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Schluchten zwischen den Welten

von Julia Augustin (Autor:in)
280 Seiten

Zusammenfassung

Er ist 16 Jahre alt, als er seine Heimat verlässt, hinaus in ein Land geht, in dem er nur noch ein Fremder ist. Doch seine Eltern haben so entschieden - für seine Zukunft, ein besseres Leben. Dabei ist der Neuanfang in Deutschland ohne die Freunde aus der Heimat und mit der fremden Sprache steinig. Anfängliche Perspektivlosigkeit, Ausgrenzung und Enttäuschungen muss er hinnehmen, bevor er lernt, sich zu beweisen. Zudem erschwert sein eigener Vater ihm das Leben, da die Lebensvorstellungen immer häufiger aufeinanderprallen. Immer wieder ziehen ihn die Wurzeln zurück in die Heimat, zur Familie und zu Freunden. Die Erinnerungen sind allgegenwärtig. Doch auch dort ist er inzwischen ein Fremder. Hin- und hergerissen zwischen zwei Welten verläuft sein Leben in einer Achterbahnfahrt zwischen Hass und Liebe, Freundschaft und Verlust. Misserfolge häufen sich, zwingen ihn zum Umdenken. Die Entdeckung eigener Fähigkeiten, das gemeinsame Musizieren mit neuen Freunden, lässt ihn in Deutschland ankommen, neue Ziele und einen Sinn im Leben finden. Noch etwas scheint ihm zu gelingen: Er erhält endlich die gewünschte Anerkennung. Da holen ihn die Wurzeln, die Geschichte seiner früheren Heimat, der Ukraine, ein. Ein Krieg bricht aus. Junge Männer wie er sind nun verpflichtet, sich beim Militär ausbilden zu lassen. Seine Freunde in der Heimat haben ihren Wehrdienst bereits angetreten. Hat er denn überhaupt eine Wahl?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

Julia Augustin, Berlin

julia_aug0@gmx.de

Coverfoto: Julia Augustin

„Die Geschichte ist doch schon geschrieben, Olesya.“

- „Aber wir schreiben das Ende.“

Prolog

Die Wolken kommen näher. Ein Schleier über der Stadt. Seine Trommelfelle platzen. Zumindest wünscht er sich das. Das hätte etwas Befreiendes.

Allmählich glitzern Häuserdächer. Und lauter Autos drängeln sich durch die Straßen.

Ein Ruckeln presst ihn an die Lehne. Seine Hände sind feucht.

Woher stammt bloß diese Angst?

Grüne Wipfel wiegen sich unter ihm. Wie kleine Oasen im Betonmeer.

Ein Kind weint. Ganz am Ende des schmalen Ganges. Bestimmt das kleine Mädchen mit den langen, braunen Zöpfen.

Er atmet tief ein und aus, sodass die Frau neben ihm besorgt hinüber schaut.

Die Sonne brennt in seinen Augen. Aber es schadet nicht, einmal geblendet zu sein.

„Viel Glück!“, haben sie ihm gewünscht.

„Schreibe uns!“, haben sie freundschaftlich gemahnt.

„Wir werden an dich denken“, haben sie versprochen.

„Ist Ihnen nicht gut, junger Mann?“ Er versteht sie sogar. Vielleicht lohnen sich all die Nächte, in denen Bücher gewälzt und eingehämmert worden sind.

Der Flughafen gleicht einer riesigen Baustelle.

Sollten sie hier nicht fertig sein?

Er ist nicht gekommen, um aufzubauen. Er ist gekommen, um einmal festzustellen, dass es beendet ist. Dass die Gebäude mit festen Mauern stehen.

Mit lautem Rasseln werden die Räder ausgefahren. Sein Herz schlägt schneller. Ihm wird es plötzlich warm. Wird alles gut gehen?

Ob sie schon auf ihn warten? Vielleicht werden sie gemeinsam Warenyky mit Fleisch oder anderen Köstlichkeiten gefüllt essen. Wie lange haben sie sich nicht gesehen!

Der Boden ist so nahe wie nie zuvor. Er schließt die Augen. Seine Finger krallen sich in den Sitz. Er zählt bis Zehn. Auf Deutsch. Gleich zur Übung.

Leute klatschen, geben tosenden Applaus. Ganz langsam öffnet er die Lider. Es gibt keine Bewegung mehr. Sie sind angekommen. - Vorerst ohne Zurück.

Die alte Frau reicht ihm mitfühlend ein Taschentuch. Ein dankbares Lächeln durchzuckt seine Lippen.

Schwüle Luft drückt draußen schwer auf die Ankommenden.

Wie viel werden wieder verschwinden? Und wie viel bleiben wie er?

„Sie haben etwas verloren!“

Die ausgedruckte Bahnroute.

Er nickt dankbar dem Vater zweier Söhne zu.

Im Bus ist es unangenehm stickig. Schon bereut er es, das Taschentuch weggeworfen zu haben.

Sein schwer bepackter Rucksack klebt an seinem dunklen T-Shirt.

Was nimmst du mit, wenn du beschließt für immer zu gehen?

Seine Koffer rollen mit als letzte über das Band. Zu viel Gepäck für diese Preise. Zu wenig für eine Reise ohne Rückfahrschein.

Später lehnt er den Kopf an die Scheibe in der Bahn. Zählt Autos, ohne zu sehen. Der Sänger schreit seine Botschaft von Freiheit durch die Kopfhörer. Aber da ist etwas zwischen ihnen. Er ist zu müde, zu erschöpft, um die Euphorie zu teilen. Dabei hätte sie ihn sofort durchströmen sollen. Von Kopf bis Fuß.

Deutsche Häuser sind gar nicht so anders als daheim. Die Erinnerung lässt ihn seufzen. Es ist eben doch nicht so einfach, für immer dem den Rücken zu kehren.

Sie öffnet ihm die Tür wortlos. Minutenlang starren sie sich an. Verwundert. Erstaunt. Oder reglos. Was fühlst du nach einer halben Ewigkeit?

Dann bricht die Erscheinung des Vaters den zärtlichen Moment.

„Du kommst spät“, brummt er.

Seine Kehle drückt plötzlich schwer.

In der Küche duftet es tatsächlich nach Warenyky.

„Ist alles problemlos verlaufen?“, fragt sie beinahe schüchtern.

Er stellt den Koffer ab. Einen neben den anderen.

„Hier vorne stehen die bloß im Weg“, bemerkt sein Vater.

Er schließt leise die Tür. Fast eine Papptür. Zu Hause ist sie fest aus Holz.

„Du hättest wenigstens anrufen können“, sagt der Mann vorwurfsvoll.

Er bindet die Schuhe auf. Ein Paar mehr in diesem Meer. Teure Markenschuhe. Das Geld mehrerer Geburtstage und zahlreicher Auseinandersetzungen.

„Ich habe dir noch etwas Essen abgenommen“, versucht sie, die Spannung zu lösen.

Gern würde er ihr danken. Doch in ihm ist es leer.

„Vladislav!“, kreischt sein kleiner Bruder hoch erfreut. In seinen Händen hält er eine Zeichnung.

„Rate mal, was das sein soll!“

„Wir sprechen hier Deutsch!“, mahnt der Vater wie ein finsteres Gewitter.

Für einen Augenblick wünscht er sich, er wäre wieder daheim.

Der zarte Kinderkopf schmiegt sich an seinen Bauch. Es ist zu spät, um umzukehren.

„Von Oma.“ Der Vater blickt ausdruckslos auf das Päckchen.

„Magst du es nicht öffnen?“, fordert er.

„Das hat Zeit.“

Leontij zerrt ihn in die Küche. Den Wänden fehlt noch jede Farbe. Ein paar Fotos hängen provisorisch verloren im Raum.

Er schaufelt die Teigtaschen schweigend in sich. Dabei beobachtet der Vater ihn vom Balkon.

Daheim haben wir einen Garten.

„Du siehst so traurig aus“, befindet sie. Ihr blondes, langes Haar leuchtet golden in der Sonne. Die wenigen grauen Strähnen glänzen matt.

„Leontij und du, ihr müsst euch ein Zimmer teilen. Wir haben vorerst nichts Besseres gefunden. Und sprecht Deutsch! Bald werdet ihr nur noch von Deutschen umgeben sein.“ Er lächelt ein wenig zynisch dazu. Hat er etwa mehr erwartet?

„Gefällt es euch hier?“, wehrt er sich gegen den Kloß in seinem Hals.

Sie sehen sich an. Fast schockiert.

„Hast du fleißig gelernt? In zwei Wochen wird die Schule beginnen“, erinnert der Vater, als hätte er ihn nicht gehört.

„Ja.“ Er starrt auf den Teller. Das Essen schmeckt auf einmal nicht mehr.

Nachher legt er ordentlich seine Kleidung in den schmalen Schrank.

Leontijs Playmobilfiguren liegen überall auf dem dunklen Teppich verstreut.

Er blättert in seinem Heftchen über die Stadt. Studiert den Plan mit der Route an den zahlreichen Sehenswürdigkeiten vorbei. Wenn er erst einmal sich an die neue Umgebung gewohnt hätte, erst einmal als Tourist, dann als Wohnender, dann… - Bestimmt würde das Herz ihm leichter.

„Vladislav, wir benötigen in dieser Woche deine Hilfe. Dein Vater arbeitet schon zu viel.“

Warum zerplatzen Träume schneller, als wir sie leben?

Er kann ihr nicht böse sein. Dennoch fühlt er die Wut. Es ist genau jene, die ihn daheim selbst in den Nächten, in denen sie ihn schon allein gelassen hatten, stundenlang wach hielt. Er weiß, dass es nicht richtig ist, sich so bedingungslos in das Schicksal zu fügen. Aber ihm fehlt die Alternative. Eine, die akzeptabel für alle wäre.

„Und Leontij?“, bringt er mit aufeinander gepressten Lippen hervor.

Es wird gar nicht leichter, Ärger, Frust, Wut immer häufiger in sich zu fressen. Es wird gar nicht leichter, die Gegenargumente auf der Zunge zu zerdrücken. Es wird gar nicht leichter, schweigend, duldend sich immer wieder zu fügen. Es wird auch gar nicht leichter, das Spiel des eigenen Lebens bloß den anderen zu überlassen.

Für einen Moment blicken sie beide stumm zu dem kleinen Jungen. Der spielt begeistert, ohne sich von ihnen stören zu lassen. Er wünschte, dass er sich genauso in eine wundervolle Fantasiewelt flüchten könnte.

Er setzt sich schweigend neben den Bruder.

„Hast du mich vermisst?“

Plötzlich ist ihm die Antwort sehr wichtig.

Später fährt er mit dem Vater das erste Mal aufmerksam durch die Stadt. Tausende Reize strömen auf ihn ein. Werbeplakate mit sehr hübschen Frauen, lauter Farben, lauter Düfte, lauter Klänge. Ein ganzes Orchester tost in seinem Kopf. Eine ganze Parfümerie wirbt vor seinen Augen. Eine ganze Farbpalette zeigt sich mit abertausenden Mischtönen.

Sie fahren durch Wald mit einer Vielzahl von urigen Villen am See.

Dieses Gebiet erinnert schon eher an das Märchen des unbestreitbaren Luxus im fernen neuen Land.

„Wo sind wir?“, fragt er überwältigt von der immer wieder wechselnden Vielfalt.

„Willkommen in Berlin.“ Der Vater lächelt zum ersten Mal.

1 Ankommen

Es gibt weder eine gefürchtete Vorstellungsrunde noch erste Verständnisprobleme. Irgendwie scheinen sich die anderen Schüler auch nicht zu kennen. Alles geschieht anonym. Nur im Vorbeigehen. Wie lose, unverbindliche Treffen, die ebenso schnell, wie sie zustande gekommen sind, sich wieder im Nichts auflösen.

Während der eine noch den Erinnerungen nachhängt, hat der andere sich schon vollends von ihnen losgesagt, um nur noch die Zukunft zu sehen.

Vorsichtshalber setzt er sich in die letzte Reihe. Sonst könnte er in Verlegenheit geraten, tatsächlich sprechen zu müssen.

Das Mädchen neben ihm hat langes, dunkles, sehr glattes Haar.

„Isabel“, stellt es sich ein wenig schüchtern vor, während sein Herz auf einmal lauter schlägt.

Er ist jung. Er lechzt nach Leben. Er ist verführbar.

Am Anfang stammelt er nicht mehr als seinen Namen. Es sind die ersten Worte. Leichter redet es sich doch im stillen Kämmerchen mit seinem Buch.

Während der Lehrer spricht, erhascht er einzelne Wortfetzen, die entstellt, entfremdet ihn durchlaufen.

Es heißt „schaffen“, „leisten“, „lernen“ und auf der anderen Seite diese Unworte „Prüfung“, „scheitern“, „wiederholen“.

Die Schüler nicken hin und wieder, manche schreiben eifrig, schauen ernst, fast unbeeindruckt.

Isabels zarte Stirn liegt in Falten. Was sie wohl denkt? Was sie wohl fühlt?

Weiß er das über sich genau?

Er kramt ein Schreibheft heraus. Aus einem der Billigdiscounter. Die anderen nutzen Blöcke.

Sein Stift hat sich entschieden, wie die Heimat Abschied zu nehmen. Vorhang zu und ohne Zurück.

Ihm wird es plötzlich heiß. Alle schreiben vorbildlich und ihm fehlt es an einem Stift. Scheitern. Bereits zum ersten Mal.

„Soll ich dir einen Kuli leihen?“

Er hat nicht die leiseste Ahnung, was ein Kuli ist, aber er nickt dankbar. Sie hat ihn gerettet. Zum ersten Mal.

Für einen Augenblick treffen sich ihre Augen, verlieren sich auf der Reise, Abgründe zu ergründen. Ein stilles Lächeln durchzuckt ihre weichen, rot geschminkten Lippen, dann reiht sie sich wieder in die Reihen der anderen Fleißigen ein.

So schreibt er fremde Buchstaben für fremde Worte in einem noch fremden Land mit einem Kuli, der nicht einmal ihm gehört.

„Tschüss“, haucht sie beinahe atemlos, als sie ihre sicher viel zu schwere Tasche hebt und geht.

Tschüss, denkt er überwältigt von den ersten Eindrücken.

Vielleicht ist Deutschland gar nicht so schlecht.

Die Busse sind gerammelt voll. Eine Mischung zwischen Klein und Groß. Junge, kindliche Schüler, noch fern und verloren in ihrer Fantasiewelt. Dann die Halberwachsenen wie er auf der Suche nach ihrem persönlichen Lebensweg, verloren in den Verlockungen ihrer Zeit.

Die Luft ist drückend. Für einen Moment hält er zwischen all den verschwitzten Körpern die Luft an.

Tschüss, wiederholt er in Gedanken. Aber vielleicht ist somit der erste Schritt für etwas Neues getan.

***

Algebra von Vorn bis Hinten. Woraus leitet sich welche Formel her? Wie werden Integrale richtig gebildet? Kurven diskutiert und untersucht?

Sein Kopf ist eine Mühle. Er rattert Bekanntes durch, um es mit dem Neuen zu verknüpfen.

Eine Spur zu hektisch bringt er die ellenlangen Formeln von der Tafel zu Papier.

Wird er sie je wieder entschlüsseln können?

Sein Kopf raucht, er streikt irgendwann.

Nie hat er es eiliger gehabt, sich eine Pause zu gönnen. Er sieht sein Gesicht. Feuerrot im Spiegel.

Wie kann Isabels zarte Haut so blass bleiben? Bewegt überhaupt etwas dieses zarte Gemüt?

Was denkt er überhaupt über sie nach? Gibt es nicht tausende dieser Verlockungen hinter jeder Ecke?

Das Wasser klärt den Nebel seiner Gedanken.

Die erste Pause entpuppt sich doch bald als Spießrutenlauf. Er hört die Worte, hört sie sprechen, aber mehr als wieder diese entstellten Fetzen erreichen ihn nicht.

„Woher kommst du?“, fragt jemand zum ersten Mal, nachdem eine Welle brüllenden Lachens durch den Kreis gegangen ist, weil er das Wort Streber nicht verstanden hat. Damit, so erfährt er dann allmählich, werden all die Schüler bezeichnet, die zwei Jahre früher schon am Gymnasium gewesen sind.

„Lauter Nirds“, winkt einer ab.

„Eingebildet seit der Babyschale“, erklärt ein anderer gewichtig.

„Halt dich fern von denen!“, mahnt ein dritter, „Die sind berechnend. Sie versuchen dich für ihre Interessen zu lenken, bloß weil sie eine Eins vor dem Komma haben.“

„Dann lassen sie dich fallen wie eine plötzlich brennende, ätzende Säure.“ Der Blondhaarige reißt die Augen weit auf. „So! Und du verstehst die Welt nicht mehr.“

„Denen ist nichts heilig“, warnt wieder der kleine dicke Junge. „Freundschaft schreiben sie groß, wenn sie damit Eindruck schinden. In Wahrheit ist das für sie ein absolutes Fremdwort.“

Ernsthaft, sorgfältig musternd treten sie noch näher an ihn heran.

Unwillkürlich weicht er einen Schritt zurück.

Nachdenklich verzichtet er auf weitere Fragen. Auf einmal türmen sich zwei Fronten auf. Doch auf welcher Seite lebt es sich besser?

***

Vorstellungsrunde auf Englisch. Seine Fremdsprachenkenntnisse beschränken sich leider auf Deutsch und Russisch. Deutsch war größtenteils ein Selbststudium.

Nach einiger Zeit begreift er jedoch nonverbal, dass die Frage „What about you?“ wohl an ihn gerichtet sein muss.

Wie nun reagieren? Er ist kein Tourist, der mit Händen und Füßen Auskünfte einzuholen sucht. Jetzt handelt es sich um tiefere Inhalte.

„What`s your name?“ Mit jeder Frage, die unverständlicher als die vorhergehende ist, blockieren seine Gedanken stärker. Irgendwie hat er vielleicht diese Worte sogar schon einmal gehört. Ihm ist fast so, als wenn er bloß ganz weit hinten in den Erinnerungen kramen müsste. Aber mit dem steinernen Gesicht der Lehrerin vor sich, die immer näher an ihn herantritt, bis er bald ihren Atem im Gesicht spüren wird, funktioniert das nicht. Da ist eine Sperre in dem Nebel. Da ist nichts als ein leeres Vakuum.

Und es geschieht bedauerlicherweise die erste gefürchtete Peinlichkeit: Alle drehen sich um, schauen ihn an. Belustigt, weil dort ein Fremder sitzt, der in seiner Fremdartigkeit tatsächlich sofort auffällt. Neugierig, weil es sicherlich spannender als der langweilige Sprachunterricht ist. Schadenfroh, weil endlich jemand anderes für sein Nichtkönnen, sein Scheitern büßen muss. Erleichtert, weil nicht sie es sind, denen diese privilegierte Aufmerksamkeit gehört.

Und dann gibt es noch ein paar wenige, die voller Mitleid, voller Ungläubigkeit wegen seiner Unfähigkeit schauen.

Er senkt die Lider. Wahrscheinlich ist sein Kopf wieder feuerrot. Wie ein Krebs, der erstarrt dem Tod entgegensieht, der schonungslos ihn treibt, die Wahrheit zu sagen: „Ich kann kein Englisch.“

Er hustet verlegen, rutscht auf seinem Stuhl unruhig umher, wünscht sich, er wäre mindestens zehn Zentimeter kleiner. Als änderte das etwas.

Sie sehen sich an. Einer nach dem anderen. Damit hat wohl niemand gerechnet. Darüber müssen sie erst unter Seitenblicken zu ihm tuscheln.

Er hustet noch einmal.

„Entschuldigung.“

Manche tauschen verächtliche Blicke. Was hat der Fremde dann hier verloren, wenn er nichts kann? Was beschmutzt er unseren Ruf?

Am liebsten würde er aufstehen, sein Heft, seine Tasche nehmen, die Tür öffnen und zurück in die weite Welt gehen. Oder zurück in die Heimat, wo doch alles irgendwie besser gewesen ist.

„Gut“, murmelt die Lehrerin und ihr Gesicht färbt sich auch krebsrot. „Oder nicht gut“, fügt sie dann leise hinzu. Sie schiebt sich eine ihrer blondgefärbten, langen Strähnen hinter die Ohren. Ihre weit hinter den riesigen Brillengläsern zurückliegenden Augen huschen nervös durch den Raum.

„Dann musst du die Sprache jedenfalls erlernen.“ Damit dreht sie sich um und kehrt ein wenig zu hastig zu ihrem Lehrertisch zurück, auf den sie sich wieder wie ein Brocken fallen lässt. Dabei ist sie gar nicht sonderlich kräftig.

Achso, denkt er irritiert, Um mehr handelt es sich nicht?

Beinahe könnte er erleichtert sein. Binnen Sekunden ist er für die Mitschüler aus dem Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Der spannende Auftritt ist ihm erspart worden. Jetzt sprechen sie weiter in dieser seltsamen Sprache.

Er hätte gerne gewusst, was diese Fragen denn nun bedeuten. Aber zu fragen traut er sich nicht.

„Würdest du noch bitte einen Moment bleiben?“, stellt sich die Lehrerin ihm in den Weg, als er als einer der ersten den Raum fast fluchtartig verlassen möchte. Die Fluten fremdländischer Worte sind immer ermüdender mit der Zeit geworden. Zumindest hat sie ihn in Ruhe gelassen.

Er nickt schüchtern. Sie stemmt die kleinen Hände in die runde Hüfte. Er überragt sie um einen ganzen Kopf. Dabei schimpft der Vater ihn mit seinen 1,74 Meter jedes Mal als viel zu klein und schmächtig. Heimlich betrachtet er sich dann hinterher im Spiegel, lässt den Blick über die Schultern wandern, die wenigstens seit ein paar Monaten doch breiter zu wachsen scheinen. Lässt ihn hinabgleiten über die Arme, die er täglich für mehr Volumen trainiert. Schließlich zu den langen etwas knochigen Beinen.

„Kannst du wirklich gar kein Englisch?“, verlangt sie zu wissen. Ihre Stimme klingt ziemlich schrill in seinen Ohren.

Er nickt, flüstert fast: „Ja.“

Sie schnappt aufgebracht nach Luft, reckt die Hände wie um Hilfe suchend zur hässlichen weißen Decke. Dreißig Risse hat er in seiner „Freizeit“ gezählt.

„Aber ich kann Russisch“, fügt er leise hinzu. Als er lächeln möchte, zieht er bei ihrem fassungslosen Blick die Mundwinkel wieder schnell nach unten. Wahrscheinlich steht ihm das Unglück einfach besser im Gesicht.

„Ist das ein Witz?“, fährt sie ihn wütend an. Wieder streicht sie eine Haarsträhne nach hinten, schiebt sich danach die rot gerahmte Brille zurück.

„Nein, nein“, stammelt er und bereut die unachtsamen Worte. Panisch schaut er zur Tür. In fünf Minuten muss er irgendwo am anderen Ende der großen Schule für den nächsten Unterricht sein.

„Aha“, seufzt sie und lehnt sich an den Tisch, als benötige sie plötzlich Halt.

„Und wie stellst du dir den Unterricht hier bitte vor?“

Die grau-grünen Augen bohren sich in seinen Kopf. Er schluckt.

Warum sollte er sich Vorstellungen machen? Hatten nicht die Eltern den Schulbesuch organisiert? Waren nicht sie es ohnehin gewesen, die unbedingt kurz vor seinem Schulabschluss in der Heimat in die Fremde ziehen mussten?

„Ich weiß es nicht“, presst er die Lippen aufeinander. Instinktiv duckt er sich wie ein geprügelter Knabe vor dem nächsten Schlag.

Sie lacht! Schamlos, fassungslos, verächtlich. Sie lacht ihm einfach ins Gesicht.

„Und wer weiß das dann?“

Weil er nicht reagiert, fügt sie noch hinzu: „Na schön, ich erwarte, dass du zum nächsten Mal wie alle anderen die Hausaufgaben erledigst, die Vokabeln gelernt hast, dich am Gespräch beteiligst. Denn Rücksicht werde ich gewiss nicht nehmen. Heutzutage gibt es schließlich so viel Nachhilfeangebote. Das ist nicht mein Problem.“

Er fällt in sich zusammen. Welche Hausaufgaben? Welche Vokabeln? Wo soll er anfangen in dem ganzen Durcheinander? Welche Nachhilfeangebote? Wer soll die bezahlen? Was ist Nachhilfe überhaupt?

„Du kannst dann gehen“, bemerkt sie erst jetzt, dass er noch immer um einen Kopf geschrumpft neben ihr steht. Sie stopft ihre Bücher in die große, lackfarbene rote Tasche.

„Wo kann ich denn Nachhilfe nehmen?“, nimmt er all seinen Mut zusammen. Seine Stimmbänder quietschen jedoch unangenehm.

Fragend legt sie den Kopf schief. Dass er es tatsächlich wagt, ihr weiter naive Fragen zu stellen!

„Ihr jungen Leute seid doch immer so aktiv im Internet! Wie wäre es mit ein bisschen Eigeninitiative? Bin ich vielleicht die Mutti der Nation? So weit soll es noch kommen!“

Er flüchtet, lässt die Tür fast ins Schloss knallen. Das Dankeschön ist ihm im Halse stecken geblieben.

„Wie lange lernt ihr schon Englisch?“, fragt er den dicken Jungen aus der Pause.

Der beißt noch einmal von seinem dick belegten Brötchen ab.

„Seit der dritten.“ Das runde Gesicht grinst zufrieden. „Wieso?“

„Seit der dritten Klasse“, murmelt er benommen und geht allein zum nächsten Fach.

***

Beim Basketball erhält er zum ersten Mal seit gefühlter Ewigkeit die Bestätigung, vielleicht doch nicht ganz unnütz für dieses fremde Land zu sein. Er ist derjenige, der die beste Vorarbeit leistet, der viele Körbe wirft, der keinen einzigen Zweikampf scheut.

„Mann, voll gut! Wo hast du das gelernt?“, bewundern ihn die anderen aus dem Team.

Die zweite Runde beginnt. Mit eiserner Disziplin dribbelt er um seine Gegner herum, schüttelt sie mit ein oder zwei Haken ab. Dann der Pass zu einem seiner Mitspieler. Treffer! Innerlich seufzt er leise jedes Mal. Jeder Ball sitzt, jeder Schritt passt, dieses Spiel ist fast perfekt.

Schließlich ertönt der Abpfiff. 90 Minuten können eine ziemlich lange Zeit werden. Manche gratulieren ihm. Er ist erschöpft. Der Schweiß brennt in den Augen. Seine Zunge durstet. Aber er lächelt zufrieden mit sich und der Welt.

„Woher kennst du all die Tricks?“, umgeben ihn noch vollkommen begeistert die anderen.

„Weiß nicht.“ Er zuckt mit den Schultern. Auf einmal wird er ganz müde, rückt das Spiel wieder weit in den Hintergrund. „Das spielen wir manchmal.“

In den Gesichtern liest er weder den Spott bezüglich seines starken Akzentes noch das endlos scheinende, doch theoretisch bleibende Mitleid. Sondern er liest Bewunderung. Das ist ein sehr eigenwilliges Gefühl. Das fühlt sich gut an, ein bisschen fremd, aber er könnte mehr davon vertragen. Wer weiß, wofür das noch gut sein könnte…

***

„Wie ist die Schule gewesen?“ Zu Hause duftet es überall köstlich nach Borschtsch, jenem Nationalgericht mit Rindfleisch, Roter Beete und Schmand.

„Ganz gut.“ Er strahlt noch immer über beide Ohren.

„Ja?“, fragt sie ein wenig hoch mit ihrer zarten Stimme. „Wie sind die Mitschüler?“ Mit mütterlicher Neugier setzt sie sich ihm gegenüber. Dabei muss er ihr doch nicht alles erzählen!

„Okay“, brummt er, während er die Ereignisse vor den Augen Revue passieren lässt.

„Okay“, wiederholt er eine Spur breiter grinsend.

„Wie bist du im Unterricht zurecht gekommen?“ Sein Vater stellt wie immer die unangenehmen Fragen. Das sieht ihm wieder einmal ähnlich. Noch an einem Bissen Rindfleisch kauend, mustert er das faltige Gesicht. War der Vater früher schön gewesen? Ein ansehnlicher Mann? Konnte er gar lächeln? Freude zeigen, herzlich lachen, sich dabei sogar vergessen? Er ist nur immer kalt, so kühl, beherrscht. Gibt es ein Band zwischen ihnen? Bisher spürt er nur eine endlose Distanz. Sie sind sich kein bisschen ähnlich.

„Ganz gut“, lügt er ihm ausdruckslos ins Gesicht. Er mag nicht denken. Die Wahrheit ist nicht immer ein guter Freund.

***

Er fliegt mit dem Flugzeug. Weit über den Wolken. Er sieht schneebedeckte Berggipfel, glitzernd im Schein der Sonne. Ein einsames Kreuz steht auf der Spitze. Das Licht zerlegt sich an den kleinen Kristallen in tausend verschiedene Farben. Plötzlich befreien sich seine Arme aus dem Sitz, an dem er aus einem unerfindlichen Grund gefesselt ist. Er öffnet das Bullaugenfenster, spürt die eisige Kälte auf den Wangen und schwebt durch die bloße Kraft seiner Arme zum Gipfel hin. Er muss sie kaum auf und ab bewegen. Er schwebt einfach. Ihn umgibt eine Stille. Atemlos. Er lächelt glücklich. Glücklich, diesen Gipfel bald zu erklimmen. Dann wird er es allen beweisen können. Wer er wirklich ist, wer er wirklich sein kann, wer er wirklich sein möchte.

Da bemerkt er, während er weiter und immer weiter die Arme auf und ab bewegt, dass er kein Stück vorangekommen ist.

***

Zum ersten Mal hat er Unterricht mit den Nirds, Freaks oder wie sie sonst noch genannt werden.

„Wir sind in der Unterzahl“, prophezeit ein gewisser Mario. Die Namen wird er wohl auch neben den Vokabeln, den Inhalten, der Sprache lernen müssen.

„Da sind wir von Anfang an verloren“, befürchtet ein recht klein gebauter Junge mit türkisch klingendem Namen.

Das scheint doch sehr „ermutigend“!

„Ich möchte keine Zeit verschwenden. Der Stoff ist sehr dicht bepackt für dieses Semester. Sie möchten schließlich alle ein gutes Abitur erwerben, wenngleich ich davon ausgehe, dass ein geringer Prozentsatz von ihnen nicht einmal das erste Semester schaffen wird“, verkündet eine dürre, rothaarige Frau, an deren Ohren großer skurriler Schmuck mit jeder Kopfbewegung baumelt.

Als hielte sie bereits nach potentiellen Wackelkandidaten Ausschau kreist ihr Blick durch die Reihen.

Sie verteilt Bücher. Schmal sind sie. Dann muss er wenigstens nicht ganz so viel lernen! Zum Teil sehen sie sehr stark beschmutzt aus.

Der gute Mensch von Sezuan, liest er auf dem Einband.

Es ist ein Drama. Schon tauchen sie in eine fremde Welt ein, in der Götter nach einer Herberge suchen, um den letzten guten Menschen dieser Welt zu finden.

Suchen und finden. Enttäuschung und Überraschung. Eine Reise zwischen Gut und Böse.

„Zur nächsten Stunde schreibt ihr eine Erörterung zu dem Thema Gut und Böse.“ Ihre Stimme klingt scharf, unmissverständlich.

In seinem Hausaufgabenheft ist kaum noch Platz. Wann soll er diese ganzen Aufträge erledigen? Der Tag hat schließlich nur 24 Stunden. Auch sein Tag und irgendwann möchte er eventuell für ein paar Stunden Schlaf finden.

„Entschuldigung, was genau erwarten Sie?“, meldet sich ein schmal gebautes Mädchen mit dickem schwarz gelocktem Haar in der ersten Reihe zaghaft zu Wort.

Sie gehört zu denen. Die sind nämlich in den ersten Reihen vorbildlich jedes noch so unbedeutende Wort der Lehrerin mitschreibend, während sie sich um die hintersten Plätze bemüht haben.

„Ich denke, dass meine Formulierung eindeutig gewesen ist“, bügelt die Lehrerin das Mädchen mit einem Achselzucken ab.

Jetzt wird es spannend! Das spürt er. Es ist ein eigenwilliges Kribbeln in seinem Bauch. Unbewusst hat er die Luft angehalten.

„Vielleicht könnten Sie die Richtung vorgeben. Soll die Erörterung textgebunden sein oder textübergreifend? Oder wünschen Sie eine reine Definition der Termini?“

Auch wenn er der Schwarzhaarigen überhaupt nicht folgen kann, beeindruckt ihn irgendwie die Ruhe, die Unerschrockenheit, ja beinahe Frechheit, mit der sie ihre Fragen an eine Lehrerin stellt. Und dann der gewählte Ausdruck!

Das Mädchen gehört zu seinem Kunstkurs. Es nickt ständig ernst, wenn die Lehrerin spricht. - Eine merkwürdige Frau mit blond-grauem Haar und Pony, die über ihre eigenen Witze lacht.

Das Mädchen jedoch bleibt ernst, nickt verständnisvoll, selbst wenn sie die langweiligsten Aufgaben der Welt erteilt.

Isabel tippt neben ihm auf ihrem Smartphone. Wissen diese jungen Menschen, wie gut es ihnen in Deutschland geht? Wie glücklich sie sich schätzen können, zur richtigen Zeit am richtigen Ort geboren worden zu sein?

Sie schauen einen Film. Isabel verdreht genervt die Augen. Er gähnt ständig. In dem kleinen dunklen Raum herrscht akuter Sauerstoffmangel.

Mit monotoner Stimme wird ein Abriss über die Videotechnik präsentiert.

Er blickt aus dem Fenster zu den roten Pflastersteinen, wo das Unkraut seinen Weg bahnt. Das erinnert ihn an Zuhause.

Aber Zuhause – wo ist das überhaupt?

„Hast du schon die Hausaufgabe für morgen?“, reißt Isabell ihn aus der Melancholie.

„Okay, welch Frage!“, lacht sie ihn aus. Wahrscheinlich hat sie seinen fragenden Blick bemerkt.

„Hast du sie denn erledigt?“, kontert er.

Grinsend winkt sie ab.

„Hey, Neuer, schon beim Flirt!“, stößt ihn ein Asiate unsanft von der Seite an, sodass es beinahe schmerzt.

Verärgert blickt er in dessen Gesicht. Es ist von einer Sintflut aus eitrigen Pickeln übersät.

Der Pulk der anderen Jungen fällt sofort in das hämische Gelächter mit ein.

Die Schwarzhaarige bleibt als einzige weiterhin ruhig. Sie wirft ihnen allen nur vernichtende Blicke zu, bis die Lehrerin sie zur Ruhe mahnt.

***

„Und mein Junge, wie hast du den dritten Tag überstanden?“, erkundigt sie sich, während ihr Gesicht von der großen Salatschüssel fast verdeckt wird.

„Ganz gut“, greift er zur Standardlüge. „Ganz gut“, wiederholt er müde, doch sein Kopf dröhnt.

„So laute Musik hier! Nimm Rücksicht! Du bist nicht allein auf dieser Welt!“, schimpft der Vater, als er später kommt. Er steht ganz plötzlich direkt neben ihm.

„So schlimm heute?“, verzieht er ungewohnt mitfühlend das Gesicht. Dann baut er sich wieder gefasst, streng vor ihm auf. Dabei ist er ohnehin größer als der im Bett liegende Sohn.

„Schon okay. Alles ist in Ordnung.“ Der Vater steht in der Sonne. Er möchte einfach einen freien Kopf.

***

Die S-Bahn ist überfüllt. In letzter Sekunde springt er noch durch die bereits blinkende Tür. Die Hausaufgaben wird er wohl später erledigen müssen. Nun kann er kaum mehr atmen. Der feuchte Atem der anderen Fahrgäste pustet in seinen Nacken, sodass ihm die Haare zu Berge stehen.

So schnell, wie ihn die Beine tragen können, verschwindet er in dem riesigen Schulbau. Die Deutschen lieben die Pünktlichkeit. Wer mag schon gleich zu Beginn unangenehm auffallen?

Doch dann ist er der Erste. Er wartet, spielt mit seinem Sintfluthandy. Sein Körper muss sich erst einmal von dem Stress erholen.

So wird es schließlich Viertel vor Acht. Hat er den richtigen Raum gewählt?

Eine Gruppe von Mädchen nähert sich. Vielleicht sind sie sogar jünger als er. Sie lachen, gestikulieren mit Händen und Füßen. Alle scheinen glücklich, froh lernen zu dürfen. Stattdessen empfindet er die Schule jetzt schon als lästig, als bloße Zeitverschwendung, als Störfaktor in seinem jungen Leben. Es gibt zahlreiche Orte, an denen er es sich eher vorstellen könnte, in diesem Moment zu sein. Die Schule jedoch taucht in diesen Träumen ganz gewiss nicht auf.

Eine Einzige lacht nicht, redet nicht, ja steht beinahe teilnahmslos daneben. Die Schwarzhaarige von dem Deutschkurs mit den frechen Worten!

Einige Jungen kommen nun auch. Einige von ihnen kennt er vom Sport.

„Hi, Kumpel, wie geht`s?“ Er lächelt. Er ist kein Fremder mehr, nicht irgendjemand von vielen. Vielleicht mögen sie ihn sogar.

Die Pausen werden geselliger. Sie spielen Karten, tauschen Bilder – verrückter oder verbotener als alles je gesehene. Der Vater würde es ihm mit Sicherheit nicht erlauben.

„Wer kommt alles zu meiner Party?“, fragt einer der wenigen Russen unter ihnen, Alexej. Alle grölen, feiern schon. Aber er ist nicht einmal eingeladen. Außerdem bezweifelt er ganz stark, dass seine Eltern es jemals zuließen.

Kann er je zu ihnen gehören?

***

„Gut ist, was nicht in Verbindung mit dem Schlechten steht. Gut ist, was man daher immer wieder tun würde. Gut ist, was einen Nutzen erweist, für einen Selbst, für die Umwelt, jetzt oder später. Böse ist hingegen, was uns schadet, was auf niederen Beweggründen beruht, was hinterhältig geplant wird, was zurückwirft, anstatt zu produzieren.“ Ihre Stimme klingt brüchig, aber irgendwie hört er gerne diesen Klang.

Eine halbstündige Diskussion entfacht, bei der sie feurige Worte verliert, feurig mit einem Jungen von den Freaks debattiert.

Er ist folgender Meinung: „Der Mensch ist am Beginn ein unbeschriebenes Blatt. Erst die unglückselige Verknüpfung von Ereignissen schafft das Böse.“

Sie behauptet: „In jedem Menschen gibt es eine gute und eine schlechte Seite. Aber welche Überhand gewinnt, ist biologisch vorbestimmt.“

Darauf erwidert er: „So ein Schwachsinn! Welcher Säugling, könnte einer Fliege etwas zu Leide tun? Welches Kind ist durchtrieben böse? Ich rede nicht von kleinen Probewutanfällen… Aber nimm einen Erwachsenen: Wie viel Fehler hat er begangen?“

Sie argumentiert weiter naturwissenschaftlich: „Bei einer Vielzahl von Verbrechern sind Störungen der Hirnfunktion entdeckt worden, die genetischen Ursprungs sind. Bereits in ihrer Kindheit sind sie durch außergewöhnliches soziales oder aggressives Verhalten aufgefallen.“

Er greift ein: „Und wie viel Menschen haben solche Störungen und sind kein bisschen böse? Möchtest du vielleicht gar psychisch Kranke unter Generalverdacht stellen? Wie erklärst du es dir dann, dass viele deiner Verbrecher – um auf dem Niveau zu bleiben – wie erklärst du es dir dann, dass immer wieder ein sozialer Teufelskreis, eine verlorene Kindheit in dem Zusammenhang vorliegen?“

„Das ist nicht von der Hand zu weisen“, pflichtet sie ihm bei, „Aber betrachte zwei Geschwisterkinder. Sie genießen die gleiche Erziehung und gehen unter Umständen trotzdem vollkommen verschiedener Wege. Im Übrigen gibt es bereits Kinder, die durch Aggressivität auffallen. Und schließlich bliebe ihnen nach deiner Argumentation immer noch die Wahl, sich an den positiven Beispielen zu orientieren. Aber hat es nicht gerade etwas zwanghaft Vorherbestimmtes, welche Rolle sie spielen werden?“

Er beharrt: „Kann ein Mensch nicht erst ab einem gewissen Alter moralisch denken und handeln?“

Sie lächelt zynisch: „Geschieht denn Böses bloß bewusst hervorgerufen?“

Sie diskutieren über Verbrecher, über Kriege. Niemand könne vorhersagen, wie viel Moral er unter Angst um eigenes Überleben vertrete.

„Wenn die Situation den Rahmen gewährleistet, überschreiten unzählige Grenzen, ohne auch nur im Geringsten Zweifel zu hegen. Gib ihnen die plausible Rechtfertigung und sie werden zum geeigneten Werkzeug des Bösen.“

Seine Gedanken wandern fort, verlieren sich in den Blättern der Alleestraße, durch die sich einsam die Sonnenstrahlen kämpfen.

Ihr Deutschen seid schon eigenwillig. Was zerbrecht ihr euch den Kopf über Kriege in einem vorbildlichen Land des Friedens? Wer soll ihn euch schon nehmen? Was streitet ihr zudem über Eventualitäten, die euer Leben gar nicht tangieren?

Er wartet bis das Mädchen wieder mit todernster Miene den Raum verlässt. Ihre Arme berühren sich beinahe. Falls es es wahrgenommen hat, lässt es sich das keineswegs anmerken.

Auf einmal fühlt er sich benommen, gefangen in einem Augenblick.

***

Das Mädchen kommt morgens erst spät. Wieder mit ernster, trauriger Miene. Die schwarzen Locken fliegen schwungvoll, als es sich etwas ungeschickt setzt.

Er weiß nicht, weshalb. Und es gäbe tausende Gründe, weshalb nicht. Aber er starrt. Er schaut. Staunend und mit offen stehendem Mund. Benommen wie am Tage zuvor. Verwundert. Vernebelt. Verführt.

Warum er? Warum sie? Warum jetzt? Warum hier an diesem Ort?

Warum kannte er das nicht vorher, dieses Gefühl?

Sie heißt Jasmin. Wie der Duft der exotischen Pflanzen. Wie der Hauch nie geglaubter Träume. Da ist so vieles an ihr, das er erfassen möchte. So viele kleine Regungen, wenn sie beinahe schüchtern lächelt. Dieses sanfte Lächeln, mild, nachgiebig, das sofort wieder erstirbt. Sie sieht doch viel hübscher aus mit einem Strahlen auf den Lippen! Viel verzaubernder, viel zu friedlich für diese raue Welt! Weiß sie es nicht? Kann er es ihr sagen?

Ihr Körper ist zart, fast zerbrechlich. Ziemlich klein, mit dünnen, fast dürren Ärmchen, schmalen, fast vornehmen Handgelenken. Mit dünnen Beinen, gut geformt. Einem edlen, schmalen, langen Hals. Und weit aufgerissene Augen so schwarz wie die Nacht.

***

„Warum hilfst du deiner Mutter nicht, wenn du zeitiger zu Hause bist?“, schnaubt der Vater wütend am Abend.

Hat er nicht sich wenigstens ein bisschen Freizeit verdient nach den harten Hausaufgaben, die ohne Sinn, ohne Verständnis nach all den Stunden blieben? Hauptsache dort steht etwas. Halb richtig oder halb falsch. Im Grunde ist es doch egal. Hat er es ohnehin eilig gehabt, sich über andere Dinge Gedanken zu machen. Über das Mädchen, über die Pausen. Über dessen Blicke, fast schüchtern, ja sogar schockiert, als es ihn gesehen hat. Hat es etwa Angst?

„Ich rede mit dir, Vladislav“, wird die Stimme des Vaters lauter.

Er kaut weiter auf seinen Kartoffeln herum. Sie schmecken nicht wirklich. Wahrscheinlich lagen sie zu lange im Wasser. Hat die Mutter sie vergessen beim Lesen in ihren komischen Frauenzeitungen. Wird Jasmin irgendwann auch solchen Blödsinn lesen?

Gewiss nicht. Dazu scheint sie viel zu intelligent. Viel zu nachdenklich.

Das dient schließlich gerade dem Gedankentod. Lästige Erinnerungen oder Ereignisse werden durch irreale Leichtigkeit fort gewischt.

„Mir reicht es! Wir können auch andere Mittel anwenden!“, schlägt die Hand des Vaters plötzlich laut neben ihm auf den Tisch. Erschrocken zuckt er zusammen. Er verschluckt sich zu allem Übel. Die Mutter klopft ihm auf den Rücken, überlässt aber ansonsten wie immer dem Streitsüchtigen das Feld.

„Was machst du eigentlich den lieben langen Nachmittag lang? Chattest du im Internet? Das lässt sich ändern. Das ist mir sowieso längst ein Dorn im Auge.“ Bestimmt hat der Vater wieder einen hochroten Kopf. Dann schnaubt er noch immer so komisch neben ihm.

Gewöhnlich steigt in ihm irgendwann in solchen Momenten die Wut auf, wenn der Alte ihn einfach nicht in Ruhe lassen kann.

Aber nicht diesmal. Diesmal ist der Tag viel zu schön für solche Gefühle! Die wären bloß lästig. Er lächelt stattdessen verträumt.

„Bist du verrückt geworden?“, prustet der Vater. Das klingt gefährlich nahe am Hyperventilieren.

„Nein!“ Das ist so komisch, dass er das Lachen nicht verkneifen kann.

„Du findest es wohl lustig! Da haben wir ja etwas Schönes groß gezogen“, wendet er sich voller Hass zur Mutter.

Wie reagiert sie?

Schweigend! Das verwundert ihn schon gar nicht mehr.

„Zufällig hatte ich zu tun“, juckt es ihm in den Fingern.

Dass der Vater ihn nicht leiden kann, scheint seit seinem zwölften Geburtstag ein ungeschriebenes Gesetz.

„Zu tun hattest du? Oho, du bist wohl gar beschäftigt?“, höhnt dieser Mann.

Er blickt in das hässliche, wutverzerrte, faltige Gesicht.

Glücklicherweise ähnelt er diesem runden Kopf kein bisschen. Das wäre ihm nur peinlich.

„Ja, ich muss nämlich Englisch lernen.“ Er schluckt. Nur mit Mühe kann er seine Verachtung unterdrücken. Wie kann die Mutter mit so einem Streithals zusammenleben? Wie hält sie das tagein, tagaus aus?

„Gibt es etwa Probleme?“, stürzt sich der Vater wie ein Geier auf das nächste unangenehme Thema.

„Nein“, presst er zähneknirschend hervor. „Aber ich habe bisher kein Englisch gelernt, wie du weißt. Die anderen hingegen haben in der dritten Klasse spätestens damit begonnen.“

Der Vater schweigt, mustert seinen Sohn, der ihm ganz fremd ist, mit diesem eigenartigen Blick.

Glaubt er es wieder nicht?

„Da hast du dich wohl vorher schlecht informiert“, winkt der nach kurzer Pause verächtlich ab.

„Ihr habt es mir nicht gesagt!“, gibt er das Kontra.

Der Vater bricht in Lachen aus. Die Augen sind zu Schlitzen verengt.

„Wie alt bist du, Vladislav? Drei Jahre alt? Zehn? Oder doch schon Sechzehn?“

Die Mutter greift mit gesenktem Blick wieder zur Zeitung.

Sein Bruder hat sich bereits in sein Zimmer verdrückt.

Armer Leontij! Hoffentlich wird der Vater an ihm später mehr Haare stehen lassen!

„Leidest du an Vergesslichkeit?“ Er bereut die Frage sofort. Sie ist ihm, ohne nachzudenken, aus dem Mund gerutscht.

„Gut, du hast es nicht anders gewollt. Kein Internet in diesem Monat, kein Taschengeld. Du musst erst einmal Achtung lernen.“

Der Vater steht auf und schaltet den Fernseher ein.

„Ich will dich hier heute nicht mehr sehen, Vladislav.“

Das hat er noch nie gesagt. Das ist wohl ein wunder Punkt in diesem ungerechten Mann.

Ein Monat lang kein Internet! Wie soll er da die Hausaufgaben erledigen?

Wie immer hat es der Alte am Ende doch noch geschafft, ihm die gute Laune zu verderben. Muss er denn alle dazu zwingen, missmutig wie er selbst durch das Leben zu schreiten?

„Wie soll ich bitte meine Hausaufgaben erledigen?“, fragt er mit dem Stapel Teller in der Hand.

Der Vater stellt den Fernseher demonstrativ lauter.

„Mama, sag doch etwas!“, ruft er verzweifelt. „Wie soll ich bitte ohne Internet meine Hausaufgaben erledigen?“

„Bei uns hat das früher auch funktioniert“, brummt es vom Fernseher.

Oh, wie sehr hasst er diesen Mann, der sich sein Vater nennt und ihn immer wieder demütigt!

„Wir haben aber nicht einmal Bücher hier zu Hause, mit denen ich lernen könnte!“, brüllt er ihn an.

Einfach abstoßend, dass sich dieser Brocken dort auf dem Stuhl kaum bewegt, kurz mit den Schultern zuckt. Nicht mehr.

„Geh doch in die Bibliothek! Du möchtest schließlich immer selbstständig sein. Lerne, dir zu helfen.“

Er tritt getroffen einen Schritt zurück. Mit der Schulter stößt er sich dabei am Türrahmen.

„Bin ich dir einfach egal? Lässt dich mein Leben so kalt?“ Jetzt ist die Frage raus. Beinahe hörbar stockt der Mutter nun doch der Atem, hält sie beim Lesen inne.

„Wofür brauchst du denn das Internet?“, fragt sie mit verräterisch sanfter Stimme.

Das schmerzt ihn fast noch mehr als die Kälte des Vaters.

Ohne eine Antwort stellt er die Teller in der Küche ab, knallt sie ein wenig laut in die Spüle, würdigt sie keines Blickes mehr und geht aus dem Zimmer. Mit lautem Krachen fliegt die Tür ins Schloss.

Das „Pass mit dem Geschirr auf!“ „Die Tür kannst du bezahlen, wenn sie kaputt geht“ erreicht ihn nicht mehr.

Unschlüssig steht er im kleinen Flur zwischen den Schuhen, dem voll behangenen Kleiderständer. Er greift nach der Schale auf dem kleinen Schuhschrank, den der Vater selbst gebaut hat. Er greift nach dem Schlüssel, knetet ihn in seiner Hand, bis es weh tut.

Warum ist diese Welt so grausam?

Dann schließt er sich im Bad ein, lässt das Wasser laufen, gönnt sich ein heißes Bad. Das Wasser ist so heiß, dass es auf der Haut brennt.

Die Mutter pocht an die Tür, drückt die Klinke mehrmals vergeblich.

„Ich muss zur Toilette, Vladislav!“

Es interessiert ihn nicht.

Er ist ihnen egal. So existieren sie für ihn auch nicht mehr.

Leise fängt er an zu summen. Ein Kinderlied eigentlich. Manchmal singt er es heimlich für Leontij, wenn der wieder seine Albträume hat.

Sein Bruder ist der Einzige, der ihn liebt.

Als er schließlich die Tür öffnet, dampft es aus dem kleinen Badezimmer.

Ohne einen Blick stapft er an der Mutter vorbei.

Der Vater schimpft sofort wegen der Wasserverschwendung und der Feuchtigkeit.

Redet doch, ereifert euch. Mich trefft ihr damit nicht mehr.

Leontij liegt in seinem Bett und schluchzt leise unter der Bettdecke.

Das macht er jedes Mal, wenn es einen Streit gibt.

Wie zerbrechlich ist diese Kinderseele!

Zärtlich streicht er über den kleinen Kopf, streicht durch das strohblonde Haar, wischt mit seinen Fingern sanft über die feuchten Wangen.

„Du musst nicht weinen“, flüstert er.

Aber der Kleine schluchzt noch heftiger.

„Ich will nicht, dass ihr immer streitet!“, drückt sein Bruder seine Hand an seine Wange.

„Ich auch nicht“, seufzt er und hangelt seinen Schlafanzug zu sich. „Manchmal hat man leider keine Wahl.“

„Warum nicht?“, verlangt der Kleine sofort eine Erklärung.

Ruhig streift er sich das Oberteil über die Arme. Viel zu schmächtig hat der Vater ihn genannt! Wenn der wüsste…

Für die Hose setzt er sich wie ein alter Mann auf das Bett. Der Mond leuchtet durch das kleine Fenster und wirft Schatten auf den Fußboden. Er zieht den Vorhang zu.

„Weißt du, Leontij, manchmal muss man sich wehren, wenn jemand ein Unrecht tut. Wenn man immer nur erduldet, einen Schlag nach dem anderen einfach schweigend erträgt, dann zerbricht man.“

„Liebst du Papa nicht?“, piepst der Junge plötzlich ängstlich.

Abrupt steht er auf und greift nach der kleinen, warmen Hand.

„Glaubst du das etwa, Leontij?“

Wieder ertönt nur das Schluchzen.

„Manchmal ja.“

Er überlegt. Wie kann er es am besten erklären, was er empfindet? Weiß er selbst das so genau?

Manchmal sind da diese furchtbaren Tage, an denen er einen solchen Hass verspürt, einen solchen Ekel, eine solche Verachtung.

Manchmal gibt es jedoch ein paar wenige Erinnerungen an bessere Zeiten. Ein paar wenige Gesten, die ihm etwas Dank abringen.

„Vater und ich müssen uns erst daran gewöhnen, dass ich erwachsen werde. Das ist wahrscheinlich der Grund“, seufzt er schließlich.

„Warum sagt Mama nichts?“ Wie viel erkennt dieses unschuldige Geschöpf!

„Das ist eine Sache zwischen Männern. Verstehst du das?“

„Ja.“ Das Schluchzen hat aufgehört.

„Ich habe dich lieb, Vladislav“, schmiegt sich sein Bruder dann wieder an seinen Arm. „Ich hoffe, dass wir uns nie streiten.“

„Ich dich auch, mein Kleiner“, streicht er gerührt weiter über den Kopf, bis sich der Schlaf über den Engel legt.

***

Eines Morgens, während er fleißig über seinen unlösbaren Hausaufgaben brütet, kommt sie noch blasser, noch erschöpfter als sonst.

Die Augen scheinen verquollen, gerötet. Da ist nichts mehr in ihnen. Bloß eine gähnende Leere. Oder bildet er sich das ein?

Wer hat der Rose den Dolch gegeben? Wer lässt sie so sehr bluten? Erkennen denn die anderen, die sich ihre Freundinnen nennen, nicht ihren Schmerz?

Er legt den Stift aus der Hand. Eine Spur langsamer als die Tage zuvor. Eine Spur bedeutsamer.

Er muss nicht einmal nachdenken.

Vielleicht ist das der Moment, in dem sich zwei Geschichten plötzlich kurz verbinden und vollkommen neuer Wege gehen.

Vielleicht ist es auch der Moment, in dem sie plötzlich den Kopf umdreht und ihm unerschrocken direkt in seine himmelblauen Augen sieht. Als habe sie die ganze Zeit über seine Blicke in ihrem Rücken gespürt. Seine Blicke, die ihre Bewegungen eingefangen haben. Die großen wie die kleinen. Das Setzen wie das Lachen. Die Worte wie das Schweigen. Den Anfang und das Ende.

Vielleicht ist es der Moment, nachdem sie begriffen hat, dass es gewiss alles andere als purer Zufall ist, wenn er tagtäglich, jeden Morgen, besonders zeitig am Nachbartisch sitzt, sich an Hausaufgaben wagt, die er im Grunde schon gedanklich abgehakt hat.

Vielleicht ist es also der Moment, in dem sie zu verstehen beginnt. In dem sie ihn zu verstehen beginnt, ihm einen Platz in ihrem Leben zugesteht. Ihm eine Chance gibt. Ihn in ihr Herz lässt.

Vielleicht wird es so zu dem Moment, in dem er viel zu spät begreift, dass der neue Weg kein Zurück kennt und steiniger würde als alles je zuvor.

Vielleicht wird es so der Moment, der sein Schicksal ändern sollte.

***

„Vladislav, ich möchte Sie gerne kurz sprechen“, verkündet die gefürchtete Geschichtslehrerin, die niemand herauszufordern wagt.

Unwillkürlich zuckt er zusammen. Hat er sich nicht schon klein genug, unauffällig genug verhalten?

„Ich weiß nicht, aus welchem Land Sie kommen, aber Sie müssen einsehen, dass ich darauf nicht ewig eine Rücksicht nehmen kann.“

Beginnen sie sich jetzt gar zu verbünden?

So sind sie wohl, die Menschen. Kalt. Ohne Mitgefühl. Ohne Verständnis. Denn schließlich handelt es sich nicht um ihre Leben. Wenn dann ein Fremder kommt, bleibt er weiter für sein Leben verantwortlich. Hilfe ist für sie ein fremdes Wort, das Rätsel der Sphinx. Eventuell erkennen sie die Notwendigkeit viel zu spät.

„Sie sitzen teilnahmslos dort hinten in der letzten Reihe. Sie starren Löcher in die Luft, sodass ich manchmal kontrolliere, ob gar Renovierungsbedarf besteht.“

Sie lacht kurz. Ohne jede Herzlichkeit, ohne jeden Humor. Der Witz ist er. Der Humor nichts als ihre Verachtung gegenüber dem Schüler. Das Lachen nur die Doppelzüngigkeit.

„Ich höre nie auch nur ein einziges Wort von Ihnen. Fast glaubte ich, Sie wären stumm.“

Ihn bestürzen solch harte Sätze, die sich wie eisige Messerklingen in seine Seele bohren.

„Ich hatte erwartet, dass jemand in Ihrer Situation erkannt hat, dass das hier kein Schlaraffenland ist. Dass er für das kämpfen muss, was er erreichen möchte.“

Welche Mittel besitzt er denn?, könnte er sie fragen.

Aber schon setzt sie noch zum letzten Hieb an oder vorletzten. Das zählt gar nicht mehr.

„Sitzen Sie bei den anderen Kollegen genauso verträumt? Dann rate ich Ihnen eines: Lassen Sie es gleich oder geben Sie sich einen Ruck.“

Er schließt unwillkürlich kurz die Augen, atmet tief durch.

Ihre faltigen Höhlen verengen sich. Die Lippen liegen fest aufeinander gepresst. Die Blicke durchbohren ihn.

„Ich verstehe nicht so gut“, wehrt er sich gegen den wachsenden Kloß in seinem Hals.

„Verzeihen Sie, aber was haben Sie gerade gesagt?“

Sie betont jedes Wort, als wäre er der dümmste Mensch auf Erden.

Sie fixieren sich einander, während er wünscht, er hätte endlich ein besseres Leben.

„Vielleicht muss ich Sie aus der Reserve locken“, lächelt sie auf einmal fast freundschaftlich.

Doch er traut der abrupten Kehrtwende nicht.

„Ich habe mir daher überlegt, Ihnen einen Vortrag aufzutragen. Beweisen Sie mir, dass Sie mehr können, als zu schweigen oder Löcher in die Luft zu starren. Beweisen Sie mir, dass Sie hier eine Berechtigung haben!“

Das fehlte ihm gerade noch! Ein Vortrag ohne Internet!

Er fängt an zu lachen.

Sie steht nun ganz steif, ganz irritiert.

„Ich habe nicht einmal Internet“, hebt er entschuldigend die Hände.

Keine Reaktion.

„Ich kann daher nicht recherchieren, nichts vorbereiten.“

„Aber sie können reden.“ Schnell mustert er sie wieder.

Hat er sich gerade verhört? Versteht ihn denn tatsächlich kein einziger Mensch auf dieser Erde?

„Wenn Ihnen das genügt...“

Die ersten Schüler stürmen bereits zum Bus. Er wird sich danach noch mit Kunst quälen müssen. Langweilige Kameraführung studieren müssen.

„Wusste ich es doch!“, lacht sie da.

Die grauen Augen blitzen plötzlich.

„Cicero als antiker Politiker, fabelhafter Redner, Schriftsteller. Das wird genau Ihr Thema!“

Freudig klatscht sie in die Hände.

Wer zum Teufel war Cicero? Wer straft sein Kind mit solch einem Namen?

„Ich habe wirklich kein Internet“, erklärt er deshalb hastig.

„Ich denke wirklich, dass das Thema passt.“ Sie lächelt listig wie ein Fuchs.

„Möglicherweise ist das die einmalige Chance, um der wunderschönen Bibliothek der Schule einen Besuch abzustatten. Die alten Bücher erhalten viel zu selten diese Ehre.“

Schon jetzt hasst er diese Frau. Sie möchte ihn überhaupt nicht verstehen. Sie möchte ihm Steine in den Weg werfen, legt sie noch über die anderen Felsblöcke. Dann steht er vor einer Mauer, kommt gar nicht mehr voran.

***

Schweren Herzens sucht er nach dem langen Tag die Bibliothek auf. Kein Wunder, wenn sich so selten jemand dorthin verirrt. Versteckter hätte sie sich nicht befinden können: in einem Seitengang am Lehrerzimmer.

Die Tür quietscht leise, als er sie vorsichtig öffnet. Unbewusst hält er kurz den Atem an.

Es gibt keine verstaubten Regale mit vermeintlichen alten Schätzen.

Ziemlich bunt ist der kleine Raum. Bücher in verschiedensten Größen füllen die Schränke.

Literatur, Sachbücher, Nachschlagewerke, Lehrfilme. Mit einem Finger streicht er über die Ablagen.

Selbst Wörterbücher stehen hier. Sogar für Englisch.

Er lacht entzückt! Zwingt das Schicksal nicht auf seltsame Weise manchmal zum Glück?

Eine englische Grammatik. Ehrfürchtig zieht er das Buch heraus.

Das scheint gar nicht so schlecht geschrieben zu sein.

Er nimmt es mit. Auf einmal verspürt er so etwas wie wahre Motivation.

„Kann ich dir helfen?“, baut sich ein kleiner, dünner Junge mit kugelrunden Brillengläsern neben ihm auf.

„Weißt du, wer Cicero ist?“

Der Junge lacht. Seine Zähne leuchten ungewöhnlich weiß.

„Du solltest besser fragen, wer Cicero gewesen war.“

Er schmunzelt.

„Ist er also schon tot?“

Der andere schiebt grinsend die Brille auf der Nase höher. Seine Wangen strahlen voller Farbe.

„Du kennst tatsächlich nicht den großen Cicero? Leider war er nicht groß genug, um mehrere Jahrtausende zu überleben.“

Der Junge ist ihm sympathisch. Wie alt wird er wohl sein? So alt wird er oder jünger? Jedenfalls sprühen seine Augen vor belustigter Neugier.

„Ich muss einen Vortrag halten“, seufzt er.

„Glückwunsch. Bei der Müller?“ Der Junge klopft ihm mitleidig auf die Schulter.

„Ja, leider.“

„Ein Schüler zieht in jedem Jahr das Sonderlos.“

Er nickt.

„Ich heiße Anton.“

„Vladislav“, streckt er ihm die Hand entgegen.

Der Junge lächelt. Auf seinen Wangen blitzen lauter Sommersprossen. Dabei ist wohl das Haar das ungewöhnlichste: Feuerrotes, leuchtendes Haar. Bisher kennt er das nur von den Chemikalien, die sich manche Mädchen hineintun.

Allerdings scheint dieser Orange-Rotton in der Tat Natur zu sein.

„Bist du neu hier?“ Er führt ihn zwei Gänge weiter. Dabei bemüht er sich, keines der Bücher mit seiner Tasche aus den Reihen zu reißen.

Er nickt.

„Und du?“

„Altes Fleisch.“, wieder hüpfen die Sommersprossen auf und ab.

„Wird Zeit, dass es einen Abschied gibt.“

„In welchem Jahrgang bist du?“

Sie haben die Geschichtsabteilung erreicht. Genauer gesagt, die drei Reihen mit wenigen historischen Werken.

„Das letzte Jahr. Wie ich das Ende herbeisehne...“

Er findet gar nichts über Cicero. Enttäuscht blickt er zu Anton.

„Die Auswahl ist nicht gerade eine Wahl. Ich weiß. Du kannst es noch bei den Lateinbüchern versuchen.“

Die Panik greift schon wieder nach ihm.

„Hast du außerdem kein Internet? Die meisten wissen gar nicht mehr, was Bücher für einen Wert besitzen. Da werde ich ziemlich einsam beizeiten.“

„Leider nicht.“ Er seufzt traurig.

Anton beginnt noch breiter zu strahlen.

„Ich glaube, dass ich dann heute doppelt zu deinem Retter werde. Komm mal mit!“ Er führt ihn ganz ans Ende des schmalen Ganges, um die Ecke herum zu einem Tisch mit drei Computern.

Überrascht schaut er den Jungen an.

„Sie haben zwar bald historischen Wert, aber leisten noch volle Arbeit. Du solltest nur nicht in den Pausen kommen. Da sind sie schnell belegt.“

„Danke“, lächelt er. Anton ist wirklich seine Rettung.

***

„Warum kommst du so spät?“ Sie haben ihn bereits erwartet und ihre Mienen verheißen gewiss nichts Gutes. Zu schmerzlich ist ihm noch der letzte Streit präsent.

Der Vater und er haben sich seitdem gemieden, sofern dies möglich gewesen ist.

„Wir haben mehrmals versucht, dich zu erreichen.“ Über die Mutter ist er mehr erstaunt! Ihre Stimme klingt fast weinerlich, bedauernd. Oder ist das Enttäuschung? Warum trifft ihn das so sehr?

Zwei Kinderaugen lugen ängstlich durch den Türspalt. Leontij ist noch viel zu sensibel!

„Möchtest du uns nicht wenigstens antworten? Meinst du nicht, dass wir eine Erklärung verdient haben?“ Wie immer schwingt der Zorn bedrohlich in der Stimme des Vaters mit.

„Es hat eben länger gedauert“, seufzt er, innerlich verärgert. Am liebsten würde er ihnen sagen: „Ihr verbietet mir doch den Internetzugang.“

Stattdessen zuckt er keineswegs verlegen mit den Achseln. Mittlerweile verspürt er eine unheimliche Wut auf diese Menschen, dieses Leben, diesen Tag. Alles hätte noch gut werden können…

Die Hand packt ihn hart und fest wie eine Klaue, als er versucht, den Türspalt zu vergrößern. Sein Bruder hat sich sofort unter seiner Bettdecke verkrochen und schluchzt leise.

„So weit soll es noch kommen!“ Er wird in die Küche gezerrt.

Nicht einmal Lust oder Kraft verspürt er, sich gegen die Ungerechtigkeit zu wehren.

„Setzen!“, bellt der Vater. Dessen grüne Augen blitzen giftig.

Aber da möchte er es ihm zeigen, einmal sich stark fühlen dürfen. Viel zu lange hat er schließlich ihretwegen sich geduckt und geduldet! Diesmal wird er ihm Parole bieten! Diesmal wird er sich nicht dem Diktator beugen! Wird nicht still die verletzenden Worte schlucken! Diesmal wird er sich auflehnen, dem Vater endlich einen Denkzettel verpassen!

Denn der hat überhaupt kein Recht dazu, ihm das Leben ständig zu vermiesen. Ihn ständig aus den Wolken zu zerren, wenn er nur daran denkt, ein Stück vielleicht für wenige Minuten fliegen zu können.

„Ich muss Hausaufgaben machen.“

Doch noch ehe er sich wieder erheben kann, wird er schmerzhaft auf den Stuhl gedrückt.

Die Mutter jammert leise, verzieht sich dann ins Badezimmer.

Lauf nur, schau doch lieber weg! Ich kann mich schon allein verteidigen. Wundert euch allerdings nicht, wenn ich dann zu anderen Mitteln greife.

„In meinem Haus wirst du tun und lassen, was ich dir sage. Und wenn ich dich etwas frage, hast du mir gefälligst zu antworten!“

Du hast nicht einmal ein Haus, denkt er still und grinst verbittert.

„Also: Wo warst du?“ Er spürt den feuchten, ekelerregenden Atem, der ihm von der Seite schnaubend ins Gesicht bläst. Er starrt auf den weißen, hässlichen Fensterrahmen, schweigt.

„Gut, du hast es nicht anders gewollt...Irina, hol bitte seine Musikanlage!“, droht der Vater.

Doch er bleibt eisern, schweigt mit den Händen über den Ohren, starrt dieses Monster mit weiten Augen an.

„Die war ohnehin viel zu teuer“, murmelt dieser fremde Mann dort, der sich sein Vater nennt, während sich der Griff entspannt.

„Du tust gerne, wozu du kein Recht hast“, findet er endlich Worte, als der Alte aufstehen möchte.

Der stutzt sofort. Hat er etwa tatsächlich ein Widerwort gehört?

„Pass mal auf, Vladislav!“, hebt er drohend den Zeigefinger, „Du bewegst dich auf ganz dünnem Eis. Ich möchte gar meinen, dass der Boden unter dir längst bricht. Wann begreifst du endlich, wer hier das Sagen hat? Wer hier Recht hat und wer nicht?“

Er muss lachen. Das möchte er gar nicht. Aber er lacht. Weil diese ganze Situation absurd ist. Weil dieser ganze Tag absurd ist. Weil alles, seitdem sie in Deutschland sind, absurd ist. Sinnlos. Lächerlich. Einfach verrückt.

„Und Recht hast etwa nur du? Nicht einmal Mutter, die du schön zu beherrschen weißt? Du magst es doch nur nicht, wenn man deinem Befehl nicht Gehorsam leistet! Du magst es nur nicht, wenn man dich in Frage stellt, weil du lächerlich bist! Einfach lächerlich. Ich kann dich gar nicht mehr ernst nehmen.“ Er ist aufgesprungen. Der Vater hat sich gesetzt, atmet ein bisschen schwer.

Damit ist jedoch nicht genug! Viel zu lange hat er die Wut mit sich getragen!

„Du möchtest mein Vater sein? Dann sage ich dir etwas: Du bist erst mein Vater, wenn du mich so akzeptierst, wie ich bin. Ich bin sechzehn Jahre alt, kein Baby.“

„Vladislav“, bettelt die Mutter hilflos.

Zornig dreht er sich zu ihr: „Ich frage mich, wie du das über dich ergehen lassen kannst. Allerdings denke ich, dass du tief in deinem Herzen mich verstehen kannst.“

Ihr Gesicht erblasst, sie wirkt wie erstarrt.

Ja, so hat der Sohn noch nie zu ihnen gesprochen!

„Irina, die Musikanlage!“, erinnert der Vater schneidend. „Der Junge ist wohl übergeschnappt.“

Sie rührt sich nicht, bekommt einen ganz glasigen Blick. Er beobachtet jeden ihrer Züge, denn er ahnt innerlich, dass er sie somit vom Gehorsam abhält.

„Ihr habt wohl alle zu wenig frische Luft geatmet! Dann hole ich sie eben selbst.“ Behäbig bewegt sich der Alte in das Kinderzimmer.

„Leontij ist dir wohl auch egal! Schließlich hört er genauso gerne seine Hörspiele“, ruft er ihm hinterher. Der Vater behandelt ihn wie Luft. Auf diese Weise haben sie demnach den Ausgangszustand wieder erreicht.

Kein Protest ertönt aus dem Kinderzimmer. Eigentlich überhaupt kein Laut.

Begreift dieser Mann nicht, dass er sich damit auch die Liebe des Jüngsten zunichte macht?

„Wir haben uns große Sorgen gemacht, Vladislav.“ Die Mutter beginnt in der Küche Ordnung zu schaffen. Es ist bloß fraglich, wie viel in makelloser Ordnung aufgeräumt werden kann.

„Ich muss einen Vortrag vorbereiten. Da ich kein Internet habe, bin ich in die Bibliothek gegangen“, erklärt er ihr erbost.

Wahrscheinlich hatte er gehofft, dass zumindest sie ihn besser verstehen würde.

Augenblicklich hält sie inne.

„Und weshalb sagst du nichts?“

Er wünscht sich, dass sie ginge. Dass sie die Tür schlösse und mit sich den verfluchten Tag wegnähme.

***

Woher weiß ein Mensch, wann das Schicksal beschließt neue Wege zu gehen? Woher weiß ein Herz, wann es sich lauter zu schlagen lohnt, bis es in der Brust fast zerspringt? Woher weiß die Welt, dass sie plötzlich endlos wird?

Ohne zu denken, ohne zu wissen, ohne abzuwägen, finden sie sich ganz zufällig und doch vertraut.

Er kann nicht anders, hat überhaupt keine andere Wahl, als in diesen dunklen Augen zu ertrinken, in diesem sanften Lächeln zu zerfließen. Und doch geht er nicht unter. Denn er lernt erst das Schwimmen.

Während er in seinem Kreis und sie in dem ihren sich nur am Rande an den so gewöhnlichen Gesprächen beteiligen, steht zwischen ihnen die Welt still. Hält er unwillkürlich den Atem an, wenn ihre Blicke klar und unmissverständlich ihn streifen. Dann ist es, als würden sie sich messen, abschätzen. Wie viel wäre zu viel, wie viel noch nicht genug? Darf man schon weiter gehen? Was ist das, was dort so brennt?

Es beginnt eine Flamme, ein Feuer zu brennen, das lediglich sie beide nährt. Ihr stilles Geheimnis, das Nächte zur Qual macht, das den Schlaf raubt, dennoch belebt und am Leben hält.

Wie viel Länder musste er durchreisen, wie viel Ozeane durchqueren und aus wie viel Tälern steigen, um ohne Vorwarnung von heute auf morgen zu verbrennen?

Und warum sie? Warum jetzt? Womit verdient er dieses Glück?

Endlich hat er eine Verbündete gefunden! Endlich gibt es etwas, das zumindest für die wenigen gezählten Minuten allen Ärger, alle Sorgen, allen Schmerz und alle Ängste von ihm nimmt.

***

„Warum bist du hergekommen?“, fragt ihn ein Junge, der bisher schüchtern in den Pausen neben ihm gesessen hat.

Die Frage verwirrt ihn: Es hat etliche Gründe gegeben, ganze Verkettungen glücklicher und unglücklicher Ereignisse.

„Für eine bessere Zukunft“, entscheidet er sich daher diplomatisch.

„Eine bessere Zukunft?“ Der Junge lacht freundlich, fast so nett wie Anton aus der Bibliothek.

„Ist es in der Ukraine so wenig lebenswert?“

Auf der einen Seite steht da das weite Feld trauriger Fakten. Auf der einen Seite denkt er mit schmerzhaftem Brennen in der Brust an die Armut, das soziale Ungleichgewicht, die Revolten.

Aber auf der anderen Seite sprechen sie nicht über irgendein x-beliebiges Land, sondern über die Erde seiner Wurzeln, seine Heimat.

„Tja, Deutschland scheint wohl attraktiver“, fügt der Junge schließlich an.

Er entscheidet sich, über die verletzende Unwissenheit hinwegzusehen. Eventuell ist der doch nicht wie Anton mit dem Feuerhaar.

„Magst du mir ein wenig über die Ukraine erzählen? Hat dort nicht erst die Fußball-Europameisterschaft stattgefunden?“

Er nickt, wobei er versucht, zu begreifen, wie anders die Welt des anderen aussehen muss, dass er mit solcher Naivität Fragen stellt.

„Zum Teil aber auch in Polen.“

„Ja, ja, das stimmt! Da habe ich einen Dokumentarfilm gesehen, in dem gezeigt worden ist, welche Unterschiede zwischen den Ländern bestehen.“

Der andere lächelt stolz. Möglicherweise weiß er doch zumindest ein bisschen.

„Ist die Infrastruktur tatsächlich so schlecht in manchen Regionen?“

„Jetzt ist sie besser als zuvor. Aber da sind Unmengen an Geld dafür geflossen“, erinnert er sich traurig an die heftigen Vorwürfe wegen der Korruption.

„Werden denn die Bauten nicht mehr genutzt?“, erkennt der andere sofort.

„Mal sehen“, brummt er und mag das Gespräch beenden.

Doch der andere platzt beinahe vor Neugier.

„Sind nicht auch einige Politiker nicht angereist - aus Protestgründen?“ Er seufzt. Natürlich versteht er die Anspielung auf das Duell der großen Reichen. Für ihn macht das nicht mehr viel Unterschied, gibt es keine bessere oder schlechtere Seite. Außerdem denkt man darüber nicht nach.

„Damit wäre wohl auch deine Frage beantwortet“, murmelt er und beschließt sich lieber auf Deutschland zu konzentrieren, jetzt, da die Heimat doch nur wie eine schmerzliche Erinnerung in den Schatten seiner Gedanken kreist.

***

„Wie kommst du mit deinem Vortrag voran?“, stellt sich Anton am Nachmittag zu ihm, als er recherchiert. Diese Computer sind eine wahre Geduldsprobe!

„Magst du auch eine Limo?“

Im Nu öffnet er ihm eine zweite Flasche. Das prickelnde, süße Getränk rinnt den Rachen hinab. Genießerisch schließt er die Augen.

„Anstrengend, nicht wahr? Ich habe schon den Qualm gesehen“, lacht der Junge zwinkernd.

„Den Qualm?“, stutzt er.

„Das sagt man so, wenn jemand zu viel nachdenken muss, dass Gehirn auf Hochtouren läuft.“

„Die schmeckt gut“, dankt er Anton für die Erfrischung.

„Etwas muss ich mir doch gönnen, wenn ich schon immer einsam hier sitzen muss.“ Das rote Haar leuchtet in der Sonne, als er sich einen Stuhl mit heranzieht.

„Wie steht es um Cicero?“, liest er den Artikel auf dem Bildschirm.

„Ich habe keine Struktur, keinen Plan. Das ist alles ziemlich viel“, gesteht er ehrlich.

„Das kommt noch“, beruhigt Anton ihn. Er ist ein echter Kumpel.

„Woher kommst du eigentlich? Ich mag deinen Akzent.“

Er spürt, wie sich seine Wangen röten. So manches Mal hat er bemerkt, wie mit Blicken zu ihm getuschelt wird, wenn er die vielen „R“ rollt und die Sprache vollkommen fremd intoniert.

„Ukraine.“ Er lächelt müde.

„Weißt du schon, was du nach dem Abitur machen möchtest?“, interessiert es ihn dann.

Anton schnalzt mit der Zunge.

„Lehramt. Das wird gerade gesucht. Am liebsten würde ich in die USA oder nach Großbritannien und mein Englisch verbessern. Einfach raus aus diesem langweilig vertrauten Umfeld. Gott, wie mich das alles nervt. Das Unkraut wächst und wuchert über das rote Pflaster“, deutet der Junge nach draußen auf den Pausenhof. „Man lässt es einfach gedeihen. Man lässt überhaupt alles gedeihen. Hier ist alles abgestumpft. Eintönig. Es gibt keine Abwechslung. Aber in mir schreit es: Ich könnte die ganze Welt erobern. Die entferntesten Länder erkunden, Abenteuer bestehen. Man würde mir mit Respekt und Achtung begegnen. Nicht nur Anton, den Bücherwurm, sehen, sondern Anton, der etwas aus seinem Leben gemacht hat. Anton, der erkannt hat, wann seine Chance gekommen ist.“

Er seufzt. Solche Gedanken sind ihm nicht ganz fremd. Nur fehlte ihm der Mut, sie überhaupt zu äußern.

„Darf ich fragen, weshalb du dich entschlossen hast, nach Deutschland zu immigrieren?“, überrascht ihn der Rothaarige mit ungewohnt ernster Miene.

Er rückt den Stuhl ein Stück zurück.

„Meine Eltern. Hier ist vielleicht eine Zukunft. Hier kann ich vielleicht studieren. Mir ein Leben aufbauen.“

Der Kumpel schweigt.

„Möchtest du hier bleiben?“

Er zuckt die Achseln. „Mal sehen. Die Ferne reizt mich schon.“

Plötzlich lachen sie beide.

„Ja, besser jetzt als nie.“

Dann ist Anton mit ein paar jüngeren Schülern beschäftigt. Hin und wieder verdreht er die Augen und lächelt ihn verschwörerisch an.

Er vertieft sich wieder in seinen Vortrag.

Würde doch wenigstens die Sonne scheinen! Tut sie das in der Heimat?

Warum ist er hier an diesem Ort? Wo möchte er wirklich hin?

***

„Hast du wieder an deinem Vortrag gearbeitet?“, fragt ihn die Mutter, als er mitten beim Abendessen nach Hause kommt.

Er nickt stumm. Der Vater ignoriert ihn demonstrativ. Leontij duckt sich auf seinem Stuhl, als fürchte er die nächste Eskalation.

„Worüber musst du ihn denn halten?“, bemüht sie sich um ein Gespräch.

„Cicero“, murmelt er müde.

Hungrig beißt er in die Kartoffeln.

„Und für welches Unterrichtsfach?“ Sie vermeidet es, ihn anzuschauen.

„Geschichte.“

Dann ist es still. Nur der Löffel schlägt immer wieder gegen den Tellerrand. Nur das Trinken gluckert den Rachen hinab. Keiner sagt ein Wort.

„Wann musst du den Vortrag halten?“ Ihre Stimme zittert auf einmal.

Ohne aufzusehen, erklärt er die nüchternen Fakten: „In der nächsten Woche.“

„Musst du noch viel machen?“

Der Vater ist fertig. Er legt seinen Löffel auf den Teller, rückt den Stuhl schabend über das Linoleum, räuspert sich und geht in die Küche.

„Ich bin erst am Anfang. Die Computer in der Bibliothek sind ziemlich langsam. Außerdem kann ich nur am Nachmittag ungestört dort arbeiten.“

Der Vater findet das irgendwie lustig.

Doch auch er kann ignorieren. Eiskalt den Menschen leugnen, den er am meisten verachtet, dem er die Schuld gibt für sein Elend.

„Dann ruhe dich jetzt aus“, legt sie mitleidig ihre warme Hand auf die seine.

„Hm“, brummt er und bringt ebenfalls seinen Teller in die Küche.

„Was machst du noch so spät?“, beugt er sich verblüfft über seinen Bruder. Die kleine Nachtlampe brennt über dem schmalen Schreibtisch, an dem gewöhnlich er die Hausaufgaben erledigt.

„Ich male“, antwortet der Kleine wie nebenbei.

„Zeigst du es mir?“, kniet er sich daneben.

Unbeeindruckt setzt sein Bruder sein Werk fort.

„Vielleicht wenn es fertig ist.“ Liebevoll streicht er ihm über das blonde Haar.

Wie viel bedeutet ihm doch diese zarte Seele! Was wäre sein Leben nur ohne sie?

Er legt sich der Länge nach auf sein Bett und lernt ein bisschen Vokabeln.

„Wann sprecht ihr wieder miteinander?“, hört er plötzlich die Stimme des Jungen ganz deutlich.

Überrascht legt er das Heft zur Seite. Sie schauen sich an.

Hat Leontij etwa geweint? Und was noch schlimmer ist: Hat er es nicht einmal bemerkt?

Oh, wie das Herz ihm da schwer wird! Wie es sich wie Tonnen aus Stein anfühlt! Wie das in seiner Brust zieht und reißt!

Wie kann er diesen Engel unglücklich machen?

„Ich hoffe bald“, gesteht er tonlos. Im selben Augenblick begreift er, dass sein Bruder ihn beim Wort nehmen wird.

„Das ist für dich“, wischt der sich die Tränen aus dem Gesicht und reicht ihm sein Bild.

Das zeigt den Vater, die Mutter, Leontij und ihn.

„Warum stehe ich so weit am Rand?“, fragt er getroffen.

Die großen blauen Augen weiten sich fast schmerzhaft.

„Willst du uns verlassen, Vladislav?“

„Aber Leontij, wie kommst du nur darauf? Natürlich nicht!“, ruft er hilflos.

„Na ja, ich sehe dich auch bloß noch selten. Und wenn du da bist, schweigen sie alle. Und ich habe Angst davor, dass jemand etwas sagen könnte. Weil ihr doch wieder streitet.“

Schluchzend drückt sich der Kleine an ihn.

Was kann er nur sagen zu dem zerbrechlichen Geschöpf? Wüsste er doch selbst eine Antwort!

***

Diesmal wartet sie schon, als er kommt. Lächelt schüchtern mit glänzenden Augen.

Er stellt sich ein Stück entfernt, lächelt ebenfalls.

Ihre Augen halten ihn fest.

***

Die Lehrerin teilt die Kontrollen aus. Nicht einmal die Fragen hatte er wirklich verstanden. Dabei hatte er sogar am Abend zuvor gelernt!

Beinahe triumphierend überreicht sie ihm sein Geschriebenes. Oder bildet er sich das ein?

Auf einmal mag er schreien, mag er brüllen, mag er um sich schlagen oder still, allein in seinem Zimmer sitzen.

Er schämt sich so.

***

Sie reichen die Pfeife herum. Die Luft steht schon ganz dick. Es schmeckt ein wenig süßlich, ist ein im Grunde penetranter Geruch, der schon jetzt ihre Kleidung bis auf die Haut durchdringt. Nicht einmal ekelerregend, sondern fremd. So fremd wie er.

„Ukrainer, hast du noch nie gekifft?“, fragt ihn einer durch die Schwaden.

Sie lachen. Allesamt hämisch mit Schleiern vor den Augen. Benebelt von dem Gift.

Er inhaliert erneut so stark, dass er zu husten beginnt. Kann dieses Laster nicht endlich seine Schmerzen nehmen?

„Hast du schon einmal etwas Verbotenes getan?“ Der Asiate mit den Pickeln wird immer lauter.

Sie starren sich finster an. Manchmal ist es besser, nichts zu sagen. Gerade dann, wenn alles von Anfang an falsch ist. Nicht mehr als einer Schwäche geschuldet.

***

Wie besessen, fasziniert beobachtet er ihren leichten, schwungvollen Gang. Lächelnd malt er in Gedanken ihr Gesicht, wenn sie hochkonzentriert über ihren Aufgaben sitzt. Die gerade, fast vornehme Nase, die hohen, zarten Wangenknochen, die langen dunklen Wimpern, das schwarze lockige Haar.

Seine Augen wandern weiter. Den schmalen Hals entlang, die zarten Schultern weiter. Wieder zurück. Weil ein neues Detail auftaucht. Weil alles so wichtig scheint. Jeder Millimeter in seinen Kopf sich drängt. Jede kleinste Gestik eine Bedeutung erhält.

Weil ihr Körper Perfektion ist, die perfekter Begutachtung bedarf.

Weil er stundenlang am Abend diese Erinnerungen wie einen Spiegel vor seinen Augen Revue passieren lässt. Weil er von ihren weichen Lippen, deren sanftem Lachen nie sich satt sehen kann. Weil er fast abwesend, instinktiv, nicht einmal errötend den Blick abwendet, wenn ihre Freundinnen ihn missmutig ertappen.

Weil die Zeit endlich ist, wenn sie sich wie eine Endlosigkeit anfühlen möchte. Weil das Glück so viele Grenzen hat.

***

„Wie geht es dir, mein Freund?“ Wenigstens hat man ihn daheim nicht vergessen. Außerdem ist es schön, zumindest heimlich die vertraute Sprache zu benutzen. Fast fürchtete er schon, er hätte sie vergessen.

„Ich lebe“, schreibt er zurück und fügt noch so einen zwinkernden Smiley hinzu.

„Wir vermissen dich“, heißt es dann nach einer Weile.

„Ja, ich euch auch.“ Dennoch mag ich nicht zurück, denkt er leise.

„Wie sind die deutschen Mädchen?“, liest er schließlich.

Seine Wangen färben sich augenblicklich rot. Augenblicklich fühlt er das brennende Verlangen, die süßliche Erinnerung an die wenigen bedeutenden Minuten.

Sein Magen wird plötzlich flau.

Er könnte erzählen von der Rose, für die er diesmal die Tür aufgehalten hat. In der Zeit musste die ganze andere Welt mürrisch warten, wertvolle Sekunden verstreichen lassen.

Er lacht innerlich.

Er könnte endlich jemandens Meinung zu ihrem dankbaren, so freundlichen Lächeln hören. Oder lag da mehr in diesem Blick?

Oder er könnte sich einmal bestätigen lassen, dass sich alle Ängste, die ihn durchströmt haben, als sie plötzlich ihr Tempo beschleunigt hat, beseitigen lassen. Jemand könnte ihm bestätigen, dass sie es aus übermannender Verliebtheit, nicht aber aus Ablehnung oder gar Desinteresse getan hatte.

Für einen kurzen Augenblick hatte er erwägt, sich ganz in den Fokus ihrer Aufmerksamkeit zu bringen. Ein nettes Wort für sie zu finden, ein erstes Gespräch zu beginnen.

Darüber könnte er philosophieren, einem geduldigen Zuhörer mit seinen Gefühlen überschütten.

Allerdings wäre dieses kleine Wunder dann kein Geheimnis mehr.

***

Die Ferien rücken näher und damit die Zeit für ein Wiedersehen. Werden sie sich noch so nahe sein, wie damals, als er fortgegangen ist? Oder werden sie anfangs verlegen nach den Worten suchen? Werden sie verlegen schweigen, wenn die Distanz auch zwischen ihre Erinnerungen getreten ist?

***

Damals war er ein fleißiger Schüler gewesen. Nicht einer der allerbesten, doch wahrlich nicht schlecht. Er hatte fleißig Sinnvolles gleichsam wie vollkommen Abstruses auswendig gelernt, rezitiert, auch mehrmals, wenn es verlangt worden war.

Die Mitschüler hatten ihn gemocht, weil er nicht wie die absoluten Genies hochnäsig über die Dummheiten hinweggesehen hatte, sondern weil er mit ihnen sich für kein Lachen zu schade gewesen war.

Eine Niederlage folgt der nächsten. Endlich ist es Zeit, einen Traum zu verwirklichen. Aber anstelle des lang ersehnten Glücks stellen sich viel größere Hürden in den Weg. Vielleicht sind sie sogar unüberwindbar.

In Deutschland ist er plötzlich einer der Schüler mit der Note ausreichend. In Deutschland kann er lernen, ab und an mit flauem Magen gedanklich dabei abdriften, doch das vermindert nicht sein Scheitern.

In Deutschland sehen nun plötzlich selbst jene Schüler, die selbst im Grunde keinen Grund zu Überheblichkeit hätten, auf ihn hinab.

In Deutschland wird gelacht, wenn er stotternd fremde Sätze liest. In Deutschland wird gestöhnt, wenn er schwerfällig die neu erlernten Englischvokabeln einbringt. In Deutschland werden irreführende Fragen an ihn gerichtet, wenn er gerade seinen Vortrag mit Erleichterung abschließen möchte.

In Deutschland – so scheint ihm – kehren sich alle Dinge um und so verliert er jede Lust, jede Motivation, ein Stück von Hoffnung.

***

Er sieht sie von der Seite an. Seine Augen durchstechen ihr zartes Profil.

Es ist der letzte Tag, bevor er für kurze Zeit in die Heimat reisen wird.

Sie ist der einzige Grund, der seine Freude darauf etwas mindert. Zwei Wochen können eine unendlich lange Zeit sein. Man kann denken, träumen, wünschen. Man kann überdenken, zweifeln und vergessen.

Wird sie ihn vergessen? Wird sie an ihm zweifeln? An ihm und dem, das dort zwischen ihnen brennt? Wird sie es verlachen, wird sie glauben: Das ist genug, nun wieder der Ernst des Lebens?

Oder wird sie schmachtend jeden Tag die Stunden zählen? Hoffen, warten und fast verrückt wieder und wieder Erinnerungen heraufbeschwören? Sich an sie klammern, weil sie das einzige sind, das ihr erhalten bleibt? Das einzige, das man zurücklassen kann, wenn es noch nicht mehr ist als eine visuelle Sympathie?

Durch Zufall stehen sie nebeneinander. Wahrscheinlich sind sie sogar gleichzeitig gekommen. Hat sich das ganz einfach von selbst gefügt. Ihre Arme berühren sich.

Der Startschuss fällt. Alle rennen. Auch sie. Auch er.

Den Sportunterricht wird er ein ganz kleines bisschen vermissen. Dabei lässt sich sein Lehrer diesmal vertreten. Nur dadurch erhält er diesen anderen Genuss.

Er bleibt als einziger auf dem Spielfeld. Die anderen sind schon geschlagen, liegen schon erschöpft vom vielen Laufen am Rand.

Sie ist die nächste aus dem anderen Team. Sie steht daher auf der anderen Seite. Ist sein Feind, vermutlich sogar diejenige, die ihn des Momentes des Triumphs berauben wird.

Er schlägt Haken, windet sich, versucht, den einen Moment hinauszuzögern. Ach, wie frei fühlt sich das an, wenn alle gebannt ihm folgen!

Sie kommen näher. Ein zweites Mädchen unterstützt sie nun. Er sucht ihre Augen, sucht nach etwas, das ihn retten könnte. Wird sie es machen? Wird sie ihn töten, weil es dieses Spiel erfordert? Doch sie hat die Lider gesenkt, als sie bereits vor ihm steht.

Vom Spielfeldrand her hört er Schreie.

„Los, Jasmin, das schaffst du! Den hast du sicher!“

Auf einmal fängt sie an zu keuchen. Sie reißt die Augen weit auf, schaut ihn direkt an. Er hält an. Er hat verloren. Ihr Blick ist traurig, verlegen. Und sie hält an.

„Jasmin, vorwärts! Die Zeit, die Zeit“, brüllen sie, „Nur eine Sekunde!“

Sie stützt die Arme in die Flanken, ringt nach Atem. Er wünscht, dass er ihr helfen könnte. Was hat sie nur? Andererseits ist wohl er selbst das Problem.

„Was soll das denn jetzt?“, schreien einige irritiert und tippen sich an die Stirn.

Ihr Blick wird fest. Kompromisslos.

Sie hat schließlich keine andere Wahl.

Mit zusammengekniffenen Augen dreht sie sich abrupt zu jenen, die sie für ihr Zögern zur Verantwortung ziehen werden. Sie öffnet den Mund.

Da trifft ihn das zweite Mädchen mit der Hand. Die Gegner brechen in lautes Jubeln aus.

Sie setzt sich hin, drückt sich mit den Fingern fest gegen die Schläfen.

Unschlüssig steht er neben ihr. Kein Wort verlässt seine Lippen. Er kommt nicht einmal auf die Idee, sie zu fragen, ob er ihr helfen könne.

„Warum hast du ihn nicht gefangen?“, fragt das andere Mädchen.

„Bist du blöd! Wegen dir hätten wir beinahe verloren!“, spricht sie ein Junge böse von der Seite an.

Sie senkt die Hände, starrt vor sich hin. Mit bleichen Wangen, mit kleinen Schweißperlen auf der Stirn. So bleich und leer wie der Tod.

„Jasmin, geht es dir gut?“ Die Lehrerin hilft ihr auf.

Sie nickt stumm.

„Ich konnte irgendwie nicht. Dabei ist es nur ein Spiel“, murmelt sie ganz leise, als sie ihn im Vorbeigehen streift.

„Na Meister der Hakenkünste, warum hast du eigentlich gestoppt?“, klopft ihm jemand aus seinem Team auf die Schulter.

„Das war schon ein sehr eigenwilliges Bild. Bleibt ihr beide einfach stehen, als würdet ihr das Spiel bewusst blockieren.“ Der Junge lacht.

„Ja, das hat bestimmt komisch ausgesehen“, muss er nun auch lachen. „Aber ich habe ihr vertraut.“ Plötzlich wird er sich der Worte bewusst, schweigt ernst.

„Du hast gesehen, wohin das Vertrauen führt. Wenn nicht sie, dann eben die andere“, schelten sie ihn.

Das ist die Erinnerung.

***

„Was machst du in den Ferien, Vladislav?“ Er reicht Anton die Bücher zurück. Der will sie anfangs gar nicht annehmen.

„Und danke“, sagt er ihm.

Sie setzen sich kurz in die Ecke, wo der Rothaarige einen Kaffee abgestellt hat.

„Ich reise nach Hause“, seufzt er.

„Verstehe. Vermisst du das sehr?“, schlürft Anton etwas. Er hält den Blick nach vorn gerichtet.

„Ja, ich denke schon.“

Gemeinsam schauen sie aus dem Fenster zu den Pflastersteinen, wo die ersten bunten Blätter liegen.

„Ich bleibe in Deutschland“, holt der Kumpel ihn zurück.

„Was machst du dann?“

Er stellt die Tasse wieder ab.

„Arbeiten, was sonst? Ich möchte meine Freiheit. Deshalb muss ich sie mir verdienen.“

„Eine Freiheit, die Geld kostet?“, schmunzelt er.

Der andere bleibt jedoch ernst.

„Jedes Glück hat seinen Preis. Ohne Geld kannst du Gedanken haben, so lange, wie ein Tag reicht. Du kannst träumen, ganze Luftschlösser bauen. Du kannst ihnen zusehen, wie sie durch nüchterne Realität zerfallen. Ohne Geld bist du nichts, Vladislav. Nicht auf dieser Welt.“

Er schweigt. Wäre er freier, wenn er nicht mehr die Eltern für jede Kleinigkeit anbetteln müsste?

„Du lebst von deinen Eltern. Bei mir verhält es sich ganz ähnlich. Wenn sie mit meinen Vorstellungen nicht konform gehen, können sie mir ganz einfach den Geldhahn zudrehen.“

Er nickt. Gewiss ist das wahr.

„Aber bist du dann frei, wenn du unabhängig dein Leben führst?“

Anton stutzt, mustert ihn mit glasigem Blick.

„Ich mag dich, Vladislav. Du schaffst es immer wieder, mich zum philosophieren zu bringen.“

Er lächelt verhalten. Merkwürdig, denn Philosophie ist gar nicht seine Art.

„Wo arbeitest du?“

Der Kumpel lacht.

„Was denkst du? Kannst du dir Anton ohne Bücher vorstellen? In einer Bibliothek natürlich! Hoffentlich werde ich dort mehr Menschen kennenlernen als hier in diesem kleinen Loch.“

Er leert seine Tasse.

„Ist es in der Ukraine schon sehr kalt?“

„Vermutlich“, zuckt er mit den Schultern.

„Ich hoffe, dass wir uns nach den Ferien wiedersehen werden“, erklärt Anton plötzlich, als er in Richtung Tür strebt.

Er stoppt.

„Ja, das wäre schön. Ich würde dich auch gerne in deiner Bibliothek besuchen, aber da bin ich viel zu weit entfernt.“ Sie stehen direkt voreinander.

Anton rauft sich das rote Haar.

„Na dann, passe auf dich auf! Guten Flug und so.“

2 Die Rückkehr

Der Onkel winkt ihm am Flughafen zu. Irgendwie hat er das Gefühl, diese Situation schon einmal erlebt zu haben.

„Bist du gewachsen?“, begrüßt er ihn wie beinahe jedes Mal. „Aus dir ist ein richtiger Mann geworden.“

Stolz lächelt er den Bruder des Vaters an. An dessen Schläfen schimmert das kurze lockige Haar schon weiß. Er ist zwei Jahre älter als der Vater. Aber das schmale, friedliche Gesicht, das stets mit einer Mischung aus Belustigung und Zärtlichkeit in seine Augen blickt, lässt ihn bedeutend jünger wirken.

Plötzlich sieht er auch wieder ihre dichten Locken vor seinen Augen. Im Flugzeug sind seine Gedanken immer wieder zu ihr, den letzten Momenten, dem Anfang, dem Feuer gekreist. Immer wieder hat er gehofft, dass sie auf einmal neben ihm auftauchen würde. Nur ein weiteres Mal.

Das Auto knattert und klappert, während sie über die schmalen, unebenen Straßen fahren.

Der Onkel pfeift dabei fröhlich, kurvt um die Schlaglöcher, lacht, wenn der Atem kurz aussetzt und das Auto springt.

„Wie geht es der Großmutter?“, erkundigt er sich.

Andrii stellt das Radio leiser. „Sie freut sich, dich wiederzusehen.“ Dabei verdreht er verschwörerisch die Augen. Jeder weiß, wie gerne die Großmutter ihre Enkel hat. Da sie sie so selten nur noch zu Gesicht bekommt, lässt sie sie in den ersten Momenten gar nicht mehr von ihrer Seite oder aus ihren Armen. Darauf folgt für jeden Einzelnen eine wohl gemeinte Liste aus Ratschlägen, Kritik und Verbesserungsvorschlägen für das Leben.

Sie lachen beide. Ohne direkten Grund. Bloß des Lachens wegen. Bloß, um ihre Anspannung, die Distanz zwischen ihnen zu maskieren.

Früher hatte der Onkel ihn mitgenommen, wenn er in die Stadt gefahren ist, ihn an den Schaufenstern der Spielwarengeschäfte staunen lassen. Sie waren über die Felder getobt. Sie hatten Fußballturniere gespielt. Andrii stets als Schiedsrichter für die Dorfjugend.

Er konnte Geschichten erzählen, wusste bestens über die Menschen Bescheid.

So war er lange Zeit über ein Vorbild für ihn gewesen. Ganz anders auch als der Vater. Viel liebevoller in seinem Wesen, viel humorvoller.

Großmutter schließt ihn so fest in die Arme, dass er fast fürchtet zu ersticken. Ganz langsam legt er seine Hand auf ihr lichtes, schlohweißes Haar.

„Wie geht es dir, Großmutter?“ Sie drückt ihren Kopf noch fester an seine Brust, reibt mit der Stirn hin und her.

„Ich muss euch stärker festhalten, damit ihr nicht wie die Sandkörner in alle Richtungen euch verteilt, während ich hier einsam sterbe.“

„Dafür bist du ohnehin noch viel zu jung!“, bemüht er sich, sie zu beruhigen.

„Was macht mein Sohn in seiner neuen Heimat?“, verlangt sie schließlich über den Vater zu wissen.

Was würde sie wohl sagen, wenn er ihr erzählte, wie schwer er ihn hat überreden können, ihm überhaupt diese Reise zu gewähren? Schließlich solle er an die Kosten denken. Es gebe genug Arbeit in der Firma. Habe er denn nicht eigenes Taschengeld?

„Er arbeitet viel“, antwortet er daher vorsichtig.

Sie richtet sich in ihrem Schaukelstuhl auf.

„Setz dich doch, mein Junge!“ Die grau-blauen Augen wirken plötzlich müde.

Schwerfällig setzt er sich auf einen Plastikstuhl.

„So, er arbeitet viel...“ Ihre Augen funkeln neugierig.

„Ist er denn auch ausreichend für seine Familie da?“ Die Großmutter hat einen scharfen Verstand!

Verlegen faltet er die Hände ineinander.

„Ja, Großmutter.“

Sie lacht schallend, dass man meinen könnte, das ganze Haus würde beben.

„Junge, Junge, du bist ein schlechter Lügner! Sein Vater hat auch immer gearbeitet. Für Frau und Kinder gab es selten Zeit. Die hatten nur mich als Mutter. Tja, schlecht ist es ihnen gewiss nicht ergangen.“ Sie wippt zufrieden mit dem Stuhl.

„Aber alles nur für diese Illusion eines besseren Lebens.“

„Hast du noch starke Rückenschmerzen?“, versucht er ungeschickt das Thema zu wechseln.

„Hör mal: Ich bin zwar 87 Jahre alt. Doch dank der Tabletten, die mir mein Sohn geschickt hat, hüpfe ich wie in jungen Jahren.“ Tatendurstig trommelt sie mit den Fingern.

„Leontij hat ein Bild für dich mitgeschickt.“

Zusammen schauen sie auf die farbenfrohe Zeichnung des Fünfjährigen. Zusammen entwirren sie große moderne Autos, Flugzeuge und ein Herz für die Großmutter.

„Warum hast du ihn nicht mitgenommen?“, seufzt sie traurig. Den Jüngsten ihrer drei Enkel hat sie besonders gern.

„Großmutter, das geht nicht. Im Sommer werden sie dich besuchen. Das weißt du doch“, besänftigt er.

„Ja, ja, ihr jungen Menschen glaubt, dass ihr alle Zeit der Welt hättet. Aber mein Leben könnte mit jedem Tag enden. Erinnere dich an deinen Großvater. Wie er einfach beim Frühstück eingeschlafen ist.“

***

„Wie geht es der Mama, Vladislav?“, fragt ihn die Tante mit ihren ernsten Augen.

„Deutschland gefällt ihr“, lügt er und verschweigt die stummen Tränen der Sehnsucht.

„Kommst du in der Schule gut voran?“, mischt sich Andrii ein. In diesem Punkt ähnelt er seinem Bruder.

„Es geht“, weicht er aus. „Es könnte besser sein!“

***

Sie stopfen sich Bonbons in den Mund, während die amerikanischen Actionhelden auf der Leinwand die Welt retten.

„Er hätte sie töten müssen! Ich verstehe nicht, weshalb er stattdessen das Risiko eingegangen ist, selbst zu sterben...“, ereifert sich Pavlo, sein bester Freund seit dem ersten Schultag.

Vielleicht ist zu viel Blut geflossen“, zitiert er die junge Witwe des Spielfilms.

„Ich hätte das nicht getan! Du siehst doch, wie der Feind solche Verweichlichung zu seinem Vorteil ausnutzt. Ein wahrer Mann weiß sich zur Wehr zu setzen!“

Sie starren schweigend auf die Straße. Kein Bus ist weit und breit erkennbar. Wahrscheinlich müssen sie in ihr Dorf laufen.

Nachdenklich beschäftigt er sich mit dem Film. Hätte der Kriegsheld tatsächlich am Ende die Feinde töten sollen? Er hatte die Macht, er hatte den Ruhm und die Möglichkeit, in seiner Heimat damit noch mehr zum Helden zu werden. Aber es gab in seinem Leben nur Blut. Schon der grausame Mord an den Eltern hatte ihn zur Kampfausbildung bewogen. So war er zu einem sehr geübten, gar unschlagbaren Krieger geworden.

Doch genau in dem Moment, in dem er den Vater eines ungeborenen Kindes, die Trauer einer jungen Witwe hätte rächen können, trennt er sich vom Handwerk des Tötens und stirbt selbst.

„Viel zu schwere Thematik! Wir sollten auf den zweiten Teil warten“, holt ihn Pavlo zurück. Die Sommersprossen leuchten wie kleine Punkte auf dessen runden Wangen.

Der Wind weht eisig. Der Herbst ist bereits eingekehrt. Daher zieht er den Kragen seines Anoraks noch höher.

„Wirst du jetzt für immer dort bleiben?“, bricht der Freund schließlich die Stille.

Er seufzt tief. Alles fühlt sich irgendwie schwer an, seitdem er zurückgekehrt ist. Denn ein Teil von ihm ist nicht mitgereist.

„Ich weiß nicht“, gesteht er deshalb ehrlich. „Auf jeden Fall werde ich nicht mehr hierher zurückkehren.“

***

Am Abend spielen sie ausgelassen mit den Karten. Der Alkohol lockert die Zungen und lässt so manchen sonst Schweigsamen fröhlich singen.

„Deine Cousine wird uns morgen besuchen. Sie hat oft nach dir gefragt“, kündigt der Onkel mit hochrotem Kopf und einem unverschämten Grinsen auf den Lippen an.

Er spürt, wie er errötet. Die Cousine ist schon immer ein wenig sonderbar gewesen. Als wäre er ihr kleiner Bruder, ihr Kind, das sie bevormunden müsse. In Deutschland schien sie ihn dann vergessen zu haben. Das war ihm ganz recht.

Er denkt wehmütig an Jasmin.

***

Sie trägt ein weißes Kleid und lächelt ihr schönstes Lachen. Das, wenn die Grübchen an ihrem zarten Kinn weich mit den Wangen verfließen. Wenn sich kleine Fältchen unter den dunklen Augen bilden. Die Locken umspielen ihr Gesicht wie Licht, das sich in tausend Farben zerlegt. Ganz langsam blickt er hinunter bis zu ihren Füßen. Sie geht barfuß. Auf ihren nackten Zehen lagert sich der Tau.

Fröhlich springt sie vor ihm durch die langen Ähren der Getreidepflanzen, tanzt sie für ihn. Sie streifen durch die weiten Felder, über die kleinen Hügel. Sie ist bei ihm – überall.

Verzaubert folgt er ihren entzückten Rufen, wärmt er sich an ihrem Glück, das so unendlich scheint.

Ganz plötzlich reißt der krachende Blitz eines tosenden Gewitters den Moment entzwei. Regentropfen prasseln auf sein vollkommen durchnässtes Haar.

Während er erschrocken nach ihrer Hand greift, starrt sie ernst auf die hängenden Köpfe der Ähren.

„Vielleicht ist zu viel Blut geflossen“, erklärt sie dann. Auf ihren Lippen liegt ein Schmerz, zerrt er das Glück aus ihrer zarten Seele, dass er zu frösteln beginnt.

Es hagelt. Sie beginnen zu rennen, einen Schutz zu suchen.

Auf einmal ist es still. Totenstill. Mit vor Angst pochendem Herzen schlägt er rasch die Augenlider auf. Es ist einfach nur hell und unheimlich, gar beklemmend still. Und er ist allein.

***

Der Geschmack der Heimat hat seine Einzigartigkeit verloren.

Die bröckelnde Fassade des einstigen Schulgebäudes lässt ihn gleichgültig bleiben. Die Straßen sind nicht mehr als Staub, Zeichen bitterer Armut.

Selbst die Kirche wartet seit Jahren auf Gelder. Die Mauern zerfallen vor sehenden Augen.

Dennoch liegen hier seine Wurzeln. Dennoch spricht man hier seine Sprache. Dennoch teilt man hier seine Erinnerungen – die guten wie die schlechten.

Deswegen sieht er nicht nur den Zerfall von Gebäuden, die Tristesse einer traurigen Wahrheit, sondern die Steine erzählen eine Geschichte. Es ist seine Geschichte. Es sind seine Hoch- und Tiefpunkte. Es ist sein Leben, bevor er fortgegangen ist.

Doch durch seine Adern fließt nach wie vor das Blut des Ortes, ist ganz fest verankert in seinem Herzen. Der andere Teil seiner Seele sehnt sich unterdessen unentwegt, schmachtend zurück nach den Perlen eines neuen Lebens.

Immer wieder erhascht er in Gedanken ihre Blicke. Feurig. Warm. Und unerreichbar. Mit jedem Gedanken werden sie schöner, perfekter, unerklärlicher.

Immer wieder brennt sein Herz in der Brust wie ein endlos Sehnender auf der Suche nach Vollkommenheit.

Es ist wahr, dass die Liebe krank macht. Sie benebelt den Verstand. Sie quält mit ihren unstillbaren Wünschen. Sie treibt uns in der Hoffnung auf das Wiedersehen.

„Du bist ziemlich schweigsam geworden“, reißt ihn Andrii aus der Wehmut einer Leidenschaft.

„Verträumt ist der Junge. Woran soll sich sonst schließlich die Jugend wärmen?“, verteidigt ihn die Tante mit einem verbündeten Lächeln, das er unsicher erwidert.

„Ja, ja. Wir müssten alle nach Europa“, seufzt der Onkel, scheint tatsächlich von Traurigkeit erfasst.

„Wenn dieses Abkommen geschlossen wird, wird es hier endlich auch bergauf gehen“, prophezeit die Tante, die offenbar nicht so viel von dem Übersiedeln hören möchte.

Dabei wird seit so vielen Jahren verhandelt, dass er mittlerweile den Glauben an ein Freihandelsabkommen verloren hat.

***

Die letzten Tage sind eine Qual. Sein Herz zerspringt in der Brust, zerreißt in tausende Scherben mit jeder Stunde, jeder Minute, jeder Sekunde, die er ohne sie verbringen muss.

Er könnte schlafen. Einfach schlafen, schlafen, schlafen, bis die Zeit gekommen ist.

Eines Tages würden sie Hand in Hand an den Häusern vorbeigehen. Nach und nach würde er sie in die Geheimnisse des Dorfes einweihen. Sie säßen zwischen den Getreideähren, wo er in glücklicher Kindheit mit den Freunden umher getobt ist. Dann könnte sie allmählich verstehen, weshalb er zwar diesen friedlichen Ort verlassen hat, in Deutschland jedoch ewig ein Fremder bleiben wird.

***

In der letzten Nacht schläft er fast gar nicht. Der Schalter ist wohl defekt.

Hat sie ihn auch mit solcher Verzweiflung vermisst? Hat sie auch an ihn zuletzt beinahe minütlich denken müssen? Denn ist die Sehnsucht eines Liebenden nicht eine Krankheit? Frisst sie ihn nicht mit ihren Sorgen und Ängsten, raubt den Schlaf und schafft die Träume?

Wird sie ihm einen festen Platz in ihrem Leben gewähren? Wird er tiefer und immer tiefer dieses ergründen dürfen? Oder wird sie ihn vergessen haben wie ein altes, nun langweiliges Märchen?

Am Anfang bemerkt sie ihn fast gar nicht, während er bloß mühsam beherrscht, beinahe jede Regung von ihr einfängt. Sie redet mit ihrer ernsten Miene mit ihren Freundinnen, die wieder nur albern kichern. Hin und wieder lacht sie, ein wenig schüchtern. Aber er scheint in ihrer Welt nicht mehr zu existieren.

Schon trifft es ihn daher wie zuckender Schmerz, reißt es an seinem Herzen, das ohnehin blutet. Warum hat er ihr seine Träume geschenkt, haben für ihn die Erinnerungen solch Bedeutung, während sie sie in nur zwei Wochen zu vergessen haben scheint?

Hat sie nicht genauso wie er das Gefühl gehabt zu schweben, wenn alle anderen mürrisch ihrer Wege gehen? Hat sie nicht genauso wie er lächeln können über die kleinen Fehler? Hat sie nicht auch die Tage gezählt, die Minuten gezählt, in denen sie sich begegnet sind? Und sei es nur für einen einzigen Blick. Sei es nur für ein kurzes Vorbeigehen. Doch war nicht das jenes, das am Ende zählt?

Selbst als sie vor dem Kunstraum warten, läuft sie vorbei, ohne ihn wahrzunehmen. Ist er gar unsichtbar? War alles nicht mehr als eine Illusion? Ihr Lächeln einzig und allein für ihn? Die wärmenden dunklen Augen? War all das nichts als Hirngespinst?

Oh wie schmerzvoll, wie grausam ist doch diese Welt!

Wäre es lediglich ein einziger Blick, den du mir schenktest! Eine einzige kurze Aufmerksamkeit. Ein einziges Zeichen, dass ich nicht allein verbrenne. Ich wäre geheilt…

Vielleicht fühlt sie irgendwann sein stummes, verzweifeltes Flehen. Vielleicht fühlt sie plötzlich seinen eindringlichen Blick. Vielleicht bricht auf einmal der Widerstand in ihr, als die Woge der Verbundenheit, die Erinnerung an die Einzigartigkeit sie stehen bleiben lässt.

Nein, wir haben uns nicht vergessen! Nein, wir haben uns nicht verloren! Ich bin für dich zurückgekehrt.

Wahrscheinlich hat die Distanz mit ihrer Irrealität von Träumen und quälenden Sehnsucht mehr Brücken geschaffen, als zuvor vorhanden. Wahrscheinlich treibt der arge Verdacht, dass die nächsten Trennungen nicht weniger schmerzlich verliefen, sie immer enger zusammen.

Selbst sie kommt jeden Morgen nun zeitiger. Zufällig warten sie jedes Mal nahe beieinander.

***

Alexej, sein russischer Kumpel, möchte nicht länger gegen Lehrer, die willkürlich schlechte Zensuren vergeben und so Zukunftswege verbauen, kämpfen.

„Ich bleibe noch einen Monat, Vladislav. Dann lasse ich das alles hinter mir und beginne von vorne. Die werden mir mein Leben nicht weiter zerstören.“

Er knirscht mit den Zähnen. Müde sieht er aus. Die hohe, fahle Stirn liegt in Falten. Augenringe hängen tief auf seinen Wangen.

Er schweigt. Nachdenklich. Traurig. Sie haben sich gut verstanden.

„Du gibst auf?“ Seine Blicke durchbohren den Freund.

Der lacht traurig. „Ich laufe hier gegen Wände. Das hat alles keinen Sinn. Das ist bloß reine Zeitverschwendung. Ich mag frei sein. Verstehst du das? Das hier ist jedoch wie ein Gefängnis!“

Sie schweigen beide betreten.

Das ist ein Thema, das er für sich lieber von sich schiebt.

„Warum soll ich es mir so schwer machen, Vladislav? Woanders kann ich in drei Jahren viel mehr erreichen! Ich kann sogar noch leben nebenbei.“

Er hält den Kopf noch immer gesenkt.

„Am Ende werde ich einen besseren Abschluss erhalten. Niemand wird sich später dafür interessieren, wo ich ihn erworben habe, in welcher Zeit, mit welcher Mühe. Die machen uns kaputt hier. Die wollen uns zu Maschinen erziehen. Arbeiten, lernen, schlafen – wenn überhaupt. Aber wir sind jung. Uns gehört fast die gesamte Welt. Wir können sie erobern. Doch dafür benötigen wir Kraft. Genau diese rauben die mir hier.“

Da weiß er nichts zu erwidern. Zu bekannt sind ihm die Argumente. Alexej hat auch kein Mädchen, von dem er nicht gehen kann.

„Wir haben nur ein Leben, Vladislav! Warum bleibst du eigentlich? Ich sehe, wie sehr du dich quälst. Sie legen dir Steine in den Weg. Sie lachen über dich. Dabei kannst du nichts dafür. Du hast nicht wie sie gestartet. Du bist ein Fremder. Lass uns gemeinsam neu anfangen!“

Er schluckt. Überrascht stellt er fest, dass anscheinend einige Menschen sogar Anteil an seiner Misere nehmen.

„Ich kann nicht“, haucht er leise. Und es klingt nach Erschöpfung, vielmehr als es ursprünglich sollte.

Der andere hebt verwundert die Augenbrauen. „Wieso?“

„Meine Eltern würden es nie zulassen“, versucht er ihn energisch abzuwehren. Das wäre sicherlich wahr.

„Du bist fast erwachsen! Sie können dich nicht mehr einsperren, nicht mehr nur über dich entscheiden“, entgegnet Alexej kühn.

Wenn der wüsste, wie wenig er zu Hause zu sagen hat. Wie schwer er sich schon täglich seinen Platz, selbst die kleinen Dinge erkämpfen muss.

„Nein, das ist unmöglich. Es wäre schön, wenn ich so unabhängig wäre. Allerdings ist das nicht der Fall. Um das eines Tages zu erreichen, bin ich hier. Ich hoffe, dass es schnell geht. Dann werden sie mich akzeptieren, so wie ich bin. Dann werden sie vielleicht sogar stolz sein.“

Der Kumpel sagt gar nichts dazu.

„Ich werde es schon schaffen. Ich arbeite schließlich fleißig.“

„Das ist mir nicht entgangen“, presst Alexej zischen zusammengekniffenen Lippen hervor. „Gehst du nicht manchmal zu weit? Ich meine, bist du denn glücklich?“

Jetzt muss er lachen.

„Wer ständig glücklich ist, weiß gar nicht, wie viel Wert sein Glück besitzt. Ich weiß, wofür ich kämpfe. Und ja, das macht mich stolz.“

***

„Na, hast du mir etwas mitgebracht aus deiner Heimat?“, grüßt ihn Anton fröhlich.

„Du bist immer noch so blass!“

Sie lachen beide. Er hatte sich schon darauf gefreut, den Freund wiederzusehen.

„Wie viel Menschen hast du in deiner Bibliothek kennengelernt?“, scherzt er zurück.

„Soll ich sie dir wirklich alle aufzählen?“, lacht Anton. Unter seine Auge legen sich winzige Falten.

„Also da war ein altes Ehepaar, das mich ganz schön zu beschäftigen wusste. >Wir suchen dieses Buch aus DDR-Zeiten. Wo finden wir das?< - >Gute Frau, leider ist diese Abteilung nicht mehr in diesem Haus.< - >Wieso das denn? Wollen Sie uns nun auch noch die Literatur rauben?<“

Er lacht einfach mit, obwohl er nicht ganz den Zusammenhang zur deutschen Geschichte begreift. Aber es ist schön, herzlich zu lachen. Es ist schön, mit jemanden zu lachen. Es fühlt sich einfach gut an, vertraut.

„Jetzt im Ernst: Hast du nur alte Menschen beraten dürfen?“, fragt er dann ganz ruhig.

Der Freund steht auf.

„Magst du eine Limo?“

Dann machen sie es sich richtig gemütlich. Vermutlich wird ohnehin niemand kommen und sie stören.

„Ein paar Kinder waren auch dabei“, grinst Anton.

„Und?“

„Das war es.“ Das Gesicht färbt sich plötzlich fast so rot wie das leuchtende Haar.

„Na dann, dann hat es sich wohl gelohnt“, zuckt er betont lässig mit den Achseln.

Kurz scheint Anton zu überlegen, ob er doch mehr erzählen soll, doch schließlich seufzt er nur kurz. „Ja, es hat sich wohl gelohnt. Sie wollen mich gerne in den nächsten Ferien wieder einstellen.“

„Zu Weihnachten?“, hebt er überrascht die Augenbrauen.

„Ich mag eh keine Familienfeiern. Da erreicht die Spannung eines ganzen Jahres ihren Höhepunkt. Verstehst du?“, verdreht er die Augen. „Außerdem wäre ich zu Weihnachten sogar zu Hause. Bloß davor und danach hätte ich mich geschickt aus der Affäre gezogen.“

Er blickt nach draußen, wo der graue November schon verfrüht seine Nebelschleier hingeschickt hat.

„Was machst du in den Weihnachtsferien?“, holt ihn Anton zurück.

„Was schon? Ich bleibe auch in meiner Routine. Urlaub in der Heimat.“

Der Freund nickt auf einmal ernst.

„Wie war es denn nun? Du hast noch gar nichts erzählt.“

Kurz schluckt er, hat im Grunde gar keine richtige Lust, sich zu erinnern. Dann fühlt sich sein Herz jedes Mal so schwer an, zerrissen in sich selbst. Gespalten wie seine Gedanken und Gefühle.

„Ich habe meine Freunde wiedergesehen, meine Familie. Das war sehr angenehm.“

Anton nickt noch immer ernst.

„Du sprichst nicht gerne über dich, nicht wahr?“

„Ich lebe nicht so gerne in der Vergangenheit“, gesteht er. „Ich warte, was die Gegenwart und die Zukunft für mich bereit halten. Ich suche noch nach dem richtigen Weg. Vielleicht ein richtiges Zuhause. Hier bin ich noch fremd, dort bin ich schon fremd. Das fühlt sich merkwürdig an.“

„In der nächsten Woche soll eine Komödie im Kino kommen. Hättest du Lust, mitzukommen?“, schlägt Anton plötzlich vor.

„Das wäre etwas für die Gegenwart zum Genießen“, fügt er grinsend hinzu.

„Wie teuer ist das?“, schießt es ihm beinahe panisch in den Kopf, da er sich keine Blöße geben möchte.

„Schülertarif. Ich lade dich ein.“

Beschwingt fährt er nach Hause, fühlt sich so wohl wie lange nicht mehr. Er denkt an Anton und an die Rose natürlich. An ihr Lächeln, ihre glänzenden Augen.

Ganz kurz fühlt er sich wie auf einer Insel aus Glück.

***

Weihnachten rückt näher. Eine Erkältung quält ihn nach der anderen. Doch sobald er zu Hause bleibt, das Grummeln des Vaters in den Ohren, zerrt ihn die Sehnsucht aus dem Bett.

„Du bist krank, Vladislav. Seit wann möchtest du freiwillig in die Schule gehen?“, mag ihn die Mutter eines Morgens aufhalten.

Er versucht, sie müde von sich zu schütteln. In Wahrheit ist er wirklich krank. Aber seine Krankheit trägt noch einen anderen Namen. Der ist viel reizender. Der lässt ihn gar nicht spüren, was ihn schwächt.

„Junge, Junge, mache mir doch das Herz nicht so schwer!“, gibt sie ihm hilflos auf den Weg.

Ja, wenn sie wüsste! Wie grau die verregneten Wintertage scheinen, ohne ihr Lächeln, ihr Lachen, ihr Gesicht. Die Augen, in denen er ertrinken könnte. Alles glänzt golden, solange er ihre Nähe teilen darf.

Doch in seinem Zimmer, mit einer Wärmflasche für den Bauch, einer großen Kanne Tee neben dem Bett, dazu die verschwitzte Luft des Krankenzimmers, da spielt ihm der Verstand zu übel mit.

Daher sitzt er nun hustend, schnupfend, lieber ein Stückchen weiter entfernt. Sein Herz hüpft vor Glückseligkeit. Glücklich darüber, dass er sie sehen darf, sie ihn mitleidig mit Blicken streift.

Ja, so fühlt es sich richtig an! Nur so kann er genesen.

„Wir machen uns einen schönen Mädchenabend. Eine Filmnacht“, beratschlagen die Freundinnen.

„Solange es keine Liebesfilme sind“, lenkt Jasmin ein.

„Magst du die nicht? Das ist doch so romantisch“, schwärmt eine der Freundinnen, die ganz nett wirkt.

Sie lacht. Es schockiert ihn irgendwie, denn es ist ein trauriges Lachen. Eine erfahrene Bitterkeit.

„Die ganzen Klischees“, verdreht sie die Augen. „Boy meets girl und happy end.“

Sie lacht erneut. „So ist das Leben nicht.“

„Das klingt aber hart!“, erwidert die Freundin beinahe schockiert.

Und hoffnungslos, schießt es ihm durch den Kopf.

Wer hat sie so verletzt, dass sie solch eine pessimistische Sichtweise besitzt?

„Wie dem auch sei, dann kann ich euch jedenfalls ungestört etwas erzählen“, kündigt sie plötzlich mit zartem Lächeln an.

Ihre Blicke treffen sich kurz. Er grinst wissend.

„Nicht mehr der andere?“, begreifen die Mädchen sofort.

Welcher andere? Hat er etwa etwas übersehen?

Ihre Wangen färben sich puderrot. Es ist ihr peinlich, dass er es erfährt. Das versteht er.

„Nein, das war eine Schwärmerei, eine Fantasie. Nicht mehr“, winkt sie eine Spur zu hektisch ab.

Hoffentlich sieht sie das wirklich so!

„Dich hat es wohl erwischt“, kommentiert jemand. „Wir müssen leiser sprechen. Dieser Vladislav schaut dauernd zu uns herüber. Irgendeine von uns hat ihn verzaubert“, kichern sie schließlich.

„Meinst du?“, fragt Jasmin auf einmal verunsichert.

„Sieh jetzt nicht dorthin! Vielleicht bist du diejenige, obwohl er nicht einmal ein Wort Englisch sprechen kann und ständig schlechte Noten bekommt.“

So denkt ihr also über mich?

Er packt schon seine Sachen, mag schon gehen, nicht mehr von diesen Wahrheiten hören. Die Rose gehört einem anderen…

„Wer weiß, wie es uns erginge. Eventuell hat er die Sprache nie erlernt“, verteidigt sie ihn.

Er dreht sich um. Flammen der Wut und Verletzung in seinen Augen. Wie Recht sie doch hat!

„Vielleicht benötigt er Unterstützung.“ Mit ihren unruhig gewordenen Blicken bittet sie ihn zu bleiben. Aber das ist unmöglich.

Wahrscheinlich haben diese Freundinnen Recht und er ist zu dumm, zu schlecht, zu ungenügend für ihr Leben.

Sie beißt sich auf die Lippen.

„Zensuren schaffen keine guten Menschen!“

Er geht.

***

„Du magst sie, oder?“ Der Junge, der sich neugierig nach seiner Heimat einst erkundigt hatte, folgt seinem schmerzhaften Blick. Ihre Augen streifen ihn wie immer flackernd, verunsichert.

Draußen schneit es. Seine Seele kocht.

***

Er fährt mit nach Österreich, um die Skipisten unsicher zu machen. Und um zu vergessen.

Die blondhaarige Freundin lässt ihn keine Sekunde aus den Augen. Ihr Blick ist voller Verachtung, als wäre er ein Nichts.

Ihm fehlt es bereits am zweiten Tag an Geld für das Essen. Einer seiner Freunde leiht ihm etwas. Abends rauchen sie heimlich das Gift.

Der Vater wird ihn hassen, wenn er das erfährt. Die Mutter wird bloß weinen,wie sie das neuerdings täglich tut. Anscheinend ist er für alle bloß eine Last.

Am vierten Tag fühlt er sich so schwach, dass er nicht mehr aufstehen kann. Vermutlich hält ihn das Fieber fest.

„Ski fahren wäre keine gute Idee“, schließt der Arzt die Untersuchung ab. „Wahrscheinlich haben Sie eine Erkältung verschleppt. Das kann bereits in Ihrem Alter gefährlich werden.“

Er versteht die Aussprache kaum. Er mag das Land mit den weißen Berggipfeln und den tiefen Tälern. Doch die Sprache ist ihm vollkommen fremd.

Daheim gibt es tatsächlich gleich Ärger.

„Nirgendwo kann man dich hinfahren lassen, ohne dass Probleme entstehen“, schimpft der Vater sofort, als er die Rechnung des Mediziners sieht. „Du wirfst unser Geld einfach zum Fenster hinaus. Weißt du eigentlich, wie schwer ich täglich dafür arbeiten musste, dass du dich in den Bergen vergnügst? Wegen einer Erkältung hättest du nun wahrlich nicht zum Arzt gehen zu brauchen. Du bist ein Mann, Vladislav!“

„Der Junge hatte Fieber!“, verteidigt die Mutter.

Er sitzt stumm daneben.

„Damit soll er mal zur Armee gehen. Aber die Wehrpflicht ist abgeschafft.“ Der Vater lacht voller Spott. Endlich kann er es dem Sohn so richtig zeigen! Jetzt, da der schwach und kränklich ist.

„So etwas möchte ein Mann sein!“, lacht er ihn verächtlich aus.

***

Anton hat eine eigenwillige Komödie ausgewählt. Er lacht ständig herzlich, dass es bis zu seinen Armen vibriert.

„Der Witz hatte einen tieferen Sinn! Findest du nicht auch, Vladislav?“

Er nickt stumm. Merkwürdigerweise findet er das gar nicht komisch, ist er fast ein wenig verärgert, dass er die Freude der anderen Kinobesucher nicht teilen kann.

„Wie hat es dir gefallen?“, prustet der Kumpel noch immer, als sie schon in die kalte Februarluft hinaustreten.

Ohne den Blick zu heben, nestelt er an seiner Jacke herum.

„Hm, ganz gut, ja.“

Aber Anton ist kein Dummkopf, weiß sehr wohl Höflichkeit und Aufrichtigkeit zu unterscheiden.

„Ich fand es gut jedenfalls.“ Doch die erheiternde Fröhlichkeit ist aus den sonst leuchtenden Augen verschwunden.

„Was ziehst du eigentlich in letzter Zeit für ein Gesicht?“

Er spürt, wie seine Wangen erröten. Nun hebt er die Augen, mustert die vorbeifahrenden Autos. Seltsamerweise vergleicht er unwillkürlich mit der Heimat. Die Kontraste sind so stark zwischen den modernen, teuren Fahrwerken und den klapperigen Gefährten daheim.

„Stress, einfach nur Stress. Tut mir Leid.“

Weil der Freund bloß schweigt, fügt er schnell hinzu.

„Und bei dir? Jetzt kommt der Endspurt, nicht wahr?“

Anton lacht nicht.

Er schluckt.

„Hm, ja, das ist wohl so“, brummt der schließlich.

Dann schweigen sie beide, während sie zur Bahn gehen.

Der Wind pfeift eisig.

„Möchtest du in Berlin bleiben?“, fällt ihm plötzlich ein. „Oder hat sich etwas in der Ferne ergeben?“

Anton zieht die Kapuze über seinem roten Lockenkopf fest.

„So wie es aussieht, werde ich erst einmal bleiben.“

Warum ist er so wortkarg geworden?

Die Bahn hat bereits gehalten. Sollten sie rennen?

„Dann können wir uns noch sehen“, sagt er mehr zu sich selbst.

„Weiter langweilige Filme sehen...“, ergänzt Anton jetzt mit gekräuselter Stirn.

„Ich fand ihn nicht langweilig. Ich habe ihn nicht verstanden“, gesteht er und fühlt sich in die Ecke gedrängt.

„Tut mir Leid, Vladislav. Ich bin anscheinend auch momentan etwas sentimental“, klopft ihm da der Freund auf die Schulter.

Sie warten auf die nächste Bahn.

„Ich muss arbeiten gehen“, erzählt er schließlich. Anton stutzt.

„Auch für die Unabhängigkeit?“

Traurig schüttelt er mit dem Kopf.

„Ich habe Schulden.“

„Verstehe“, nickt der Kumpel ernst.

„Ich habe bei der Skifahrt über meine Verhältnisse gelebt.“

„Kommt vor. Ist eine Erfahrung, die man wahrscheinlich nur einmal sammelt.“

Anton zeigt so viel Verständnis, dass er sich besser fühlt nach all den Tagen des Grübelns, Zweifelns und Selbstmitleids.

„Du kannst mir in der Bibliothek helfen. In der Prüfungszeit muss ich kürzer treten.“

Gott hat ihm eine Rettung geschickt!

***

„Ich habe eine Arbeitsstelle gefunden“, erklärt er eines Abends dem Vater ernst.

„Du hilfst bei mir in der Firma. Das war abgemacht“, erinnert der genervt.

„Du hast so entschieden. Ich schulde dir Geld. Lass es jedoch meine Sache sein, wo und wie ich es mir verdiene.“

Ein Tropfen Suppe fällt zurück in seine Schüssel.

Der Vater beginnt zu schnauben, rückt mit dem Stuhl ein Stück zurück.

„Ich habe bereits alles für dich geregelt. Jetzt wirst du mich nicht noch lächerlich machen. Das ist sogar günstig für deine berufliche Karriere“, droht der alte Mann.

Er muss lachen. Wie jedes Mal geschieht das unbewusst, wie ein Reflex. Das ist doch absurd!

„Ich möchte nicht in deiner Firma arbeiten! Ich möchte Banker werden. Ich möchte in Großbritannien studieren. Das ist mein Leben!“, ruft er leidenschaftlich.

Der Vater lacht abfällig.

„Warum musst du deiner Mutter das Leben immer so schwer machen? Dass du für mich kein Gefühl hast, mag ich verkraften...“

Er presst die Finger vor die Stirn. Der Vater verschränkt zufrieden grinsend die Arme hinter dem Kopf.

„Großbritannien! Warum bist du so weltenfremd? Glaubst du, dass die Menschen auf dich warten? Auf dich, der zuerst seine Schulden hierzulande bei Schulkameraden abbezahlen muss? Wach auf, mein Junge! Verliere dich nicht in Luftschlössern! Du wirst in der Firma arbeiten. Einen gerechten Lohn erhalten. Das reicht.“

Er beißt sich auf die Lippen. Was erwidert er am besten? Wie wird er am einfachsten diesen Diktator los, der sich anmaßt ihn wie ein kleines Kind zu behandeln?

„Ich wollte es dir lediglich mitteilen. Der Vertrag ist schon unterzeichnet“, greift er zur Notlüge.

Der Vater grinst noch breiter.

„Ach, Vladislav, du bist ein Dummkopf!“

Er beginnt zu kochen, möchte aufbrausen.

„Dir ist vielleicht bekannt, dass in diesem Lande hier du noch kein Erwachsener bist. Dein Vertrag gilt nichts, solange ich nicht zugestimmt habe.“

Jetzt hat er die Situation, die er befürchtet hatte! Dabei war alles so gut eingeleitet.

„Mit wem hast du deinen Vertrag abgeschlossen?“, meldet sich die Mutter plötzlich zu Wort.

Keiner der Männer hatte ihr in dem Zorn sonderlich viel Beachtung geschenkt.

„In der Bibliothek der Schule. Anton und ich werden uns ein paar Stunden teilen“, hofft er.

Die Eltern schweigen.

„Das klingt doch ganz vernünftig“, meint die Mutter mit einem schüchternen Lächeln.

Der Vater sagt kein Wort.

„Der Vorteil ist, dass ich gleich nach dem Unterricht anfangen kann. Ich werde mir den Fahrweg sparen“, schwärmt er sogleich.

„Wer ist bitte dieser Anton?“,fällt der Vater ihm schneidend ins Wort.

„Ein Freund. Mama habe ich von ihm erzählt.“

Auch das hatte er geschickt geplant.

„Zeige mal her, den Vertrag!“ Wütend schaut der Vater seine Frau an. Wie konnte sie ihn so sehr enttäuschen?

Aber er hat sich durchgesetzt! Seinen Traum, seinen Willen sich erkämpft.

***

„Vladislav, ich wusste gar nicht, dass Sie hier arbeiten!“, begrüßt ihn die Geschichtslehrerin. Er versucht zu lächeln. Anton lächelt schließlich immer, hat für jeden ein nettes Wort übrig. Das hat er mit Bewunderung beobachtet.

„Ja, heute ist mein erster Tag“, erwidert er schüchtern.

„Hier können Sie eine Menge lernen. Wie heißt noch einmal dieser rothaarige Lockenkopf, der hier sonst tätig ist?“, rückt sie ihre Brille zurecht.

„Anton“, erklärt er tonlos.

Sie mustert die Geschichtsbücher. Innerlich muss er grinsen. So langweilig scheint das gar nicht, dieses Bibliotheksleben.

„Wissen Sie schon, welchen Beruf Sie nach der Schule ergreifen möchten?“, meldet sich die Lehrerin wieder zu Wort.

Er richtet sich in seinem wohl gepolsterten Schreibstuhl auf, überlegt.

„Vielleicht werde ich bei einer Bank anfangen.“

„Oh, ich wusste gar nicht, dass Sie sich für Wirtschaft und Finanzen interessieren!“

Damit widmet sie sich wieder vollends ihren Büchern.

Plötzlich wird es unangenehm still. Wie bei Anton wandert sein Blick aus dem Fenster in den Hof.

Weiß er tatsächlich, was er möchte? Wäre das eine tragbare Entscheidung?

„Dann werde ich Sie wohl noch häufiger hier begrüßen dürfen“, verabschiedet sich die Hexe ungewohnt freundlich.

Beginnt er etwa, einen erfolgreicheren Weg einzuschlagen? Einen, auf dem man ihm auch mit Respekt begegnen wird? Fast möchte er träumen…

***

„Wie war deine Arbeit?“, lächelt die Mutter warm und verbündend.

„Großartig!“, kaut er auf dem Stück Fleisch.

Der Vater lacht bloß ungläubig.

„Die Lehrer nutzen sogar bisweilen die Bibliothek“, erzählt er dann.

„Dafür ist sie doch auch da!“, spottet der Alte.

Er ignoriert ihn.

„Meine Geschichtslehrerin war richtig freundlich zu mir.“

„Du siehst zufrieden aus“, freut sie sich.

Jetzt prustet der Vater los.

Beide schauen ihn an.

Leontij läuft zur Toilette. Der Kleine spürt bereits, dass Ärger in der Luft liegt.

„Ja, das bin ich auch“, müht er sich um Gelassenheit.

„In der Firma hättest du das ebenfalls alles haben können“, gibt dieser Mann keine Ruhe.

„Sie hat mich gefragt, was ich für die Zeit nach dem Abitur geplant habe.“

Der Vater verschränkt die Arme vor der Brust.

„So, jetzt bin ich aber gespannt.“

Die Arroganz macht ihn allmählich wütend. Das möchte er gar nicht, doch es geschieht jedes Mal. Jedes Mal gelingt es diesem Streitsüchtigen ihn herauszufordern, ihn gar zu heftigen Reaktionen zu verleiten.

„Freut mich, dass es dich interessiert“, zwingt er sich zu lächeln. Vermutlich gleicht das allerdings eher einem boshaften Grinsen.

„Ich habe letztens einmal recherchiert. In Frankfurt am Main hätte ich ganz gute Chancen, Karriere zu machen.“

Er mustert den Vater. Die Mutter spielt schon keine Rolle mehr.

Abend für Abend klären die beiden Männer nun ihre Machtverhältnisse.

Diesmal sieht es für ihn noch gut aus.

„Irina“, seufzt der Alte jetzt herablassend. An dessen Augen erkennt er jedoch, dass er ihn getroffen hat.

„Und worauf sollte man in Frankfurt auf dich warten? Welche Branche ist so verloren, dass du gar von Karriere sprichst?“

Die Worte verletzen ihn. Das hatte er erwartet. Schließlich sehen solche Reaktionen dem Diktator wieder sehr ähnlich.

„Ich werde Bankkaufmann werden.“

Das wärmende Lächeln auf den weichen Lippen der Mutter wird augenblicklich unsicherer.

„Ich hatte fast gedacht, du wähnst dich gleich beim Europäischen Währungsfond, bei geheimen Treffen.“

Er schweigt, möchte über den Hohn hinweggehen.

Da hat er allerdings die Rechnung ohne den ihm so Fremden gemacht.

„Dann werden wir alle wohl keine finanziellen Sorgen mehr leiden müssen. Irina, unser Junge möchte Millionär werden!“

Niemand lacht mit ihm über den schlechten Scherz, der kein echter Witz ist.

„Spotte nur, ihr werdet es schon sehen“, räumt er seinen Teller zusammen.

„Wir sollen dich etwa gewähren lassen? Dich etwa bei diesen kindischen Träumen unterstützen?“

Er hasst ihn. Das weiß er. Der Hass quält ihn tagein, tagaus. Des Nachts im Schlaf, wenn sich die Kämpfe fortsetzen.

Es ist wahr: Jeder Kampf fordert einen hohen Preis. Seiner bedeutet für ihn das Gefühl, nicht gewinnen zu können. So als stünde er bloß auf der Stelle, könnte nur mühselig einen Millimeter verteidigen. Kämpfen sie denn auch mit gleichen Mitteln? Und wäre schließlich das überhaupt eine Besserung?

„Ich habe mich jedenfalls entschieden. Du kannst von mir denken, was du denken möchtest. Ich bin ein freier Mensch.“ Unbewusst ballt er die Hand zur Faust.

„Das glaubst du selbst nicht! Wenn du so frei wärst, müsstest du uns nicht noch deine Schulden nachzahlen.“

Er seufzt. Im Grunde ist es traurig. Seit Monaten drehen sie sich im Kreis. Möchte der eine nicht einsehen, dass er seinen Einflussbereich überschreitet, während der andere krampfhaft um einen freien Atemzug ringt.

„Wir reden nicht über Freiheit, sondern über Rechte.- VATER!“

Vielleicht kann er ihn nur auf diese Weise schlagen.

„Ein Philosoph, das fehlte mir gerade noch. Den ganzen Tag über träumen, wünschen, denken. Und dann? Wird dadurch die Welt bewegt? Kannst du damit dir eine Wohnung leisten, eine Familie ernähren? Vladislav, wach endlich auf! Du magst dich an mir stören, dass es dir allein um das Prinzip gehen wird. Aber du wirst eines Tages froh sein, dass ich dich zu deinem Glück zwingen musste.“

Er lechzt nach Luft. Überall stehen Mauern, überall kann er sich den Schädel einschlagen, überall steht unsichtbar, was für ein Niemand er doch angeblich ist.

„Ich hasse dich!“, entfährt es ihm.

Damit stürmt er keuchend in das Schlafzimmer.

***

„Die Lehrer mögen einen hier“, berichtet er Anton, als sie gemeinsam die Pause verbringen.

„Die sind aber auch die einzigen“, lacht der.

„Du musst froh sein, bald wegzukommen“, stichelt er freundschaftlich.

Der Freund mustert ihn verwundert. Auf einmal bricht er in schallendes Gelächter aus.

„Es kommt am Wochenende übrigens wieder so ein langweiliger Film“, grinst der dann.

Augenblicklich ist ihm warm. Gerne würde er mit Anton Abenteuer erleben. Aber momentan hat er es eilig, seine Schulden abzubezahlen.

Wie kann er ihm das möglichst schonend beibringen?

„Was ist? Möchtest du mitkommen?“ Die roten Haare des Freundes leuchten in der Sonne.

„Ich würde gerne“, druckst er, „Nur leider muss ich noch meine Schulden begleichen.“

Anton seufzt. Wahrscheinlich ist er nun enttäuscht.

„Deine Eltern sind wohl sehr streng...“

„Ja!“, fährt es da aus ihm. „Vor allem mein Vater. Ich hasse ihn“, erklärt er leise.

Der Freund tritt einen Schritt zurück.

„Warum hasst du ihn?“

„Er behandelt mich wie ein Kleinkind, nein schlimmer noch, wie einen Versager. Nie mache ich etwas richtig. Nie bin ich gut genug. Nie kann er mich loben. Doch du müsstest ihn erleben, wie seine Augen glänzen, wenn er mich wieder vor der ganzen Familie demütigen kann. Wenn er mir eine seiner abstoßenden Machtdemonstrationen zeigen kann...“

Ihm stockt der Atem. So sehr regt ihn das auf. Es ist auch das erste Mal, dass er jemandem davon erzählen kann.

„Das tut mir Leid.“ Tatsächlich wirkt Anton sehr betroffen. Seine sonst so junge Stirn liegt kraus.

„Kannst du nicht ausziehen, sobald du volljährig bist?“

„Nein! Das ist das Problem. Er weiß, dass ich von seinem Geld abhänge. Dass ich nicht ohne ihn leben kann. Genau das lässt er mich jeden Tag spüren.“

„Das muss sehr angespannt bei euch zu Hause sein“, murmelt es neben ihm, während seine Gedanken wieder zum vergangenen Abend wandern. „Was sagt denn deine Mutter dazu?“

Kurz überlegt er, ob er das Gespräch nicht lieber abbrechen sollte. Es sieht ihm nämlich gar nicht ähnlich, dass er so offen über sein Familienleben spricht. Manche Dinge ertragen sich eben besser, wenn man sie fort schiebt. Sie lieber verdrängt, als zu erinnern.

Andererseits erhält er allmählich das Gefühl, dass er bei so viel Streit und Ungerechtigkeit platzen könnte. Dass diese Fessel immer fester werden könnte, bis er vielleicht eines Tages vollkommen irrational handeln würde.

„Meine Mutter gehorcht ihm gut“, entscheidet er sich daher, „Das ist auch eine Sache zwischen uns Männern.“

„Verstehe“, erwidert Anton. Irgendwie zweifelt er allerdings daran.

„Um ehrlich zu sein, erschrecke ich mich immer, wenn jemand von Hass spricht. Ich möchte dich daher ganz offen fragen: Was bedeutet für dich dein Hass gegen deinen Vater? Kennt er Grenzen?“

Er ist überrascht und setzt sich wieder. Nachdenklich starrt er auf den Hof. In einem Monat wird Anton ihn hier allein lassen. Dann wird er nicht mehr solch tiefgründige Gespräche führen können.

„Ich würde ihn nicht töten, wenn du das meinst. Doch ich verachte ihn zutiefst.“

Damit belassen sie das Thema.

***

Es ist ein Montag, als er die Tür zur Bibliothek öffnet. Anton hat heute Dienst. Im Grunde könnte er daher schon nach Hause gehen. Vielleicht wäre dann alles anders geworden. Vielleicht wäre sogar aus ihm ein anderer Mensch geworden.

Anton lacht, als er eintritt. Nicht das lockere, kumpelhafte Antonlachen. Nein, diesmal ist es anders. Schwerer irgendwie, bedeutungsvoller, warmherziger.

Etwas hält ihn davon ab, sofort wie gewohnt zu ihm zu stürmen, ihn mit einem frechen Wort zu begrüßen. Stattdessen drückt er sich lieber in der Nähe der Bücherregale herum, lauscht. Lauscht vor allem dieser anderen Stimme, für die der Freund seinen Charme so spielen lässt.

„Wir haben uns lange nicht mehr gesehen“, sagt sie. Ja, da bestehen keine Zweifel! Sie ist es, mit der er scherzt. Sie ist es, mit der er lacht. Sie ist es, mit der er Erinnerungen teilt. Unangenehm können sie gewiss nicht gewesen sein.

„Wie geht es dir, Jasmin?“, fragt sein Freund. Er meint, dass er ihn in Gedanken lächeln sehen könnte. Nicht das provokante, verschmitzte Lächeln, das er kennt. Nein, dieses ist anders. Dieses ist reserviert. Bei diesem leuchten die Augen. Bei diesem sprühen sie Funken, greifen über, fixieren, halten fest. Dieses Lächeln hat Bedeutung. Dieses Lächeln dringt tief. Dieses Lächeln ist eine ganze Offenbarung.

Und sie? Erwidert sie es mit ihren dunklen schwarzen Augen? Wie würde sie aussehen, wenn sie sich offenbart? Würden ihre scheuen Augen auch Feuer versprühen?

Er muss sich festhalten. Sein Kopf schmerzt plötzlich. Ist das der Sinn?

„Ich lerne momentan ziemlich viel. Aber ansonsten geht es mir gut. Danke.“

Er ist keines klaren Gedankens fähig. Anstatt umzudrehen, die Ohren zuzuhalten, wegzuhören, steht er da, wie ein Dieb. Sieht er sie in Schemen. Wie sie vor ihm an dem Tisch steht. Ihr zarter, schöner Körper in eine lange, grüne Wollstrickjacke gehüllt. Das gelockte dunkle Haar glänzt in dem schummrigen Licht eigenartig.

Anton sieht er nicht. Irgendwie möchte er es auch nicht. Es genügt, ihre Stimmen zu hören. Sie zu hören. Wie sie etwas teilen, das er nicht teilen kann. Wie sie etwas empfinden, das er nicht, vielleicht niemals, empfinden kann. So viele Nächte, so viele Träume, in denen er phantasiert hat. Keine einzige hatte ihm dieses Gefühl von Vertrautheit ermöglicht. Sie alle hatten geendet mit der traurigen Erkenntnis, kein Träumer werden zu wollen.

„Mir hat irgendwie etwas gefehlt, seitdem wir uns nicht mehr so häufig gesehen haben“, meint Anton dann.

Sie schweigt.

Er rechnet bereits mit dem Schlimmsten.

Aber sie schweigt, sagt gar kein Wort.

Auf einmal ergeben die Worte ihrer Freundinnen einen Sinn. Auf einmal begreift er, wie nahe er dem Damoklesschwert gestanden hatte.

Aller Schmerz, alle Ausflüchte waren so ergebnislos, dennoch der einzige Weg. Sein Herz zerbricht schon in tausend kleine Tonscherben, eine spitzer, reißender als die andere.

Und er muss lachen! Erstickt, gequält, wenn die Wahrheit sich ihren Weg sucht.

„In einem Monat bin ich hier weg“, erklärt Anton jetzt.

Oh, wie sehr muss er auch an diesem Mädchen hängen, dass er ihm das alles so eindringlich erzählt!

„Ich weiß“, erwidert sie da ernst und dreht den Kopf zur Seite.

Hoffentlich hat sie ihn nicht erblickt!

„Ich wollte dir auch alles Gute wünschen. Deshalb bin ich hier.“

Leise schleicht er sich zur Tür, greift mit feuchten Händen nach der Klinke, kann nicht anders, dreht sich um, wirft noch einen Blick auf sie. Auf ihn, den Freund, dem er so fern gewesen ist, niemals wirklich nah. Auf sie, die er zu einem Traum gemacht hat, vollkommen entrückt von Sinn oder Wirklichkeit. Doch der Traum ist Teil seines Lebens geworden. Ein Teil der Minuten aus Einsamkeit, ein Hoffnungsschimmer in der Dunkelheit, ein Perspektivwechsel.

Die Tür kracht in das Schloss hinter ihm. Vielleicht hat sie das aufgeschreckt. Vielleicht haben sie es noch bemerkt.

Vielleicht wird sie dich erkennen. Dann könnte sie alles richtig stellen.

Nur so ein Gedanke.

Ganz kurz blitzt er auf, trügt ihn wieder diese Hoffnung. Gott, wie ist sie lästig, blendet sie, lügt sie einem ins Gesicht, wenn das Herz längst alles begriffen hat.

Tatsächlich wartet er kurz, lehnt sich keuchend an die Steinwand im Korridor. Sein Herz stolpert noch weiter, ächzt, seufzt, jammert, stöhnt.

Der Verstand lacht ihm indes höhnend ins Gesicht.

Sie kommt nicht.

***

„Die Großmutter ist krank.“

Er ist nach Hause gefahren. Das schien ihm das einzig Sinnvolle. Krampfhaft weitermachen, wo er aufgehört hatte. Krampfhaft weitergehen, als wäre nichts geschehen. Eine kleine Erkenntnis, nicht mehr. Eine klare Entscheidung. Ja, so sind die Dinge doch wenigstens eindeutig!

Und wollte er nicht ohnehin vergessen?

Ach, wenn sie wüsste, wenn er wüsste, was ihnen entgeht!

Ist er nicht auch viel zu jung, um sich allein von Liebe zu nähren?

Liebe - ach der Gedanke allein ist schon lächerlich! Sie ist ein Wort, das man eben schnell spricht. Man begreift noch nicht einmal, gibt den Menschen und den Sachen einen Namen. Aber tut man das immer zurecht?

Was ist er blind gewesen! Naiv dazu.

Vielleicht hat der Vater manchmal sogar Recht.

Jedenfalls sind ihm die Wege der Zukunft nie eindeutiger erschienen.

Gut, er wollte vergessen! Dann gibt es wohl keinen besseren Zeitpunkt mehr!

Der Vater läuft wie ein aufgescheuchtes Tier umher.

Ganz vorsichtig zieht er sich seine Schuhe aus, stellt sie ausnahmsweise ordentlich in die Ecke.

Plötzlich fühlt er sogar Mitleid mit diesem Mann. Sind sie sich doch ähnlicher?

„Hat sie bei deinem letzten Besuch etwas erwähnt?“, verlangt der Vater nun zu wissen. Die sonst gnadenlosen, verachtenden Augen wirken verunsichert, nervös.

„Nein. Da ging es ihr unverändert. Den Umständen entsprechend. Wir waren spazieren.“

Innerlich ist auch er bestürzt. Die Großmutter bedeutet ihm viel!

„Dir muss doch irgendetwas aufgefallen sein!“, platzt es ungehalten aus dem Vater. Der sucht wohl wieder nach einem Schuldigen, einem Sündenbock.

Leontij weint, wahrscheinlich schon seit einer Ewigkeit.

Er geht zu ihm, streicht ihm mit der großen Hand über das goldene Haar.

„Welche Krankheit hat sie denn?“, erkundigt er sich dann ganz vorsichtig.

Die Mutter verdrückt sich in die Küche.

Getroffen bleibt der Vater stehen.

„Es ist das Herz. Es pumpt nicht mehr ausreichend. Daher fällt ihr selbst das Atmen schwer.“

Die Bestürzung lähmt sie allesamt. Auf einmal ist die Bedrohung real geworden. Auf einmal erlangen die letzten Worte der Großmutter eine neue Bedeutung, eine neue Schwere.

„Wann fahren wir zu ihr?“, bemüht er sich um einen klaren Gedanken.

Dieser Tag ist wohl verflucht! Und ist er der einzige, der noch strukturiert denken kann?

„Wir können nicht zu ihr. Der Onkel und die Tante kümmern sich.“

Er ist schockiert. Dass der Vater kein Herz besitzt, ist ihm im Grunde nichts Neues. Dass sein Vater aber seine eigene Mutter im Stich lassen möchte, trifft ihn zutiefst.

„Großmutter stirbt und ihr lasst sie allein!“, ruft er deshalb aufgebracht.

„Möchtest du zurückkehren?“, blickt ihm dieser Mann hart in die Augen. „Für immer?“

***

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752104097
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juli)
Schlagworte
Kalter Krieg Bürgerkrieg Russland Wehrpflicht Migration Ukraine Krim Ukrainekrieg NATO Euromaidan Roman Abenteuer

Autor

  • Julia Augustin (Autor:in)

Dritte Auflage mit aktualisiertem Nachwort. Als erster Roman entstand "Schluchten zwischen den Welten" zwischen 2015 und 2018. In ihren Erzählungen setzt sich die Autorin mit politischen, gesellschaftskritischen und zwischenmenschlichen Themen auseinander. Hauptberuflich ist sie als Ärztin tätig. Außerdem erschienen: "Doch alle schweigen" und "Über große und kleine Kriege"
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Titel: Schluchten zwischen den Welten