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Emmas Flucht ins Glück

Love is waiting

von Katherine Collins (Autor:in)
180 Seiten

Zusammenfassung

Emma Scott ist verzweifelt. Verlobt mit dem zwielichtigen Marquess of Belmont, gibt es für sie nur einen Weg dem Unglück zu entkommen: die Flucht. Unterstützt von ihren Freundinnen verschwindet sie aus dem Pensionat. Anstellung findet sie bei der Countess of Eastwick. Dass der Herr des Hauses nur zu häufig ein Auge auf seine Angestellten wirft, macht ihre Lage schwierig, und dass der Bruder ihrer Arbeitgeberin sie völlig durcheinander bringt, macht es auch nicht leichter eine Entscheidung zu treffen. Soll sie bleiben? Soll sie James Verführung stattgeben? Oder erneut flüchten?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Kapitel 1 Lord Severins Hochzeit


 

Severin Court, Bath, April 1815

Eine laue Brise wehte über die bevölkerte Wiese und bot den ausgelassen feiernden Hochzeitsgästen eine leichte Abkühlung. Unter den unzähligen Pavillons fanden diese auch eine Vielfalt von Delikatessen und Schutz vor der ungewöhnlich warmen Frühlingssonne. Livrierte Diener trugen Tabletts mit Champagner, Ratafia, Wein und anderen Alkoholika durch die Menge, während Hausmädchen bereitstanden, den Herrschaften jeden Wunsch zu erfüllen. Die Küche hatte ein formidables, leichtes Mittagsmahl bereitet und würde nun bereits wieder die Kochlöffel schwingen, um das Dinner vorzubereiten, das vor dem Ball am Abend den bereits Anwesenden gereicht werden sollte.

Emma Scott sah sich verwundert um. Sie kannte so gut wie niemanden auf dem Fest, obwohl man annehmen sollte, dass auf der Hochzeitsfeier ihrer eigenen Familie jede Menge bekannter Gesichter wären. Jedoch: Nicht ein Verwandter war erschienen.

Besorgt runzelte sie die Stirn. Es gab nicht viele Verwandte, mit denen sie in Kontakt stand, was allein ihrem Vater anzurechnen war. Der Baron war nicht von der geselligen Sorte, eher grob und laut. Aber zumindest jene Wenigen hätte sie auf einer Feierlichkeit wie dieser erwartet, der Hochzeit ihres Vaters, dem Baron Severin. So mussten die Feiernden zum Teil zumindest zu der Familie der Braut gehören, was ihr allerdings ebenso seltsam erschien.

Ihre frischgebackene Stiefmutter Maria-Luisa, vormals Cunnings, nun Scott, war bis zu Beginn der Wintersaison Schülerin in jenem Internat gewesen, das auch Emma besuchte. Sie kannten sich, wenn auch flüchtig, war Maria-Luisa doch zwei Jahre älter als Emma und suchte eher die Gesellschaft gleichaltriger Mädchen. Die jüngere Schwester Maria-Luisas jedoch war recht gut mit Emma bekannt, wenn sie einander auch nicht Freundinnen nennen würden. Clara-Catherina, jene Schwester, war nicht zugegen, obschon sie im gleichen Alter wie Emma war. Das war es jedoch nicht, was sie verunsicherte, da Emma auf strikten Befehl des Vaters teilnehmen musste. Mit sechzehn war es zwar möglich, dass Maria-Luisas und Clara-Catherinas Vater die Teilnahme verwehrte, aber dann sollten der Gentleman und seine Gemahlin doch anwesend sein. Oder die sicherlich geladenen Großeltern, immerhin Viscount Thornton und der Earl of Sussex. Die Mädchen hatten auch noch einen Bruder und diverse Cousins und Cousinen, die Emma zwar nicht alle benennen, aber von denen sie mit Sicherheit sagen konnte, dass nicht einer der Anwesenden eindeutig als eben jene Verwandte bezeichnet werden konnte. Für den Bruder waren die anwesenden Herren bei weitem zu alt, für die Großeltern wiederum zu jung. Abgesehen davon, dass sich die Herrschaften keinesfalls angemessen betrugen.

Emma senkte den Kopf, um unter einen Pavillon zu treten und nahm sich ein Horsd´œuvre. Nur wenige Meter weiter saß ihre Stiefmutter und sah mindestens so verwirrt aus, wie Emma sich fühlte. Suchte Maria-Luisa ebenfalls nach einem vertrauten Gesicht? Ihre Augen trafen sich für einen kurzen Moment, dann wurde die Aufmerksamkeit der Braut von ihrem Bräutigam auf sich gezogen. Baron Severin riss sein frischgebackenes Weib an sich und drückte ihr vor aller Augen einen mehr als unschicklich intimen Kuss auf.

Emma wandte erschaudernd den Blick ab. Nur zu gern verließe sie die Feierlichkeiten, nicht nur, weil sie Maria-Luisa bedauerte. Ihr Vater war kein Mensch von Zartgefühl. Im Gegenteil zeichnete er sich doch eher durch seine Gefühlskälte aus, die er nicht nur ihr, seiner Tochter, angedeihen ließ. Gerade litt seine Braut darunter, griff er doch schamlos in den Ausschnitt und verkündete lauthals, welch prachtvolle Rundungen ihn in der Nacht erquicken würden.

Maria-Luisa erbleichte, und Emma schloss die Augen. Emma hatte noch kein Wort mit dem Mädchen wechseln können. Sie wunderte sich, seit sie von der angestrebten Verbindung Kenntnis erlangte, was Maria-Luisa dazu bewogen haben mochte, Baron Severins Antrag anzunehmen. Nach einer Antwort suchend, warf sie erneut einen Blick auf das Hochzeitspaar. Maria-Luisa war den Tränen nahe und wendete den Kopf von ihrem Gatten ab. Das Mädchen war nicht sonderlich groß gewachsen, reichte ihrem ebenfalls kleinen Ehemann aber bis zur Schulter. Sie hatte rötlich-blondes Haar und sensible braune Augen. Sie war hübsch anzusehen. Ihr Stammbaum war nicht so schlecht, dass einen Baron einzufangen, gleich welchen, einen Erfolg bedeuten konnte. Und da Clara-Catherina stets ihre hohe Mitgift anpries, würde auch mangelndes Vermögen keinen Grund darstellen, Baronin Severin werden zu wollen.

Emma wechselte die zu betrachtende Person. Ihr Vater konnte weder mit seinem Aussehen noch mit seinem Benehmen einen Blumentopf gewinnen. Selbst für seine 54 Jahre sah Leslie Scott erbärmlich aus. Nicht nur, dass seine beleibte Gestalt nur leidlich in den vor drei Wochen maßgeschneiderten Anzug passte. Sein unförmiger Leib war auch noch von offenen Stellen bedeckt, die leider nicht vor seinen Händen und dem Gesicht haltmachten. Sein früh ergrautes, schütteres Haar und der gierige Ausdruck in seinem entstellten Gesicht machten ihn zudem noch unsympathisch. Seine gesellschaftliche Stellung war selbst für einen Baron eine Beleidigung, schließlich mied ihn ein großer Teil seiner eigenen Familienangehörigen. Selbst jene, die wie er selbst auch nahe Bath lebten, empfingen ihn nicht.

Was hatte Maria-Luisa nur in diese bedauernswerte Situation gebracht?

Emma seufzte und biss in ihr Häppchen. Sie selbst war nur zu glücklich, alsbald in das Pensionat zurückkehren zu können, in dem sie dann, mit etwas Glück, weitere zwei Jahre ausharren konnte, bevor sie ihr Debüt beging. Sie strich die Krümel von ihren weißen Satinhandschuhen und sah dabei an sich herab. Ihr Kleid war ein Skandal. Der Ausschnitt war so tief angesetzt, dass sie kaum wagte zu atmen. Nur ein schmaler Streifen Taft schloss die Kante ihres Mieders ab, die gerade eben das Allernötigste bedeckte. Sie hatte ihren Vater am Morgen schriftlich verständigt, dass sie dieses Gewand unmöglich tragen konnte. Daraufhin war ihr Vater höchstpersönlich in ihr Zimmer gestürmt, um sie von oben bis unten zu begutachten.

»Es ist genau so, wie es sein soll, Mädchen!«, hatte er gebellt und eine scharfe Warnung hintangestellt: »Wage es nicht, meine Gäste zu brüskieren oder dich ohne meine Erlaubnis zurückzuziehen! Sei freundlich zu den Herren, einer mag dein zukünftiger Herr sein!«

Sie erschauerte in der Reminiszenz des Morgens, der ähnlich desaströs fortgeschritten war. In der Kirche war sie von einem Herrn bedrängt worden. Er hatte sie in die Arme gezogen, sie geküsst und versucht das Kleid von seinem Platz zu schieben, um seine Hand in ihren Ausschnitt zu quetschen. Sie war ihm gerade noch entwischt.

Maria-Luisa sah sich ähnlichen Übergriffen ausgesetzt. Von ihrem Gatten. Vor der gesamten Hochzeitsgesellschaft. Emma erschauderte angewidert und verließ den kleinen Pavillon. Es war schwierig, jedem Gentleman aus dem Weg zu gehen. Zumal der missbilligende Blick ihres Vaters immer auf ihr lag, wenn sie einer Begegnung aus dem Weg ging oder sie sich schnell wieder verabschiedete.

»Miss Scott.«

Emma seufzte verzweifelt und drehte sich mit einem gequälten Lächeln zu dem Mann um, der sie angesprochen hatte. Der Gentleman grinste mit kalten Augen auf sie herab. Er schien im gleichen Alter zu sein wie ihr Vater und beugte sich über ihre Hand. Seine Lippen drückten sich fest auf ihre Knöchel. Als er sich wieder aufrichtete, wanderte sein Blick genüsslich über sie hinweg.

»Wie schön, dass wir uns kennenlernen, Miss Scott. Darf ich Ihnen versichern, dass Sie von eben solch großer Anmut sind wie Ihre werte Mutter.«

Er schenkte ihr ein weiteres schmieriges Grinsen und klemmte ihre Hand in seine Armbeuge, um sie sogleich mit sich zu ziehen.

»Verzeihen Sie, meine Hübsche, habe ich mich eigentlich vorgestellt?« Er zog seine buschige Augenbraue hoch, und seine Lippen verbogen sich überheblich. »Belmont, zu Ihren Diensten.«

Der Marques zog führte sie mit sich in Richtung Herrenhaus und bedeckte ihre Finger auf seinem Arm mit der Hand, damit sie sich ihm nicht entziehen konnte.

Emma huschte ein unangenehmer Schauer über den Rücken. Alles in ihr wünschte sich, der Berührung des Mannes zu entgehen. Ein schneller Blick über die Schulter bewies ihr aber, dass ihr Vater sie noch immer im Auge behielt. Emma schluckte und ging resigniert auf das Gespräch ein, indem sie seinen Hinweis aufnahm. »Sie kannten meine Mutter, Mylord?«

»Oh, ja.« Belmont grinste anzüglich auf sie herab, als er versicherte: »Wir waren sehr eng befreundet.« Seine Augen fuhren erneut über ihre Gestalt, und die Intensität in seinem Blick ließ sie wünschen, weit weg zu sein. Allein!

»Ich hoffe, Emma, dass Sie mir bald genauso geneigt sein werden, wie es einst Ihre Mutter war.« Belmonts Stimme senkte sich. »Ich freue mich bereits darauf, Emma.« Er verharrte in seinem schnellen Schritt über die Festwiese und wendete sich ihr zu. Damit war sie gezwungen, ebenfalls stehen zu bleiben. Der Lord legte seine behandschuhte Hand an ihr Kinn, um es anzuheben.

»Sie sind ihr verdammt ähnlich, Emma. Sie war ebenso zart. Ihre Wangen so rosig wie ihre Lippen nachgiebig.«

Emma riss die Augen auf. Sie musste sich verhört haben. Seine Lippen wellten sich, als mokierte er sich über sie. Sein Blick haftete sich kurz auf ihren Mund.

»Als ich Ihre Mutter kennenlernte, war sie kaum älter, als Sie es nun sein können«, stellte er fest. »Sie war etwas fraulicher, wobei ich kleine Brüste bevorzuge.«

Emma klappte der Mund auf, nicht das einzige Anzeichen ihres Schocks, denn ihre Wangen brannten, und sie starrte ihn mit großen, entsetzten Augen an.

»Und pralle Pobacken.« Er grinste schmierig auf sie herab, entließ ihr Kinn und fuhr mit der Hand über ihren schlanken Hals und weiter über ihr Dekolleté. Schnell trat Emma zurück, um der Berührung zu entgehen.

»Mylord!«, quiekte sie und wurde aufgehalten. Seine Hand fing ihren Ellenbogen ein, und er zog sie weiter.

»Nun, vielleicht ist dies nicht das passende Sujet für diesen Moment. Ihr Vater trug mir auf, eine Bitte an Sie zu richten: Helfen Sie Lady Severin dabei, sich für den Ball umzukleiden. Selbstverständlich erst, wenn Sie selbst angekleidet sind.« Seine Lippen kräuselten sich. »Erweisen Sie mir die Ehre eines Tanzes? Der Walzer nach dem Supper? Hervorragend.«

Emma öffnete den Mund, um ihn darauf hinzuweisen, dass sie nicht tanzen würde. Schon gar keinen Walzer, aber er verbeugte sich bereits vor ihr. Also schluckte sie den Widerspruch herunter, verabschiedete sich mit dünner Stimme und beeilte sich, die Stufen zu erklimmen. Am Absatz warf sie einen Blick zurück. Der Marques sah ihr mit einem Blick nach, der ihr das Herz in die Hose rutschen ließ.


Emma hatte sich von ihrer Zofe für den Ball herrichten lassen und eilte in ihrem hellrosa Abendkleid mit den unzähligen rosaroten Blüten auf den wogenden Gazeröcken und an ihrem Dekolleté zum Gemach ihrer Stiefmutter. Sie klopfte an die Tür zu dem kleinen Aufenthaltsraum und öffnete sie langsam, obwohl sie keine Aufforderung zum Eintreten erhalten hatte. Sie war schon halb durch den dunklen Raum gelaufen, als sie bei einem schauderhaften Geräusch erschrocken stehen blieb. Was war das? Die Tür zum Schlafzimmer stand offen, und sie konnte sehen, wie jemand die junge Baronin aufs Bett warf.

Die Braut schrie wieder panisch auf und erhielt eine Ohrfeige, die die Gegenwehr des Mädchens durchbrach. Ohne einen weiteren Mucks von sich zu geben, ließ sie sich das Mieder ihres Brautkleides herunterziehen. Emma war schockiert über den rüden Umgang ihres Vaters mit seiner Braut, aber nicht wirklich verwundert. Baron Severin war kein zartfühlender Mann, nicht einmal seiner Tochter gegenüber. Emma drehte sich, im Begriff das Zimmer zu verlassen. Sich einzumischen, bedeutete lediglich, eine Strafe zu kassieren.

»Ich habe mich schon gefreut, dich kennenzulernen«, lachte Belmont heiser. »Komm, lehn dich über das Fußende.«

Schockiert blieb Emma stehen und verfolgte, wie die schluchzende Stiefmutter vom Bett gerissen und über das erhöhte Ende desselben gedrückt wurde. Eindringlich flehte das Mädchen um Gnade und um Hilfe. Sie riss damit Emma aus ihrer Erstarrung. Sie musste Maria-Luisa helfen! Sie konnte nicht zulassen, dass sich der Marques of Belmont der Braut aufdrängte. Dass er genau das vorhatte, war sogar für ein unbedarftes Mädchen wie sie offensichtlich.

Die kalte Stimme ihres Vaters hielt Emma nach zwei raschen Schritten zurück. »Nun hör schon auf zu flennen, du dummes Ding! Umso ruhiger du hältst, umso schneller ist es vorbei.«

Emma erstarrte in der Bewegung. Ihr Vater war hier? Verwirrt blinzelte sie. Severin war vorgetreten und drückte das Gesicht seiner Gattin in die Decke.

»Sei still!«

»Lass sie schreien, Severin. Es gibt nichts Vergnüglicheres, als einem schreienden Weib den Grund dazu zu liefern!«

Was folgte, würde Emma zukünftig in ihren Träumen verfolgen. Sie floh entsetzt. Sie wollte fort von diesen Monstren und wusste doch, dass es keinen Ausweg für sie gab. Sie konnte ihr Schicksal nicht ändern, ihre Familie oder auch nur den Moment. Sie war machtlos der Unbill ihres Vaters ausgesetzt und fürchtete sich nun mehr denn je vor dem, was auf sie warten mochte.

Emma nahm nicht am Ball teil, sondern verbarg sich auf dem Dachboden in den vergessenen Hinterlassenschaften ihrer Mutter, die, verstaut im hintersten Winkel des Dachbodens, nur auf sie zu warten schienen. Es beruhigte sie, deren abblätterndes Porträt zu betrachten und ihr Gesicht in den eingemotteten Kleidern der Toten zu verstecken. Vergessen ließ es sie nicht. Auch am nächsten Tag ließ sie sich wegen einer Krankheit entschuldigen und folgte am dritten Tag nur widerwillig dem Befehl ihres Vaters, sich in seinem Arbeitszimmer einzufinden. Zu ihrem schieren Entsetzen war auch der widerwärtige Marques anwesend und begrüßte sie mit einem anzüglichen Grinsen.

»Darf ich meiner Hoffnung kundtun, Emma, dass Sie sich von Ihrer Unpässlichkeit erholt haben?«

Emma schluckte nervös und hielt ihre Augen auf ihre vor ihrem Körper verschränkten Hände gerichtet. Die Nähe der monströsen Männer ließ sie erzittern, und sie wünschte sich sehnlichst, vor ihnen fliehen zu können. Das Gefühl verstärkte sich noch, als Belmont näher an sie herantrat und ihr Gesicht anhob. Ihr blieb der Atem weg, als sie an seiner kalt-amüsierten Miene erkannte, dass er es wusste. Er wusste, dass sie es wusste. Angeekelt biss sie die Zähne zusammen und entriss ihm ihr Kinn.

»Ich fühle mich noch angegriffen, Mylord«, murmelte sie erschaudernd und fuhr an den Baron gewandt fort: »Mylord, warum wünschten Sie, mich zu sprechen?«

Ihr Vater sah sie nicht einmal an, als er ihr beiläufig verkündete, dass sie schon bald die Marchioness of Belmont sein würde und er darüber nachdachte, den Brautwerbeprozess so kurz wie möglich zu halten. Erstarrt sah sie auf den Mann herab, der sie gezeugt hatte. Wie war es ihrer Mutter nur möglich gewesen, dieses Tier zu heiraten, fragte sie sich angestachelt vom ihrem Ekel Belmont gegenüber. Ihr blieb keine Wahl, es gab niemanden, der sich für sie verwenden konnte.

War es bei ihrer Mutter ebenso gewesen? Sie wusste nichts von diesem Teil ihres Stammbaums. Von der Familie ihrer Mutter. Nicht einmal einen Namen. Aber dies würde sich ändern. Unter den verstauten Kleidern ihrer Mutter hatte sie drei Bücher gefunden. Der erste Band war datiert auf den siebzehnten Geburtstag Deirdres, ihrer Mutter.

Emma versuchte, ihren Ekel zu unterdrücken und begegnete den wässrigen Augen ihres Erzeugers. Kein Flehen würde ihn erweichen, kein Argument seine Meinung ändern. Ihr zukünftiger Gatte riss sie grob aus ihren fruchtlosen Überlegungen, indem er sie in die Arme zog und sie gierig küsste.


2. Kapitel 2 Ein Ausweg aus der Hölle dringlichst gesucht!


Oxfordshire, Miss Hellyworths Institut für junge Damen, April 1815

Apathisch stieg Emma Scott vor Miss Hellyworths Institut aus der Kutsche. Sie folgte dem Diener mit ihrem Gepäck, ohne die freudigen Rufe der anderen Mädchen wahrzunehmen. Die letzte Woche war die Hölle auf Erden gewesen, und sie würde sich nicht im Geringsten wundern, wenn Maria-Luisa, ihre kurzweilige Stiefmutter, sich am Tag vor ihrer ersehnten Abreise, tatsächlich das Leben genommen hätte, wie es ihr Vater behauptete.

Noch immer gefror Emma das Blut in den Adern, wenn sie an die grauenvolle Szene dachte, die sie durch das Fenster des Arbeitszimmers aus dem Garten heraus beobachtet hatte. Nachdem das Mädchen genötigt worden war, hatte sie nach dem Brieföffner gegriffen und gedroht, aller Welt zu sagen, was sie ihr antaten. Man hatte ihr die Waffe entwunden und ihre Handgelenke aufgeschnitten. Wenn Emma die Augen schloss, konnte sie immer noch Maria-Luisas Schreie hören und das Blut sehen, das ihr fontänenartig aus dem Körper geschossen war.

Emma fühlte sich mitschuldig am Tod des armen Mädchens. Sie wusste, was ihr angetan worden war und hatte geschwiegen. Ihr Vater hatte seine Braut züchtig angekleidet und alle Anzeichen von Misshandlung sorgfältig verborgen. Kein Wort drang über ihre Lippen, selbst dem gerufenen Friedensrichter hatte sie nicht die Wahrheit gesagt, sondern eine Lüge aufgetischt, gerade so, wie ihr Vater es befohlen hatte.

Maria-Luisas Schicksal allein verdankte sie ihre Rückkehr ins Internat. Dessen war sie sich bewusst. Die geplante Hochzeit war aus Gründen der Schicklichkeit um ein halbes Jahr verlegt worden und sollte nun kurz vor ihrem Geburtstag stattfinden. Die Sondergenehmigung für die Trauung während der Trauerzeit war bereits beantragt, und der Marques hatte sie jede verbliebene Minute bis zum Abschied wissen lassen, wie es wäre, seine Gattin zu sein.

»Emma! Herr im Himmel, bist du spät dran. Wir haben uns bereits Sorgen um dich gemacht!«, warf Lady Sandrine Stewart ihr vor und schüttelte ihren blonden Schopf. Sandrine gehörte zu den Mädchen, mit denen Emma sich den Schlafsaal teilte, und war aus der Lektüre ihres Lehrbuches mit dem klingenden Namen `Etikette - Das Who is Who des vornehmen Benehmens´ aufgetaucht, als Emma in den Bogengang zum Dormitorium trat. Sandrine legte das Buch, dankbar für die Unterbrechung, zur Seite und musterte besorgt die Freundin.

»Warum hast du nicht geschrieben?«, fragte sie und ließ ihren scharfen Blick über Emma gleiten. Offensichtlich alarmiert von ihren blassen Wangen und der Angst in ihren Augen, zog Sandrine sie kurzerhand aus dem überdachten Rundgang. Weiter führte Sandrine sie über den blühenden Rasen in den Schatten einer alten Esche, unter der zwei weitere Zimmergenossinnen über Briefen von zu Hause saßen. Widerstandslos ließ sich Emma mitziehen und zu den Mädchen auf die Decke drücken. Noch bevor jemand einen Ton herausbrachte, wurde sie von wildem Schluchzen geschüttelt.

Sandrine zog sie in eine tröstende Umarmung und fuhr ihr beruhigend über den bebenden Rücken, wobei sie den beiden überraschten Freundinnen einen vielsagenden Blick zuwarf. Der Tod einer ihrer ehemaligen Mitschülerinnen war Hauptgesprächsthema seit der gestrigen Ankunft deren kleiner Schwester gewesen. Clara-Catherina war nur bei der kirchlichen Trauung anwesend gewesen und hatte anschließend mit dem Rest der Familie den Ort der Feierlichkeiten gesucht, die nicht wie angegeben im Haus eines Freundes der Familie des Bräutigams stattgefunden hatte. Sie hatte jedem, der es wissen wollte, gesagt, dass sie fest daran glaubte, Baron Severin habe ihre Schwester umgebracht.

Langsam verebbte Emmas Schluchzen, und sie erzählte ihren Freundinnen von den Ereignissen der Osterferien.

»Dein Vater wusste … mein Gott!« Lady Gillian Richmond riss entsetzt die moosgrünen Augen auf und schlug sich eine Hand vor den Mund, um ihr Erschrecken zu kaschieren.

»Ja!«, flüsterte Emma schockiert von sich selbst: »Oh Gott! Ich habe ihr nicht geholfen! Ich bin schuld, dass sie tot ist!«

»Das ist doch Unsinn«, widersprach die Vierte im Bunde, Lady Alina Wright, sanft und legte dem aufgelösten Mädchen beruhigend die Hand auf den Arm. Ihre sanften Augen harmonierten perfekt mit ihrem meerblauen Vormittagskleid und legten sich mitfühlend auf sie. Emma konnte die Bestürzung aus den Gesichtern ihrer Freundinnen herauslesen und versteckte ihr tränenfeuchtes Antlitz hinter ihren Händen.

»Es ist ganz klar, wer die Schuld trägt, und genau da liegt auch dein Problem, Emma«, tröstete Lady Sandrine Stewart und drückte die Freundin fest an sich.

»Sandrine hat recht. Du kannst dieses Scheusal nicht heiraten«, stieß Lady Gillian hervor, sie eindringlich ansehend.

»Das ist so furchtbar!«, bemerkte Lady Alina leise und schüttelte den Kopf. Sie sah zu Sandrine, dann zu Gillian und sprach Emmas ärgsten Gedanken aus: » Was bleibt ihr denn übrig? Ich meine …« Alinas Augen wurden ganz groß, als sie feststellte: »Sie kann nicht mal zu ihrem Vater gehen und ihn bitten, die Verlobung zu lösen.« Sie ließ ihre Worte sacken, bis auch den anderen beiden Mädchen die Ungeheuerlichkeit bewusst wurde. Das Laub an den Bäumen raschelte überlaut.

»Ganz im Gegenteil«, flüsterte Alina schließlich, purer Horror sprach aus ihrem Blick. »Was soll sie denn machen? Weglaufen?«, fragte sie verzweifelt und sah Hilfe suchend in die Runde. Gillian runzelte angestrengt überlegend die Stirn, wobei sie sich eine Locke aus der Schläfe strich.

»Keine schlechte Idee«, murmelte sie. »Die Frage ist: wohin?«

»Nicht nur wohin, das Wie spielt auch eine Rolle«, gab Sandrine zu bedenken und tippte sich abgelenkt an die gespitzten Lippen.

»Es müsste etwas Dauerhaftes sein«, meinte Alina aufgeregt, wobei sie konzentriert die Stirn runzelte. »Für den Fall, dass dein Vater dich verstößt.«

»Ja, etwas Eigenständiges. Du könntest arbeiten«, fügte Sandrine an, recht skeptisch, denn sie selbst konnte sich wohl nicht vorstellen, eine Tätigkeit auszuüben. Nach einer kleinen Pause machte sie einen Vorschlag: »Ich habe eine schrullige Tante, wenn du willst, frage ich sie, ob sie nicht eine Gesellschafterin einstellen möchte.«

»Bitte, Sandy, du meinst doch nicht die berüchtigte Tante Arabella? Warum verheiratest du sie nicht gleich mit deinem Bruder?«, bemerkte Gillian lachend und erntete einen seelenvollen Blick von der Gescholtenen. Sandrine riss einen Grashalm aus dem Teppich zu ihren Füßen und wickelte ihn um ihren Finger.

»Ich glaube nicht, dass ich Robin dazu überreden könnte.« Sie seufzte gedehnt und erklärte Augen rollend: »Er denkt nämlich, er sei in Lady Brianna Barrows verliebt.« Sandrine seufzte enttäuscht. »Eigentlich ist er ein so wundervoller Mensch, aber …« Sie sah leidend in die Runde. »In dem Punkt ist er fürchterlich dumm. Wenn Brianna ihm also nicht schnell das Herz bricht …« Sie hob die Hände. »Was Gott verhüten mag, wird er sich wohl nicht schnell genug besinnen, um von Nutzen zu sein.« Sie zuckte die Schultern und warf den Grashalm fort, um einen neuen herauszureißen. »Und Raphael hat nicht vor zu heiraten. Er betitelt die Ehe als Gefängnis der Lebensfreude. Keine Ahnung, was er damit meint.« Sie spitzte die Lippen und fasste die schwarzhaarige Freundin ins Auge. »Was ist mit deinem Bruder, Gil?«

Gillian schnaubte enttäuscht. »Soll ich ihn fragen, wenn ich ihn sehe«, höhnte sie bitter, »oder ihn in einem Brief darum bitten? Nein, ich glaube leider nicht, dass ich ihn dazu bringen könnte.« Nachdenklich musterte Gillian die bedauernswerte Freundin, die hoffnungslos den Kopf hängen ließ. Ihre bleichen Wangen, die feuchten Augen und die bebenden Lippen weckten Gillians Wut und damit auch ihren Starrsinn. Es musste etwas geben, was Emma vor diesem Schicksal errettete.

»Ich glaube, ich werde ihn trotzdem fragen. Anthony ist zwar nicht gerade …« Sie presste auf der Suche nach den passenden Worten die Lippen aufeinander. Sie sah auf in Emmas verzagte Augen. »Er ist nett«, versicherte sie schnell. »Er ist Viscount und wird einmal der Earl of Winchester sein. Es ist an der Zeit, dass er heiratet, und das wäre der leichteste Ausweg, nicht wahr?«

Verzweifelt senkte Emma die Lider und versteckte ihr Gesicht in den Händen. Nach einem Moment des Haareraufens schüttelte sie bestimmt den Kopf.

»Nein! Ich meine, dein Bruder ist bestimmt nett, aber ich kann ihn nicht heiraten.«

»Emma, denke noch einmal darüber nach. Er ist Viscount Richmond, pflegt enge Kontakte zu sehr wichtigen Persönlichkeiten wie zum Beispiel dem Earl of Castlereagh. Weder Belmont noch Severin sind sonderlich gut gelitten in der höheren Gesellschaft«, beteuerte Gillian und ergriff die Hand der Freundin, um sie zu drücken. »Du wärst in Sicherheit. Und ich glaube, dass Anthony sehr«, sie unterbrach sich einmal mehr, um nach dem passenden Wort zu suchen, »beschützend ist.«

»Sie hat recht, Gillian«, unterbrach Alina den Einwand der Freundin seufzend. Alina legte Gillian eine Hand auf den Arm und schüttelte eindrücklich den Kopf. »Wenn sie wirklich offiziell verlobt ist, kann sie nicht einfach einen anderen heiraten. Denk an den Skandal.«

Die Mädchen ließen unisono die Schultern hängen. Alina runzelte die Stirn und beobachtete, wie andere Mitschülerinnen über den Rasen schritten, in Büchern schmökerten oder mit anderen Mädchen lachten.

»Nicht, solange diese Verlobung Bestand hat«, murmelte Alina, als ihr Blick auf ein bestimmtes Mädchen fiel. »Aber wenn sie gelöst werden würde, ihr wisst schon, wie bei Lady Ipswich. Der Hochzeitstermin stand fest, aber sie wurde krank und konnte demnach nicht vor dem Altar erscheinen.«

Sandrine nahm den Faden begeistert auf. »Drei Tage später ist sie mit Ipswich durchgebrannt! Ich erinnere mich daran, weil Lady Lynnwood meiner Mutter gegenüber beteuerte, dass kein Wortbruch stattgefunden hatte!«

Alina drehte sich begeistert zu Emma, um sie aufmunternd anzusehen. »Wenn du die Hochzeit platzen lässt, wäre doch alles Klasse!«

Das Mädchen errötete leicht bei ihrem Vorschlag, und Gillian knuffte ihr in die Seite.

»Und das würde keinen Skandal auslösen?«, erkundigte die sich ungläubig und erwartete von Sandrine eine tiefere Erklärung, die diese nicht bieten konnte.

»Vielleicht können wir deinen Vater und Belmont erpressen. Ich meine, du hast gesehen, was sie Maria-Luisa antaten«, erwog Sandrine und kniff leicht die Lider zusammen. Ihr Grashalm landete bei seinem Vorgänger. Sie setzte sich gerade auf und strich sich über den Falten werfenden Rock. »Was meint ihr, würde Emmas Aussage genügen, um Severin und Belmont des Mordes zu überführen?«

Panisch schüttelte Emma den Kopf. »Das kann ich nicht!«

»Das musst du auch nicht«, wiegelte Alina ab und schüttelte, den beiden anderen Mädchen bedeutend, warnend den Kopf. »Was wäre gewonnen, wenn Emma die Umstände von Maria-Luisas Tod bekannt machte? Wenn man ihr glaubt und ihr Vater und ihr Verlobter angeklagt werden, was geschieht mit ihr? Wer würde sie aufnehmen? Wie sollte sie sich je in der Gesellschaft sehen lassen? Wie sollte sie mit dem Fleck auf ihrem Renommee einen Gatten finden? Oder eine Anstellung? Man würde sie doch schneiden, über sie tuscheln.« Alina schüttelte den Kopf und sah eindringlich in die Runde. »Was soll aus ihr werden? Und bedenkt bitte, was geschieht, wenn man ihr nicht glaubt. Wie werden Severin und Belmont Emma eine solche Schmach vergelten? Sie haben Maria-Luisa eiskalt ermordet, ohne einen Wimpernschlag des Bedenkens, ohne spätere Reue.«

Die Mädchen ergriffen erschauernd ihre Hände und drückten sie versichernd. Sie sahen in die Runde und entdeckten in den Gesichtern der anderen ihre eigenen Befürchtungen.

»Sie hat doch niemanden, der sie beschützen könnte«, flüsterte Alina niedergeschlagen.

»Alina hat recht«, seufzte Gillian nicht weniger entmutigt, und die anderen Mädchen gaben murmelnd ihre Zustimmung. Einen Moment herrschte bedrückte Stille zwischen den Mädchen, dann seufzte Sandrine laut auf, straffte die Schultern und begab sich in ihre alteingesetzte Rolle. Sie gab die Richtung vor. »Also gut, lasst uns überlegen, wie wir Emma verschwinden lassen können.«

Emma nickte ergeben und überließ sich bedenkenlos ihren Freundinnen, die sich sogleich eifrig auf die Suche nach einer Fluchtmöglichkeit machten.

»Etwas Langfristiges«, hob Alina hervor und krauste ihre mit Sommersprossen übersäte Nase.

»Etwas Sicheres!«, strich Gillian hervor und erklärte: »Severin und Belmont werden sicherlich nicht zulassen, dass Emma einfach so verschwindet.«

Alina stimmte bestürzt zu: »Bestimmt nicht, schließlich kann man nie wissen, ob ihr Wissen nicht doch für Scherereien sorgt.«

»Ich frage Tante Arabella, ob sie nicht eine Gesellschafterin braucht. Sie ist furchtbar, aber dort ist man absolut sicher. Niemand kommt sie je besuchen, schon gar nicht freiwillig.« Sandrine erschauerte sichtlich und verzog die Lippen. »Sie ist komisch«, gab sie zu. »Sie ist streng und hat recht merkwürdige Ansichten zu allen möglichen Themen, aber sie ist zumindest nicht ungerecht.«

»Du könntest auch als Gouvernante arbeiten. Das habe ich mir überlegt.« Alina biss sich nach diesem Geständnis verlegen auf die Lippe. »Ihr wisst schon, als mittelloses Mädchen, ohne Familie … man hätte den ganzen Tag nichts mit den Herrschaften zu tun.«

Gillian sah Alina verblüfft an und schüttelte ihre schwarzen Locken. »Du wirst doch keine Gouvernante, Alina!«

Achselzuckend tat das Mädchen den Einwand der Freundin ab und sah Emma fragend an.

»Aber ich bin doch noch viel zu jung. Wer stellt denn eine Gouvernante ein, die kaum älter ist als die zu behütenden Kinder? Ich glaube, Sandrines Tante wäre keine schlechte Wahl.« Emma seufzte bedrückt. Ihr Leben würde sich ändern. Grundlegend. Vermutlich würde sie die Freundinnen allzu bald nicht wieder sehen. Sie blinzelte die aufsteigenden Tränen fort. Es war nun wichtig, die Gedanken beisammenzuhalten, ihre Flucht zu planen, ihr weiteres Leben. Es mochte nicht so verlaufen, wie sie es bisher gedacht hatte, aber jeder Weg, der sie von Belmont fortbrachte, war es wert, gegangen zu werden.

»Tante Arabella ist die Patin meiner jüngeren Schwester Susannah. Die Schwester unserer Mutter. Sie ist … eigen. Vermutlich hat sie deswegen nie geheiratet.« Sandrine zuckte die Schultern und sah nachdenklich in die Runde. »Sie pflegt kaum Kontakte. Ich weiß, dass sie Susi schreibt, aber sonst?«

»Nun, vermutlich ist dies sogar von Vorteil«, murmelte Gillian mit einer Miene, die deutlich bekundete, dass ihr der Vorschlag noch immer nicht recht gefiel. Alina biss sich auf die Lippe, bevor sie erneut ihre Zweifel kundtat: »Wie lange lebt sie denn schon allein? Und warum sollte sie ausgerechnet nun den Gedanken hegen, eine Gesellschafterin anzustellen?«

Sandrine gab notgedrungen zu, es nicht zu wissen. »Aber sie schlägt Susannah keinen noch so unsinnigen Wunsch aus.«

»Du willst deine Schwester involvieren?«, hauchte Emma bestürzt. »Sie soll für mich bitten?« Sie schloss die Augen und vergrub das Gesicht in ihren Knien.

»Susannah wird uns sicherlich den Gefallen erweisen«, versicherte Sandrine fest. »Sie ist ein Schatz.« Sie streckte die Hand aus, um sie auf Emmas Schulter zu legen. »Und wenn sie nicht so verrückt nach ihren Gäulen wäre, wäre sie längst schon Schülerin dieser Anstalt.«

»Ihre Gäule sind durchweg Sieger aller möglichen Rennen«, schnaubte Gillian. »Anthony versucht seit Jahren, einen Rappen aus eurer Zucht zu ergattern.« Sie winkte ab. »Aber das tut nichts zur Sache.«

»Sandy, vor kurzem erwähntest du, dass eine Freundin von dir eine Gouvernante sucht? Meinst du nicht, wir könnten es nicht zumindestens versuchen?«, beharrte Alina auf ihrer Idee und beugte sich leicht vor, um nach der Hand des zwei Jahre älteren Mädchens zu fassen. »Immer wenn du von dieser Tante sprichst, nennst du sie einen Drachen!«

Lady Sandrine Stewart runzelte die Stirn. »Fiona? Nein, sie braucht noch keine … Oh, natürlich! Fiona hat mir geschrieben, dass ihre Schwester Caroline ständig eine neue Gouvernante sucht. Ich werde Fiona schreiben!«

Cornwall, Eastwick Park, Mai 1815

Drei Wochen später stieg Emma aus der wankenden Kutsche, die sie bei einem genehmigten Stadtgang nach Oxford bestiegen hatte, nachdem die Freundinnen die anderen Mädchen und die beiden Aufsichtspersonen abgelenkt hatten. Hier war sie nun, mitten im Nirgendwo und trat ihre Stelle als Gouvernante im Hause des Earls of Eastwick an. Langsam erklomm sie die breite Steintreppe zur Eingangstür und wischte sich die nervösen Finger an ihrem grauen Reisekleid ab. Ein Gutglückgeschenk von Gillian. Es war neu und nach der zurückhaltenden Art geschnitten, die einer Angestellten gut zu Gesicht stand. Ihre gesamte Garderobe, die drei Kleider umfasste, war in unauffälligen Farben gehalten. Sie sahen streng und langweilig aus und machten sie hässlich, wie Gillian ihr versicherte.

Der Butler, der ihr die Tür öffnete, musterte sie kritisch und schien mit ihrem Auftreten unzufrieden, denn er zog eine graue, buschige Braue hoch, und sein hochmütiges Gesicht verzog sich sichtbar in deutlicher Ablehnung. Er wies sie kurz angebunden an, in der Halle zu warten und machte sich gemächlich auf den Weg, die neue Angestellte der Herrin zu melden. Emma sah sich derweilen in der düsteren Eingangshalle um und entschied, dass es der traurigste Ort war, den sie je besucht hatte. Man müsste ein Dutzend Fenster einbauen, um die Düsternis aus den Ecken neben dem geschwungenen Treppenaufgang zu vertreiben und die Ahnenporträts auf der Galerie aus ihrer kummervollen Schattenexistenz zu befreien. Sie seufzte und blinzelte durch das Dämmerlicht in den hinteren Teil des Hauses, aus dem eine leise Melodie zu ihr herüber wehte. An der Treppe im ersten Geschoss erschien eine junge Frau, die ihr ein begeistertes »Hallo« entgegenwarf und alsdann die Stufen herabeilte, um Emma um den Hals zu fallen.

»Wie schön, dass du endlich hier bist! Ich bin Fiona. Komm, lass dich zu Caroline führen.« Fiona ergriff Emmas Hand und zog sie mit sich. Emma war viel zu verdutzt von der vertrauten Geste, als dass sie ihren sorgsam einstudierten Text aufsagen konnte. Also folgte sie Lady Fiona in das Musikzimmer. Dort unterbrach eine Frau, die Lady Fiona auf das Haar genau glich, ihr Spiel, um der neuen Gouvernante einer ebenso liebevollen Begrüßung zu unterziehen wie durch die andere Dame zuvor.

»Emma Scott … Kaum zu glauben!«

Emma sah verwirrt, wie sich die beiden Damen zuzwinkerten und sie mit erfreuten Gesichtern musterten.

»Viel zu hübsch«, entschied die Ältere, deren blonde Locken in einer aufwändigen Frisur gefangen waren und deren sanfte, graue Augen auf dem Gesicht des Neuankömmlings verweilten. Emmas Mut sank. Was sollte sie tun, wenn man sie nicht dabehielt?

»Sie sieht auch ziemlich jung aus«, kritisierte nun die Jüngere, deren Frisur weniger ausgefallen war und einigen Strähnen die Freiheit gewährte.

»Wenn Eastwick sie sieht …« Angewidert brach Lady Caroline ab, und die Sanftheit ihrer Augen wandelte sich in Bitterkeit.

»Wir werden ihn einweihen. Aber sonst niemanden! Wer weiß schon, wo Cedric sich herumtreibt und was er so alles von sich gibt, wenn er betrunken ist?« Lady Fiona rümpfte empört die Nase, als sie von ihrem Bruder sprach, und schaffte es, der Schwester ein Lachen zu entlocken.

»Bloß nicht!«, stimmte diese ein. »Wahrscheinlich kennt er den Widerling persönlich … Und James besser auch nicht. Er ist immer so korrekt.«

»Ja, wahrscheinlich würde er sie sogleich verpackt und verschnürt in die Kutsche setzen und bei ihrem Vater abgeben.« Beide Ladys schüttelten unisono den Kopf und sahen Emma dabei betrübt an.

Emma riss erschrocken die Augen auf. Hatte Sandrine ihnen alles gesagt? Peinlich berührt schoss ihr die Röte ins Gesicht, und sie senkte ihren Blick auf ihre um die Reisetasche verkrampften Hände.

»Zumindest weiß man nie«, bestätigte Fiona düster. Die beiden Frauen zogen nachdenkliche Schnuten und ließen Emma nicht aus den Augen. »Blond ist zu auffällig. Wir müssen das Haar abdunkeln.«

»Und eine Brille für diese viel zu erinnerungswürdigen Augen, was ist das überhaupt für eine Farbe?« Neugierig starrte Fiona Emma in die Augen und versuchte, ihre Frage zu ergründen. »Das ist doch kein blau, oder?«

»Nun, zumindest ist es kein braun.«

»Sie sind blau-grau«, gab Emma Auskunft und wühlte in ihrem Retikül nach dem Gestell, das Alina ihr geschenkt hatte. Es war schauderhaft, aber es verunstaltete ihr herzförmiges Gesicht so weit, dass man nicht ein zweites Mal hinschaute. Zumindest waren sich ihre Freundinnen darüber einig gewesen.

»Ich habe eine Brille. Ich vergaß, sie aufzusetzen.«

Befriedigt nickte Lady Caroline. »Die ist schrecklich hässlich! Wundervoll!«

»Sie könnte das Haar mit Asche einreiben. Am besten, wir probieren es aus, und hast du nicht gesagt, dass deine Schwiegergroßmutter auf dem Dachboden einen Künstlerkoffer hat? Du musst wissen, Emma, sie war Schauspielerin!«

»Das bin ich immer noch«, ertönte hinter den drei Frauen eine harsche Stimme und ließ sie erschrocken zusammenfahren. Die alte Frau stakste mit ihrem Stock auf sie zu und verlangte zu wissen, was hier gespielt wurde.

»Eine Scharade.«

Über das papierene Antlitz der rüstigen Dame huschte ein Grinsen, und sie musterte das junge Mädchen wohlwollend, was der Hausherrin und deren Schwester einen Schrecken einjagte. Lady Farah Fenton, Dowager Countess of Eastwick, mochte niemanden!

»Gut, Kindchen, lass uns sehen, wie wir dein hübsches Gesicht verstecken können.«

Emma benötigte einige Zeit, um den Anweisungen der alten Dame perfekt nachzukommen. Und als sie sich den aufgeregt wartenden Damen zeigte, blieb ihnen die Spucke weg. Emmas hellblondes Haar hatte eine gräuliche Einfärbung bekommen und wirkte glanz- und kraftlos. Die Brille verbarg einen großen Teil ihres bleichen Gesichts, dessen Haut welliger wirkte, nahezu alt. Ein großer schwarzer Fleck verunstaltete ihre Oberlippe, und ihre Zähne schimmerten gelblich. Emma war hässlich, und ein sandgefüllter Sack um ihren Bauch machte sie zudem noch fett.

Die Dowager Countess nickte zufrieden. »An das Mädchen geht auch mein verfluchter Enkel nicht dran, vertrau mir, Caroline!« Sie tätschelte der verdutzten Frau die schlaffe Hand und orderte Tee. »Wenn jemand fragt: Sie ist eine Empfehlung von mir. Miss Burham. Die Tochter einer alten Freundin, die gibt es wirklich, und man kann die Lüge nicht so schnell entlarven. Ihr Vorname ist Deirdre.«

Emma lächelte leicht. »Meine Mutter hieß auch Deirdre. Es ist ein schöner Name.«

Caroline und Fiona wechselten einen schnellen Blick, konnten aber keinen Kommentar mehr abgeben, da in diesem Moment der Hausherr in den Salon seiner Frau platzte. Eastwick blieb an der Tür stehen, als er seine Großmutter gewahrte, die ihm mit einem Abscheu bekundenden Blick entgegensah. Er verbeugte sich leicht in ihre Richtung, bevor er seine Gattin begrüßte und die Hand seiner Schwägerin an die Lippen zog.

»Eastwick, darf ich dir unsere neue Gouvernante vorstellen? Miss Deirdre Burham. Mein Gemahl: Lord Richard Fenton, Earl of Eastwick.«

Eastwick verzog angewidert das Gesicht, als sich Emma aus ihrem Knicks erhob und er ihre Erscheinung gewahrte.

»Meine Liebe, möchtest du unseren Kindern Albträume bescheren? Entschuldigen Sie, Miss Burham, aber …«

»Sie bleibt!«

Der Lord zuckte unter dem eisigen Befehl seiner Großmutter zusammen.

»Madame, muss ich Sie daran erinnern …«

»Nicht in diesem Ton!«, unterbrach die alte Lady eisig und brachte den Lord damit tatsächlich für einen Moment zum Schweigen. Er räusperte sich.

»Madame, ich möchte lediglich darauf hinweisen …«

»Es mangelt dir deutlich an Respekt, Eastwick. Eine Schande ist das! Deinem Vater ein so schlechter Nachfolger zu sein!«

»Eine Schande, Madame, ist bereits unser Stammbaum!«, murmelte Eastwick, wohl in der Annahme, dass die Ohren der alten Dame nicht mehr scharf genug waren. Emma sah entsetzt von einer Partei zur nächsten. Lady Caroline legte ihr kurz die Hand auf den Arm und schüttelte knapp den Kopf, als Emma sich ihr zuwandte. Emma schluckte und senkte ihren Blick auf ihre ineinander verhakten Finger auf ihrem Schoß. Und sie hatte geglaubt, ihre Familienverhältnisse seien desolat!

»Zeige gefälligst etwas Respekt!«, beharrte die alte Lady. »Dein Großvater und dein Vater rotieren in ihren Gräbern bei deiner schamlosen …«

»Madame!«, unterbrach Eastwick und lenkte zu Emmas Verblüffung ein: »Ich bitte um Vergebung! Dennoch obliegt die Fürsorge für meine Kinder allein mir!«

Emma verfolgte aus dem Augenwinkel, wie Caroline das Gesicht abwendete, ihre Bitterkeit konnte die Countess damit aber nicht verstecken.

»Es sind meine Enkelkinder! Und dein Verhalten deiner Familie gegenüber ist schändlicher als meine verruchte Herkunft! Um es noch einmal deutlich zu machen: Ich habe getanzt! Ich habe auf der Bühne gestanden und mein Publikum mit meinem Gesang und meiner Darbietung verzaubert! Ich habe deinen Großvater nicht wegen seiner Stellung geheiratet oder weil ich meinen Lebensunterhalt nicht allein bestreiten konnte!«

»Wie immer, Mylady, ist eine Diskussion mit Ihnen …«

»Miss Burham bleibt! Ihre Qualifikation sollte den Maßstab geben und nicht ihr Aussehen! Oder ist es keine Gouvernante, die du suchst?«

»Natürlich«, murrte der Earl und warf seiner Gattin einen grimmigen Blick zu, »ist die Qualifikation maßgebend.«

»Hervorragend«, behauptete die alte Lady und setzte knapp hinzu: »Außerdem ist Miss Burham schon ein paar Tage hier, und die Kinder mögen sie.« Triumphierend lächelte die Dowager Countess und sah in die Runde.

Der Earl gab auf, den Blick seiner Countess einfangen zu wollen und wechselte mit Anspannung in der Stimme das Thema.

»Dein Bruder ist bereits angekommen. Sagtest du nicht, die Hausgesellschaft fände nächsten Monat statt?«

Caroline seufzte leidend und ignorierte die Frage beflissentlich. Es war Lady Fiona, die gepresst widersprach: »Nein. Sie beginnt mit der kommenden Woche. Es ist Thema bei jeder Mahlzeit in den letzten drei Wochen! Ich kann nicht fassen, dass Sie den Termin schon wieder vergaßen!«

Caroline seufzte und hob mit einem falschen Lächeln auf dem Gesicht das Kinn. »Wie schön.« Sie strich über den blassblauen Stoff ihrer Robe. »Cedric oder James?«, fragte sie dann aufstehend und trat, ohne die Antwort abzuwarten, zum Fenster. Dort stellte sie fest: »Es ist Cedric, und er ist nicht allein.«


3. Kapitel 3 – Nicht hübsch, aber selten


»Miss Burham! Wo wollen Sie denn mit den Mädchen hin?«, hielt der Earl of Eastwick Emma auf und schloss dann mit zwei Schritten zu ihnen auf. Emma entließ die Hände der beiden Mädchen, damit diese ihren Vater umarmen konnten. Eastwick schaffte es kaum, seinen Abscheu vor Emma zu verbergen. Sie war dem nicht sonderlich böse, nachdem sie erfahren hatte, dass der Earl häufig Liebschaften mit Hausangestellten unterhielt – bsonders gerne mit Gouvernanten, zumindest waren die letzten Angestellten auf diesem Posten mehr oder weniger aus diesem Grund entlassen worden. Emma unterdrückte ihr Ressentiment und gab die gewünschte Auskunft: »In den Wald. Wir möchten die örtliche Flora und Fauna erkunden. Die Mädchen werden einige Exemplare sammeln und sie anschließend katalogisieren. Lady Marie kann ein Aquarell und Lady Doreen eine Kohlezeichnung erstellen, während wir über die Verbreitung und Charakteristika …«

»Ja, ja, natürlich. Halten Sie die Mädchen vom Haus fern. Am Nachmittag ist ein Bogenschießen auf der hinteren Wiese vorgesehen.«

»Dürfen wir zusehen?«, unterbrach Marie begeistert, während Doreen erfreut quietschte. Schnell sank Emma auf die Knie und zog die Mädchen zu sich, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

»Lady Doreen, Damen quietschen nicht, und Lady Marie, wie wollten wir uns in Gegenwart Erwachsener benehmen?«

Marie senkte betrübt den Kopf und entschuldigte sich bei ihrem Vater für ihr undamenhaftes Benehmen.

»Mylord, ist es uns erlaubt, an den Aktivitäten des Nachmittags teilzunehmen, wenn wir uns im Hintergrund halten und ganz bestimmt keinen Ärger machen?«

Verblüfft sah der Earl auf sein kleines Mädchen herab, das ihn ernst mit bittenden Augen ansah.

»Ähm«, machte er und runzelte die Stirn.

»Ich verspreche feierlich …«, fuhr das Mädchen gefasst fort und wurde von seinem Vater unterbrochen: »Herrje, was haben Sie mit dem Kind gemacht?«

Emma fiel erschrocken die Kinnlade herab, besann sich aber schnell wieder. Sie musste jeder Anklage geschickt ausweichen, damit der Earl ihre Stelle nicht wieder vakant setzen konnte.

»Ich glaube nicht, schon mal eine Bitte aus ihrem Mund gehört zu haben!«

Emma hätte beinahe erleichtert geseufzt. Die Fünfjährige war eine Range und tobte mit Vorliebe kreischend durch das Haus. Ihre Bitten klangen eher nach Befehlen, und Emma hatte in den wenigen Tagen ihrer Anwesenheit schon einige Klagen gehört, dass sie die Dienstboten terrorisierte.

Emma räusperte sich leise, bevor sie vorschlug: »Vielleicht mag seine Lordschaft uns gestatten, dass wir in einiger Entfernung ein kleines Picknick veranstalten?« Damit konnten die Mädchen das Bogenschießen aus sicherer Entfernung beobachten und waren den Herrschaften dabei nicht im Weg.

Verdattert stimmte Lord Eastwick zu und verabschiedete sich schnell. Emma lobte auf dem Weg nach draußen: »Das war sehr gut, Marie, ich bin sehr stolz auf dich. Doreen, meine Liebe, was glaubst du, was wir hier finden werden? Fangen wir einen Fuchs?«

Doreen kicherte und schüttelte den Kopf. »Den werden Vater und die anderen Gentlemen morgen fangen!«

»Tatsächlich? Eine Fuchsjagd, wie aufregend.«

»Gar nicht! Sie töten den armen Fuchs!« Betrübt schob Marie die Unterlippe vor. »Besser wir fangen ihn heute und verstecken ihn, bis diese furchtbaren Kerle fort sind.«

Emma lachte glockenhell auf und zog damit die Aufmerksamkeit des soeben angereisten Lords auf sich, der sich interessiert umdrehte. James DevonportDevonport, Earl of Bensworth, war gerade erst aus seiner Reisekutsche gestiegen und sprach mit seinem Kutscher über die Unterbringung seiner Pferde im Stall seiner Schwester, als ihm bei dem lieblichen Geräusch ein Schauer über den Rücken lief. Er drehte sich in der Annahme, eine nicht minder bemerkenswerte Dame zu sehen. Stutzend starrte er die Frau an, die seine Nichten über den Hof führte und angeregt mit ihnen sprach. Obwohl Fionas letztes Schreiben von einer neuen, andersgearteten Gouvernante berichtete, ging ihm erst jetzt auf, was damit gemeint war. Sie war ungewöhnlich alt, ging leicht vornübergebeugt, und was er von ihrem Gesicht sehen konnte, war grotesk. Aber die beiden Mädchen sahen begeistert zu ihr auf und schienen keinen Anstoß an dem Aussehen der Betreuungsperson zu nehmen. Doreen entdeckte ihn und zog am Arm der Frau, um auf ihren Onkel zu deuten.

Emma folgte Doreens ausgestreckter Hand und hielt bei dem durchdringenden Blick des Gentleman den Atem an. Er starrte sie ganz ungeniert an. Erschrocken starrte Emma zurück. Ihr Herz schlug hart in ihrer Brust, und sie musste wohl den Atem angehalten haben, wurde ihr doch recht seltsam zumute. Leichtköpfig. Heiß und kalt zugleich. Angenehm und doch auch beunruhigend. Warum starrte er sie an?

Wie aus weiter Ferne hörte sie die Mädchen aufkreischen, dabei stand sie genau neben ihnen. Eines der Kinder zog wieder an ihrem Arm, aber Emma konnte sich nicht losreißen. Der Wind spielte mit seinem blonden Haar. Aus der Entfernung konnte sie seine Augenfarbe nicht bestimmen, aber sie waren definitiv hell, und er musste sie um einige Zentimeter überragen. Aber das konnte bei dem Abstand zwischen ihnen auch ein Trugschluss sein. Seinen Zylinder trug er in der Hand, gleichsam einen Gehstock. Dabei konnte er nicht auf ihn abgewiesen sein, so alt war er bei Weitem nicht!

»Dürfen wir? Dürfen wir?«

Emma blinzelte verwirrt und sah endlich auf die Mädchen hinab. Es schwindelte ihr, und sie blinzelte einige Male, um sich selbst zu versichern, einer Ohnmacht nicht nahe zu sein. Wie peinlich das wäre!

»Bitte!«, baten beide unisono und sahen mit so flehentlichen Mienen zu ihr auf, dass Emma einfach zustimmen musste. Sie öffnete den Mund, brachte aber nur ein Krächzen hervor. Schnell nickte sie und schalt sich eine Närrin. Sie musste sich zusammennehmen!

Marie quiekte begeistert und stürmte los. Doreen sah noch einmal zu Emma auf, bevor sie sich ein wenig weniger unziemlich ebenfalls auf den Weg machte. Immerhin flogen ihre Röcke beim Laufen nicht so hoch wie bei Marie. Emma schloss kurz die Augen. Marie hatte sie mit ihrem Benehmen wieder in das Hier und Jetzt zurückgeholt. Emma verbat sich, wieder zurückzugleiten und bei der Frage zu verweilen, warum der Gentleman sie wohl angestarrt haben mochte. Sie straffte die Schultern und folgte den Mädchen, wobei sie verwundert beobachtete, wie ungezwungen sich der Herr mit den Kindern gab.

Marie warf sich in James‘ Arme, und er hob sie auf, um sie einmal im Kreis zu schwingen. Sie jauchzte erfreut auf und bat um eine weitere Runde, als James sie wieder abstellte.

»Erst der andere kleine Spatz!«

James schwang auch Doreen herum, dass sie kicherte, und stellte sie dann neben der Schwester wieder ab, die ihn mit großen, hoffnungsvollen Augen ansah. Den Augen ihrer Mutter.

»Hast du uns etwas mitgebracht, Onkel?«, fragte Doreen außer Atem, nachdem James beide erneut schwingen gelassen hatte. Er kniete sich zu ihnen und bestätigte die Frage der Nichte.

»Ein Pony?«, mutmaßte Marie, und ihr erhitztes Gesicht strahlte bei der Aussicht.

»Leider passte es nicht in meine Reisetasche.«

James sah kurz auf, als die Betreuungsperson der Mädchen zu ihnen trat. Fiona hatte recht, sie war ungewöhnlich. Marie forderte wieder seine Aufmerksamkeit. Sie verengte böse ihre himmelblauen Augen und tadelte: »Ein Pony gehört auch nicht in die Tasche!«

James lachte bei der Schnute, die das kleine Mädchen zog. Die Mutter der Mädchen hatte ihn nicht selten ebenso angesehen, als sie im gleichen Alter gewesen war.

»Leider habe ich nichts dabei, was nicht in die Tasche passt.«

Die Gouvernante räusperte sich leise und knickste vor ihm.

»Verzeihen Sie, Mylord, die Mädchen haben einen engen Stundenplan, und wir haben für heute einen Ausflug geplant.«

James sah auf. Aus der Nähe sah sie noch obskurer aus. Innerlich schüttelte er den Kopf. Sie war in der Tat ganz anders als das Gros ihrer Zunft. Selbst die älteren Angestellten waren selten so unansehnlich wie diese Person. Dafür war ihre Stimme klar wie die der Nachtigall. Ein Schauer rollte über seinen Rücken, und James war dankbar, seine Aufmerksamkeit wieder auf die Mädchen zu lenken. Marie richtete sich zu ihrer vollen Größe von einem stattlichen Meter auf und räusperte sich vernehmlich. Amüsiert hob James eine Braue und grinste, als die Kleine die Erwachsenen einander vorstellte, als begegneten sie sich gleichrangig in einem Salon: »Onkel James, darf ich dir Deirdre, ich meine, Miss Burham, unsere Gouvernante, vorstellen? Miss Burham, dies ist Lord James Devonport, Earl of Bensworth, der Bruder meiner Mutter.« Sie ruinierte ihr damenhaftes Auftreten, indem sie zusetzte: »Willst du ihn nicht heiraten? Dann wärst du unsere Tante!«

Der entsetzte Blick seiner Lordschaft brachte Emma fast dazu, herzhaft zu lachen, stattdessen schluckte sie ihr Amüsement runter und setzte eine ernste Miene auf. »Das war sehr ungehörig, Marie. Gentlemen reagieren sehr empfindlich auf den weiblichen Drang, alles mit jedem zu verkuppeln. Trotzdem: danke. Es war der erste Onkel, den man mir aufschwatzen wollte.«

Sie zwinkerte dem Mädchen zu, bevor sie sich bei dem Earl entschuldigte.

»Bitte sehen Sie Lady Marie ihren Fehler nach. Unsere Lektionen sehen keine Ausnahmen vor.«

Es fiel Emma schwer, ihre Lippen in ein höfliches Lächeln zu zwängen und Worte hervorzubringen. Es wunderte sie, dass sie es dennoch vermochte. Aus der Nähe betrachtet war der Lord atemberaubend. Seine blauen Augen, sein Lächeln, der Klang seiner Stimme!

»Selbstverständlich«, murmelte der Earl, und Emma kribbelte es am ganzen Leib. Beinahe vergaß sie zu atmen.

»Was schwatzt man dir denn sonst auf?« Das kleine Mädchen sah mit großen, runden Augen zu ihr auf, als wäre sie ein Kuriosum. Emma blinzelte einen Moment irritiert. Aufschwatzen?

»Was schwatzt man Ihnen denn sonst auf«, korrigierte Marie ihre Schwester und schubste sie leicht an, damit sie die Frage wiederholte. Emma seufzte sich entsinnend. Sie musste beim Thema bleiben. Am besten, sie ignorierte den Lord und konzentrierte sich nur auf die beiden Mädchen.

»Brüder, für gewöhnlich«, antwortete sie also, ohne daran zu denken, dass der Lord ja zuhörte. Daran erinnert stockte sie schnell. Wie mochte sie sich anhören?

»Aber dies war in einem anderen Leben«, setzte sie schnell dazu und hinterfragte erneut, ob die Aussage nun angemessener war. Sie sollte sich besser vorsehen, nicht auszudenken, sie würde entlarvt werden! Nicht mehr an den Lord denken. Lord Bensworth. Sich zusammenreißend wendete sie sich wieder an die Kinder: »Wie sieht es aus, können sich die Damen lösen, damit wir unsere Botanikstunde endlich beginnen können?«

»Du meinst …« Doreen unterbrach sich und begann von Neuem: »Sie meinen, als Sie noch hübsch waren?«

Emma war einen Moment perplex, dann lachte sie auf und bestätigte: »Ja, als ich noch hübsch war und im Internat. Meine Freundinnen rissen sich darum, mir ihre Brüder anzubiedern. Wartet nur, bis ihr ins Internat kommt.«

Ängstlich sah Doreen zu ihr auf und blinzelte Tränen fort. »Ich möchte nicht in ein Internat. Ich wäre da ganz alleine!«

Emma kniete sich zu dem aufgelösten Mädchen und zog sie auf ihren Schoß, was die Kleine dankbar annahm und sich an die wallende Brust drückte.

»Nicht weinen, meine Süße. Weißt du was? Wenn wir später etwas Zeit haben, erzähle ich euch, wie viel Spaß ich im Internat hatte und welch wundervolle Freundschaften man dort schließen kann. Zufällig weiß ich, dass eure Tante, Lady Carlisle, immer noch regen Briefkontakt mit ihren vielen in einem Internat geschlossenen Freundschaften hält.«

»Wirklich?«

»Außerdem wärst du nicht allein. Marie wäre bei dir.«

»Ich möchte lieber hier bei Ihnen bleiben«, stellte Doreen entschieden fest und drückte sich enger an Emma heran.

»Das ist lieb von dir. Jetzt trockne deine Tränen und verabschiede dich von Lord Bensworth, damit wir endlich gehen können, sonst fällt unsere Nachmittagsaktivität aus!«Sofort hüpfte Doreen aus der Umarmung und verabschiedete sich schnell, nicht ohne den Earl zu ihrem Picknick einzuladen. Erschrocken riss Emma die Augen auf, als sie die Einladung vernahm. Er fing ihren Blick ein, und einen Moment lang verwischte alles um sie herum.

»Bitte!«, flehten die Mädchen unisono und unterbrachen den Augenblick. Lord Bensworth antwortete, und Emma überfuhr ein Schauer. Sie hatte Schwierigkeiten, sich zu fassen, war nervös und aufgeregt zugleich. Er deutete eine Verbeugung an, völlig unnötig bei ihrem gesellschaftlichen Rang und dadurch noch ergreifender. Benebelt knickste sie. Den höfischen Knicks, nicht den der Dienstboten, aber das fiel ihr gar nicht auf. Sie war viel mehr mit ihm beschäftigt. Sein blondes Haar wehte sacht in der leichten Vormittagsbrise, seine himmlisch blauen Augen funkelten und seine Lippen …

Sie schluckte und biss sich auf ihre eigenen Lippen. Dadurch senkte sie auch den Blick und bekam mit dem Lehmboden auch etwas Erdung zurück. Sie benahm sich albern. Das war dumm, besonders, da sie ihre Scharade aufrechterhalten musste. Besonders vor ihm. James DevonportDevonport, jener Bruder Lady Eastwicks, der sie verschnürt bei Severin absetzen würde, wüsste er von ihrer Identität. Sie schluckte wieder, dieses Mal ernüchtert. Sie musste Abstand zu ihm halten. Zu ihm und allen anderen gleich mit. Zu ihrer eigenen Sicherheit. Zu ihrem eigenen Wohlergehen. Die Sonne verlor an Strahlkraft und verdüsterte ihre Aussichten noch mehr.

James entging weder das leichte Erschrecken der Angestellten, noch ihr Fauxpas beim Knicks. Er runzelte leicht die Stirn, wollte sich aber keine weitere Blöße geben. Neugierde war keine Tugend und konnte leicht falsch aufgefasst werden. Obwohl es bei dieser Gouvernante sicherlich nicht zu dem gängigen Vorurteil käme. James überflog schnell ihre Erscheinung. Sie war nicht einmal im freundlichsten Fall als nett anzusehen zu beschreiben. Nein, Miss Burham war seltsam. Aus der Ferne sah sie steinalt aus, aber ihre Stimme hatte den Klang eines übermütigen Mädchens. Und ihre funkelnden Augen machten sie Jahrzehnte jünger. Außerdem: Ihr Verhalten den Kindern gegenüber war nicht so, wie er es von einer in die Jahre gekommenen Gouvernante erwartete. Aber es waren nicht die Ungereimtheiten, die seine Neugierde heraufbeschworen. Auch nicht ihre Augen, die hinter den dicken Brillengläsern riesig erschienen. Da war noch etwas anderes. An ihr. Etwas, das sein Interesse weckte. Etwas unterschwelliges, das er nicht benennen konnte. Immerhin war sie eine ältliche Frau, wesentlich älter als er selbst. Eine Angestellte. James sah dem Trio irritiert nach, als sie Richtung Wald verschwanden. Es war eine lange Strecke, und doch sah er ihnen noch hinterher, als sie bereits vom Grün der Bäume verschluckt wurden, nicht sicher, was die Ursache für die unterschwellige Aufregung war, die er ganz sicher empfand. Es war nicht Ärger, den er bis zu diesem Zusammentreffen mühsam gebändigt hatte und der ihm nun profan erschien. Cedric amüsierte sich nur. Unangebracht, aber es waren lediglich Langeweile und jugendlicher Leichtsinn. Solange er sich an Schauspielerinnen und Tänzerinnen hielt, war es unbedeutend. Kein Grund einzuschreiten. Solange er sich von Damen fernhielt. Von den Angestellten …

Immerhin verführte er keine Gouvernanten, wie Eastwick, sein verfluchter Schwager. Zumindest erklärte es die Verdingung dieser Miss Burham. Dieser merkwürdigen Miss Burham …

Aufgeregt verfolgten die Mädchen aus sicherer Entfernung das Bogenschießen und kommentierten die mehr oder weniger guten Schüsse kichernd. Emma betrachtete die Mädchen und genoss den sanften Windstoß, der ihre Wangen liebkoste. Sie lehnte sich leicht zurück und ließ ihren Kopf in den Nacken kippen, um auch ihrem Hals etwas Kühlung zu gönnen. Sie saßen unter einem ausladenden Baum, der keine Früchte trug, durch sein dichtes Blattwerk aber hervorragenden Schutz gegen die sengende Hitze der Sonne bot. Es war unerträglich warm geworden, und ihre Haut juckte unter der Schicht Schminke. Sie wünschte sich so sehnlichst, die Maske abnehmen zu können. Natürlich konnte sie es nicht riskieren. Traute sich nicht einmal, mit einem Tuch den Schweiß aufzutupfen, aus Angst, ihre Aufmachung zu ruinieren. Sie warteten auf das Ende des Wettbewerbs, um mit dem Picknick zu beginnen.

»Da! Sie kommen!«, rief Doreen aufgeregt und deutete mit ihrem ausgestreckten Finger auf die nahende Tante. Lady Carlisle hatte sich freudig bereiterklärt, ihnen Gesellschaft zu leisten, sobald sie aus dem Wettbewerb ausschied. Marie winkte ihr aufgeregt entgegen, als sie am Arm ihres Gatten auf sie zukam. Fiona stellte der vermeintlichen Gouvernante Lord Carlisle vor, der sie amüsiert musterte und ihre Hand galant zu seinen Lippen zog.

»Enchanté, Madame!«

»So viel zur Verschwiegenheit!« Emmas Augen funkelten vergnügt, als sie sich aufrichtete und dem Viscount einen Rundumblick gönnte.

»Sehr vorteilhaft. Ich muss sagen, die alte Lady wird mir immer sympathischer.«

»Ich liebe sie!«, äußerte Fiona überschwänglich und beschrieb ihrem Mann, wie ihr Schwager sich in Gegenwart der vermeintlichen Gouvernante verhielt.

»Er hält es kaum in ihrer Gegenwart aus!«, fasste sie schließlich zusammen und zwinkerte Emma zu. Die nahm die Brille ab und fuhr sich über die schmerzenden Augen.

»Sie sollten die Brille besser nicht absetzen«, riet Carlisle ihr und warf seiner Gattin einen Blick zu.

»Die Augen, nicht wahr? Sie sind anziehend«, nahm Fiona den Faden auf und schüttelte den Kopf. »Ein Glück, dass Eastwick sie keinen Moment lang ansehen kann!«

»Naja, ich denke mal, dass Eastwick auch keinen Blick in Augen verschwendet«, murmelte Carlisle, um dann das Thema zu wechseln: »Ich hörte, dass Severin jeden Stein umdreht. Sie sollten sich nicht zu weit vom Haus fortwagen, weder allein, noch in Begleitung. Ich bin mir nicht sicher, wie gut Ihre Maskerade bei Bekannten funktioniert.«

Emma hatte derweilen wieder Platz genommen und verhakte die Finger ineinander.

»Meinst du, Severin könnte sie tatsächlich erkennen?«, fragte Lady Carlisle leise, wobei sie Emma eingehend musterte. »Sie sieht sich nun wirklich nicht mehr ähnlich!«

»Es gehört mehr zu einer Maskerade, als …« Carlisle brach ab, als die Mädchen quiekend auf die Füße kamen: »Onkel James!«

Marie und Doreen liefen Lord Bensworth entgegen, der sie mit sich zurücktrug und die kichernde Last auf der Decke ablud.

»Colin, Fiona … ich wusste nicht, dass es ein Familientreffen wird. Wen habt ihr beiden sonst noch eingeladen?« Er kitzelte Marie, die unter Japsern Auskunft gab: »Mama, Papa und Onkel Cedric, sie kommen aber nicht.«

Doreen warf sich auf ihren Onkel, um ihrer Schwester zu helfen und schubste den unvorbereiteten Lord von dem kichernden Mädchen, wobei ihn der Schwung gegen die Gouvernante warf. Erschrocken schnaufte sie, als sie unter dem Mann auf den Boden schlug. Sie verzog vor Schmerz das Gesicht und versuchte, sich zu fangen. Sie wollte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, schon gar nicht die seine.

»Entschuldigen Sie, Miss Burham, habe ich Sie verletzt?«, murmelte Lord Bensworth und musterte sie mit vager Besorgnis. Emma vergaß ihr Vorhaben. Die Art, wie er sie ansah, ließ sie vergessen. Alles. Ihren Namen, ihre Stellung, warum sie dort war und dass sie nicht allein waren. Erst, als er ihr eine Strähne ihres mit Kohle abgedunkelten Haares aus dem Gesicht schob, und dabei ihre Wange berührte, fiel es ihr siedend heiß wieder ein. Nicht auffallen. Sie durfte nicht erkannt werden, sie durfte keine Fragen aufwerfen. Sie war nur sicher, wenn sich niemand für sie interessierte! Sie biss sich leicht auf die Unterlippe.

Aus der Nähe betrachtet, wirkte sie noch jünger, stellte James DevonportDevonport überrascht fest und wunderte sich über die unangenehm harte Konsistenz ihres Bauches. Zumindest bis ihm aufging, warum er sich darüber wundern konnte. Er lag halb auf ihr! Auf einer alten, hässlichen Gouvernante mit Geheimnissen. Das musste es sein. Sie weckte seine Neugierde, weil so vieles nicht recht zu passen schien. Seltsam anmutete, zumindest. Langsam schob er sich von ihr und kniete neben der Gouvernante, die noch immer nicht auf seine Frage geantwortet hatte. Er runzelte die Stirn. War sie erschrocken? Ihre Augen waren aufgerissen, und sie starrte ihn an. Natürlich war sie erschrocken, mahnte sich James, er war mit Schwung gegen sie geprallt und hatte sie dann unter sich begraben. Da durfte man erschrecken! Er sollte nicht zu viel hineininterpretieren, sie geheimnisvoller machen, als sie war, zum Beispiel.

»Ich habe mir den Kopf gestoßen«, murmelte sie endlich und schlug den Blick nieder. Dann riss sie die Augen wieder auf und fasste sich ins Gesicht.

»Meine Brille! Ich kann nichts sehen ohne meine Brille!«

James stutzte. Sie hatte ihm gerade mitten ins Gesicht geschaut und nicht den Eindruck gemacht, unscharf zu sehen. Fiona riss ihn aus seiner Verwunderung. Sie ging neben ihm nieder und funkelte ihn ungewohnt böse an. Fiona war nie böse mit ihm!

»Pass doch auf!« Sie reichte der Gouvernante die Brille und half ihr, sich aufzurichten. Doreen entschuldigte sich, den Tränen nahe, und Emma schüttelte sacht den Kopf, um sie zu beruhigen.

»Das ist in Ordnung, Doreen. Es war ein Unfall. Du hast völlig richtig gehandelt, als du deiner Schwester Unterstützung angeboten hast.«

Lord Carlisle schlug vor, mit dem Picknick zu beginnen und lenkte alle erfolgreich von Emma ab. Sie fand nicht so schnell in ihre Rolle zurück. Sie hob die zittrige Hand an die Wange, die der Lord berührt hatte. Sie war noch immer ganz warm. Verwirrt senkte sie den Blick und verschränkte fest die Finger ineinander. Sie war ganz durcheinander. Wegen einer Berührung?

Gut, das war beunruhigend, wenn man an Belmont und Severin dachte. So wollte sie nie wieder berührt werden. Aber so wie gerade eben, so wie Lord Bensworth sie berührt hatte … Sie warf ihm einen scheuen Blick zu. Er nahm seiner Schwester einen Kelch ab und lachte über Doreens Geplapper. Das war gefährlich. Emma hatte nicht ein Wort von dem mitbekommen, was Doreen gesagt hatte. Eigentlich hatte sie nichts mehr mitbekommen, seit der Earl sie umgestoßen hatte. Das konnte sie in arge Schwierigkeiten bringen. Sie atmete tief durch und nahm sich vor, in Zukunft einen noch größeren Bogen um Männer im Allgemeinen und diesen im Besonderen zu machen. Trotzdem blieb sie abgelenkt. Sie bemerkte nicht, dass ein paar Reiter über die Wiese preschten und unweit von ihnen die Pferde zügelten. Erst als Lord Carlisle näher zu ihr rutschte und sie warnte, wurde sie der berittenen Herren gewahr, die sich der Picknickgesellschaft näherten. Erschrocken drehte Emma den Neuankömmlingen den Rücken zu und versuchte, sich mit den Kindern abzulenken, die sich ungeniert mit Kirschen den Bauch vollschlugen. Die unliebsam bekannte Stimme jagte ihr einen Schauer über den Rücken.

»Carlisle, Bensworth!« Belmont verbeugte sich leicht vor den Herren und beugte sich anschließend über die widerwillig gereichte Hand der Lady, ohne sich um die Kinder und Emma zu kümmern.

James knirschte mit den Zähnen, als der unerwünschte Gast ungeniert seine Augen über die schlanke Gestalt seiner Schwester wandern ließ und seinen Blick nur gezwungenermaßen von Lady Carlisles Dekolleté löste, weil ihr Gemahl sie zu sich zog.

»Das ist Privatbesitz, Belmont, und dies ist ein Familienpicknick.« Angelegentlich sah James zu den wartenden Pferden und machte damit deutlich, dass der Marques sich zurückziehen sollte. Belmont ignorierte den Earl und schenkte seine schmierige Aufmerksamkeit der Lady.

»Ein alter Freund von mir ist auf der Suche nach seiner entlaufenen Tochter. Sie soll hier gesehen worden sein …«

James ballte die Hände, bereit einzuschreiten. Fiona hob das Kinn und meinte abweisend: »Ach, tatsächlich? Nun, ich bin seit über einem Monat hier, und abgesehen von den Hausgästen habe ich niemanden gesehen.«

Der Marques lächelte maliziös und sah in die Richtung, in der die Hausgesellschaft ihren Spielen nachging.

»Nun, vielleicht ist sie einer der Gäste: groß, schlank, blond, blaue Augen … sechzehn Jahre alt.«

Fiona tippte sich nachdenklich gegen das Kinn und schüttelte nach einem kurzen Moment bedauernd den Kopf. James fragte sich, warum sie überhaupt auf den Marques einging.

»Nein. Hier ist niemand jünger als zwanzig. Abgesehen von meinen Nichten«, stellte Fiona selbstsicher fest.

Der unerwünschte Eindringling verengte die Augen, und James hielt es für angeraten einzuschreiten. Belmont hatte sie nun lange genug belästigt.

»Verschwinden Sie, Belmont. Sie sind hier nicht willkommen.«

Der Marques musterte ihn verächtlich, bevor er sich wieder an Fiona wandte. Er zog einen Brief aus seiner Westentasche und wedelte damit vor ihrer Nase herum.

»Wie erklären Mylady es sich dann, dass ich einen Brief abfangen konnte, der aus dem Internat, aus dem sie verschwunden ist, an eine E.S. an genau diese Adresse geschickt wurde? Von einer ihrer Zimmergenossinnen. E.S. wie Emma Scott.«

James gönnte sich ein zufriedenes Grinsen. »Severin ist also die Tochter entlaufen, und Sie vermuten sie hier bei uns? Vielleicht ist sie durchgebrannt, schließlich passiert dies in seiner Umgebung ständig. Hat er nicht vor kurzem wieder ein Mädchen auf der Flucht geheiratet?« Seine Belustigung schwand, und er sah den Marques kalt an. Ganz gleich, was passiert war, seine Schwestern sollten nicht mit hineingezogen werden. Zwar waren beide verheiratet und damit nicht in unmittelbarer Gefahr, ein ähnliches Los zu erleiden wie die vorherigen Gattinnen Severins, aber der Baron könnte sich schließlich auch zu anderem hinreißen lassen. Und für Belmont würde er seine Hand auch nicht ins Feuer legen.

»Richtig, Bensworth, deshalb helfe ich Severin, der seine Tochter schmerzlich vermisst.« Wieder warf der Lord einen Blick zu Fiona, die die Stirn runzelte und verlangte: »Zeigen Sie mir den Brief!« Fiona lachte auf. »Das ist kein E, sondern ein F. Der Brief ist an mich adressiert. Fiona Sofia! Sicherlich von Lady Sandrine Stewart, sie steht kurz vor ihrer Saison und ist so aufgeregt, weil ihre kleine Schwester sie nicht nach London begleiten will.« Schnell verbarg sie das Schreiben in ihrem Ausschnitt und grinste den Marques frech an. Carlisle zog seine Gattin aus der Reichweite des Marques, der aussah, als wolle er sich das Schreiben jeden Augenblick zurückholen und tadelte sie: »Du solltest Lady Sandrine wirklich bitten, deinen Namen auszuschreiben. Sieh mal, was für eine Verwirrung du angerichtet hast …«

Belmont knirschte mit den Zähnen und machte einen Schritt auf die Lady zu. James stand auf und versperrte ihm damit den Weg.

»Das genügt nun, Belmont!«, warnte er leise, durchaus bereit, ihre Ungestörtheit mit Gewalt wieder herzustellen. Belmont trat zurück und schielte zu der Gouvernante, die ihm den steifen Rücken zuwandte.

»Wie ich hörte, hat Lady Eastwick eine neue Angestellte …«, bemerkte er, und Emma seufzte. Fast hatte sie geglaubt, in Sicherheit zu sein.

»So ist es!«, flötete Fiona. »Miss Burham. Lady Eastwick hatte das unverschämte Glück, sie anwerben zu können. Sie hält sie hoch in Ehren und wird sie nicht so leicht wieder abtreten!«

Es klang wie eine Warnung. Emma warf ihr einen verunsicherten Blick zu.

»Dann freue ich mich darauf, besagte Miss in Augenschein zu nehmen«, murmelte Belmont und machte damit deutlich, dass er nicht so einfach aufgeben würde. Emma zitterte vor Angst. Sie hatte keine Wahl. Sie musste sich ihm stellen. Was, wenn Lord Carlisle recht behielt? Wenn jemand ihr Bekanntes sie erkennen könnte? Sie presste die Lider aufeinander. Eine Wahl hatte sie dennoch nicht.

»Ach herrje, Belmont. Nun auch noch eine Gouvernante?«, höhnte Bensworth. »Ist denn kein Frauenzimmer vor Ihnen sicher?«

Emma warf ihm einen überraschten Blick zu. Er verteidigte sie. Eine ihm kaum bekannte Angestellte. Ihr wurde ganz warm, und ihre Furcht schwand ein klein wenig. Emma stand auf und drehte sich langsam um. »Mylord«, murmelte sie und machte einen schwankenden Knicks. Sie kam nicht umhin, daran zu denken, was aus ihr werden würde, sollte die Scharade platzen. Lady Belmont. Diesem Widerling voll und ganz ausgeliefert. Wie Maria-Luisa. Der Gedanke und die Erinnerung an den Mut der Verstorbenen gaben ihr etwas Sicherheit. Maria-Luisa hatte sich nicht einschüchtern lassen. Sie war bereit gewesen, diesem Mann und Severin die Stirn zu bieten. Sie konnte es auch. Sie musste es, um das Andenken des unglücklichen Mädchens zu wahren. Keine Furcht mehr, sagte sich Emma.

»Burham?«, murmelte Belmont und ließ seine Augen eindringlich über sie wandern.

»Ja, Mylord«, zwang sich Emma zu sagen und hob den Blick. »Von den Westfield Burhams. Meine Mutter ist mit Lady Eastwick befreundet … der Großmutter des Earls, und als sie ihr von … den problematischen Angestelltenbeziehungen in diesem Haus berichtete, war ich gerne bereit, meiner Mutter den Gefallen zu tun, der Lady auszuhelfen.«

Angewidert starrte der Marques sie an. »Mein Gott, wie alt sind Sie?«

Eine merkwürdige Frage, aber der Blick des Lords gab ihr genug Courage, um flapsig zu antworten: »Fünfzig, Mylord. Und ich werde immer noch gebeten zu heiraten.«

»Von Männern?«, fragte Belmont entsetzt und bekam eine gelbliche Gesichtsfarbe, die seinen Ekel bezeugte. Emma grinste breit.

»Nun, schwerlich von Frauen, nicht wahr? Interessiert?«

Schnell trat Belmont den Rückzug an und ignorierte das herzhafte Lachen in seinem Rücken, als er im gestreckten Galopp davonraste, um seine Suche anderenorts fortzusetzen. Emma nahm, zufrieden mit sich und ihrer Verkleidung, wieder Platz.

»Das war aber nicht nett«, bemerkte Doreen und zog eine finstere Miene. »Warum ist er nicht interessiert? Er sieht furchtbar aus und ist bestimmt älter als du!«

»Wenn er mich besser kennen würde, würde er seine Meinung ändern«, beruhigte Emma beschwingt das den Tränen nahe Kind und zog es auf den Schoß. »Allerdings gibt es da noch den Ständeunterschied.«

»Was meinst du? Ist ein Marques besser als eine Gouvernante?«

»Als Mensch? Wohl nicht. Aber wie du weißt, hat sich in England über die Jahrhunderte eine Klassengesellschaft herausgebildet, und in diesem recht starren System steht ein Marques weit über einer Gouvernante.«

»Das heißt, dass ein Marques keine Gouvernante heiratet?«, fragte Marie und zog die Stirn in Falten. »Und ein Earl?«

»Auch nicht«, behauptete Emma und zwang sich, dabei nicht in die Richtung des anwesenden Earls zu linsen. Schließlich war es ein ganz dummer Gedanke. Lady Bensworth zu werden, sich seines Schutzes sicher … Hitze verdorrte ihren Hals, und sie schluckte angestrengt. Dummer Gedanke!

»Nun, unsere Mutter war eine Gouvernante, und unser Vater hat sie geheiratet«, unterbrach Fiona und warf ihrem Bruder einen schelmischen Blick zu. »Warum sollte das nicht wieder geschehen?«

»Da ist der Bruder«, seufzte Emma und schnitt ein Gesicht. Die Implikation musste sie dennoch weit von sich schieben. Bensworth, spukte es in ihrem Kopf herum. James. Besser. Erschreckt rief sie sich zur Ordnung und machte sich daran, die Teller der Kinder einzuräumen. Besser, sie hielt sich beschäftigt. Fiona gesellte sich zu ihr.

»Brüder?«, fragte sie leise, aber nicht leise genug, als dass es die Mädchen nicht hören könnten.

Emma sah auf, kam aber nicht dazu, selbst zu antworten.

»Ihre Freundinnen aus dem Internat wollten sie mit ihren Brüdern verkuppeln«, soufflierte Marie auch schon und warf sich der Tante in die Arme, deren amüsierter Blick auf dem Mädchen ruhte.

»Davon müssen Sie uns mehr erzählen, Deirdre.«

Emma schnaubte. Sie hatte nicht vor, darüber ein Wort zu verlieren, solange sie der Viscount und der Earl amüsiert betrachteten.

»Wann warst du denn im Internat?«, fragte Doreen und erweichte Emma mit ihren großen, neugierigen Augen. Langsam ließ sich Emma auf ihre Hacken sinken und rechnete schnell nach. »Eine Ewigkeit ist das nun her. 1780 muss es gewesen sein, als mich mein Vater, ein Baronet, vor den Toren eines einschüchternden Gebäudes absetzte. Ich hatte nie Geschwister, deshalb war es sehr ungewohnt, das Schlafzimmer mit anderen zu teilen.«

»Waren die anderen Mädchen böse zu dir?«

»Oh, nein! Sie haben mich in ihrer Mitte aufgenommen und seitdem behütet und beschützt, als wären wir eine Familie.«

»Was habt ihr so gemacht?«

»Viele Dinge!«, sagte Emma lachend, und auch Fiona kicherte vergnügt bei der Erinnerung an ihre Schulzeit.

»Des Nachts wach gelegen und über vorhandene Brüder schwadroniert?«

Emma kicherte und gab zu: »Selbstverständlich. Was man da zu hören bekommt …« Ihre Lippen zuckten. »Ich war froh über die Alternative.«

»Ja!«, kicherte Fiona und hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht in haltloses Gelächter auszubrechen. »Sandrine hat mir zwei Jahre lang von ihrem Bruder Robin vorgeschwärmt, und als ich in meinem letzten Jahr zur Hausparty ihrer Schwester kam, war ich so enttäuscht!«

Die Frauen lachten und die lauschenden Männer runzelten aus unterschiedlichen Gründen die Stirn. Carlisle räusperte sich vernehmlich und wurde von seiner Frau mit einem liebevollen Lächeln bedacht.

»Wir haben ein Abkommen geschmiedet, das ich gebrochen habe. Sandrine ist mir immer noch böse deswegen!«

Emma zwinkerte, sie wusste von dem Abkommen, das vorsah, dass die Freundinnen Schwägerinnen wurden. Doppelte Schwägerinnen. Fiona schnitt ein Gesicht.

»Nun, noch ist nicht aller Tage Abend.«

Emma runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich habe keine Brüder, deshalb kann ich nicht nachvollziehen, warum Freundinnen so freigiebig mit ihren männlichen Angehörigen sind.«

Fiona schnaubte.

»Das hat damit nichts zu tun! Ich sehe lieber eine meiner Freundinnen als Schwägerin als eine Dahergelaufene!« Fiona warf ihrem Bruder einen schwärenden Blick zu, während sie behauptete: »Ihr Geschmack lässt leider zu wünschen übrig. Erst letztes Jahr wollte Cedric eine Tänzerin heiraten!«

Falsches Sujet! Emma riss die Augen auf. Die Großmutter der Mädchen war Schauspielerin gewesen, und daher sollte man eine möglicherweise abträgliche Meinung über jene Frauen nicht in Hörweite der Mädchen äußern. Die Tante war jedoch zu vertieft in ihrem Thema, als dass sie Emmas Entsetzen richtig deuten könnte. Entgeistert schüttelte Fiona den Kopf und presste die Lippen aufeinander. »Eine Tänzerin, wirklich!«

Emma räusperte sich mit einem deutlichen Hinblick zu den Kindern, den die Lady aber übersah. Emma war gezwungen, deutlicher zu werden: »Nichts gegen Künstlerinnen. Lady Eastwick ist ein Schatz.«

»Diese Person war keiner!« Fiona schüttelte sich und ignorierte Emmas warnenden Blick auch weiterhin.

»Marie, willst du deiner Tante nicht von dem Käfer erzählen, den du gefunden hast?«, wollte Emma die Viscountess von dem bedenklichen Thema ablenken und bekam eine ehrliche Antwort: »Nein. Was stimmte denn nicht mit Onkel Cedrics Tänzerin?«

Fiona riss die Augen auf. Offenbar war ihr nun doch bewusst geworden, in welches Dilemma sie sich hineinredete. Sie sah sich Hilfe suchend zu ihrem Mann und ihrem Bruder um, die sich amüsiert weigerten, ihr aus der Patsche zu helfen.

»Du erinnerst dich an die Ständegesellschaft, von der ich sprach?«, schaltete sich Emma vorsichtig ein, schließlich war der Umgang mit den Mädchen ihre Aufgabe, so schwer man ihn auch machte.

»Ist eine Tänzerin wie eine Gouvernante?«

Emma seufzte. Was würde sie darum geben, wenn zumindest die Herren nicht anwesend wären! »Fast«, murmelte sie auf der Suche nach dem passenden Vergleich. »Mädchen von Stand, die entweder verarmt sind, ohne männlichen Schutz oder wenig Chancen auf eine Eheschließung haben, werden Gouvernante. Damit ist ihre Stellung niedriger als die des restlichen Standes, aber sie stehen über den Bürgerlichen, aus deren Reihen Tänzerinnen stammen.«

Marie sah sie abwartend an. Da die Gouvernante nicht fortfuhr, warf sie ihre kindliche Stirn in Falten und spitzte die Lippen. Frag nicht weiter, bat Emma stumm, kannte das Mädchen aber gut genug, um seine Miene deuten zu können.

»Warum wollte Cedric dann eine Tänzerin heiraten?«

»Ich glaube, du hast für heute genug Fragen gestellt«, unterbrach James Devonport das Mädchen, das ihn böse anfunkelte und nicht locker ließ, bis Emma ihr einen Tausch vorschlug. Emma gab ihr einen Vergleich, und sie würde sich selber Gedanken darum machen, was es bedeutete, ohne weitere Fragen in diese Richtung zu stellen.

»Stell dir vor, du hast zwei Kuchen. Der eine ist mit einer dicken Schicht Schokolade überzogen und mit kandierten Früchten bedeckt, aber sein Inneres ist bloßer Teig. Der andere ist ohne Glasur, aber zwischen den Teigschichten befinden sich Früchte, Marzipan und Schokolade. Wenn du die beiden Kuchen siehst und nicht wüsstest, was in ihnen steckt, welchen würdest du nehmen?«

Nachdenklich betrachtete Marie die Gouvernante und biss sich auf die Lippe.

»Den Ersten.«

»Welcher schmeckt denn besser?«, fragte Doreen mit glasigen Augen. »Ich nehme den, der besser schmeckt!«

Fiona lachte und zog die Angestellte auf.

»Ja, welcher schmeckt denn besser? Ich glaube, ich schicke Colin los, um Cedric zu holen. Die Kuchentheorie ist sehr aufschlussreich!«

»Sie schmecken beide gleich, schließlich bestehen sie aus den gleichen Zutaten. Darum geht es doch. Und bitte erspart mir und ihm diese Konversation!«

»James? Hast du einen Moment Zeit für mich?«

Caroline fing ihren Bruder ab, als er sich mit den anderen Herren nach ihrem Port wieder zu den Ladys gesellen wollte, und zog ihn hinter sich her in ihren Salon. James betrachtete seine älteste Schwester und ärgerte sich über ihren abgespannten Eindruck. Caroline begann unversehens mit ihrer Bitte, die ihn sichtlich überraschte.

»James, ich wollte dich fragen, ob es dir was ausmacht, wenn ich mit den Kindern vorübergehend zu dir ziehe. Eastwick und ich haben Probleme, und ich brauche etwas Abstand.«

James lud die Schwester ein, so lange wie sie wollte, auf Bensworth zu verweilen und sah ihr nachdenklich hinterher, als sie mit Tränen in den Augen aus dem Raum huschte. Dabei beschäftigte ihn weniger Carolines Bitte, schließlich wusste er von Eastwicks außerehelichen Aktivitäten, sondern vielmehr das Ersinnen einer Strategie. Wenn Caroline mit ihren Mädchen nach Bensworth Hall zog, hatten sie automatisch Miss Burham im Gepäck. In den vergangenen Tagen der Hausgesellschaft waren ihm weitere Dinge aufgefallen, die das Geheimnis um die Gouvernante noch merkwürdiger machten. Seine Schwestern gingen ungewöhnlich vertraut mit ihr um. Ebenso die Dowager Countess of Eastwick. Lediglich Eastwick selbst schien keinen Gefallen an der ältlichen Bediensteten zu finden, die laut ihrer eigenen Aussage kaum zwei Monate auf Eastwick war. Es juckte ihm in den Fingern, das Geheimnis zu ergründen, und er war eigentümlich unruhig geworden, bei der Aussicht, das Thema ruhen zu lassen. Nun konnte er ungerührt fortfahren. Sehen, wie sie sich in fremder Umgebung hielt. Er konnte Erkundigungen über sie einholen. Er war verständlicherweise in Sorge um seine Nichten, doch er grinste zufrieden. Es mochte noch eine Weile dauern, bis er das Geheimnis ergründete, aber letztlich würde er erfahren, was hinter der eigentümlichen Gouvernante steckte, nicht nur in ihr. Er würde verstehen, was ihn so an ihr faszinierte, und es würde vergehen, wenn er den Hintergrund kannte. Dessen war er sich sicher. In ein paar Monaten konnte er sein ruhiges Leben weiter führen, ohne sich Gedanken um eine ältliche Angestellte zu machen. Gedanken, die ihm des Nachts den Schlaf verwehrten und ihn des Tages beständig ablenkten.


Bensworth Hall, August 1815

Emma saß an dem kleinen Sekretär in der hellen Bibliothek und beendete den Brief an die in dem Internat verweilenden Freundinnen. Sie hatte sie seit mittlerweile vier Monaten nicht mehr gesehen und vermisste sie schmerzlich. Sandrine war bereits in die Gesellschaft eingeführt worden und schrieb ihr die amüsantesten Geschichten aus den Ballsälen Londons. Gillian und Alina hielten sie auf dem Laufenden, was sich bei ihnen tat, was größtenteils aus Beschreibungen von Miss Hellyworths Verzweiflung ob Gillians schlechtem Benehmen bestand. Sie löschte die Tinte und legte das Schreibzeug zurück auf ihren Platz, bevor sie den Brief an Fiona adressiert auf das kleine Tischchen in der Halle platzierte. Wie immer, wenn sie durch die Halle kam, warf sie einen begeisterten Blick auf das rosettenförmige Fenster über der Tür, dessen bunte Scheiben eine besondere Aura schufen. Im Gegensatz zu der Halle von Eastwick war diese herrlich, hell und freundlich.

Emma lächelte leicht und drehte sich um, um zurück in das Dachgeschoss zu gehen, wo sie die Kinder vor einer halben Stunde schlafend zurückgelassen hatte, als die Tür hinter ihr aufgestoßen wurde und ein Haufen junger Männer in die Halle drängten. Cedric grölte, als er sie entdeckte: »Sagt Hallo zu der Gouvernante meiner Nichten. Hundert Pfund für den, der es wagt, sie zu küssen!«

Emma kniff die Augen zusammen und musterte den Haufen betrunkener Halunken, die sie mit wenig Begeisterung musterten.

»Da musst du schon noch etwas drauflegen«, brummte Raphael Stewart und verzog enttäuscht die Lippen.

»Superb! Her mit den Pfunden!«

»Einen Moment, Devonport! Ich mache es!«

Die Gruppe lachte und applaudierte dem mutigen Freiwilligen, der verwegen auf die wenig attraktive Frau zuschritt und sie entschlossen in die Arme zog. Vor Überraschung weiteten sich seine Augen, als er seine Jugendliebe erkannte, und das Lächeln, das sich auf seine Lippen schlich, veranlasste seine Kumpane, laut zu johlen. Er küsste sie und stellte amüsiert fest, dass sie ihn böse anstarrte. Er beugte sich zu ihrem Ohr und flüsterte: »Was tust du denn hier?«

Ihre Augen blitzten ihn an, was ihn dazu veranlasste, sie loszulassen und sich vor ihr zu verbeugen. Emma war sprachlos vor Empörung.

»Madame, verzeihen Sie bitte meinen Übergriff. Ich hoffe, ich kann Sie milde stimmen, indem ich meinen Gewinn mit Ihnen teile?«, zwinkerte Peter Langston und zog ihre Hand an die Lippen. Emma entzog ihm brüsk die Hand und ballte sie, um sie ihm nicht ins Gesicht zu schlagen. So viele Jahre waren in Sehnsucht vergangen, und er streifte durchs Land und belästigte Angestellte!

»Teilen? Da Sie sich mir aufgedrängt haben, denke ich, dass mir drei Viertel Ihres Gewinns zustehen!«

Peter lachte amüsiert und tippte sich an die Stirn.

»Wir werden die Verhandlung später fortführen, ich würde sagen, wenn ich meinen Rausch ausgeschlafen habe.« Wieder zwinkerte er ihr zu und weckte damit sowohl ihren Ärger wie auch ihre Milde. Wenn er sie so ansah, hatte sie ihm nie lang böse sein können. Trotzdem warnte sie ihn: »Glauben Sie ja nicht, dass Sie hier verschwinden können, ohne Ihre Schuld zu begleichen!«

Hart sah sie zu der lärmenden Menge, die als Ausgleich eine Hochzeit vorschlug, und stellte sich für eine ordentliche Tracht Prügel zur Verfügung.

»Es ist offensichtlich, dass die Herren diese Medizin nicht häufig genug erhalten haben!«

Schnaubend drehte sie sich um und stand dem Hausherrn gegenüber. Die Meute verstummte, und Cedric trat zögerlich aus der Gruppe seiner Freunde.

»James … du bist zu Hause …«, hob er vorsichtig an.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739360201
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (September)
Schlagworte
Regency historisch England Verlangen Liebe Erotik Erotischer Liebesroman Liebesroman

Autor

  • Katherine Collins (Autor:in)

Katherine Collins lebt mit ihren zwei kleinen Töchtern in einem kleinen Dörfchen in Mitten des Vest. Sie schreibt seit der Geburt ihrer Tochter, obwohl sie ihren ersten Roman mit 19 begann. Ihr Erstling "Verzeih mir, mein Herz!" erschien im März 2014. Es folgten bisher fünf weitere historische Romane und damit sind lediglich die Altbestände aus ihrer Schublade verschwunden.
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Titel: Emmas Flucht ins Glück