verlor. Noch niemals in meinem Leben war meine Gegenwart auf eine einzige Sekunde zusammengestaucht worden. Ich weiß nicht, was die anderen um mich herum in diesem Moment taten. Die Fremde machte nur eine kurze Handbewegung, eine Geste, so ungeheuerlich, dass ich fast aufgeschrien hätte. Sie hatte die Fäuste mit den Fingern nach unten gehalten, sodass ich erwartet hatte, dass sie den Sand einfach wieder zu Boden rieseln lassen würde. Stattdessen schnellten ihre Arme nach oben. Gleichzeitig öffneten sich die Hände ein wenig, und durch die Fingerritzen entwich der Sand in den Himmel. Über dem Kopf der Unbekannten fuhren die Körner ins rote Sonnenlicht, manche höher als andere, manche mehr zur Seite oder nach vorne, und an einigen Stellen schienen sie dichter aneinander zu schweben und dunklere Flecken zu bilden, als sei die Flugbahn jedes einzelnen Körnchens von den Fingern blitzschnell, aber mit unglaublicher Präzision bestimmt worden. Und ich sah, wie all diese winzigen Punkte für einen kurzen Augenblick eine Möwe formten, einen schwebenden Körper mit elegant geschwungenen Flügeln und nach vorn gestrecktem Schnabel. Einen Vogel, geboren aus Sand, mit flirrenden Umrissen vor der Sonnenglut, wie aus einem unsichtbaren Zylinder hervorgezaubert. Dann fiel das Gebilde auch schon wieder zusammen, und die Fremde ließ ihre Arme sinken. Für einige Atemzüge stand sie einfach da und blickte durch uns hindurch. Niemand sagte etwas.

Dann ging sie los. Mit schlendernden Schritten kam sie an uns vorbei, und wir standen da wie vom Donner gerührt und sahen ihr nach, während sie gemächlich den Strand hinaufspazierte, als sei nichts geschehen. Kleiner und kleiner wurde sie, bis sie schließlich die alte Dorfstraße erreichte und verschwand. Wir wandten uns wieder dem Meer zu und starrten schweigend auf die Stelle, wo der Sand zu Boden gerieselt war wie eine Saat, und ich glaube, wir alle spürten, dass er genau das sein würde.

2. Sandkorn

»So, Muscheln verscherbelst du nun auch.«

»Kann sein.«

»Und die Makrele da?«

»Ist von gestern. Ich schenk sie dir.«

»Einfach so?«

»Einfach so.«

Der Junge warf einen misstrauischen Blick auf den Fisch, ließ ihn aber zusammen mit ein paar Eiswürfeln in seiner abgenutzten Plastiktüte verschwinden. Ich kann mich nicht erinnern, dass Sammy jemals mit einer anderen Tüte zu mir in den Laden gekommen wäre, und einmal, als er sein Wechselgeld vergessen hatte und ich ihm nachgegangen war, hatte der Junge bereits vor Saras Haus gestanden und die Tüte auf links gedreht über einen Zaunpfahl gestülpt, um sie mit einem maroden Gartenschlauch abzuspritzen. Doch soviel ich weiß, besaß er noch eine zweite für Obst und Gemüse.

Sammy wandte sich wieder den Jakobsmuscheln zu und stupste sie mit dem Zeigefinger an, um sich einen fachkundigen Anschein zu geben. Er rümpfte die Nase, wie immer, wenn er den Preis drücken wollte.

»Sicher teuer, was?«, fragte er.

»Wie viel hast du denn mit?«

Er kramte in den Taschen seiner verschlissenen Hose und brachte drei Münzen zum Vorschein.

»Genug für zwei Muscheln«, sagte ich. Es reichte nicht mal für eine.

Sammy fingerte klappernd zwischen den Schalentieren herum, nahm eins auf, drehte es vor seinen prüfenden Augen hin und her, legte es wieder weg und entschied sich schließlich für die zwei kleinsten Muscheln, die er finden konnte. Anscheinend hatte er mich durchschaut.

»Wie geht’s Sara?«, fragte ich, um abzulenken. Er ließ seinen Fang zu der Makrele in die Tüte gleiten und schob mir die Münzen über den Tresen. »Besser«, antwortete er und studierte mit übertriebener Gründlichkeit seine Hand.

»Was ist los?«

Er lächelte kurz. »Neuerdings verlässt sie wieder öfter das Haus.«

»Das ist gut.«

»Ja.«

»Wo geht sie hin?«

»Spazieren. Sagt sie.«

»Sagt sie?«

Sammy zuckte mit den Schultern. »Wenn sie zurückkommt, ist sie immer wie ausgewechselt. Fast wie früher. Ich glaube nicht, dass sie einfach nur herumspaziert.«

Geräuschvoll zog er die Nase hoch, wie um daran zu erinnern, dass er eigentlich noch ein kleiner Junge war. Er musste schnell erwachsen werden und hatte zu früh gelernt, Täuschungsmanöver zu erkennen. Manchmal machte ihm das zu schaffen.

»Neulich hat sie sogar selbst gekocht«, fuhr er fort und wedelte kurz mit seiner Fischtüte.

»Ich schätze, die frische Luft wird deiner Mutter einfach guttun.«

»Davon hat sie eigentlich mehr als genug, wenn sie hinten auf der Veranda hockt und in den Garten starrt. Oder in das, was davon übrig ist.«

»Soll ich vorbeikommen und mich um ihn kümmern?«

»Weiß nicht. Ich glaub, sie will das ganze wuchernde Zeug. Ist wie Gras über etwas wachsen lassen.«

»Ich könnte trotzdem mal wieder kommen und nach ihr sehen. Auch wenn es ihr besser geht. Oder gerade deshalb. Was würdest du davon halten?«

»Meinetwegen.«

Kurz war seine Miene die eines Hausherrn, der für gewöhnlich streng über die Zulässigkeit von Besuchen seines Anwesens entschied, sich aber ausnahmsweise zu einem Akt gnädiger Duldsamkeit hatte hinreißen lassen. Ein Gutsbesitzer, der sich für einen Moment vor seiner eigenen Gutmütigkeit ekelte.

Ich weiß, dass manche im Dorf Sammy nicht mochten, und ich glaube, dass es Augenblicke wie dieser waren, die dazu geführt hatten. Eine Sekunde lang passte man nicht auf, ließ sich von einer Äußerlichkeit zu einem Urteil verführen, vielleicht von einem kurzen Satz oder einem noch kürzeren Gesichtsausdruck, und schon verschwand das Gegenüber dahinter, samt seinen Erlebnissen und Bürden. Und ein kleiner Junge konnte besonders leicht hinter allem Möglichen verschwinden. Sammy hatte sich von der Vorsehung ein Leben andrehen lassen, das drei Nummern zu groß für ihn war, und ironischerweise war er zu jung gewesen, um sich gegen ein Erwachsenen-Dasein zur Wehr zu setzen. Doch wenigstens hatte nie jemand Sara selbst einen Vorwurf gemacht, denn obwohl sie ihrerseits zeitweise allen Ernstes einen Frosch für die schrecklichen Ereignisse von damals verantwortlich gemacht hatte, hielten die meisten sie weiterhin für zurechnungsfähig genug, um von Sammy dieses Gebaren nicht verlangt zu haben. Aber vielleicht glaubten sie auch einfach, Sara sei ohnehin schon so hart vom Schicksal getroffen worden, dass sie unmöglich auch noch an Sammys Verhalten schuld sein könne.

»Bekommt ihr denn manchmal Besuch?«, fragte ich.

»Der Gottesmann schaut ab und zu vorbei.« Sammy schüttelte den Kopf, als zählten Gottesmänner nicht.

»Vielleicht besucht sie ja selbst irgendwen. Gut möglich, dass sie jemanden kennengelernt hat«, schlug ich vor und zwinkerte ihm zu.

»Eher nicht. Gestern kam sie zurück und hatte Blut an den Fingern.«

»Blut?«

»Nicht viel. Zwei, drei kleine Flecken. Ich hab’s trotzdem gesehen.«

»Nun, wir sind ein Fischerdorf. Hier klebt ständig wem Blut an den Händen. Manchmal muss man nur irgendwas anfassen, und schon –«

»Kann sein.« Besonders überzeugt schien er nicht.

Wir schwiegen kurz, und schließlich schickte Sammy sich an zu gehen, aber mir brannte noch eine Frage auf den Lippen. »Wart ihr neulich auch am Strand?«

»Als diese fremde Frau da war?«

Ich nickte.

»Danach fing es ja an mit den Spaziergängen meiner Mutter. Sie brachte gerade den Müll raus, als plötzlich alle zum Strand runtergingen, und da hat sie sich einfach mittreiben lassen, barfuß und ohne die Tür zu schließen, und ich hab mir die Schlüssel geschnappt und bin hinter ihr her. Seitdem verlässt sie jeden Tag das Haus und ist für ein paar Stunden fort. Wenn ich sie frage, wohin sie spazieren geht, lächelt sie nur und macht einen auf geheimnisvoll.«

»Verstehe. Ich schau demnächst mal bei euch vorbei«, versicherte ich noch einmal.

Sammy nickte wieder und strebte auf den Ausgang zu, doch in der geöffneten Tür hielt er inne und drehte sich zu mir um. Und wie er so auf der Schwelle stand, schmolz das grelle Licht von draußen ihn für einen Augenblick zur Silhouette eines kleinen Jungen mit strubbeligen Haaren zusammen, der gerade von zu Hause mit einer Tüte voller Spielzeugautos zu seinen Freunden aufbricht.

»Danke«, sagte er.

»Ich besuche euch gern mal wieder.«

»Das hab ich nicht gemeint.«

»Sondern?«

Er hob kurz die Tüte. »Die Makrele. Ich hab ihr in die Augen geschaut.«

»Und?«

»Die glänzen noch. Sie ist gar nicht von gestern.«

3. Sandkorn

Ach, Saras Garten.

Er lag auf meinem Schulweg, hinter einem Zaun aus weißen Holzlatten, die kaum kniehoch waren, sodass ich mich als Junge oft gefragt habe, wen er eigentlich aufhalten sollte. Denn ganz offensichtlich fand sich in der Welt außerhalb des Zauns kein einziges menschliches Wesen, das ihn nicht mühelos hätte übersteigen können, und so hatte sich meiner jungen, zu allem bereiten Fantasie schnell die Frage gestellt, ob der Zaun womöglich gar nicht verhindern sollte, dass man den Garten betrat – sondern, dass irgendetwas ihn verließ. Vielleicht war das geheimnisvolle Refugium hinter dem Zaun von allerlei winzigen Fabelwesen bevölkert, die zwischen den Büschen und Bäumen lebten, und eigentlich war es die Neugier auf diese Geschöpfe, die mich jeden Tag auf dem Weg zur Schule über den Zaun hinweg in den Garten hatte spähen lassen. Immer war ich darauf gefasst, dass irgendein Gnom hinter einem Baumstamm hervorlugte und mich angrinste oder mir eine Elfe aus einer Blüte zuwinkte. Doch das erste märchenhafte Wesen, das ich eines Tages dort erblickte, war Sara selbst.

Unsere gemeinsame Geschichte begann mit einer Leiche. An jenem Tag stand ich wieder mal am Zaun und schaute in den Garten, als ich einen blonden Haarschopf zwischen zwei Sträuchern hindurchhuschen sah. Neugierig ging ich ein Stück weiter, um besser sehen zu können, aber wieder konnte ich nur für einen kurzen Augenblick die blonden Haare in einer Lücke zwischen den Büschen sehen. Also machte ich ein paar weitere Schritte und reckte meinen Kopf, und schließlich tauchte das Mädchen hinter einem Magnolienstrauch auf. Es trug einen langen Pferdeschwanz, der leicht hin und her pendelte, während es auf einen Teich zulief und an seinem Ufer in die Hocke ging.

Ich war damals zehn Jahre alt und Sara fünf, und ich beneidete sie ein wenig darum, dass sie diesen sonnigen Morgen im Garten verbringen konnte, während ich zur Schule musste.

»Oh nein«, hörte ich sie sagen. Dann stupste sie mit einem Zweig gegen etwas, das auf dem Boden lag.

»Stimmt was nicht?«, rief ich, und sie blickte überrascht zu mir herüber.

»Hier liegt ein toter Mann«, antwortete sie und winkte mich heran. Also trat ich über den kleinen Zaun und lief zum Teichufer. Dort ging ich neben ihr in die Hocke.

»Ich bin Sara.«

»Tristan.« Ich deutete auf das reglose Tier im Gras. »Das ist kein Mann, sondern ein Frosch«, sagte ich, nicht ohne Stolz auf mein höheres Alter und den damit offensichtlich einhergehenden Vorsprung an Weisheit. Vielleicht war es doch nicht so schlecht, den Vormittag im Unterricht zu verbringen. Sie schüttelte traurig den Kopf und strich mit dem Zweig über das Tier wie mit einem Zauberstab, der Tote wieder zum Leben erwecken kann.

»Klar sieht er wie ein Frosch aus. Jetzt hat er ja auch keine Zeit mehr.«

»Keine Zeit mehr für was?«

»Na, ein Mann zu werden.«

»Ach so.« Ich lächelte jovial und überreif. »Du wolltest ihn küssen, damit er ein Prinz wird, nicht?«

Sie blickte zu mir auf und runzelte die Stirn. »Wie alt bist du denn?«

»Schon zehn.«

»Und du glaubst noch an Märchen?«

»Quatsch«, sagte ich erschrocken.

Sie blickte wieder auf den Frosch herab und seufzte, vielleicht wegen des Tiers, vielleicht aber auch meinetwegen. Nachdem die Wiederbelebungsversuche mit dem Zauberzweig gescheitert waren, legte sie ihn so im Gras ab, dass seine Blätter den Kadaver zudeckten.

»Ich hab’s im Fernsehen gesehen«, fuhr sie nach einer Weile fort. »So einen Film, wie die Erde entstanden ist. Und wir.«

»Und?«

»Da haben sie gesagt, dass wir erst Fische sind. Und dann als Frösche an Land kommen. Und da irgendwie zu Menschen werden.« Sie zeigte auf den bedeckten Frosch und schüttelte gefasst den Kopf. »Außer diesem hier.«

Etwas in der Art hatte ich auch schon mal gehört, aber ich bekam es nicht mehr so genau zusammen.

»Da würde ich mich doch dran erinnern«, sagte ich also ausweichend. »Wenn ich ein Frosch gewesen wäre.«

»Also kannst du dich auch nicht erinnern!«

»Natürlich nicht.«

»Dann ist es doch möglich!«

»Aber wenn sich niemand erinnern kann, wieso wissen die im Fernsehen es dann?«

»Meine Oma weiß es auch.«

»Deine Oma?«

Sie zeigte auf das Haus, zu dem der Garten gehörte. »Ich lebe bei ihr.«

»Und sie erinnert sich, dass sie mal ein Frosch war?«

»Sie weiß, dass wir uns immer wieder verwandeln.«

»Bis wir endlich Menschen sind?«

Sie blickte sich um, legte den Zeigefinger auf ihre Lippen und flüsterte: »Nein. Wenn wir Menschen sind, ist es noch nicht vorbei.«

»Nicht? Was kommt denn dann noch?«

»Danach geht es in den Himmel. Mit Flügeln!«

»Und woher will deine Oma das wissen?«

»Na, wegen meiner Eltern«, sagte Sara leise.

Der Morgen hauchte einen Luftzug durch den Garten, als puste eine besorgte Mutter lindernden magischen Atem auf die Schürfwunde ihres Kindes. Am Ufer raschelte sanft das Schilf, und eine blau schimmernde Libelle wippte auf einem Halm hin und her. Mücken tanzten über dem Wasser. Der Teich, aus dem vielleicht alles Leben dieses Planeten hervorkroch, spiegelte den Himmel wider. Ich sah kleine Fische durch die Wolken schwimmen und fragte mich, ob sie deshalb womöglich in dem Glauben waren, schon am Ende ihrer Reise angekommen zu sein.

Überhaupt war die Welt auf dieser Seite des weißen Holzzauns von einer solchen Idylle, dass man sie leicht für den Garten Eden halten konnte. Nicht weit von uns entfernt gurrten etliche Tauben in einer Voliere. Knorrige Obstbäume wuchsen an Stellen aus dem Boden, die ganz offensichtlich nicht ein Mensch, sondern die Natur selbst ausgewählt hatte. Die Holzdielen der Veranda waren um einen dicken Apfelbaum herum verlegt worden, und seine Krone schmiegte sich dicht ans Haus. Weitere Bäume standen mitten auf der Wiese, die mit blühendem Klee und allerlei wilden Blumen durchzogen war. Überall wuchsen Büsche, und an einem toten Baumstamm rankten Passionsblumen mit exotisch geformten blauen Blüten empor. Direkt neben dem Haus strahlten prachtvolle weiße Rosen, und auf der Terrasse sah ich einen alten Schaukelstuhl und Dutzende bepflanzte Kübel und Töpfe. Weiter hinten hatte Saras Großmutter einen Gemüsegarten angelegt. In seiner Mitte stand ein alter Holztisch, der zu einem Hochbeet für allerlei Kräuter umfunktioniert worden war. Meiner kindlichen Fantasie offenbarte sich ein Paradies, das eigens für Saras Eltern geschaffen worden war, um sie in der Welt zu halten.

»Meinst du, sie sind hier noch irgendwo?«, fragte ich also und deutete mit einer ausholenden Armbewegung auf den Garten.

»Sicher. Wo sollen sie sonst sein!«

»Ich dachte, im Himmel?«

»Aber doch nicht immer.« Sie schüttelte energisch den Kopf, und ihr Zopf schlug dabei wild hin und her, wie um jede anderslautende Ansicht zu verscheuchen.

»Wie, nicht immer?«

»Manchmal müssen sie sich schließlich auch hinsetzen. Da, schau!« Sara zeigte auf den Ast eines jungen Kirschbaums. Dort hockten zwei ihrer geflügelten Wesen. Sie zwitscherten fröhlich in der Morgensonne.

Ich nickte lächelnd. Dann ließ ich meinen Ranzen vom Rücken ins Gras sinken. An diesem Tag schwänzte ich das erste und einzige Mal die Schule. Am Ende war Saras Refugium tatsächlich voller kleiner, magischer Geschöpfe.

4. Sandkorn

Ich kann mir kaum vorstellen, dass unser Wald schon immer von einer solchen Duldsamkeit war, denn für gewöhnlich ist Nachsichtigkeit eine Gemütslage, in die man erst hineinwachsen muss. Im Laufe der Jahrhunderte hatten Kriege, Industrialisierung und saurer Regen am Forst gezerrt, und unser heranwucherndes Dorf an seinem Rand und die damalige Mülldeponie in seinem Herzen mussten ihm einiges abverlangt haben. Nach allen Regeln der Todesfolter hatte man ihn mit Giften durchtränkt, mit Äxten und Sägen verstümmelt und ihm mit glimmenden Zigarettenkippen immer aufs Neue schwere Brandwunden zugefügt. Doch selbst die ältesten Berichte in unserem Archiv erwähnen keinen einzigen Menschen, der für immer im Unterholz verschwunden war, keinen Waldarbeiter, den man unter einem gefällten Stamm begraben gefunden hatte, keinen Reiter, dem eine Wurzel zum Verhängnis geworden war, nicht einmal ein Fischerboot, das aus dem Holz der Bäume gebaut worden und gleich beim Stapellauf auf unerklärliche Weise gesunken war. Nie schien der Wald es wem heimgezahlt zu haben, aber vielleicht war gerade dessen unbeeindrucktes Weiterleben seine Vergeltung am Menschen, der, kaum geboren, schon hinfällig war.

Der Wald stand in Saft und Kraft, als sei die viele Zeit einfach spurlos durch ihn hindurchgesäuselt wie ein kleinlauter Windseufzer. Ich folgte verschlungenen Pfaden, die von Büschen und Bäumen so zugewuchert waren, dass sie mir den Blick auf das Kommende versperrten, und für einen Augenblick fragte ich mich, welchen menschlichen Antrieben ein solcher Trampelpfad wohl entsprungen war. Eines Tages war der Erste hier entlanggegangen, ohne zu wissen, dass er der Erste von etwas war, aber diese zwei Füße werden kaum bereits eine Spur gelegt haben. Und doch hatte sich aus Gründen, die nur das Universum kennt, irgendwann ein anderer für genau dieselbe Strecke entschieden, und dann noch einer und noch einer, alle von einer unbekannten Anziehungskraft schnurstracks hier entlanggelockt. Und so hatte sich mit der Zeit aus dem Nichts ein Pfad festgeschrieben, und Verbotenes war legitim geworden. Aus ein paar Fußabdrücken hatte sich etwas Gangbares entwickelt, und bis auf den heutigen Tag verließen andere jene offiziellen Wege, die sich für ihre Ziele verbürgten, und folgten stattdessen ebenfalls dem Trampelpfad ins Ungewisse, gerade als seien sie alle sich darüber im Klaren, dass Abwegiges immer auch ein Versprechen ist. Und dass ein paar kleine, verborgene Fährten hin zu überraschenden Zielen viel beständiger sind als ein brachialer Kahlschlag, der keine Geheimnisse mehr lässt. So beständig, dass andere noch auf unseren Spuren wandeln, wenn wir selbst schon längst nicht mehr sind. Mit Trampelpfaden prägen wir unsere Möglichkeiten in die Welt und schreiben uns selbst in ihr fest.

Mein Weg führte mich hinauf zu Julias Balkon. So nannten wir die Lichtung, die am Ende des Pfades lag, eine mit Blüten gesprenkelte Wiese, die von Bäumen und Büschen umgeben war, bis auf einen Durchlass ganz am Ende, eine grün umrahmte Empore, von der man auf das Meer blicken konnte, das weiter unten gegen die Felswand schwappte und in Wallung geriet wie ein ungestümer Romeo.

Zitronenfalter flatterten so lautlos über die Lichtung, als seien Geräusche ihnen peinlich, und ich verspürte plötzlich eine tiefe Sympathie für diese seidenen Geschöpfe, die die Welt kaum anrührten und nur hier und da an ihr nippten. Ein Tanzschwarm aus winzigen Insekten hing glitzernd im Sonnenlicht und ließ mich kurz an das schwebende Kunstwerk der Sandwerferin denken. Irgendein Tier knisterte im Unterholz herum, vielleicht ein Fuchs oder ein Reh. In den Bäumen trällerten die Lerchen, Buchfinken, Meisen und Zaunkönige mit einer solchen Beharrlichkeit, dass man meinen konnte, Singen sei ihre Art zu atmen. Und bei all dem Gezwitscher fragte ich mich, wann eigentlich zuletzt jemand überprüft hatte, ob wirklich zu jeder Stimme noch ein lebendes Geschöpf gehörte, oder ob klammheimlich die Lieder längst verstorbener Vögel einfach immer weiter durch den Wald klangen. Ganz in meiner Nähe keckerte eine Elster. Auf der Wiese zirpten die Grashüpfer, und ein paar Bienen summten zwischen den Blüten umher.

Ich schloss meine Augen und lauschte dem Gesang von Leben, wie es sich nur aus dem Samen einer Schöpfung entfalten konnte, die man keinen Plänen unterworfen hatte. Sie war vielmehr selbst der Plan, dem Flora und Fauna sich anvertrauten, im Leben wie im Sterben. Und unter der Melodie lag dieses Rauschen, bei dem man nie ganz sicher sein konnte, ob es aus den Baumkronen tönte oder zwischen den eigenen Ohren. Hier, auf Julias Balkon, verschmolz es mit dem Wellenbrausen, das aus der Ferne heraufdrang, und der Salzgeruch des Meeres vermischte sich mit dem belebenden Waldduft, als habe die Natur an diesem Ort etwas Neues komponieren wollen.

Langsam öffnete ich meine Augen. Sonnenstrahlen brachen durch die Baumkronen und bildeten Lichtpfeiler auf der Wiese, die windschiefen Säulen eines märchenhaften Luftschlosses. In seinen Morgenstunden schien der Tag noch irgendein Leck zu haben, durch das mehr Hoffnungsstrahlen in die Wirklichkeit sickern konnten als zu späterer Stunde. Vielleicht weil sich das, was in der Früh geschah, nicht in bereits Erlebtes einzufügen brauchte. Morgens waren Ereignisse noch freier in dem, was sie sein wollten.

Der Hain war in ein sinnlich-diffuses Licht getaucht. Manchmal werden wir von diesen Sinneseindrücken aufgewühlt, die einem das Gefühl von Heimat geben, so wie der Duft, den eine Wiese voller blühender Kamille verströmt oder frisch gewendetes Heu. Das Geklapper von Geschirr, das am Abend aus den Wohnungen auf die Straße dringt. Der brummende Motor eines Rasenmähers in der Nachbarschaft. Das Läuten von Kirchenglocken. Oder die Eigenheiten eines Fischerdorfes, die einem am Rande einer lockenden See das Heimatgefühl besonders sorgfältig verankern, etwa das Knarren festverzurrter Kutter im Hafen, die beständigen Rufe der Möwen und Albatrosse oder der vertraute Geruch nasser Taue und Fischernetze. Und manchmal sind es bestimmte Lichtspiele, wie der durch die Abenddämmerung gleitende Strahl von Leons Leuchtturm, die Glühwürmchen an Saras Gartenteich, der warme Lampenschein, der zu später Stunde aus der Schwankenden Schenke auf das Kopfsteinpflaster fällt, sobald jemand die Tür öffnet – oder eben das heimelige Morgenlicht auf Julias Balkon, begleitet vom einlullenden Zwitschern der Vögel. Ich fühlte mich von jener behaglichen Nestwärme durchdrungen, in deren Wirkbereich mehr erlaubt scheint als anderswo.

Und dann, mitten in diesen Augenblick schwindelerregender Geborgenheit hinein, trat plötzlich die Frau, die den Sand geworfen hatte, über den Trampelpfad auf die Lichtung.

Mir fiel sofort die Frische auf, die sie ausstrahlte, mit ihren kurzen blonden Haaren und einer Haut, die so vollkommen unbehelligt von äußeren Einflüssen schien, dass sie unmöglich in den rauen Küstenwinden aufgewachsen sein konnte. Sie trug eine weiße Bluse, einen raffiniert geschnittenen Rock und Sandalen. Eigentlich sah sie aus, als hätte sie sich für einen Einkaufsbummel in der Stadt zurechtgemacht und nicht für einen Waldspaziergang, aber merkwürdigerweise wirkte es an ihr kein bisschen fehl am Platze. Sie fügte sich so vollkommen natürlich in den Hain ein, als sei sie Teil seines Geistes, und weil dieser mich gerade so intensiv durchdrang, trug er sie direkt in mich hinein und machte sie so auch zu einem Teil meiner selbst. Ich spürte, wie das Gefühl vollendeter Geborgenheit, von dem ich ohnehin schon ergriffen war, sie auf der Stelle mit einbezog.

Einen Atemzug lang dachte ich wirklich, dieses wundersame Wesen sei eigens gekommen, um die Lichtung am Ende des Trampelpfades um ein weiteres Geheimnis zu bereichern. Aber sie tanzte ohne zu zögern direkt auf mich zu und war so wenig überrascht, an diesem abgelegenen Ort jemanden anzutreffen, dass sie mir wohl gefolgt sein musste. Sie war nicht wegen des Waldes hier, sondern meinetwegen.

Natürlich tanzte sie nicht wirklich, es war eher eine federleichte Unbeschwertheit, mit der sie sich wie bei einem Walzer ihrer eigenen Bewegung ergab. Sie kam so zielstrebig auf mich zu, als sei es längst ausgemachte Sache zwischen uns und überdies ohnehin nicht zu ändern, dass wir hier auf Julias Balkon etwas erschaffen würden, das niemals dahinschwinden könnte. Vielleicht hatte das Schicksal den Wald dafür ausgesucht, weil seine Unsterblichkeit selbst kurzen Augenblicken die Möglichkeit gab, sich tief in der Zeit zu verwurzeln.

Und so, wie Emily die Lichtung über den Trampelpfad betreten hatte, betrat sie auch mein Inneres abseits der herkömmlichen Wege, auf denen Menschen üblicherweise aufeinander zugehen. Sie lächelte nicht, während sie heranschwebte, aber sie trug einen liebenswürdigen und unwiderstehlichen Blick, wie die insgeheime Einladung einer Vertrauten. Ihr ganzes Wesen war von einer solchen Wahrhaftigkeit erfüllt, dass nichts, was wir tun könnten, eine Lüge wäre.

Und so taten wir es. Sie trat vor mich, ich öffnete meine Arme, und sie glitt hinein, als könne es auf der Welt keinen selbstverständlicheren Ort für sie geben.

»Ich bin Emily«, sagte sie.

»Tristan«, antwortete ich und fügte noch ein gestelztes »Guten Morgen« an, aber sie ließ sich davon nicht abschrecken, und ich spürte, wie ihre Hände sich an meine Schultern legten. Ich blickte in dunkelblaue Pupillen, aus denen es kein Entrinnen gab und die sich langsam meinem Gesicht näherten. Emily begann zu lächeln, und ihre Lippen öffneten sich ein wenig. Sie neigte den Kopf leicht zur Seite und betrachtete mich neugierig. Schließlich stupste sie ihre Nasenspitze an meine.

»Küss mich, Gutenmorgen-Tristan«, flüsterte sie. Ich war kein bisschen überrascht.

Vorsichtig nahm ich ihr Gesicht in meine Hände, und sie umschloss meine Handgelenke mit ihren Fingern, eine zärtliche Zustimmung zu meiner Geste. Als ich fühlte, wie ihr Mund sanft meinen berührte, schloss ich die Augen. Emilys Lippen bewegten sich so respektvoll, wie die Zitronenfalter an der Lichtung nippten, zart und erkundend, gerade noch spürbar und doch sehr intensiv. So sachte, dass es mehr eine innere als eine leibhaftige Berührung war.

Unsere Zurückhaltung rührte nicht daher, dass wir einander fremd gefühlt hätten, sondern eher daher, dass wir uns so vertraut waren. Ich kann nicht sagen, woher diese Vertrautheit kam. Vielleicht aus dem Umstand, dass wir aus irgendeinem unverzeihlichen Grund in der Vergangenheit keine gemeinsame Zeit gehabt hatten und das nur bedeuten konnte, dass wir in der Zukunft eine haben würden. Kann man sich auch durch das nahestehen, was erst noch kommt? Und konnte dies so unweigerlich, so zweifelsfrei sein, dass sich daraus gewissermaßen ein Gefühl vorauseilender Vertrautheit ergab? Oder nährte Emilys Kuss sich letztlich klammheimlich doch aus der Vergangenheit, nur eben nicht aus Erlebtem, sondern aus schon immer Erhofftem? Hatte das Leben sich darangemacht, meine Entwürfe in die Tat umzusetzen? War Emily im Grunde nicht über den Trampelpfad gekommen, sondern aus meinem Innern, aus meinen Bedürfnissen? Nicht, dass ich damals an all dies einen Gedanken verschwendet hätte. Wir neigen nicht zur Analyse, wenn wir trunken sind.

Ich war aufgewühlt, aber nicht erregt, fühlte mich am Anfang einer Reise und trotzdem angekommen. Erobert, aber nicht besiegt. Behutsam berührt und doch mit unglaublicher Wucht getroffen. Emily glitt tiefer in mich hinein als ich selbst je in mich vorgedrungen war, und sie schien dort etwas zu finden, das bisher geschlafen hatte. Gleichzeitig war mir, als gebe sie etwas in meine Obhut, mehr noch, als halte ich nicht nur ihr Gesicht, sondern auch ihr Leben in Händen. Emily fühlte sich an wie jemand, der jeden Moment anfängt zu singen, weil er so erfüllt ist, dass er bereits überschwappt. Sie flüsterte, sie ergab sich, sie fiel, und ich fiel mit ihr. Zum ersten Mal war ein Kuss für mich etwas, bei dem man sich so nahe war, dass man schon ineinander überging.

Eine sinnliche Zuneigung fuhr mir ins Herz, und ich spürte eine tiefe Bewunderung dafür, dass ein verletzliches, irdisches Wesen sich an einen so zerbrechlichen Gedanken wie einen Kuss heranwagte. Während die Seele dieses Kusses nur einen Atemzug brauchte, um sich zu entfalten, war für die Entwicklung der rein körperlichen Berührung viel zu wenig Zeit, und so ist diese mir heute eher als ein wohltuendes Versprechen in Erinnerung. Denn schon nach wenigen Augenblicken löste Emily ihre Lippen so vorsichtig, als wolle sie sichergehen, dass sie etwas von sich in mir zurückließ.

Ich öffnete meine Augen. Sie lächelte noch immer. Offensichtlich war sie sehr zufrieden mit dem, was sie gerade angerichtet hatte. Schließlich ließ sie meine Handgelenke los, trat einen Schritt zurück und schuf damit ein Schlupfloch, durch das Vogelgesang und Meeresrauschen in meine Wirklichkeit zurückfanden. Schweigend stand Emily im Morgenlicht und erwiderte meinen Blick. Ein leichter Wind fuhr durch ihre kurzen Haare. Am liebsten hätte ich sie sofort wieder an mich gezogen, aber ich fürchtete, die Situation damit nicht zu bereichern, sondern ihr etwas zu nehmen. Es war besser, sie jetzt gehen zu lassen.

»Ich muss los, Gutenmorgen-Tristan«, sagte sie prompt. »Bitte folge mir nicht. Noch nicht.«

Ein Abschied. Und ein weiteres Versprechen.

»Auf Wiedersehen, Emily«, sagte ich benommen. Sie nickte und machte ein paar Schritte rückwärts. Dann drehte sie sich um und ging über den Trampelpfad langsam davon.

Manchmal endet die Liebe mit einem Abschiedskuss. Unsere nicht.

Sie sollte mit einem beginnen.

5. Sandkorn

Fürs Erste spukte Emily als guter Geist in meinem Innern herum und versüßte mir mit allerlei Tagträumen und Rauschzuständen mein Unvermögen, mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Zwischendurch versuchte ich gewissenhaft, meinen Verstand für meine eigenen Zwecke einzuspannen, vor allem für die Arbeit, aber er driftete immer wieder ab. Die alte Gwen kehrte kurz nach ihrem Einkauf in meinen Laden zurück, weil ich ihr Makrelen statt Forellen eingepackt hatte. Dafür hatte ich irgendwem die Seehecht-Filets mitgegeben, die für Leon reserviert gewesen waren. Drei Kunden bekamen ihr Wechselgeld erst, als sie mich abwartend anblickten. In der Mittagspause ließ ich einen großen Korb Frischfang im Kühlhaus des Hafens stehen. Ich vergaß, dass ich zwischendurch auf einen Sprung bei Sara und Sammy vorbeischauen wollte. Gegen Nachmittag rief Ismael an, der mit gewetzten Messern in der Küche der Schwankenden Schenke stand und die Suppe für den Abend nicht vorbereiten konnte, weil ich versäumt hatte, ihm die Kiste mit den Aalen zu liefern. Als ich sie ihm brachte und mich schon am Eingang Bratenduft empfing, knurrte mir plötzlich der Magen: Ich hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen und es nicht einmal bemerkt. Es war einfach ein großartiger Tag.

Die Welt um mich herum war einverstanden und passte sich meinem neuen Befinden an. Das Gras hatte beschlossen, nach Basilikum zu riechen, überall in den Straßen wuchsen eindeutig mehr Bäume und Büsche als am Tag zuvor, die Klangfarben dörflicher Betriebsamkeit waren wohltemperiert wie noch nie, im Radio spielten sie nur eigens für mich ausgewählte Songs, und ich hätte schwören können, dass irgendwer sämtliche Hausfassaden in hellere Farben umgestrichen hatte. Die Hitze der abendlichen Strandfeuer präsentierte sich auf einmal als verheißungsvolle Metapher und die Sektflasche, die seit einer Ewigkeit in meinem Kühlschrank stand, als prickelndes Versprechen. Das Obst auf dem Markt erwies sich als Labsal ambrosischen Glücks für uns Erdenwanderer. Überhaupt gaben sich die meisten Dinge plötzlich als Entwürfe für etwas Größeres zu erkennen, das nur deshalb zu einem Gegenstand zusammengepresst worden war, weil uns das Anfassen leichter fiel als das Fassen.

Nachdem Emily im Laufe des Tages ungefähr zwanzigmal durch das gleißende Licht des Eingangs in meinen Laden geschwebt und dort auf der Stelle zu einer Träumerei verpufft war, beschloss ich nach der Rückkehr aus der Schwankenden Schenke, mein Geschäft früher als sonst zu schließen. Vielleicht war Emily gezielt an diesen abgelegenen Ort gekommen, um einen Urlaub abseits von Hektik und Tourismus zu verbringen, oder aber es steckte irgendeine verwegen spontane Entscheidung dahinter. Sie könnte zum Beispiel eine Landkarte an einen Baum gehängt und dann einfach einen Dartpfeil darauf geworfen haben, und so war sie hier bei uns gelandet. Ganz sicher war sie nicht nur gekommen, um zwei Handvoll Sand in die Luft zu werfen, und wahrscheinlich befand sie sich momentan in den Gassen oder am Strand auf einer romantischen, aber einsamen Erkundungstour. Und zufällig verspürte ich gerade heute das Bedürfnis, ein wenig durch die Straßen zu schlendern und dann vielleicht am Meeresufer entlangzuwandern und die frische Seeluft zu genießen.

Tatsächlich war auch Emily unterwegs, merkwürdigerweise immer genau am äußersten Rand meines Blickfeldes. Und jedes Mal, wenn ich sie zu erfassen suchte, verschwand sie gerade hinter einer Gruppe Menschen, einem Baum, einer Hausecke, im Nichts, zwischen ein paar Sträußen Petersilie, unter einem Berg Honigmelonen oder in einer Kiste Erdbeeren. Ich behielt nämlich für eine Weile unseren prächtigen Markt im Auge, der (wie ich mir überlegt hatte) als verbindliche Sehenswürdigkeit für die erste Touristin unseres Dorfes zweifellos durchgehen würde. Um nicht durch sinnloses Herumlungern aufzufallen, stellte ich mich an die öffentliche Taubenvoliere. Sie war nichts weiter als ein überdachter Gitterverschlag, und während man sich dem intensiven Studium der Vögel widmete, hatte man nebenbei durch den Käfig hindurch einen nicht unbeträchtlichen Teil des Marktplatzes im Blick. Sara hatte die Tiere ihrer Großmutter im Garten gehalten, als Notration für harte Zeiten, wie sie manchmal im Scherz gesagt hatte, aber als sie sich nicht mehr um sie kümmern konnte, war der Taubenschlag auf den Markt umgezogen, wo für die Tiere immer etwas Essbares abfiel. Die Marktleute steckten es durch die Gitter wie liebevolle Zuwendungen für unrechtmäßig Gefangene, von denen aber niemand wusste, ob sie in Freiheit noch überlebensfähig wären. Da die Tauben braun waren und es zwölf von ihnen gab, nannten alle im Dorf sie nach dem Kriegsfilm aus den sechziger Jahren das dreckige Dutzend.

Die Vögel hockten schweigend auf ein paar Ästen, die man ihnen in die Voliere gestellt hatte, und zuckten gelegentlich mit den Köpfen, als führe überraschend ein Geistesblitz in sie. Nachdem ich den Markt eine Weile durch die Gitter hindurch beobachtet hatte, nahm ich mir vor, noch so lange zu bleiben, bis ich im Geiste die Schauspieler aufgezählt hatte, die im Film den Major und seine zwölf Soldaten spielten. Danach wollte ich zum Strand weiterziehen. Aber ich bekam nur Donald Sutherland, Telly Savalas, Charles Bronson und Lee Marvin zusammen. Also beschloss ich, die Tauben einfach durchzuzählen, langsam und gewissenhaft, damit Emily genug Zeit hatte, doch noch hinter einem der Obststände aufzutauchen.

Ich kam bis elf.

Zweimal überprüfte ich meine Zählung, aber es blieb dabei: Dem dreckigen Dutzend fehlte eine Taube.

Das Gitter war nirgendwo beschädigt und die Tür abgeschlossen wie immer. Vielleicht war eines der Tiere gestorben, und jemand hatte es entsorgt. Ich wusste nicht einmal, wer den Schlüssel hatte, seit die Voliere am Marktplatz stand, und ob überhaupt noch einer existierte, denn ich konnte mich nicht entsinnen, dass der Käfig seitdem jemals wieder geöffnet worden wäre.

Irritiert trat ich an den nächsten Verkaufsstand. Er gehörte einem Imker, dessen Namen niemand kannte und den alle den Honigfischer nannten, weil er immer mit dem Boot aus einem anderen Küstendorf angetuckert kam und seine Nektargläser in einem Fischernetz vom Hafen zum Markt schleppte.

»War heute jemand am Taubenschlag?«, fragte ich.

»Ich glaub nicht. Wieso?«

»Eine von den Tauben ist weg. Hat irgendwer was darüber gesagt?«

»Nein, ich hab nichts gehört. Scheint bisher niemandem aufgefallen zu sein.«

Ich nickte und machte mich auf den Weg zum Strand, denn eigentlich war ich ja gerade auf der Suche nach einem anderen verlorenen Geschöpf.

6. Sandkorn

Der Ozean umspielte den Saum des Festlandes mit einer Sanftheit, die man der größten Urgewalt der Erde hoch anrechnen musste. Das Meer, das uns mühelos auslöschen könnte, nutzte seine Macht stattdessen, um sich selbst im Zaum zu halten. Womit es uns einiges voraushatte.

Während ich am Wasser entlangwanderte, spülten mir die Wellen mit jeder Muschel und jeder Krabbe einen weiteren Hinweis vor die Füße, dass es dort unten noch einen anderen Kosmos gab, der auf unserem Planeten zwar einen gigantischen Raum einnahm, sich uns aber dennoch entzog. Wie viele solcher unermesslichen Welten es wohl gab, von denen wir nicht einmal etwas ahnten, weil wir die aus ihnen angeschwemmten Zeichen übersahen?

Durch die Wolken fielen die Strahlen einer verborgenen Sonne aufs Meer, sodass man glauben konnte, sie stiegen in Wirklichkeit aus der Tiefe des Ozeans in den Himmel empor. Im Wasser schaukelten ein paar Boote. Zwei Fischkutter steuerten den Hafen an, der weiter hinten den Strand durchbrach und sich mit seinen Piers ins Meer hineinfraß wie mit einem lückenhaften Gebiss. Ein glitzernder Spülsaum aus Perlmutt und feuchtem Seetang zog sich am Ufer entlang. Möwen dösten im Sand, und ein paar Jungen trugen bereits Holz für ihre Lagerfeuer heran. Pepe, mit dem ich manchmal in der Schenke ein Bier trank, kam mir mit seinem Hund entgegengelaufen und winkte mir zu. Doch obwohl sie wunderschön in dieses Idyll hineingepasst hätte, war eine Frau mit kurzen blonden Haaren weit und breit nicht zu sehen. Kurz bevor ich den Hafen erreichte, drehte ich mich um und ging denselben Weg in die Gegenrichtung ab, um zu verhindern, dass Emily und ich unsere Leben nur deshalb getrennt und zwischen allerlei Seelenschutt verbringen würden, weil wir gerade die ganze Zeit hintereinander hergingen, ohne uns zu bemerken.

Schließlich setzte ich mich in den Sand und beobachtete das Meer, ein friedvoller Anblick von langsamen, in sich ruhenden Bewegungen. Die untergehende Sonne spiegelte sich in den Wellen. Um mich herum flammten die ersten Strandfeuer auf, und an einem davon begann jemand, seine Gitarre zu stimmen. Vor meinem inneren Auge sah ich uns in einer sternenklaren Nacht hier an einem Lagerfeuer sitzen, nur Emily und mich mit der Gitarre, die ich im wirklichen Leben weder besaß noch spielen konnte, aber in meinen Träumen schon, und nachdem ich Emily das eine oder andere schmachtende Stück zu Gehör gebracht hatte, verschmolzen wir in einer verwegenen Liebesszene miteinander, zwei glühende Körper und Herzen, begleitet vom Knistern des Feuers, dem Meeresrauschen und dem Rascheln von Kleidung, die sich erübrigt hatte. Die magische Anziehungskraft unserer Leidenschaft zog die Flut über den Strand bis zu uns herauf, und sie benetzte uns mit weichen Wogen, die noch die Wärme eines heißen Tages in sich trugen. Und dann rollten Emily und ich durch das flache Wasser, vollkommen der Liebe und ihren Zutaten verfallen, sanft und tief und unmissverständlich. Immer aufs Neue rauschte in unserem Innern etwas heran, ebbte ab und brandete wieder auf, wie die Wellen selbst, und bald konnten wir nicht mehr unterscheiden, was Ozean war und was wir. Und irgendwann lagen wir glücklich im Wasser und lachten den Mond an, nach schätzungsweise fünfundzwanzig schwindelerregenden und natürlich gemeinsamen Höhepunkten sowie einigen damit verbundenen tektonischen Ereignissen, die man im ganzen Land spüren konnte und über deren rätselhafte Ursache man wochenlang auf allen Fernsehkanälen diskutieren würde.

Um in die Wirklichkeit zurückzufinden und Emily für heute aus meinem Kopf zu verbannen, wandte ich meinen Blick nach rechts, wo in einiger Entfernung gerade der Leuchtturm aufflammte. Seine Kennung bestand aus einem unterbrochenen Feuer, was bedeutete, dass das Licht alle fünf Sekunden kurz abgedunkelt wurde. Für einen Leuchtturm war dies nicht selbstverständlich, bei denen mit Blitzfeuer verhielt es sich zum Beispiel umgekehrt. »Das Licht währt länger als die Dunkelheit«, sagte Leon manchmal, nicht ohne Stolz auf seine Turmkennung, die auf diese Weise Zuversicht ausstrahle. Die Arbeit ließ ihm genug Spielraum, um allerlei erhellende Gedanken auszubrüten, weshalb er bei einigen philosophisch Desinteressierten in den Verdacht geraten war, auch über sein Handwerk hinaus ein Hüter des Lichts sein zu wollen. Aber dies war eher ein gutmütiges Spiel: Leon war nicht von hier, und anfangs hatte niemand etwas über ihn gewusst, also war man es ihm schuldig gewesen, ihn mit etwas Beredenswertem auszustatten, damit er nicht das Gefühl hatte, in den Dorfgesprächen vernachlässigt zu werden.

Doch der Turm stand nahe genug am Dorf, um Leon das Schicksal eines sagenumwitterten Eremiten zu ersparen. Als ich noch ein Junge war, hatte ich einmal die oberen Stockwerke des alten Leuchtturms besichtigen dürfen, das Lampenhaus und die imposante Fresnel-Linse, die das Licht bündelte und verstärkte. Jeden Abend kurbelte Leon ein schweres Gewicht vom Boden bis in die Spitze des Turms hoch, und dann sank es wie bei einem Uhrwerk langsam in seinem Schacht wieder herab und trieb die Umlaufblende an, die um die Gaslampe rotierte und dem Licht seine Kennung gab. Die Technik war bereits veraltet gewesen, als Leon das Wärteramt übernommen hatte, aber sie funktionierte auch bei Stromausfall. Weil der Turm nicht direkt im Dorf und außerdem erhöht auf einem Kliff stand, hatte man darauf verzichtet, das Lampenhaus zur Landseite hin abzudunkeln. Und so informierte das Leuchtfeuer jeden im Umkreis über den Einbruch der Nacht, für den Fall, dass mal jemand die Dunkelheit übersah. Was schnell passieren konnte, wenn man selbst zu viel davon mit sich herumtrug, so wie Sara.

Ausgerechnet Sara, die als Kind auf der Suche nach einem Licht der Zuversicht immer fündig geworden war, meistens in Verstecken, in denen vor ihr noch nie jemand nachgesehen hatte.

7. Sandkorn

Als Sara sieben war, warf sie ihre Idee von der Vogelwerdung des Menschen kurzerhand über Bord, um angemessen Platz zu schaffen für eine neue, nicht minder ausgefeilte Theorie, wo all die Dahingegangenen eigentlich abblieben.

Ich kann mich gut erinnern, dass es ein warmer Abend zu Beginn des Sommers war. Die Strahlen der tiefstehenden Sonne brachen sich überall in den Baumkronen und tauchten alles in ein lauschiges, orangegelbes Licht. Wie so oft um diese Jahreszeit, hockten Sara und ich am Teich und warteten darauf, dass die ersten Glühwürmchen der Saison in den Büschen aufflackerten. So viele Leuchtkäfer wie im Garten von Saras Großmutter gab es nirgendwo sonst, nicht mal auf Julias Balkon oder in den weitläufigen Wiesen am Rande unseres Dorfes. Offensichtlich war dieses Liebesnest aus Büschen, Bäumen und betörend duftenden Blumen genau das Richtige für Insekten, die gerade in Leidenschaft entflammt waren.

»Weißt du«, sagte Sara schließlich, »du denkst vielleicht, ich bin Sara, aber das stimmt gar nicht.«

»Nicht?«

»Nee.«

»Wer bist du dann?«

»Hundert Billionen Körperzellen. Das ist mehr als zwölf oder so.«

»Eine ganze Menge.« Ich lächelte. Offenbar hatte Sara mal wieder ferngesehen.

»Aber das ist noch nicht alles. Weißt du, was Mikromen sind?«

»Nein. Was soll das sein?«

»Bakterien und so was.«

»Mikroorganismen!«

»Wie auch immer. Davon sind auch ganz viele in mir drin. Im Darm und im Magen, im Mund, in meiner Lunge, auf der Haut. Überall!«

»Ja, und?«

»Und zwar zehnmal mehr als Körperzellen. Zehnmal!«

»Aha.«

»Verstehst du nicht?«

»Nein, was denn?«

»Ich bin kaum aus eigenen Zellen, sondern fast nur aus Mikromen.«

»Mikroorganismen.«

»Bakterien. Fremden Wesen!« Sie schüttelte den Kopf und musterte mich dann, als wolle sie überprüfen, ob ich für die ganze Wahrheit bereit sei. »Ich bin gar nicht aus mir selbst!«

»Ganz sicher?«, fragte ich und pikste misstrauisch meinen Finger in Saras Oberarm, um zu sehen, ob er auseinanderrieseln würde.

»Mich gibt’s eigentlich gar nicht«, wiederholte sie bestimmt.

»Das ist schlecht.«

»Nein, das ist toll.«

»Was soll daran toll sein?«

»Überleg doch mal. Nur was ist, kann auch sterben. Aber wenn ich sowieso nicht bin –«

»– kannst du auch nicht sterben«, lächelte ich. »Herzlichen Glückwunsch.«

»Und du auch nicht!«

»Oh – das ist gut.«

»Wir sterben gar nicht, sondern die ganzen Bakterien krabbeln bloß davon und machen einfach was anderes.«

»Auf zu neuen Ufern, was?«

»Freust du dich?«

»Klar. Ich bin froh, dass du das herausgefunden hast«, sagte ich und hatte Mühe, nicht laut loszulachen. Sara strahlte mich an, und dann saßen wir eine Weile schweigend im diffusen Abendlicht und suchten mit unseren Blicken die Büsche nach Glühwürmchen ab. Vielleicht war ihr Leuchten ja das, was blieb, wenn der Körper eines Menschen in alle Himmelsrichtungen davonkrabbelte.

Zumindest aber war ich von diesem Tag an für den Rest meines Lebens offen für den Gedanken, dass von uns allen etwas bleibt. Dass wir, wenn wir sterben, dennoch nicht vergehen, weil wir ohnehin nicht nur das sind, was wir zu sein scheinen. Dies war in diesem kurzen Moment Saras großes, immerwährendes Geschenk an mich.

Ich hingegen sagte später an jenem Abend einen Satz, der in ferner Zukunft durch eine unglückliche Verkettung von Umständen Saras Ehemann töten würde. Auch ich brauchte nur einen Augenblick dafür, während wir, ahnungslose Kinder noch, an diesem Teich saßen, aber er krallte sich in der Zeit fest, um Saras Mann fünfundzwanzig Jahre später aufzulauern.

8. Sandkorn

Dass Leon jeden Tag kurz vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause eilte, um das Leuchtfeuer in Gang zu setzen, gehörte zu den vielen Mechanismen unseres Dorfes. Egal, ob er sich gerade auf einer Wattwanderung befand, auf einer Beerdigung oder Hochzeitsfeier, ob er bei jemandem zu Besuch war oder mit uns für einen spätnachmittäglichen Plausch in der Schwankenden Schenke saß, immer gab es diesen magischen Moment, den nur er spüren konnte und von dem an gerade noch genug Zeit blieb, um sich zum Leuchtturm zu begeben und das Gewicht der Umlaufblende aufzuziehen, so zuverlässig, als sei Leon selbst Bestandteil des Antriebs. Manchmal erschien mir der ganze Dorfalltag wie ein feines Aufziehwerk, bei dem kaum einmal etwas Unvorhergesehenes geschah. Gwen, die nach einem festen Plan die Straße vor ihrer Netzweberei fegte, gehörte ebenso dazu wie der Honigfischer, der immer zur gleichen Uhrzeit mit immer demselben Netz voller Nektargläser seinen festgelegten Weg vom Hafen zum Markt nahm. Auch der Marktplatz selbst und natürlich der Hafen waren fein austarierte Getriebe aus ineinandergreifenden Zahnrädchen. Auf den Straßen und selbst in den Seitengassen bildete ich mir manchmal ein, genau vorhersagen zu können, wer wann um welche Ecke biegen würde und was er bei sich trug. Und auch mein eigener Laden öffnete und schloss sich so pünktlich wie das Türchen einer Kuckucksuhr. Bis zu diesem Tag, an dem ich ihn frühzeitig abgeschlossen hatte, um nach Emily zu suchen.

Weil Leon nach dem Entzünden des Leuchtfeuers oft in die Schwankende Schenke ging, hatte ich mich vom Strand aus ebenfalls auf den Weg dorthin gemacht, um den Abend in der einlullenden Umarmung des Wohlvertrauten und in Gegenwart eines Freundes ausklingen zu lassen. Doch in der Nacht sollte das Räderwerk unseres Dorflebens ein weiteres Mal durch ein bizarres Ereignis aus dem Rhythmus gebracht werden.

»Hübsches Gesicht und kurze blonde Haare, sagst du?« Leon wartete, bis Ismael ihm ein frisches Bier hingestellt hatte und wieder gegangen war. »Die, die auch unten am Strand den Sand geworfen hat?«

»Genau.«

»Der Strand scheint es ihr angetan zu haben.«

»Du hast sie noch mal gesehen?«, fragte ich.

»Kann sein.« Er schmunzelte, griff mit schmerzhafter Langsamkeit nach seinem Bier und nahm genüsslich einen Schluck. Dann drehte er das Glas vor seinen Augen hin und her und betrachtete mit Kennermiene die Schaumkrone. »Ein prachtvolles Kunstwerk. Siehst du diese feinen Bläschen?«

»Leon!«

Er lachte und stellte das Bier auf den Tisch. »Sie kam den Weg vom Strand hoch, direkt am Leuchtturm vorbei.«

»Wann?«

»Keine Ahnung. Vor ein paar Tagen. Ich saß draußen, und sie hat mir zugelächelt, als ob wir uns kennen würden.«

»Das ist sie! Und dann?«

»Auf dem kleinen Parkplatz hat ein Auto auf sie gewartet.«

»Ein Auto?«

»Ein weißer VW-Bus. Sie ist auf den Beifahrersitz geklettert, und ich glaube, da saß ein Kerl am Steuer.«

Ich starrte auf mein Rotweinglas. Was konnte das bedeuten? »Ganz sicher?«

»In den Scheiben hat sich die Umgebung gespiegelt, aber es sah schon nach einem Mann aus.«

»Woher war das Kennzeichen?«

»Hab ich nicht drauf geachtet.«

»Und in welche Richtung sind sie gefahren?«

»An den Wiesen vorbei. Weg vom Dorf.«

Ich schwieg und ließ nachdenklich den Wein in meinem Glas kreisen.

»Tristan?«

»Hm?«

»Was du von eurer Begegnung auf Julias Balkon erzählt hast, klingt nach etwas wirklich Kostbarem. Normalerweise träumen wir von solchen Geschichten, aber wir erleben sie nicht. Und ich brauche keine Glaskugel, um dir zu prophezeien, dass du so etwas kein zweites Mal erleben wirst. Du darfst es auf keinen Fall versanden lassen. Es mag dir wie ein flüchtiger Augenblick vorkommen, aber in Wirklichkeit wird er durch dein ganzes Leben klingen.«

»Ich weiß.«

»Wer immer in dem Auto gesessen hat, er war noch nicht mal zum Händchenhalten mit ihr am Strand, er hat sie offensichtlich einfach nur abgeholt. Das kann Gott weiß wer gewesen sein. Vielleicht war es ja doch eine Frau. Oder ihr Vater. Ihr Bruder. Ihr schwuler bester Freund. Ihr grobschlächtiger Leibwächter.«

»Ihr gutaussehender Surflehrer«, schlug ich vor.

»Selbst wenn. Sie ist einfach auf dich zumarschiert und hat dich geküsst, Junge.«

»Ja. Mag sein.«

»Du wirst doch jetzt nicht kapitulieren?«

»Nein. Natürlich nicht.«

Leon sah mich scharf an. Dann nahm er entschlossen einen weiteren Schluck Bier, wie um sich für seine Worte zu stärken. »Manche Menschen richten ihre Interessen danach aus, wie bequem sie zu erreichen sind. Wenn es Schwierigkeiten gibt, wechselt ihre Aufmerksamkeit so schnell die Richtung wie das Drehfeuer eines Leuchtturms. Hüte dich vor Menschen mit kreisenden Interessen. Und vor allem –« Er stockte.

»Ja?«

»Hüte dich davor, selbst so einer zu sein.«

Ich erinnere mich, dass Leon bei diesem Ratschlag den Blick senkte und seine Stimme einen merkwürdigen Unterton annahm. Für eine Weile starrte er ins Leere, als sei die Schenke um ihn herum mit all ihren Geräuschen und Menschen verschwunden. Heute wünschte ich, die Beschäftigung mit meinen eigenen Gefühlen hätte an diesem Abend ein wenig Raum für das Geheimnis gelassen, das Leon in seinem Innern trug.

»Hör zu«, setzte er schließlich noch einmal an und blickte mir wieder in die Augen. »Manche Feuer entflammen schnell, aber dann lassen wir sie nicht lange genug brennen, um ein Schiff in den Hafen zu leiten. Das ist alles, was ich dir damit sagen will.«

In diesem Moment ertönte der erste Knall, nicht weit von der Schenke entfernt. Die Gäste unterbrachen ihre Unterhaltungen und lauschten. Draußen war alles still. Doch kaum waren die Gespräche wieder in Gang gekommen, krachte es erneut. Dann folgte eine ganze Reihe von Detonationen. Die ersten Stühle wurden zurückgeschoben. Ismael trat hinter seiner Theke hervor, öffnete die Tür und blickte nach draußen. »Scheint vom Marktplatz zu kommen«, sagte er und verschwand in der Dunkelheit.

»Sehen wir mal nach.« Leon sprang auf, und wir schlossen uns den anderen an und liefen durch die nächtlichen Gassen zum Marktplatz. Trotz der späten Stunde sammelte sich dort gerade eine beachtliche Menschenmenge an. Einige waren offensichtlich schon im Bett gewesen und hatten sich nur schnell eine Jacke über ihren Schlafanzug geworfen. Ziel der Aufmerksamkeit war unser alter, stillgelegter Dorfbrunnen. Von dort dröhnten gerade weitere Explosionen. Leon und ich drängten uns nach vorn, um zu sehen, war vor sich ging. Vor der Brunnenmauer sprang etwas mit einem lauten Krachen in die Luft.

»Knallkörper«, sagte Leon.

Dann verwandelte sich die Nacht. Es begann mit einem leisen Pfeifen, und einen Augenblick später zischte scheinbar aus dem Nichts ein einzelner Feuerwerkskörper in die Höhe und explodierte zwischen den Sternen zu einer prachtvollen Flammenblume. Noch während sie zu winzigen Glitzern zerfiel, stießen weitere Raketen in den Himmel und tauchten den ganzen Marktplatz in leuchtende Farben. Unzählige Funken fielen herab wie kaskadenförmige Wasserfälle aus Licht. Immer mehr Leuchtspuren schwirrten fauchend empor und brachen zu schillernden Blüten auf, und bald war das Firmament übersät mit einer farbenprächtigen Mischung aus Sternen und Glühstaub. Zunächst achtete ich nicht darauf, woher die Raketen kamen. Doch dann quoll dichter Rauch über den Brunnenrand wie aus dem Schlot eines ausbrechenden Vulkans.

Das Feuerwerk schoss direkt aus der Tiefe des alten Brunnens hervor.

9. Sandkorn

Am nächsten Tag machte ich, bevor ich meinen Laden öffnete, einen Spaziergang durch die frische Morgenluft. Nicht ganz zufällig, denn in der Nacht war mir eine weitere Idee gekommen, wo ich nach Emily Ausschau halten konnte. Mein Weg führte mich zum Marktplatz, wo noch die Reste der Feuerwerkskörper verstreut lagen wie ein Beweis, dass nicht jedes nächtliche Wunder nur eine Illusion ist.

In den Morgenstunden war unser Dorf wie ein lebendes Wesen, das sich den Schlaf aus den Knochen räkelte. Auf den Balkonen wurden Bettdecken ausgeschüttelt, für den Fall, dass sich in der Nacht ein paar Träume darin verfangen hatten, mit denen man lieber nicht noch einmal in Berührung kommen wollte. Menschen in Bademänteln, offenkundig noch nicht bereit, sich der Außenwelt zu stellen, zupften deren Abklatsch aus dem Briefkasten und verriegelten dann wieder die Haustür, um sich der Wirklichkeit sicherheitshalber erst einmal auf dem Papier zu widmen. Hinter den offenen Küchenfenstern klapperten leise die Teller, Messer und Marmeladengläser auf den Tischen. Das Röcheln der Kaffeemaschinen und gedämpfte Frühstücksgespräche drangen nach draußen. Zwei Mädchen mit Schultaschen überquerten tuschelnd den Marktplatz. Fischer gingen in Richtung Hafen, gedankenversunken und nur mit der Hand grüßend. Die ersten Händler bauten gemächlich ihre Ware vor den Läden auf. Ismael war auf seinem alten Fahrrad unterwegs und nickte mir zu, schweigend, aber lächelnd. Lio, unsere Buchhändlerin, zog die Rollläden vor dem Schaufenster hoch, so behutsam, als fürchtete sie, all die Bücher könnten aus ihrem Schlaf erwachen und durch die geöffnete Tür herausflattern wie ein aufgeschreckter Vogelschwarm. Über allem lag jener Schleier aus Zurückhaltung, der vielleicht von der morgendlichen Trägheit herrührte, vielleicht aber auch von der Behutsamkeit, die man dem noch blutjungen Tag zuteilwerden ließ.

Auch das dreckige Dutzend gurrte nur verhalten in seinem Schlag. Auf dem Boden lagen ein paar Federn verstreut, die mir am Nachmittag zuvor nicht aufgefallen waren. Ich erinnerte mich, dass ich zuletzt elf Tauben gezählt hatte, und aus einem Impuls heraus wandte ich mich den Vögeln zu und überprüfte mein Ergebnis ein weiteres Mal. Es waren nur noch zehn.

Am Rande des Marktplatzes lag die Bäckerei, die gerade den betörenden Duft von frisch gebackenen Brötchen verströmte. Durch das Schaufenster sah ich mehrere Kunden im Laden stehen, aber die Hoffnung, die mich vor der Arbeit hierher getrieben hatte, blieb unerfüllt: Emily befand sich nicht darunter. Andererseits konnte das natürlich nur bedeuten, dass sie in mich verliebt war und deshalb nach dem Aufstehen keinen Bissen hinunter bekam. Außer, sie aß morgens sowieso nichts. Oder zumindest kein Brot. Oder sie war keine Frühaufsteherin. Oder sie hatte die Bäckerei noch nicht entdeckt. Oder sie kaufte grundsätzlich nicht in kleinen Geschäften ein, was bedeutete, dass sie sich auch nicht in meins verirren würde und wir uns niemals wiedersähen. Oder Emily wartete gerade mit einem Morgenpicknick im Gras auf mich, oben auf Julias Balkon, weil wir uns dort schließlich zuletzt begegnet waren, und jetzt war sie furchtbar enttäuscht, weil ich nicht auf die nächstliegende Idee gekommen war. Oder der Mann mit dem VW-Bus war zum Bäcker gefahren, und sie saßen genau in diesem Moment lachend am Frühstückstisch, strichen Erdbeermarmelade auf frische, warme Hörnchen und hielten sie sich gegenseitig zum Abbeißen vor den Mund.

Oder sie war schon wieder abgereist.

Oder ich fantasierte zu viel. Wahrscheinlich sollte ich mir nicht so viele Gedanken über Emily machen und erst recht nicht nach ihr Ausschau halten. Manchmal, überlegte ich, durfte man vielleicht nicht zu sehr versuchen, etwas herbeizuführen, weil man damit der Vorsehung das Gefühl nahm, dass sie selbst draufgekommen sei. Man musste ihr gewissermaßen die Möglichkeit lassen, es als gönnerhaftes und überraschendes Geschenk ihrerseits zu präsentieren. Wie eine Künstlerin fühlte sich die Vorsehung womöglich gegängelt, wenn man ihr mit seinen eigenen Fantasien in ihr Werk hineinredete. Denn nichts war Künstlern mehr zuwider als ein Publikum, das ihre Genialität nicht bewundern, sondern mit der eigenen messen wollte.

Ich wandte mich von der Bäckerei ab und lächelte zufrieden: Auch ohne ihre Gegenwart ließ Emily meine Gedankengänge schwindelerregende Pirouetten drehen. Ich dachte an ihren Kuss auf der Lichtung. Er war eine sanfte und vergängliche Berührung gewesen, und doch trug ich ihn noch immer in mir. Dass er sich nicht verflüchtigt hatte, sollte ich vielleicht als ein Versprechen ansehen, dass es sich mit Emily genauso verhielt. Sie war noch hier. Und unsere Wege würden sich wieder kreuzen, egal, ob ich nach ihr Ausschau hielt oder nicht. Während ich mich aufmachte, um mein Geschäft zu öffnen, nahm ich mir vor, Emily einfach zu vertrauen. Sie hatte angedeutet, dass wir uns wiedersähen, und auch ihr Kuss hatte wie eine Zusicherung geschmeckt, nach einem Anfang und nach Wahrheit. Sie hatte sich selbst so vollkommen in diesen Kuss hineingegeben, dass sie unmöglich kurz darauf abgereist oder der Mann mit dem Kleinbus von Bedeutung sein konnte.

Vor meinem Schaufenster blieb ich stehen und malte mir aus, dass Emily mir von hier aus auf die Lichtung gefolgt war. Dann wüsste sie, dass dies mein Laden war und könnte mich jederzeit und ganz leicht wiedertreffen. Das Haus, in dem meine Eltern gelebt hatten, beherbergte oben die Wohnung, die nun meine war, und im Erdgeschoss das alte Fischgeschäft meines Vaters. Da jede Erinnerung an ihn den kalten Hass in mir weckte, hatte ich das in die Jahre gekommene Inventar vollständig herausgerissen. Einen ganzen Tag lang hatte ich damals den Vorschlaghammer geschwungen wie ein Berserker, als könne man mit ein paar Möbeln die letzten Spuren eines Menschen aus dem eigenen Leben löschen, und dann hatte mir Leon dabei geholfen, den Laden mit einer neuen Einrichtung zu meinem eigenen zu machen. Als alles fertig gewesen war, hatte er mir ein Schild mit der Aufschrift Tristans Fische geschenkt, das er selbst aus Treibholz gefertigt hatte. Seitdem stand es gut sichtbar im Schaufenster: Sollte Emily mir tatsächlich von hier aus nachgegangen sein, weil sie mich aus dem Haus kommen gesehen hatte, dann wäre ihr mit großer Wahrscheinlichkeit auch das Ladenschild aufgefallen, und meinen Namen hatte ich ihr oben auf Julias Balkon verraten. Außerdem hatte sie mich in meiner Arbeitsschürze vor dem Geschäft stehen sehen, als sie zum Sandwerfen an den Strand gegangen war.

Ich überlegte kurz, ob ich Emily eine Nachricht ins Fenster hängen sollte, für den Fall, dass sie ausgerechnet dann vorbeikam, wenn ich gerade unterwegs war, um nach ihr zu suchen. Vielleicht einen Hinweis, wann ich auf jeden Fall zu Hause sei. Aber irgendwie schien mir ein solch profaner Akt nicht dem betörenden Anfang gerecht zu werden, den unsere Geschichte genommen hatte. Ganz eindeutig waren dafür andere Wege vorgesehen, verstecktere und weniger befestigte. Trampelpfade.

Als ich die Ladentür aufschloss, kam Sammy die Straße entlang. Er hatte seinen Schulranzen umhängen und winkte mir zu. Mein schlechtes Gewissen rührte sich, weil ich mein Versprechen, nach seiner Mutter zu sehen, noch nicht eingelöst hatte.

»Hey Sammy«, sagte ich, als er herankam, »schau doch nach der Schule mal rein. Es gibt frischen Seeteufel. Ist was Besonderes. Ich hab zu viel bestellt und könnte dir und Sara was abgeben.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739426129
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (August)
Schlagworte
philosophisch coelho Sterbehilfe meer spirituell Tod liebe Selbstfindung

Autor

  • Andreas Séché (Autor:in)

<p>Die Wiesen, Wälder, Seen und Flüsse des Niederrheins sind die Orte seiner Kindheit. Hier wuchs Andreas Séché auf und schrieb als Reporter für Tageszeitungen, bis er seine Heimat verließ, um Politik mit Medienwissenschaft und Jura zu studieren. Danach war er zwölf Jahre lang Zeitschriftenredakteur beim Verlagshaus Gruner + Jahr in München. Schließlich zog es ihn an den Niederrhein zurück, wo er nun lebt und Bücher schreibt.</p>
Zurück

Titel: Leuchtturmmusik