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Alles auf Liebe: Drei Romane in einem Band

E-Book-Bundle

von Anne Lux (Autor:in)
760 Seiten

Zusammenfassung

DREI BESTSELLER - EIN BAND: Mehr als 700 Seiten Lesepaß MITTEN IM SOMMER, MITTEN INS HERZ: Eigentlich ist alles perfekt, aber Stefanie findet es furchtbar: Ihr Freund Peter hat sie mit dem Kauf einer Doppelhaushälfte überrascht, doch was für viele die Erfüllung eines Traums wäre, schnürt Stefanie regelrecht die Kehle zu. Ihr Job als Texterin ist auch nicht erfüllend, sie fühlt sich verheizt und kämpft mit Intrigen. Als sie den attraktiven Unternehmer Rolo kennenlernt, stellt sich ihr Leben komplett auf den Kopf. Eine leidenschaftliche Affäre beginnt, aber der Euphorie folgt bald Ernüchterung. Als die Zweifel übermächtig und die Katastrophen immer mehr werden, nimmt Stefanie all ihren Mut zusammen und entschließt sich zu einem radikalen Schritt, um wirklich zu sich selbst zu finden … +++ ALLES AUF ANFANG, ALLES AUF GLÜCK: Kein Job, keine Wohnung, kein Geld – und mit über dreißig wieder im Kinderzimmer bei den Eltern: Das Leben von Stefanie steckt in der Sackgasse. Da trifft sie ihre Schulfreundin Lola wieder, die sich ebenfalls in einer Sinnkrise befindet. Für einen Neubeginn ziehen sie überstürzt nach München, aber ihre Vergangenheit holt sie schnell ein: Eines Tages steht Surflehrer Gylfi vor der Tür, mit dem Stefanie in Australien nicht nur beim Wellenreiten auf Tuchfühlung gegangen ist. Und auch Rolo, für den sie im letzten Sommer ihren Freund Peter verlassen hat, steht wieder auf der Matte. Als das Chaos zu groß wird, schlägt Gylfi den beiden jungen Frauen eine Reise in seine isländische Heimat vor. Die Zeit auf der Insel aus Feuer und Eis wird für alle drei zu einem entscheidenden Wendepunkt … +++ SEHNSUCHT NACH INSEL & MEHR: Der Traum vom eigenen Café, der zu platzen droht. Eine Beziehung, die nicht ideal läuft. Eine Stieftochter, die engagiert pubertiert, und eine Schwiegermutter, die spontan einzieht. Zwei Jahre nach dem turbulentesten Sommer ihres Lebens steht Stefanie erneut vor großen Herausforderungen! Um den Anstrengungen eine Weile zu entfliehen, entscheidet sie sich für einen Kurzurlaub in Island – die wunderschöne, raue Insel aus Feuer und Eis hat schließlich schon einmal zu einem Happy End für sie beigetragen. Doch dieses Mal kochen nicht nur die Emotionen hoch. Ein Vulkanausbruch sorgt für Chaos und hat Folgen, die Stefanie und alle anderen Reiseteilnehmer noch eine ganze Weile beschäftigten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Anne Lux

 

 

 

Mitten im Sommer,

mitten ins Herz

 

Liebesroman

 

Gewitterwarnung

 

 

Um kurz vor halb sieben beschloss Stefanie Mertens, heute nicht bis fast Mitternacht in der Agentur zu bleiben. Seit sechs Wochen war sie jeden Morgen als Erste hier gewesen und über zehn Stunden später als Letzte gegangen. Seit sechs Wochen zwang sie sich, den Jahrhundertsommer zu ignorieren, der sich auf der anderen Seite der Bürofenster abspielte und jeden Abend die Münchner in Massen in die Biergärten und an die Isar trieb. Seit sechs Wochen vertröstete sie ihre Freunde und Familie auf die Zeit nach dem »krassen Projekt« und versprach für danach endlich wieder ungeteilte Aufmerksamkeit. Seit sechs Wochen sah sie Peter nur noch, wenn sie schon dabei war, die Wohnung zu verlassen, und er schlaftrunken in den Flur wankte, um ihr einen Abschiedskuss zu geben.

»Mach sie fertig, Tiger«, raunte er seit sechs Wochen täglich und vergrub seinen Kopf an ihrem Hals, bis sie sich sanft losmachte. Sein Verständnis war groß, aber er kannte sie auch gut genug, um zu wissen, dass sie sich voll und ganz der Arbeit widmete, wenn die Aufgaben es verlangten. Und dass sie es gern tat, weil sie ihren Job liebte und beruflich weiterkommen wollte. Aber seine Kompromissbereitschaft war auch nicht grenzenlos, das wusste Stefanie. Veränderungen hatten sich bei ihm eingeschlichen und sie konnte sie nicht einordnen. In letzter Zeit hatte er oft Telefonate abrupt abgebrochen, wenn sie in die Küche oder in das Schlafzimmer gekommen war, und auf ihre Nachfrage geantwortet, er habe mit Tim gesprochen, seinem besten Freund. Manchmal starrte er bei den wenigen Mahlzeiten, die sie momentan gemeinsam einnahmen, gedankenverloren aus dem Fenster und sah sie erschrocken an, wenn sie laut seinen Namen sagte.

Stefanie seufzte. Entweder fühlte sich Peter vernachlässigt, weil sie so wenig Zeit mit ihm verbrachte, und musste deshalb Krisengespräche mit Tim führen. Oder er hatte eine Affäre und freute sich insgeheim, wenn sie anderweitig beschäftigt war. Sie musste lächeln. Letzteres war so absurd wie die Vorstellung, dass ihre Eltern einen Kurs für tantrische Körperarbeit und Massage besuchen würden. Dennoch: Die letzten Wochen waren kein Zustand gewesen und sie musste etwas ändern, für sich selbst und für Peter.

Stefanie stieß sich vom Schreibtisch ab und rollte mit ihrem Stuhl an das Fenster. Eine dichte Wolkendecke hatte den Himmel, der vor einer Stunde noch leuchtend blau gewesen war, verdunkelt. Ein Gewitter war im Anmarsch.

»Mist«, murmelte sie und überlegte kurz, doch noch ein wenig zu bleiben, entschied sich dann aber dagegen. Das Projekt war so gut wie abgeschlossen, der Kunde hochzufrieden und ihr Überstundenkonto so voll wie nie.

Stefanie griff entschlossen zur Maus, fuhr alle Programme herunter und verließ ihr Büro. Im Gang merkte sie, dass sie fröstelte. Die Klimaanlage lief immer noch auf Hochtouren, doch während der Hektik des Tages, wenn sie eingebunden war in Meetings, Telefonkonferenzen und Briefings, sorgte schon ihr erhöhter Adrenalinspiegel dafür, dass sie nicht fror.

Ihr Blick fiel auf die Tür von Reto Zöllers Büro. Sie stand leicht offen und ein schwacher Lichtstrahl fiel durch den Spalt auf den Boden. Sie machte einige Schritte darauf zu, hielt dann jedoch inne. Wenn sie jetzt zu ihm ginge, wirkte das nicht so, als würde sie bewusst zeigen wollen, dass sie selbst am Freitagabend sehr lange arbeitete? Hallo Boss, alle anderen sind schon ewig weg, aber ich, Stefanie Mertens, bin der last man standing und gebe alles für die Agentur? Und überhaupt, der Flurfunk vermeldete Widersprüchliches über den Agenturchef, der DreamDesign seit zehn Jahren durch glanzvolle wie weniger traumhafte Zeiten führte. Er grabe alles mit zwei X-Chromosomen an, was bei drei nicht auf dem Baum sei, und habe die Hälfte der Mitarbeiterinnen mit Sicherheit schon auf seiner schwarzen Büro-Ledercouch vernascht, sagten die einen, von denen, das musste fairerweise gesagt werden, die meisten männlich waren. Er sei eben sehr charmant und halte seine Kolleginnen und Kollegen gern bei Laune durch den ein oder anderen charmanten, aber durchaus intelligenten Spruch, meinte die Gegenfraktion, die wiederum überwiegend weiblich war. Stefanie gab nichts auf all die Gerüchte und Sprüche. Sie mochte und respektierte Reto und war sich sicher, dass auch er sie schätze. Wenn sie dennoch Gefahr lief, eines der verbreiteten Gerüchte zumindest als nicht abwegig zu betrachten, dachte sie an den Februar dieses Jahres, als Reto zu mehreren Morgenmeetings mit weißem Pulver unter der Nase erschienen war. Das Gerücht, er würde sich erst einmal eine »Line Koks ziehen«, wenn er im Büro angekommen war, hatte für eine Woche fast das Tagesgeschäft zum Erliegen gebracht. Aus der Welt geräumt wurde die Sache erst, als die damalige Teamassistentin Mona ihn dabei antraf, wie er an seinem Schreibtisch saß und genüsslich in einen gepuderten Faschingskrapfen biss.

Stefanie klopfte sachte. Als sich nichts rührte, öffnete sie die Tür und trat ein.

»Reto?«

Stille.

»Reto?«, wiederholte sie. »Bist du da?«

»Hmm?«, brummte jemand.

»Wo bist du?« Stefanie sah sich um. Auf Retos Schreibtisch befand sich wie immer nichts außer einem großen Flachbildschirm und einer Funkmaus. Sein schwarzer Bürostuhl war leer.

»Äh, wo genau?«

»Hier unten.« In diesem Moment erschien eine Hand auf der Schreibtischplatte, kurz darauf Reto, der sich langsam hochzog. Sein Gesicht war leicht gerötet, sein Hemd ein paar Knöpfe weiter geöffnet als während des Tages. Dunkle Haarsträhnen, die sonst akkurat nach hinten gekämmt waren, hingen in seine Stirn.

Scheiße, dachte Stefanie und machte ein paar Schritte zurück. Sie spürte, dass sie rot wurde, und verfluchte sich dafür, nicht direkt das Gebäude verlassen zu haben.

»Stefanie Mertens«, sagte Reto Zöller und atmete schwer aus. »Was kann ich für dich tun?« Mit einem tiefen Seufzer ließ er sich auf seinen Stuhl fallen und sah sie erwartungsvoll an.

»Bist … bist du allein?«, stotterte sie.

»Soweit ich weiß, ja.«

»Aber wieso … was machst du unter dem Schreibtisch? Um diese Uhrzeit?«

»Gibt es eine angemessene Uhrzeit für den Aufenthalt unter einem Schreibtisch?«

»Was?«

»Es ist Freitag, die Woche war lang und hektisch, aber wem erzähle ich das, du warst ja die meiste Zeit da, und da dachte ich, ich mache rasch noch eine entspannende Übung, bevor ich nach Hause gehe, wo die Familie bereits sehnsüchtig auf mich wartet.«

»Eine Übung?«

»Ja, Yoga-Übung. Den Schmetterling. Kleiner Flügelschlag, große Wirkung. Gut für die Beweglichkeit der Beine, fördert die Durchblutung des Beckens und kräftigt den Beckenboden. Zudem öffnet er die Hüften, dehnt die Innenschenkel und macht geschmeidig auch für Sexstellungen, bei denen mir früher vielleicht schnell die Puste ausging. Meine Frau freut sich.«

Stefanie schwieg betreten. Sie wusste, dass ihr Gesicht mittlerweile dunkelrot war. Für eine Minute herrschte Schweigen, bis Reto in schallendes Gelächter ausbrach.

»Stefanie Mertens, das war ein Scherz! Entspann dich! Geh nach Hause – oder in den Biergarten, das ist ein Befehl. Fahr zu deinem Freund, sei lieb zu ihm, ich will dich bis Montag neun Uhr auf keinen Fall mehr hier sehen.«

Steffi lachte ebenfalls, wusste aber, dass es sich künstlich und übertrieben anhörte. Sie beschloss, nicht zu fragen, was er denn nun wirklich unter dem Schreibtisch gemacht hatte. Bei manchen Dingen war es besser, wenn man sie nicht wusste.

»Ich verschwinde jetzt tatsächlich«, sagte sie. »Ich wollte dir eigentlich nur ein schönes Wochenende wünschen.«

»Das wünsche ich dir auch, Steffi. Bis Montag.«

Als sie bereits an der Tür war, räusperte er sich. Alarmiert wandte sie sich um. »Ja?«

Reto hatte mittlerweile sein Hemd wieder ordnungsgemäß zugeknöpft und sein Haar in die angestammte Position gebracht. »Steffi, ich habe durchaus zur Kenntnis genommen, wie sehr du dich für das Projekt Neumann eingesetzt hast. Dass alle jetzt so zufrieden sind, liegt vor allem an deinem Einsatz und …«

»Sorry, dass ich dich unterbreche, Reto, aber ohne die Hilfe von …«

»Hör mir kurz auf mit dem ganzen Wir-haben-das-als-Team-geschafft-Sermon, Steffi, tu mir den Gefallen. Wir wissen beide, dass es in diesem Fall nicht so war und ohne dich das ganze Ding den Bach hinuntergegangen wäre.«

Steffi erwiderte nichts. Endlich sagt es mal einer, dachte sie.

»Danke, Reto«, sagte sie dann. »Ich weiß es wirklich zu schätzen, wenn du …«

»Stopp, auch diesen Sermon möchte ich jetzt nicht hören. Pass auf, Steffi.« Er zog seinen Stuhl näher an den Schreibtisch heran, griff nach der Maus und begann hektisch zu klicken. »Am Montag möchte ich mit dir über ein neues Projekt sprechen, bei dem ich dich gerne einsetzen würde … Moment, ich habe es gleich … ich hatte das alles … eigentlich hier … gespeichert … Moment, kann sich nur noch um Stunden halten …« Retos Zeigefinger hackte auf die Maus ein, dass sie Stefanie beinahe leid tat.

»Reto?«, sagte sie vorsichtig.

»Hmm?«

»Wenn das ein Projekt von ähnlicher Größenordnung wie Neumann ist, dann weiß ich nicht, ob … Die letzte Zeit war schon sehr aufreibend und ich …«

»Es ist kein Projekt von ähnlicher Größenordnung.«

»Nein?«

»Es ist deutlich umfangreicher.«

Sie starrte ihn an.

»Es ist deutlich umfangreicher«, wiederholt Reto. »Dazu prestigeträchtiger, cooler und aufregender.« Er hörte auf, seine Maus zu traktieren, und sah sie an. »Und ich möchte nicht, dass du als Texterin daran beteiligt bist, sondern als Teamleiterin. Das hast du dir verdient – und soweit ich weiß, ist es das, was du dir schon seit Längerem wünscht.«

»Aber das ist doch kein Grund, du musst schon wirklich davon überzeugt sein, dass ich …«

Reto hob abwehrend beide Hände. »Steffi! Sei ruhig und geh einfach ins Wochenende. Okay? Meinst du wirklich, ich habe in einer Agentur wie dieser Almosen zu vergeben? Wenn ich der Meinung bin, dass jemand einen Job verdient, dann hat er ihn auch verdient und mein komplettes Vertrauen.«

Steffi lachte. »Ist ja gut. Ich bin dann weg. Grüß Sarah und die Kinder.«

»Wir sehen uns montags, Steffi. Dann erzähl ich dir auch alles zu dem neuen Projekt.«

Sie wandte sich ab und war schon fast zur Tür hinaus, als ein lautes Niesen durch das Büro schallte. Viel zu hoch, um von Reto Zöller, einem breitschultrigen trainierten Mann von über einem Meter achtzig, zu stammen. Langsam drehte sich Stefanie um. Ihr Blick traf den ihres Chefs, der stumm und langsam den Kopf schüttelte. Sie setzte an, etwas zu sagen, nickte dann jedoch nur, machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum.

 

Als sie auf die Straße trat, schlug ihr schwülwarme Luft entgegen. Dunkle Wolken türmten sich mittlerweile am Himmel und zogen in raschem Tempo über die Türme der Frauenkirche. Die Theatinerstraße war voller Menschen, die sich von dem drohenden Unwetter nicht von ihren Einkaufstouren abhalten ließen. Für einen Moment schloss Stefanie die Augen und ließ das kurze Gespräch mit Reto Revue passieren. Teamleiterin. Prestigeträchtiges Projekt. Komplette Verantwortung. Komplettes Vertrauen. Reto hatte recht, das hatte sie sich schon seit einiger Zeit gewünscht. Dass es nun so weit war, konnte sie kaum glauben. Aber es war fantastisch. Sie öffnete die Augen wieder. Oder nicht? Würde sie das alles überhaupt schaffen? Schon das letzte Projekt hatte sie an ihre Belastungsgrenze gebracht und wenn dieses jetzt noch größer war …

Eine eingehende Nachricht auf ihrem Handy unterbrach ihre Überlegungen.

Hi Liebling, kannst du schon absehen, wann du in etwa kommst?, fragte Peter. Aber kein Stress!

Ich bin unterwegs, antwortete sie. Soll ich noch irgendwas mitbringen essenstechnisch?

Nein, nicht nötig. Bring nur dich mit.

Stefanie lächelte, verstaute ihr Telefon in der Handtasche und schloss ihr Fahrrad auf, das sie direkt vor dem Gebäude geparkt hatte. Sie schob es in die Weinstraße, passierte den Marienhof, überquerte die Kaufingerstraße und schwang sich auf Höhe des Eingangs zum Café Glockenspiel in den Sattel. Im Zickzackkurs schlängelte sie sich durch den Strom der Passanten und beschloss, einen kleinen Umweg zu fahren, um noch Blumen zu kaufen, zur Feier des Tages.

Ein leises Donnergrollen war aus der Ferne zu hören. Stefanie sah zum Himmel und beschleunigte ihr Tempo.

Die meisten Stände hatten bereits geschlossen oder waren dabei zu schließen, als sie am Viktualienmarkt ankam. Bei Blumen Baur stieg sie rasch ab, kaufte einen Strauß aus Löwenmäulchen, Wiesenkerbel und Glockenblume, platzierte ihn vorsichtig in ihrer großen Tasche auf dem Gepäckträger und schwang sich wieder auf ihr Fahrrad.

Mittlerweile war der Himmel fast schwarz. Stefanie spürte erste Tropfen auf ihren nackten Oberarmen, als sie auf der Reichenbachbrücke die Isar überquerte. Trotz der drohenden Kulisse über ihnen bevölkerten noch unzählige Menschen die beiden Uferseiten, lagen spärlich bekleidet auf den Wiesen oder saßen auf den steinernen Stufen, ließen die Beine ins Wasser baumeln, tranken aus Flaschen. Einige Unerschrockene legten Würste und Fleisch auf Einweggrills, wohl in dem Glauben, mit diesen Opfern den Wettergott kurzfristig noch einmal besänftigen zu können.

Stefanie nahm die Szenen im Vorbeifahren auf und fühlte sich ihnen seltsam entfremdet. War sie in diesem Sommer einmal abends an der Isar gewesen? Sie konnte es nicht mit Sicherheit sagen, die letzten Wochen verschwammen zu einem Gemisch aus schlaflosen Nächten, Morgen, an denen sie gerädert und allein ihren Kaffee in der Küche schlürfte, endlosen Meetings, nächtlichen Heimfahrten und wieder schlaflosen Nächten. Und an den Wochenenden? Sie konnte sich an einen einzigen Ausflug mit Peter erinnern, der Tag war heiß gewesen und die Stimmung schlecht. Sie hatten die Mountainbikes zu Hause gelassen, weil Stefanie keine »Lust auf Anstrengung« gehabt hatte und »einfach etwas Entspannendes« machen wollte. Sie waren an den Schliersee gefahren, wollten ihn zu Fuß umrunden und danach im Café Milchhäusl Kaffee und Kuchen genießen, aber so weit kam es nicht. Der »entspannte« Tag endete nach zwanzig Minuten Spaziergang, als Stefanie siedend heiß einfiel, dass sie am Freitag vergessen hatte, eine wichtige E-Mail zu versenden.

»Schick sie doch jetzt einfach«, hatte Peter gewagt vorzuschlagen. »Vom Smartphone aus.«

Eine halbe Stunde später befanden sie sich auf der Rückfahrt nach München. Schweigend. Peter frustriert, Stefanie nervös. Die Mail war nicht das Entscheidende gewesen, der Anhang war es. Die Datei befand sich allerdings nur auf Stefanies Bürorechner. Sie verbrachte den Rest des Tages in der Agentur, schickte die Mail und räumte dann endlich ihren Schreibtisch auf. Peter saß derweil gemütlich auf dem Balkon. Glaubte sie. Hoffte sie. Sie hatten über den missglückten Samstag nicht mehr gesprochen.

Stefanie fühlte ein Ziehen im Bauch, wenn sie daran dachte, wie sehr sie Peter in der letzten Zeit vernachlässigt hatte und wie wenig er ihr es zum Vorwurf gemacht hatte und machte.

Sie begann sich gerade auszumalen, wie anders sie jetzt erst einmal alles machen würde, als der Himmel abrupt alle Schleusen öffnete. Einem Sturzbach gleich prasselte der Regen auf die Erde.

»Scheiße!«, schrie Stefanie und stellte sich in die Pedale, um am Gasteiger Berg nicht viel Tempo einzubüßen. Sie liebte Haidhausen, fluchte aber regelmäßig über die Tatsache, dass man den Stadtteil im Münchner Osten nur über lang gestreckte Steigungen erreichte, wenn man aus dem Zentrum kam.

Am Rosenheimer Platz war sie nass bis auf die Haut. Sie schoss in die Metzstraße, bremste abrupt vor ihrem Haus, sprang vom Rad, sperrte es hastig ab, riss die Tasche vom Gepäckträger, öffnete die Tür und stürzte in den Flur.

Einen Moment hielt sie inne, um ihren Atem zu beruhigen. Im Treppenhaus war außer dem leisen Aufprallen der Wassertropfen auf das Parkett nichts zu hören. Sie lauschte in die Stille. Doch, ganz leise drang etwas aus einem der oberen Stockwerke nach unten. Tocotronic? Es klang so. Peters Musik.

Sie stieg die Treppen hinauf. Ihr Haar klebte in der Stirn und ihr T-Shirt an ihrem Körper. In ihren Sneakern quietschte es bei jedem Schritt. Als sie vor der Wohnungstür stand, fühlte sie sich wie eine geschlagene Kriegerin. Geschlagen von Wind und Wetter und Wochen voller Anspannung. Nur jetzt schnell ins Bad, umziehen, die Haare trocknen und dann … dann einfach an nichts denken und nichts tun.

Sie drehte den Schlüssel so leise wie möglich im Schloss und schlüpfte in den Flur.

»Steffi?«, drang es aus der Küche. Die Musik wurde abgestellt. Es war tatsächlich Tocotronic gewesen.

Mist, dachte Stefanie.

»Ja, ich bin’s«, rief sie bemüht fröhlich, streifte die Schuhe ab und ging auf Zehenspitzen Richtung Badezimmer. »Ich spring nur schnell unter die Dusche und …«

»He-ho, Moment, Wet-T-Shirt-Contest, oder was?«

Sie blieb wie ertappt stehen und wandte sich langsam um. »Wie bitte?«

Peter war in den Gang getreten. Er trug seine Schürze mit der Aufschrift »Chefkoch«. Erst jetzt nahm Stefanie wahr, wie intensiv es aus der Küche roch. Wahrscheinlich machte er sein thailändisches Curry.

Peter grinste. »Naja, du fährst augenscheinlich ultra-sexy durch die ganze Stadt und willst mir jetzt diesen Anblick vorenthalten.«

Stefanie drehte sich zum Wandspiegel. Tatsächlich. Ihr weißes T-Shirt war nicht nur durchnässt, sondern durchsichtig. Ihr BH und ihre Brustwarzen zeichneten sich deutlich unter dem leichten Stoff ab.

Peter kam auf sie zu und breitete die Arme aus. Stefanie wich unwillkürlich zurück.

»Vorsicht, ich bin total nass!«

»Meinst du, das stört mich auch nur im Geringsten? Komm her, du supererfolgreiche Projektbetreuerin mit dem schärfsten Body in ganz München.« Er vergrub seinen Kopf an ihrem Hals, so wie morgens, wenn er sie schlaftrunken verabschiedete. »Ich freu mich für dich, dass du jetzt das Schlimmste überstanden hast arbeitstechnisch. Und hoffe, dass jetzt in der Agentur ein Sommerloch kommt.«

»Du musst in die Küche«, sagte Stefanie leise. »Das Essen.« Sie ließ die Arme seitlich am Körper herunterhängen, um Peter nicht noch nässer zu machen, aber er hielt sie fest umschlungen und machte keine Anstalten, sie gehen zu lassen. »Herd ist heruntergedreht«, brummte er.

Stefanie spürte, wie leichte Ungeduld in ihr aufstieg. Mit sanftem Druck löste sie sich aus der Umklammerung und küsste Peter flüchtig auf die Wange. »Ich bin gleich ganz bei dir. Nur zehn Minuten, okay?«

Sie wusste nicht, warum sie so übertrieben flötete, es schien ihr einfach die beste Strategie zu sein, um rasch aus den nassen Klamotten zu kommen – und zwar nicht im Beisein Peters. Er wandte sich seufzend ab und verschwand in der Küche. »Zehn Minuten, okay?«, rief er noch.

Sie schloss die Badezimmertür hinter sich und atmete tief durch. Alles okay, sagt sie sich. Alles super. Jetzt einfach schnell umziehen und guter Laune zurückkommen, dann ist der Abend gerettet und Peter zufrieden. Ihr Blick blieb an ihrem Spiegelbild haften, an den dunklen langen Haaren, die sich wie schwarze Schlangen an ihren Kopf pressten, an ihren blauen Augen, die Peter gerne »gletscherblau« nannte, und an ihren Brüsten, denen er schon so viele Namen gegeben hatte, dass sie sich nicht mehr an alle erinnern konnte. Einige hatten mit Obst zu tun, rund und nicht allzu klein. Sie seufzte und begann sich auszuziehen. Als sie kurz darauf aus der Dusche stieg, schlüpfte sie in ihren Bademantel, schlang einen Handtuchturban um die Haare und ging in die Küche.

»Zehn Minuten, hm?« Peter stand am Herd und wandte sich nicht um, als sie eintrat.

Sie war nicht sicher, ob er die Bemerkung belustigt meinte, und beschloss, sie zu ignorieren. »Ist Apfelsaft da?«, fragte sie und öffnete den Kühlschrank.

»Nein, aber immer noch der Holundersaft von deiner Mutter. Bevor wir das nächste Mal zu deinen Eltern fahren, sollten wir ihn zumindest probieren, um – hola, im Bademantel siehst du auch nicht gerade unscharf aus.«

Stefanie sah an sich herunter und wieder zu Peter. »Das war … jetzt eigentlich nur die Schnelllösung und nicht …«

»Gefällt mir gut, die Schnelllösung.« Sie sah, wie er erneut den Herd herunterdrehte und auf sie zukam. »Es gibt für fast alles eine Schnelllösung.«

»Peter, ich dachte, wir essen jetzt erst mal gemütlich und ich erzähl dir, was Reto heute …«

»Kannst du danach«, sagte er, zog sie zu sich heran und küsste sie auf den Mund. Seine andere Hand glitt unter den Bademantel.

Stefanie erwiderte seinen Kuss, doch ihr Kopf dröhnte. Sie hörte ihren Magen knurren und fühlte sich von einem Moment auf den anderen schwindelig. Sie hörte Peter leise brummen und spürte seine Lippen auf ihrer Schulter. Bilder tauchten vor ihrem inneren Auge auf und zogen rasant vorbei, Bilder aus der Agentur, immer wieder aus der Agentur, zuletzt Reto Zöller hinter seinem Schreibtisch, dann ihre Mutter, die sie vorwurfsvoll ansah, ihre beste Freundin Vanessa, die sich lauthals mit anderen amüsierte, ihre Oma, die sie längst wieder einmal anrufen müsste …

»Steffi?«

… das Fitnessstudio, das sie seit Monaten nur noch im Vorbeifahren gesehen hatte, ihren Balkon, den sie dieses Jahr endlich bepflanzen wollten, die …

»Steffi??«

Sie schreckte auf. Peter stand vor ihr und sah sie eindringlich an. Der Bademantel lag wieder akkurat über ihren Schultern.

»Oje, ich muss kurz weggetreten sein«, sagte sie.

»Kann man wohl sagen«, sagte Peter resigniert und wandte sich wieder zum Herd. »Essen ist in zwei Minuten fertig.«

Sie schlang die Arme von hinten um hin. »Tut mir leid«, sagte sie leise. »Der Geruch von deinem Essen hat mich ganz betört.« Sie lachte hektisch auf und presste ihren Kopf an seinen Rücken. »Nachher machen wir es uns gemütlich, okay?«

 

Zwei Stunden später lagen sie im Bett. Sie hatten fast schweigend gegessen und nach dem Einräumen der Spülmaschine war Stefanie von Erschöpfung so übermannt worden, dass sie nur noch zum Zähneputzen in der Lage war und danach sofort ins Bett ging.

Peter kam bald nach ihr, schmiegte sich von hinten so fest an sie, dass sie den Atem anhielt, aber er tat nichts weiter.

»Hoffentlich wird morgen ein schönerer Tag«, murmelte er.

Sie wusste nicht, ob er das Wetter und oder etwas anderes meinte.

»Ja«, sagte sie deshalb nur.

Kurze Zeit später war Peter eingeschlafen, Stefanies Müdigkeit dagegen verflogen. Sie lauschte seinen regelmäßigen Atemzügen, dann dem Gewitter, das nur noch als entferntes Donnern auszumachen war.

 

 

 

Unbeständige Wetterlage

 

 

Stefanie schlug die Augen auf und die Bettdecke zurück, schwang die Beine aus dem Bett, setzte sich auf und wollte sich eben hochstemmen, als sie stoppte. Etwas war anders. Das Gewitter, das in der Nacht noch stundenlang leise gegrollt und sie ebenso lang wach gehalten hatte, war verstummt. Auch Verkehrslärm war keiner zu hören, nur das Lachen eines Kindes, kurz darauf eine Fahrradklingel, dann herrschte wieder Stille. Sie sah auf den Funkwecker auf ihrem Nachttisch und sprang abrupt auf. Schon 7.30 Uhr! Sie hatte verschlafen! Normalerweise war sie spätestens um acht im Büro, auch am Wochenende, weil sie in dieser ersten Stunde, wenn noch keiner der Kollegen da war, am besten arbeiten konnte und konzentriertes Arbeiten gerade bei einem Projekt wie diesem unerlässlich war, wenn man gut und verlässlich liefern – sie hielt einen Moment inne und setzte sich wieder auf den Bettrand. Sie musste nicht aufstehen. Das Projekt war abgeschlossen, es war Wochenende und sie hatte frei. Richtig frei. Das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit. Langsam ließ sie sich wieder zurücksinken, zog die leichte Decke bis an das Kinn und beobachtete die Sonnenstrahlen, die durch die Jalousien drangen, und die Staubwolken, die im Licht tanzten. Ein unverplanter Tag lag vor ihr und sie musste sich eingestehen, dass die Aussicht auf so viele freie Stunden fast überfordernd war. Die vergangenen Wochen waren so durchgetaktet gewesen, so strukturiert, dass sie sich keine Gedanken darüber machen musste, wie sie sie gestalten wollte. Es war ihr vorgegeben, wie sie gestalten musste. Vielleicht könnte sie heute endlich Vanessa treffen oder mit Sandra telefonieren oder auch mit ihrer Mutter, vielleicht könnte ihr Friseur sie spontan zwischenschieben, ihre Haare sahen nämlich regelrecht fürchterlich aus, und eine Pediküre war auch dringend angesagt, wenn es ihre nackten Füße diesen Sommer noch einmal an die Isar oder ins Schwimmbad schaffen sollten.

»Na, meine Hübsche, wie ist der ersten Morgen in Freiheit nach so langer Knechtschaft?« Eine Hand fasste von hinten an ihren Bauch und fuhr langsam nach oben, umfasste eine ihrer Brüste und verharrte dort.

Und Peter. Natürlich könnte sie endlich wieder etwas mit Peter unternehmen.

»Hm«, machte sie und streckte die Arme nach oben aus. »Fühlt sich ziemlich gut an.« Langsam drehte sie sich um. Peters Gesicht war direkt vor ihrem. Sie sah in seine warmen braunen Augen, ließ den Blick wandern über seinen schön geschwungenen Mund, die kleine Narbe über der rechten Braue, die er sich als Jugendlicher beim Eishockeyspielen zugezogen hatte, die dichten dunkelblonden Haare. Langsam strich sie ihm über die Wange, fühlte die kurzen Bartstoppeln und beugte sich zu ihm.

»Fühlt sich richtig, richtig gut an.«

Sie küsste ihn auf die Nase, richtete sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Sie wollte gerade aufstehen, als sich Peters Hand erneut fest um ihren Bauch schlang.

»Bleib«, sagte er und seine Stimme war noch heiser vom Schlaf.

Stefanie sah einen Moment auf die Hand, löste sie dann vorsichtig und stand auf. »Ich will erst mal duschen.«

Peter stieß einen leisen Seufzer aus und ließ sich zurück auf sein Kissen fallen.

»Dann fühl ich mich wohler. Bin gleich wieder da.«

»Bist du nicht.«

Sie war schon an der Tür und wandte sich um. »Wie bitte?«

»Du hast mich schon verstanden. Weißt du, es ist eigentlich normal, wenn ich mit der Frau, die ich liebe, ab und an schlafen will. Zumindest einmal im Quartal. Für dich scheint das aber geradezu abartig zu sein.« Er drehte sich zur Seite und schloss die Augen.

Stefanie blieb einen Moment sprachlos stehen.

»Hör zu«, sagt sie dann und bemühte sich um einen unbeschwerten Tonfall. »Folgender Vorschlag: Ich hole jetzt frische Semmeln, wir frühstücken gemütlich und dann gehe ich ins Fitnessstudio, weil mir ein wenig Bewegung nach all der Rumsitzerei wirklich gut tun würde, und dann schauen wir, was uns der Tag so bringt, okay?«

»Von mir aus«, sagte Peter, ohne die Augen zu öffnen. »Aber ich hole die Semmeln. Ich brauche frische Luft.«

»Okay«, sagte Stefanie.

»Dann kannst du erst mal in Ruhe duschen.«

»Super, danke.«

 

Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, setzte sie sich auf einen der Küchenstühle. Super, danke. Sie sprach mit ihrem Freund wie mit einem Kollegen, der ihr einen längst überfälligen Text zukommen ließ, der dann auch noch schlecht war. Machte sie das schon länger? Kopfschüttelnd erhob sie sich und beschloss, mit Peter am Abend über die letzten Wochen zu sprechen.

Sie duschte sich rasch und packte dann ihre Sportsachen. Als sie die Tasche in den Flur stellte, hörte sie jemanden im Treppenhaus sprechen. Sie hielt inne. Es war Peter, der anscheinend telefonierte. Er klang heiter. Sie hörte, wie er den Schlüssel ins Schloss steckte und ihn drehte.

»Ich bin dir wirklich dankbar für alles, was du getan hast«, hörte sie ihn sagen. »Ruf dich wieder an, ja? Bin jetzt daheim und kann nicht mehr reden.« Die letzten Worte waren fast geflüstert.

Stefanie fühlte augenblicklich einen Kloß im Hals. Wer war diese Person, die in der Lage zu sein schien, Peters Laune innerhalb kürzester Zeit von unterirdisch in blendend zu verwandeln?

Er trat in den Flur. Seine Wangen waren immer noch gerötet, jetzt aber nicht mehr von Erregung und Wut, sondern augenscheinlich von Freude. Stefanie schluckte. Als er sie sah, zwinkerte er mehrmals rasch hintereinander, etwas, was er immer machte, wenn er nervös war.

»Alles klar?«, fragte sie.

»Alles klar«, sagte er rasch und hob die Tüte. »Hab dir zwei von den Dinkelsemmeln mitgebracht, die du so magst.«

»Super, danke.«

»War gar nichts los beim Bäcker für einen Samstag. So, jetzt mach ich gleich Kaffee und dann können wir loslegen. Wann wolltest du noch mal zum Sport?«

»Hmm?«

»Wann du zum Trainieren wolltest? Du weißt schon, deine«, er rieb sich den Bauch, »angeblich problematische, aber in meinen Augen superschöne Zone trainieren, haha.«

Er benimmt sich wie ein Klischee, dachte Steffi und folgte ihm wortlos in die Küche. Das kann alles nicht wahr sein, ich muss im falschen Film sein.

Peter legte die Semmeln in den Brotkorb und warf die Tüte in den Mülleimer. »Huch, der ist auch schon wieder voll«, sagte er. »Ich bring ihn rasch runter, ja? Bin grad so in Fahrt, gleich wieder da!«

Sie beobachtete stumm, wie er pfeifend die Mülltüte nahm, nach seinem Schlüssel griff und verschwand.

Rasch trat sie in den Flur. Peters Handy lag auf der Kommode neben der Tür. Eine heiße Welle der Scham überkam sie bei dem Gedanken daran, was sie gleich tun würde. Sie kannte das Sperrmuster von Peters Telefon. Sie hatte ihn einmal beim Eintippen beobachtet und sich die Nummernkombination gemerkt. Nicht aus Kalkül. Ihr Gedächtnis für Zahlen war seit jeher gut.

Sie nahm das Telefon, entsperrte es und rief die Rufliste auf. Letzte gewählte Nummer: Hanni. Heute, 9.08 Uhr. Hanni? Sie hatte den Namen noch nie gehört. Hanni ohne Nachnamen. Kannte Peter sie besser? Wie von selbst bewegte sich ihr Daumen auf den Namen und drückte leicht. Die Verbindung wurde aufgebaut. Langsam führte sie das Handy an ihr Ohr und hielt den Atem an.

Eine tiefe Frauenstimme meldete sich, lachend. »Na, du kannst heute ja gar nicht genug bekommen.«

Stefanie blieb der Mund offen stehen.

»Hallo?«, hörte sie die Stimme sagen. »Peter?«

Stefanie legte auf. Sie hielt das Handy weit von sich entfernt und betrachtete es wie ein widerliches Insekt. In diesem Moment hörte sie Peters Schritte auf der Treppe, legte das Telefon schnell zurück, huschte in die Küche und begann, den Tisch zu decken.

»So, da bin ich wieder. Gibt’s schon Kaffee?«

»In fünf Minuten.«

»Ich kann auch machen.«

»Okay.« Sag nicht wieder Super, danke, befahl sie sich.

Peters Telefon klingelte und er verschwand im Flur. Scheiße, dachte Stefanie und drückte das Geschirrtuch fest an ihre Brust. Scheiße, scheiße, scheiße.

Es klingelte immer noch.

»Willst du nicht rangehen?«, rief sie. Ihre Stimme zitterte leicht.

Das Klingeln hörte auf. Peter kam in die Küche, das stumme Telefon in der Hand.

»Hast du weggedrückt?«, fragte Stefanie und hoffte, dass er ihr nicht anhörte, wie aufgewühlt sie war.

»Ja, war nicht wichtig. Nicht jetzt.«

Fragt ihn doch einfach, wer es war, dachte sie. Ganz normal, wie du es sonst auch manchmal machst. Los, frag ihn! Doch sie befürchtete, dass sie die Frage nur so schrill und spitz stellen könnte, dass Peter sofort bemerken würde, dass etwas nicht stimmte.

Während des Frühstücks erzählte Peter von einem neuen Fall und dem Hund eines Klienten, der in die Kanzlei gemacht und seinen Vater in Rage versetzt hatte, doch Stefanie hörte nur mit einem Ohr zu und antwortete einsilbig. Ihre Gedanken kreisten um die unbekannte Hanni. Hatte Peter in den letzten Wochen mit ihr geredet, wenn er Gespräche hastig abgebrochen hatte, nur weil Stefanie in den Raum gekommen war? Hatte er an sie gedacht, wenn seine Blicke sich bei den Mahlzeiten im Nichts verloren? Oder gab es für alles eine ganz einfach Erklärung?

»Steffi?«

»Hm, ja?

»Was wolltest du mir von Reto erzählen?«

»Ach, nichts. Erzähl ich später.«

»Du, wäre es in Ordnung, wenn ich mich mittags kurz mit Michi im Biergarten treffe?«

»Mit Michi? Wann habt ihr das denn ausgemacht?«

»Schon Mitte der Woche. Ich hab ihm halt gesagt, dass es nur geht, wenn wir beide nichts Größeres machen.«

»Klar, ist völlig in Ordnung.«

»Wir könnten ja dann am Nachmittag an die Isar oder so.«

»Hmm, ja. Lass uns einfach schauen, wie das Wetter sich entwickelt, okay?«

»So machen wir es.«

Eine Stunde später verließ Stefanie die Wohnung. Noch im Treppenhaus kramte sie ihr Handy aus der Tasche und schrieb an Vanessa:

Hi. Können wir uns heute Abend treffen? Quasi Notfall.

Die Antwort kam dreißig Sekunden später.

Sorry, Süße, dieses Wochenende ist ganz schlecht. Heute noch Kongress, morgen fahr ich mit Till bisschen weg.

Stefanie blieb stehen und seufzte. Till jetzt also. War es nicht das letzte Mal ein Marlon gewesen? Der Sieht-aus-wie-Marlon-Brando-aber-in-seinen-schlanken-Jahren-Marlon? Ihr Telefon brummte erneut.

Ich trau mich ja kaum fragen, aber wie sieht es denn montags nach der Arbeit aus? Da könnte ich!

Stefanie lächelte. Du wirst es kaum glauben, tippte sie. Aber ICH kann da auch! Wann und wo?

In meinem Hood natürlich. Und wenn’s schön wird, bitte volle Kanne Gärtnerplatz. Schön ums Rondell sitzen. ;-) Um sieben in Robinson’s Bar?

Abgemacht. Bis dann, freu mich!

Ich mich erst! Kaum zu glauben! Wann haben wir uns das letzte Mal gesehen?? Weihnachten?

Haha. So schlimm ist es auch nicht. Seh dich übermorgen!!

Bis dann! Schönes Wochenende und liebe Grüße an den lieben Peter.

Richte ich aus, tippte Stefanie und murmelte dann: »Der liebe Peter macht hier gerade möglicherweise ganz schlimme Sachen.«

Sie horchte einen Moment in sich hinein und wunderte sich, dass sie nicht wütender war. Verzweifelt. Unfähig, sich zu rühren, unfähig, Peter ruhig gegenüberzusetzen und so zu tun, als sei alles in Ordnung. Lag es daran, dass sie ihm einfach nicht zutraute, dass er sich heimlich mit einer anderen Frau treffen würde? Geschweige denn, dass er eine Affäre mit ihr haben mochte? Aber was machte sie da so sicher? Weil sich immer alles als harmlos herausgestellt hatte, wenn Freundinnen oder Kolleginnen ihr von Partnern erzählten, die sich angeblich seltsam verhielten? Die auffällig oft noch »lange arbeiten« mussten? Ausnahmslos alle Frauen hatten – wenn es ihnen möglich war – das Handy ihres Partners oder seine E-Mails überprüft, Jacken- und Sporttaschen untersucht, um auf einen untrüglichen Beweis zu stoßen, dass er sie betrog. Oder zumindest daran dachte. Oder immerhin mit einer Frau in Kontakt war, von der er noch nie erzählt hatte.

Stefanie verzog das Gesicht bei dem Gedanken daran, dass sie nun auch dazugehörte. Zu den Frauen, die das Telefon ihres Partners überprüften. Ihn kontrollierten. Ihm hinterherspionierten und seine Privatsphäre missachteten. Die ihm nicht vertrauten. Gespenster sahen und im Grunde an mangelndem Selbstvertrauen litten. Denn genau das war es in den meisten Fällen: eine aus zu wenig Selbstwert gespeiste Angst, betrogen oder vom Partner verlassen zu werden.

Als Stefanie langsam durch die Wörthstraße Richtung Fitnessstudio rollte, nahm sie sich zwei Dinge vor: Sie würde abends mit Peter über ihren Verdacht sprechen. Und sie würde nie mehr sein Handy kontrollieren oder ihn in irgendeiner anderen Art hintergehen.

 

Als Stefanie vom Studio zurück in die leere Wohnung gekommen war, verschwitzt und erschöpft von Sport und der Heimfahrt in der Mittagshitze, hatte sie es genossen, allein zu sein, sich in aller Ruhe geduscht, die zweite Dinkelsemmel mit Käse belegt und auf dem Balkon gegessen, sich dann einen Kaffee gemacht und ihn entspannt getrunken.

Sie hatte beschlossen, erst mit Vanessa zu sprechen, bevor sie Peter mit ihren Gedanken konfrontieren würde. Vielleicht würde ihre Freundin, die sie seit dem Kindergarten kannte, die Dinge zurechtrücken. Stefanie wunderte sich immer noch, wie rasch sie sich nach Peters seltsamem Verhalten wieder beruhigt hatte. Weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte?

Peter war zwei Stunden nach ihr heimgekommen, eindeutig angetrunken, aber auf heitere Weise. Er hatte noch einmal einen Anruf in Stefanies Beisein weggedrückt und verhielt sich danach so unbefangen, dass sie davon fast angesteckt wurde. Sie blieben in freundlicher Distanz zueinander, auch den Sonntag über, der sich grau, verregnet und deutlich kühler zeigte. Stefanie saß fast ununterbrochen am Küchentisch, schrieb Mails und Kurznachrichten an seit Wochen vernachlässigte Freundinnen, erzählte, entschuldigte, erklärte, schlug baldige Treffen vor. Peter verbrachte den Tag mehrheitlich auf der Couch im Wohnzimmer, den Laptop auf dem Schoß und mit geröteten Wangen tippend, und Stefanie fragte nicht, was er machte.

 

Als sie sich am nächsten Morgen um halb neun auf ihr Fahrrad schwang, war sie froh, der seltsamen Atmosphäre für mindestens zwölf Stunden nicht ausgesetzt zu sein. Noch herrschten angenehm kühle Temperaturen, aber der Himmel war blau und wolkenlos und kündigte einen heißen Tag an.

Sie beschleunigte und ihre Haare flatterten im Wind, als sie den Berg am Kulturzentrum hinunterfuhr, mit Schwung die Kreuzung vor dem Müllerschen Volksbad überquerte und auf die Ludwigsbrücke einbog.

Zehn Minuten später sperrte sie ihr Rad ab und betrat den gelben Altbau, dessen zweiten und dritten Stock die Agentur einnahm. Sie nahm zwei Stufen auf einmal und kam leicht außer Atem vor der Doppelglastür mit dem Agenturschild an, stieß sie auf und atmete den vertrauten Montagsgeruch ein, der aus einer dezenten Putzmittelnote und dem Duft nach frischem Kaffee bestand.

Der Empfang war leer. Lore verteilte vermutlich die Samstagspost oder war unterwegs, um sich, wie sie selbst zu sagen pflegte, »briefen« zu lassen über das, was ihre Kolleginnen und Kollegen am Wochenende erlebt hatten. Lore arbeitete erst seit einem Jahr in der Agentur und warf gern mit vermeintlichen Fachbegriffen aus der Branche um sich, nicht, weil sie sich wichtigmachen wollte, sondern weil sie alles aufsaugte wie ein Schwamm, alles faszinierend und verwunderlich fand, was die »jungen Leute« da trieben. Mit sechsundfünfzig Jahren war sie die älteste Frau in der Agentur und mit ihrem auberginefarbenen Haar, ihrer untersetzten Figur und dem üppigen Busen, den sie meistens in zeltartige Blusen hüllte, auch optisch eine Ausnahmeerscheinung.

»Mütterlich«, hatte sie Reto Zöller kurz nach ihrer Einstellung gegenüber Stefanie einmal genannt und angefügt, dass jede Agentur »eine gute Seele« brauche. Dass er die gute Seele, die ursprünglich Altenpflegerin gewesen war und sich dann aufgrund chronischer Rückenprobleme zur Bürokauffrau hatte umschulen lassen, mittlerweile entweder tagelang ignorierte oder sie wegen irgendeiner Nichtigkeit anblaffte, nahm Lore ihm nicht übel.

»Der Reddo is aa nur a Mo«, pflegte sie dann zu sagen und verriet ihre Aufgeregtheit lediglich durch den ausgeprägten Einsatz ihres fränkischen Heimatdialekts.

Um zu ihrem Büro zu gelangen, musste Stefanie an der Küche vorbei, aus der eine aufgeregte Stimme drang. Stefanie rollte mit den Augen.

Jessica. Wieder einmal die Aufmerksamkeit aller auf sich ziehend. Jessica stammte aus Hamburg und war erst vor einigen Monaten für den Job in der Agentur nach München gezogen, um die zweijährige Fernbeziehung zu ihrem Freund Martin endlich zu beenden. Kurz nach dem Einzug in eine Dreizimmeraltbauwohnung im Glockenbachviertel fand Jessica verdächtige Nachrichten auf Martins Handy (da war es wieder, das Kontrollieren, aber in diesem Fall war es berechtigt gewesen), stellte ihn zur Rede und stieß auf so wenig Gegenwehr, dass sie noch am selben Tag in ein Hotel zog, da sie noch niemanden kannte, bei dem sie hätte unterkommen können. Inzwischen wohnte sie in einer Einzimmerwohnung in Giesing (ein Viertel, das sie grässlich fand) und schimpfte seit Wochen abwechselnd über München (eine Stadt, die sie nicht mochte), die Männer im Allgemeinen (eine Spezies, die ihr in Zukunft gestohlen bleiben konnte) und Martin im Speziellen (ein Vertreter dieser Spezies, den sie hasste). Stefanie hatte zu Beginn Mitleid gehabt und sich öfter als Gesprächspartnerin angeboten, doch mittlerweile musste sie sich eingestehen, dass sie Martin verstand. Jessica war auf ihre eigenen Belange fixiert und so ausdauernd dabei, anderen die Schuld an allem zu geben, auch in der Arbeit, dass Stefanie wieder auf Distanz zu ihr gegangen war.

»Gestern hab ich die beiden gesehen«, hörte sie Jessica in diesem Moment sagen. »Im Kino am Rosenheimer Platz. Kannst du dir vorstellen, was das für eine Demütigung war, als ich nach dem Film warten musste, bis sie aus dem Saal waren?«

»Haben sie dich gesehen?«

»Nein, ich bin in den Sessel gerutscht, als es hell wurde, und so lange geduckt geblieben, bis ich mir sicher sein konnte, dass sie weg waren.«

»Oje, du Ärmste, das war sicher nicht einfach für dich.« Die Stimme von Marie, Grafikerin. Mit dreiundzwanzig Jahren Youngster der Agentur. Frisch von der Uni und noch enthusiastisch. Nicht nur, was die Arbeit betraf. »Ich bin mir aber absolut, absolut sicher, dass du bald den Richtigen triffst. Das ist nur eine Frage der Zeit, es gibt für jeden Topf den passenden De-«

»Träum weiter, Marie. Männer sind in der Regel feige, unehrlich, verkorkst und gefühlsamputiert. Und falls sie das alles nicht sind, dann haben sie irgendein anderes sehr großes Problem, glaub mir. Die Netten sind die Schlimmsten, die – hey, Steffi, komm rein und mach mit bei unserem morgendlichen Kaffeeklatsch!«

Wohl eher morgendliches Männer-Bashing, dachte Stefanie, wandte sich jedoch um und betrat die Küche. »Morgen, Marie, hi, Jessica. Kaffee gern, für Klatsch leider keine Zeit, Reto hat für Viertel nach neun eine Teamsitzung anberaumt. Wegen eines neuen Projekts.« Sie sah kurz zu Marie. »Du bist ja auch im Boot, ich war CC gesetzt.«

Marie strahlte. »Ja, ich bin dabei. Reto hat mir eben am Wochenende gemailt und schon geschrieben, dass es ein richtig großes –«

»Es wird wohl eher normal«, unterbrach Stefanie sie hastig. Sie wusste aus Retos Mail, dass Jessica für das Projekt nicht eingeplant war, und es tat ihr fast schon wieder leid, dass sie es erwähnt hatte. Aber früher oder später würde sie ohnehin davon erfahren. Sie spürte Jessicas stechenden Blick und begann hastig, sich einen Cappuccino zu machen.

»Und wie war euer Wochenende so?«, fragte sie.

»Richtig schön, wir waren samstags auf dem Herzogstand, aber die Idee hatten auch Millionen andere, es war also wahn-sin-nig voll, aber der Blick dafür – traumhaft«, plapperte Marie, »das entschädigt dann auch für die Massen von Leuten, die mit der Seilbahn auf den Berg fahren und dann oben in Sandalen herumturnen und denken –«

»Scheiße. Es war total scheiße«, zischte Jessica, wandte sich auf dem Absatz um und verließ den Raum.

Stefanie tauschte einen Blick mit ihrer jungen Kollegin und seufzte. »Liebeskummer. Das wird noch dauern.«

»Sie hat tatsächlich Liebeskummer … aber nicht wegen Martin.«

»Ach ne? Wegen wem dann?«

»Das weiß ich nicht«, raunte Marie. Ihre Wangen waren tief rot geworden. »Aber ich glaube, er ist vergeben. Oder sogar verheiratet. Er hat am Wochenende fast nie Zeit für sie, deswegen ist sie so traurig. Und unter der Woche ist er immer am Arbeiten, hohes Tier irgendwo.« Sie senkte die Stimme. »Aber bitte, Stefanie, sag ihr nicht, dass ich mit dir darüber gesprochen habe. Ich weiß echt nicht, warum sie mir das immer alles erzählt, ich kann ihr nicht helfen, mir ist das alles so peinlich. Ich glaube, sie hat niemanden zum Reden. Aber bitte sag ihr nichts, ich will nicht, dass sie denkt, ich plaudere ihre Geheimnisse aus. Vielleicht kannst du ja mal mit ihr reden, du bist ja auch schon bisschen älter … also, älter als ich … nicht … alt …«

Sie war jetzt so rot im Gesicht, dass Stefanie lachen musste, ihre Tasse absetzte und ihre Hände sanft auf Maries Schultern legte.

»Hey, hey, hey, ganz ruhig. Alles gut. Ich weiß, dass du keine Tratsche bist und ich noch nicht vergreist bin. Ich werde keinen Ton zu Jessica sagen. Ehrlich gesagt interessiert mich ihr Privatleben auch gar nicht.« Sie nahm ihren Kaffee und wies mit dem Kopf Richtung Tür. »Lass uns gehen. Reto wartet nicht gern. Vor allem nicht«, sie zwinkerte Marie zu, »wenn ein Projekt sehr wichtig und sehr groß ist.«

 

 

 

Platzregen nach schwüler Hitze

 

 

Marie konnte nicht mehr aufhören zu kichern.

Reto rollte mit den Augen. »Könntest du mir verraten, was so unglaublich witzig ist?«

Stefanie schmunzelte und wich den Blicken von Marco und Stefan aus, die ihr gegenüber saßen und offensichtlich bemüht waren, nicht ebenfalls in Gelächter auszubrechen.

Marie sah angestrengt auf die Tischplatte. Sie war puterrot.

Atme, dachte Stefanie. Atme, Marie.

»Ich … ich… finde nur … ich finde nur den Namen so … so ungewöhnlich«, stotterte Marie.

Reto lehnte sich im Stuhl zurück und verschränkte die Arme. »Den Namen des Kunden?«

Marie nickte und hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht erneut loszuprusten.

»Wusstest du, dass Rolo von Wolf und ich seit dem Kindergarten befreundet sind«, sagte Reto. Er zog die Augenbrauen zusammen, aber Stefanie sah ihm an, dass er es nicht ernst meinte. Er amüsierte sich über Marie. Die schüttelte stumm den Kopf.

»Wir waren ein Superteam. Reto und Rolo …« Genüsslich beobachtete er, wie Maries Lippen zu beben und ihre Augen zu tränen begannen. »Reto, Rolo und manchmal noch Radolf von Limmerbach. Der ging allerdings ab der neunten Klasse ins Internat und …«

»Entschuldigt mich bitte, bin gleich wieder da«, presste Marie mit erstickter Stimme hervor, erhob sich hastig und stürzte aus der Tür.

Reto grinste in die verbliebene Runde. »Die Generation Finn-Leonie kann mit echten Namen nichts mehr anfangen.« Er zog seinen Laptop zu sich und öffnete eine Datei. »So, während Frau Georgi sich erholt, noch einmal von vorn: Rolo von Wolf, wie gesagt ein alter Freund von mir, was uns einen anstrengenden Pitch erspart. Rolo von Wolf junior, um genau zu sein – sein Vater hieß auch schon so, ich glaube, der Großvater ebenfalls. Rolos Vater führte jedenfalls bis in die Achtzigerjahre im mittelfränkischen Ansbach ein Textilunternehmen, hat dann aber, wie die meisten in Deutschland, aufgegeben angesichts der überwältigenden Billigkonkurrenz aus Asien. Nach Schließung der Fabrik lagerten die Maschinen – die Strickmaschinen, Webstühle et cetera – viele Jahre bei einem anderen ehemaligen Textilhersteller in Ansbach. Bis Rolo von Wolf junior vor fünfzehn Jahren beschlossen hat, sie wieder zu aktivieren – und zwar nicht in der fränkischen Provinz, sondern hier in München, im Urbanen, in einer ehemaligen Brauerei in Giesing. Er ist nicht der Erste und Einzige, der so etwas macht, aber das Resultat ist dennoch erfolgreich: Produkte von Wolf Pack sind zwar noch ein Nischenprodukt, aber mit Kultpotenzial. Moderne T-Shirts aus hochwertigem Material, auf alten Webstühlen hergestellt und –«

»Und sauteuer«, warf Stefan ein. »Neunzig Euro für ein einfaches T-Shirt – finde ich nicht einfach zu vermitteln.«

Stefanie warf einen Blick auf das kleine Krokodil auf seinem Hemd und schwieg erneut.

»Nur falls es darauf hinausläuft, dass wir eine Kampagne für Wolf Pack machen sollen«, fuhr Stefan fort.

Reto wiegte den Kopf. »Sollen wir tatsächlich in gewisser Weise. Rolo von Wolf wird sein Sortiment erweitern und in Zukunft auch Jeans anbieten. Er möchte aber nicht nur diese neuen Produkte bewerben, sondern sein ganzes Unternehmen. Denn das ist zwar in Dubai oder Japan höchst erfolgreich, hier aber wie gesagt eher noch ein Geheimtipp. Das möchte er ändern: Er möchte weltweit bekannter werden und hierzulande zumindest ein Household Name. In Werbung hat Rolo nie viel investiert, eher auf Mundpropaganda und seine persönlichen Beziehungen gesetzt, vor allem im Ausland. Dass ihn jetzt der unternehmerische Ehrgeiz so gepackt hat, hat mich zunächst selbst gewundert, aber es soll uns nur recht sein. Er wird richtig viel Geld in die Hand nehmen und möchte alles neu: CI, Homepage, Give-aways, Flyer, Broschüren, Kataloge, alles.«

»Was heißt richtig viel Geld?«, fragte Marco. »Ich hoffe einfach mal, du hast ihm keinen Freundschaftspreis angeboten, nur weil du früher mit ihm und Radolf im Sandkasten gespielt hast.«

Reto lächelte. »Selbst wenn ich es getan hätte – Rolo hätte das nie angenommen. Nein, er wird natürlich behandelt wie jeder andere Kunde auch. Noch einmal: Er möchte einen Relaunch der Website und auch sonst alles neu. Es wird kosten, was es kosten wird. Wichtig ist, dass wir Folgendes transportieren: Da gibt es eine Textildynastie, seit 150 Jahren im Geschäft, dann in den Achtzigerjahren Insolvenz, fünfzehn Jahre weg vom Fenster, dann kommt der Sohn des letzten Geschäftsführers und zieht das Ganze mit den alten Maschinen neu auf.«

Die Tür öffnete sich und Marie kam wieder herein. Die Lachtränen hatten ihre Wimperntusche verschmiert, was ihren Augen einen dramatischen Look gab. Sie nahm wieder Platz und vermied jeglichen Blickkontakt. Reto setzte an, etwas in ihre Richtung zu sagen, doch Stefanie fixierte ihn und schüttelte leicht den Kopf. Reto bemerkte es und nickte.

»Also, in diesem Sinne«, sagte er, »werden wir ihm ein richtig geiles Paket schnüren. Mit Stefanie als Teamleiterin und Texterin«, er hielt kurz inne und sah sie an, »wenn das zeitlich für dich zu machen ist. Grafik machen Marco und Stefan mit Maries Hilfe. Falls noch mehr Unterstützung notwendig ist, bestimmt Steffi, von wem sie kommen soll. Bitte schaut euch bis Donnerstag die jetzige Homepage an, bisherige Flyer und andere Werbemittel gebe ich euch später. Am Freitag wird Rolo uns besuchen, damit wir auch noch seine Vorstellungen als Input bekommen. Also«, er schob seinen Drehstuhl ein Stück vom Tisch weg. »So weit, so gut. Macht euch an die Arbeit.«

Als Stefanie sich wie die anderen erhob und den Raum verlassen wollte, hielt Reto sie zurück. »Kann ich dich noch kurz unter vier Augen sprechen?«

»Klar.« Stefanie setzte sich wieder.

Als sie zu zweit waren, rollte Reto nervös seinen Kugelschreiber hin und her. »Steffi, ich wollte erstens sagen, dass deine Ernennung zur Projektleiterin für die Wolf-Sache wirklich nichts damit zu tun hat, dass du mich am Freitag in einer … nun … etwas kompromittierenden Situation erwischt hast. Nur falls du das in irgendeiner Weise denkst.«

»Reto, ich habe nichts gehört und nichts gesehen. Wobei«, sie lächelte. »Gehört vielleicht schon.«

Reto grinste verlegen.

»Aber das Projekt angekündigt hattest du mir schon, als ich noch dachte, du machst auf dem Büroboden Yoga-Übungen zur Verbesserung deines Sexuallebens. Im Übrigen bin ich absolut unbestechlich. Was du privat unter deinem Schreibtisch machst, ist mir relativ egal, solange ich erstens nicht deine Frau auch irgendwann anlügen muss …«

Reto senkte die Augen Richtung Tischplatte und seufzte.

»… und ich mich zweitens nicht auch irgendwann unter dem Tisch einfinden muss.«

Reto hob abwehrend beide Hände. »Gott bewahre! Ich steh nicht auf Brünette.«

»Wunderbar.«

»Sensationell. Nachdem wir diesen wichtigen Punkt geklärt haben, können wir ja noch rasch weniger Essenzielles besprechen.«

»Sehr gerne.«

»Pass auf, Steffi.« Retos Miene war ernst geworden. Er beugte sich über den Tisch und sah sie direkt an. »Du hast am Freitag angedeutet, dass du zunächst nicht unbedingt wieder an einem Projekt beteiligt sein willst, das zeitlich und finanziell so aus dem Ruder läuft wie bei Neumanns.«

Stefanie verschränkte die Arme vor der Brust. »Naja, damit habe ich nicht gemeint, dass ich mich nicht voll und ganz in etwas Neues reinknien möchte. Damit wollte ich nur sagen, dass …«

»Stoppstoppstopp. Steffi, ich weiß genau, was du mir sagen willst, und es wird dieses Mal auch nicht so sein, dass letztendlich alles an dir hängen bleibt. Aber«, er beugte sich noch etwas weiter zu ihr, »aber mir ist sehr wichtig, dass dieses Projekt optimal betreut wird. Nicht weil es Kohle bringt – um ehrlich zu sein, hatten wir schon viele, die deutlich mehr bringen –, sondern weil Rolo von Wolf ein wirklich guter Freund von mir ist. Vor den anderen wollte ich es nicht sagen, weil sie mich sonst für sentimental und unprofessionell halten, aber, Steffi, es ist wirklich, wirklich wichtig, dass dieses Projekt hervorragend läuft. Rolo hatte es nicht schön die letzten Jahre und wenn ich etwas tun kann, was ihm das Leben in irgendeiner Form erleichtert, dann möchte ich das tun – und wenn es nur eine 1a-Homepage ist. Meinst du, du kriegst das hin?«

Stefanie nickte wortlos. »Darf ich etwas fragen?«, fragte sie dann.

»Natürlich.«

»Warum betreust du das Projekt nicht selbst? Ich meine, in diesem anscheinend speziellen Fall wäre es doch sinnvoll.«

»Nein, keine Chance. Bin viel zu nah dran. An ihm, an allem … was gewesen ist. Nein, nein. Aber«, er streckte den Zeigefinger in die Luft und lächelte wieder, »ich werde natürlich ein besonders strenges Auge auf dieses Projekt haben. Dich und die anderen öfter zum Rapport einbestellen. Öfter Meetings einberufen.«

»Nur zu, kein Problem.«

»Gut, dann gilt jetzt auch für dich: Ran an die Arbeit.«

Stefanie erhob sich, nahm ihren Block an sich und schob den Stuhl an den Tisch.

»Und, Steffi?«

»Ja?

»Danke schon einmal im Voraus. Wird mitunter nicht einfach sein.«

»Das ist es nie.« Sie ging zur Tür und öffnete sie mit Schwung. »Hier nicht und im übrigen Leben auch nicht.«

 

Sie verließ die Agentur um dreiviertel sieben und radelte in Richtung Gärtnerplatz. In den klimatisierten Büroräumen hatte sie nicht gemerkt, dass die Temperaturen im Laufe des Tages auf über dreißig Grad angestiegen waren, und schon nach wenigen Minuten war ihr so heiß in T-Shirt und leichtem Cardigan, dass sie keuchte. Als sie an Robinson’s Bar ankam, fühlte sie, dass ihre Haare feucht an den Schläfen klebten.

Sie sperrte ihr Fahrrad ab und versuchte, inmitten der vielen sonnenbebrillten jungen Menschen Vanessa auszumachen. Sie sah gebräunte Gesichter und Arme, hörte das Klirren von Gläsern, die aneinandergestoßen wurden, ausgelassenes Gelächter und spürte, wie leichte Melancholie in ihr hochkroch: Diesen Sommer hatte sie bisher definitiv verpasst.

»Hier bin ich, Steff!«

Vanessa saß an einem weiter entfernten Tisch, stand auf und winkte, obwohl Stefanie bereits auf sie zukam. Schnell noch mal allen zeigen, dass man da ist, dachte Stefanie und musste lächeln. Vanessas blondes Haar fiel ihr locker über die Schultern und wirkte wie frisch geföhnt. Sie trug ein weißes Sommerkleid, das kurz oberhalb des Knies endete und ihre trainierten Oberschenkel erahnen ließ. Ihre Haut war karamellfarben, und als Stefanie sie umarmte, roch sie Zitrone und Vanille.

»Du duftest wie ein Blumenstrauß und ich stinke nach harter Arbeit und muffigem Büro«, murmelte Stefanie und drückte ihre Freundin noch fester an sich. »Und es tut mir so leid, dass ich in den letzten Wochen so unzuverlässig war.«

»Jetzt lass mal gut sein.« Vanessa trat einen Schritt zurück und hielt sie mit beiden Händen an den Schultern. »Aber eine gesunde Gesichtsfarbe hast du.«

Stefanie ließ sich in einen freien Stuhl plumpsen und seufzte. »Kommt aber leider nicht von Sonne und frischer Luft. Ich schwitz einfach wie ein Schwein.«

»Ich würde sagen: Du ziehst jetzt mal dein Strickteil aus und ich besorge uns was zu trinken.« Sie nahm Blickkontakt mit einer der Kellnerinnen auf und rief. »Zwei Hugos, bitte!« Sie sah zu Stefanie. »Ist doch in Ordnung?«

»Hauptsache Alkohol.«

Vanessa winkte der Kellnerin erneut. »Zwei Hugos mit mehr Sekt als Sirup, bitte!«

Die Kellnerin, eine junge Frau mit hohem Dutt und tief sitzender Jeans, die einen Teil ihres flachen Bauches zeigte, nickte grinsend.

»So, Rotgesicht, jetzt zu dir.« Vanessa schlug die Beine übereinander und lehnte sich zurück. »Deine Nachricht von gestern klang einigermaßen angespannt. Wo brennt es?«

Stefanie hatte sich aus dem Cardigan befreit und fasste sich vorsichtig unter die Achseln. »Ich komm mir vor wie ein Stinktier unter all den fluffigen Menschen hier.«

»Steff! Hör auf zu unken. Warum meintest du, wir müssten uns dringend treffen? Ist was passiert? In der Arbeit?«

»Ist es okay, wenn wir gleich über mich reden? Ich meine … bei dir hat sich ja auch … allerhand getan …«

Vanessa sah sie irritiert an.

»Naja … Till?«, sagte Stefanie. »Das letzte Mal hieß er noch Marlon …?«

Vanessa lachte. »Marlon? Das ist ja Ewigkeiten her. Über Till können wir nachher sprechen. Vielleicht sogar mit ihm. Er kommt eventuell noch kurz vorbei.«

»Das heißt – es ist etwas Ernstes?«

»Weiß ich nicht. Aber ich habe ihm erlaubt, an diesem schönen Sommerabend ins Freie zu gehen. Und die Frau zu treffen, die er letzte Nacht von oben bis unten …«

Sie unterbrach und wartete, bis die Kellnerin die beiden Getränke vor ihnen auf dem Tisch abgestellt hatte.

Stefanie beugte sich vor. »Ich glaube, ich habe verstanden«, flüsterte sie. »Till also. Ich bin gespannt.«

»Falls er denn kommt. Prost, Steff! Auf unser Treffen! Das erste seit Ewigkeiten.« Sie zog kräftig am Strohhalm und stellte das Glas dann energisch ab. »Aber genug von mir. Was wolltest du mir erzählen?«

Stefanie atmete tief durch. »Du hältst mich jetzt sicher für verrückt.«

»Kaum möglich, keine Sorge.«

»Ich glaube … also, es ist nicht ausgeschlossen, dass Peter eine Affäre hat.«

Eine Weile war es still. Gesprächsfetzen von den anderen Tischen umbrandeten sie. Vanessa drehte eine Haarsträhne um ihren Finger und sah Stefanie prüfend an. Dann schüttelte sie plötzlich den Kopf. »Ausgeschlossen.« Sie zog mehrmals am Strohhalm.

»Wieso?«

»Ich kann es mir einfach nicht vorstellen.« Vanessa winkte der Kellnerin zu. »Noch einen Hugo, bitte!« Sie sah zu Stefanie. »Du auch?«

»Nein, danke. Wieso denkst du, es sei ausgeschlossen?«

»Wieso denkst du, dass er dich betrügt?«

Stefanie überlegte. Wo sollte sie anfangen? Sie war sich ja selbst nicht absolut sicher.

»Er verhält sich merkwürdig in letzter Zeit.«

»Was heißt merkwürdig?«

»Er … er ist oft ganz weit weg, ganz woanders mit seinen Gedanken.«

»Ärger in der Kanzlei?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Hast du gefragt?«

»Wonach?«

»Ob es in der Arbeit Probleme gibt.«

»Peter hat nie Probleme in der Arbeit. Zumindest keine, die er für mitteilungswürdig hält. Arbeit ist Arbeit für ihn, nicht das Leben. Er ist da viel pragmatischer als ich.«

»Das stimmt. Okay, Arbeit scheidet also aus. Gut, er ist abwesend, nachdenklich – was ist dir noch aufgefallen?«

»Nun, er drückt bestimmte Anrufe anscheinend weg, wenn ich dabei bin.«

»Ich drücke am Tag mehrmals Anrufe weg.«

»Ja, nervige Werbeanrufe.«

Vanessa fischte ein Minzblatt aus ihrem Glas und steckte es in den Mund. »Nervige Werbung, ja. Nervige Männer. Oder Mama, wenn sie anruft, während ich Sex habe.«

»Vanessa, wenn du nicht ernst nimmst, was ich …«

»Ich nehme es ernst, sobald ich Fakten habe, die deinen Verdacht stützen. Bis jetzt weiß ich Folgendes: Er ist manchmal abwesend und drückt manchmal Anrufe weg. Sei mir nicht böse, wenn ich das sage, aber das trifft auf neunundneunzig Prozent aller Menschen zu.«

»Ich glaube, er drückt eine bestimmte Person weg, wenn sie in meiner Anwesenheit anruft.«

»Woher willst du das wissen?«

Stefanie wich dem Blick ihrer Freundin aus und fixierte angestrengt die Hände in ihrem Schoß.

»Steff?«

»Ich glaub, ich brauch doch auch noch einen Hugo.«

»Kein Problem. Ich bestell dir einen. Und jetzt erzähl.«

»Eine Frau, deren Namen ich noch nie gehört habe, hat ihn angerufen.«

»Und das weißt du, weil …?«

»Weil ich in sein Handy geschaut habe. Und bevor du dich jetzt aufregst, ja, ich weiß, es ist schändlich und verboten und indiskutabel. Ist aber nun mal passiert.«

»Schändlich ist relativ. Ich hab auch schon in Tills Handy geschaut, als er unter der Dusche war. Ich hatte den Verdacht, dass er eine feste Freundin hat – und bingo, das hat sich bestätigt.«

»Ja, aber das ist …«

»Das ist was anderes, weil wir nur eine Affäre haben?«

»Ja, irgendwie schon …«

»Ich sage dazu jetzt nichts.«

Stefanie schwieg. »Und fühlst du dich nicht schlecht danach?«, fragte sie dann.

»Nein. Ich mache es ja aus anderen Beweggründen. Eben nicht aus Kontrolle, sondern weil ich etwas wissen will. Wissen ist Macht. Bewahrt mich vor falschen Erwartungen. Und einigem anderen.«

»Das ist mir zu abgebrüht.«

»Ist ja jetzt auch nicht wichtig.« Vanessa zog den Stuhl näher an den Tisch und beugte sich vor. »Also: Eine dir unbekannte Frau hat ihn angerufen. Du kannst nicht fragen, wer sie ist, weil sonst rauskäme, dass du sein Handy kontrolliert hast. Peter wirkt verändert in letzter Zeit, abwesend und seltsam, und er bekommt regelmäßig Anrufe, die er in deiner Gegenwart wegdrückt. Habe ich das korrekt zusammengefasst?«

»Yep.« Stefanie nahm den neuen Hugo in Angriff und leerte ihn mit einem kräftigen Zug durch den Strohhalm fast bis zur Hälfte. »So isses.«

»Kann ich dich kurz was anderes fragen?«

»Na klar.«

»Wie lange hattet ihr beiden keinen Sex mehr?«

Statt einer Antwort nahm Stefanie den Strohhalm aus ihrem Glas, nahm es und trank es mit großen Schlucken aus.

Vanessa lehnte sich zurück. »Ah. Schon so lange nicht mehr.«

»Was soll das denn heißen bitteschön? Ja, wir haben eine Flaute – ist das gleich ein Grund, mich zu betrügen?«

»Wäre, Süße, wäre – es wäre kein Grund, dich zu betrügen. Was machst du – noch einen Hugo bestellen?«

»Yep. Du auch?«

»Von mir aus. Ich muss nicht früh raus.«

»Ich schon. Iss aber egal. Und du hast recht, ich bilde mir das alles ein.«

»Ich glaube auch. Wer immer die ominöse Frau ist, sie –«

»Hanni.«

»Was?«

»Sie heißt Hanni«, murmelte Stefanie und zog geräuschvoll an dem Strohhalm. »Mist, nix mehr drin.«

»Der nächste kommt gleich. Hanni also. Wer immer sie ist – Steff, ich bin mir sicher, dass sich dahinter etwas absolut Harmloses verbirgt. Du kannst ihn nicht fragen, wer diese Hanni ist, ja, aber es wird sich schon noch von selbst auflösen.«

»Bissu sicher?«

»Ich bin total sicher.«

»Ich soll also nich mehr versuchen, Nachforschungen anzustellen?«

»Auf keinen Fall. Hey, Steff, so kenn ich dich gar nicht, du bist doch immer die Predigerin, wenn es um Ehrlichkeit und offene Kommunikation geht. Du hast das Gefühl, er verheimlicht dir etwas – dann sprich ihn darauf an. Du musst ja nicht erwähnen, dass du in sein Handy geschaut hast. Den Verdacht hattest du ja schon davor, oder?«

»Hmm.« Stefanie griff nach dem dritten Hugo, der eben serviert worden war.

»Oder?«

»Ja, ich hatte den Verdacht schon davor.«

»Wirst du morgen mit ihm sprechen?«

»Yep.«

»Sein Handy nicht mehr kontrollieren?«

»Nope.«

»Steff!«

»Yep, ich werde sein Handy nicht mehr kontrollieren und bald mit ihm sprechen. Heute noch.«

Vanessa sah skeptisch auf das schon wieder halb leere Glas vor ihrer Freundin. »Rede besser morgen mit ihm, okay?«

 

Sie brauchte drei Anläufe, um den Schlüssel ins Schloss zu bringen.

»Gibtsdochnicht«, murmelte sie. »Issonstdochganzleicht.«

Als sie aufsperren wollte, funktionierte es nicht. Sie hielt den Schlüssel hoch und kratzte sich mit der freien Hand am Kopf. »Wasndalos?« Sie steckte ihn erneut ein und versuchte zu drehen. Vergebens. Übelkeit stieg in ihr hoch und sie schwankte zurück und wieder nach vorne. »Mit dem letzten Hugo war definitiv was nich in Ordnung«, nuschelte sie und startete einen neuen Versuch, die Tür zu öffnen. »Jetzt ma die andere Richtung.«

Es klickte. Steffi drückte sich ein wenig gegen die Tür, die im selben Moment schwungvoll von innen geöffnet wurde. Sie taumelte in den Flur, kam gerade noch vor dem Wandspiegel zum Stehen und betrachtete sich darin. »Puh, ich seh ja wild aus.« Ihre Haare klebten erneut feucht an den Schläfen und unter den Achseln zeichneten sich dunkle Ringe ab. Ihre Wimperntusche war verschmiert und quer über die rechte Wange verlief ein brauner Streifen. Sie fuhr mit dem Finger darüber und steckte ihn in den Mund. »Hm, Schokolade.«

»Steffi, was ist los mit dir? Ich dachte, jemand will einbrechen!«

Langsam wandte sie sich um. »Ahh, da isserja. Mein supergeiler, hotter Boyfriend. In Shorts. Lass dich drücken.« Langsam ging sie auf Peter zu und wankte dabei beträchtlich. »Lass dich drücken von deiner heißen Steffi.« Sie kicherte. »Iss echt superschwül draußen, ich bin wirklich ganz heiß. Fühl mal.«

Sie breitete die Arme aus und umschlang Peter, der sie sanft an den Hüften fasste und wegschob. »Boah, Steffi, du riechst wie eine Schnapsleiche. Was habt ihr denn gemacht?«

»Hugogesüffelt.«

»Was?«

»Hugo getrunken.«

»Wie viele?«

Steffi schmiegte sich erneut an ihn. »Weiß nich. Vier. Oder fünf. Und dann noch ’n Schokoeis eben.« Ihre Hände wanderten von Peters Rücken zu seinem Steißbein und dann zur Vorderseite. »Haltmischfest.«

Peter lachte. »Mach ich. Aber tu die Hände da weg. Steffi, ich glaube, wir sollten jetzt nicht … du solltest jetzt besser … oje … was machst du da?« Er keuchte auf.

Stefanie hob den Kopf und sah ihn an. »Soll ich aufhören?«

»Ich … weiß nicht … oh.« Er stöhnte erneut auf.

Sie fuhr mit den Lippen nahe an sein Ohr und flüsterte: »Ich bin ziemlich scharf.«

»Du bist vor allem betrunken«, sagte Peter mit rauer Stimme. Stefanie spürte, wie er in ihrer Hand hart wurde.

»Betrunken und scharf«, flüsterte sie und fuhr mit der Zunge in seine Ohrmuschel.

Ruckartig packte er sie unterhalb des Pos, hob sie hoch und trug sie Richtung Schlafzimmer.

»Nein, in die Küche. Nimm mich in der Küche.«

Statt eine Antwort zu geben, küsste Peter sie so verlangend, dass nun sie aufstöhnte. Er trug sie in die Küche, legte sie wenig sanft auf dem Tisch ab, fegte einen Teller zur Seite, der klirrend auf dem Boden zersprang, schob ihren Rock nach oben und zerrte den Slip nach unten.

Als er in sie eindrang, wild und unbeherrscht, bog Stefanie den Kopf nach hinten und schloss die Augen. Peters Haare kitzelten sie auf der Brust und sie hörte sein Keuchen und das Ruckeln des Tisches und dann, wie sich die drückende Schwüle des Tages draußen in heftigem Regen entlud.

 

 

 

Deutliche Abkühlung

 

 

Wellen. Rauschende Wellen, die sanft auf dem Strand ausliefen und sie an den Füßen kitzelten. Sie spürte den warmen Sand an ihren Schulterblättern, ihrem Po, den Waden und räkelte sich. Prickelnde Hitze auf ihrer Haut. Sie blinzelte und schloss sofort wieder die Augen. Die Sonne war viel zu hell. Und die Wellen wogten zu stark, und wenn man ihnen zu lange zusah, konnte es passieren, dass einem übel wurde. Sie atmete einige Male tief durch. Zu spät. Ihr war bereits übel. Sie drehte sich zur Seite, doch das machte alles nur noch schlimmer. Sie drehte sich wieder auf den Rücken und öffnete unendlich langsam die Augen. Ein scharfer Schmerz fuhr durch ihre Schläfen.

»Grundgütiger«, murmelte Stefanie. Das Innere ihres Mundes war staubtrocken und schmeckte seltsam süßlich, ihre Zunge fühlte sich pelzig an. Vorsichtig wandte sie den Kopf zum Funkwecker, der erbarmungslos die Zeit anzeigte. 7.52 Uhr.

»Scheiße«, krächzte sie und stützte sich auf die Ellenbogen. »Scheiß, scheiße. Oh scheiße.« Das Pochen in ihrer Stirn wurde stärker, je aufrechter sie sich positionierte. Irgendwie schaffte sie es, die Beine aus dem Bett zu bringen und auf den Boden zu setzen. Eine Weile verharrte sie so, nackt, und vergrub den schmerzenden Kopf in den Händen. Sie schwitzte, doch als ein Windhauch durch das leicht geöffnete Fenster drang und über sie strich, fror sie im selben Augenblick. Der Drang, sich wieder zurückfallen zu lassen, sich wegzudrehen von dieser unbarmherzigen Helligkeit und unter der Decke zu verstecken, war so groß, dass es sie fast übermenschliche Kraft kostete, im Zeitlupentempo aufzustehen, zur Tür zu schlurfen und durch den Flur zu tapsen. Ihre Blase war am Explodieren. Als sie die Badezimmertür öffnen wollte, hielt sie inne. Musik und fröhliches Pfeifen, die natürlichen Feinde des von Kater geplagten Menschen, waren zu hören. Dazu prasselndes Wasser.

»O nein«, murmelte sie. Natürlich. Peter. Er duschte. Gut gelaunt. Er hatte gestern ja auch nicht sechs Hugos getrunken. Oder waren es sieben gewesen? Sie stöhnte leise auf bei dem Gedanken an die Trinkorgie mit Vanessa. Wie sie danach heil nach Hause gekommen war – sie wusste es nicht mehr. Was später in der Wohnung passiert war, daran konnte sie sich in Bruchstücken erinnern, und ein leises Gefühl der Scham überkam sie bei dem Gedanken an ihren Auftritt im Flur. Sie wollte sich schon wieder abwenden, doch ihre Blase erhob Einspruch. Mit zusammengebissenen Zähnen drückte sie die Klinke herunter, öffnete vorsichtig die Tür und trat ein. Die Wände der Duschkabine waren beschlagen, doch sie sah Peters schemenhafte Umrisse, die sich tänzelnd bewegten, und hörte sein Pfeifen, aber was das Dröhnen in ihrem Kopf gewaltig anschwellen ließ, war das, was aus dem kleinen Radio drang.

 

Let’s get physical, physical,
I wanna get physical.
Let’s get into physical.

Let me hear your body talk, your body talk.
Let me hear your body talk.

 

So schnell es ihr Zustand erlaubte, näherte sie sich dem Gerät und schaltete es aus. Peters Pfeifen verstummte ebenfalls.

»Steffi?«

Sie brummte nur, klappte den Toilettendeckel hoch und setzte sich.

»Wie geht’s dir?«

Endlich. Sie lauschte dem Plätschern unter ihr und ließ den Kopf wieder in ihre Hände sinken.

Die Tür der Duschkabine wurde zurückgeschoben.

»Ist alles okay mit dir? Du siehst etwas fertig aus.«

»Könntest du mir einen Gefallen tun?«, krächzte Stefanie.

Peter trat auf den Vorleger, griff nach einem Handtuch und begann sich abzutrocknen. »Welchen?«

»Würdest du mich bitte nicht anschreien?«

Peter schlang das Handtuch um seine Hüften und lachte. »Ich spreche in ganz normaler Lautstärke.« Als sie nichts erwiderte, wandte er sich zu ihr, ging in die Knie und strich ihr über das Haar. »Armer Schatz, ich glaube, du hast gestern dein Fassungsvermögen etwas überschätzt« Seine Lippen näherten sich ihrem Ohr. »Auch wenn ich es ganz wunderbar fand, was es später noch für Folgen hatte«, flüsterte er.

Stefanies Kopf fuhr abrupt hoch und der Schmerz, der dieser Bewegung folgte, ließ sie erneut aufstöhnen. »Peter, bitte, rede nicht so laut und … und lass mich vielleicht einfach kurz allein.« Sie streichelte schnell seine Wange. »Ist nicht bös gemeint, okay? Ich fühl mich einfach nur … so unfassbar beschissen. Und ich muss ja zur Arbeit.«

Peter stand auf und grinste. »Das wird sicher lustig.«

»Peter …«

»Ich bin schon weg. Rasieren spar ich mir heute.«

Sie zwang sich zu einem gequälten Lächeln. »Was immer du dir heute sparst, du wirst trotzdem um Klassen besser aussehen als ich.« Sie streckte die Hand nach ihm aus und er nahm sie und umschloss sie fest. »Diese Nacht, das war sehr schön«, sagte sie mit rauer Stimme. »Das weiß ich … trotz … meines Zustands.«

»Ja, Steffi, das war es.«

Eine Weile standen sie stumm da, bis Peter ihre Hand losließ, sich vorbeugte und ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange gab. »Ich muss. Wir sehen uns heute Abend. Bis dahin bist du wieder nüchtern.«

»Haha.«

»Ich stell dir ein Aspirin auf den Tisch.«

»Danke.«

»Am Samstag sind wir bei Sandra und Martin eingeladen. Vielleicht triffst du dich davor besser noch mal mit Vanessa.« Er grinste, wuschelte ihr zärtlich durch das Haar und verließ das Bad.

 

Stefanie kam sich albern vor, als sie mit großer Sonnenbrille das Haus verließ, aber das Licht war schon jetzt so intensiv und gleißend, dass sie nichts riskieren wollte. Peter hatte ihr ein Glas Wasser mit einem aufgelösten Aspirin auf den Küchentisch gestellt, dazu einen Teller mit einer frischen Semmel und einem Post-it, auf dem stand, dass er sie liebe.

Sie hatte das Wasser in kleinen Schlucken getrunken, die Semmel angewidert zur Seite geschoben, zuletzt den Zettel eine Weile angesehen und dann an das Glas geklebt.

Jetzt schob sie ihr Fahrrad vor zur Kreuzung an der Rosenheimer Straße, weil es ihr zu heikel erschien, sich durch die vielen Passanten rund um den Weißenburger Platz zu schlängeln. Außerdem erzeugte jede Bewegung, die sie nicht langsam ausführte, einen stechenden Schmerz in ihren Schläfen. An der Ampel stieg sie auf. Im Zeitlupentempo fuhr sie ihren gewohnten Arbeitsweg und kam dennoch schweißgebadet und mit rasant klopfendem Herz bei der Agentur an. Sie schloss mit leicht zitternden Händen ihr Rad ab und ging auf den Eingang zu. Ihre Schritte wurden immer rascher. Nur schnell ins Kühle, dachte sie.

Als sie vor dem Aufzug stand, keuchte sie. Ihre Schläfen pochten.

»Wo bleibt das verdammte Ding denn«, murmelte sie und drückte mehrmals hintereinander hastig auf den Knopf.

»Heute gar nicht sportlich unterwegs?«

Langsam wandte Stefanie den Kopf und lächelte gequält. Jessica. Frisch wie der junge Morgen in einem weißen Top mit Spaghettiträgern, unter dem sich ihr BH abzeichnete, und einer eng sitzenden Capri-Hose. In der Hand einen Becher mit Kaffee vom Coffeshop um die Ecke. Sicher mit Sojamilch, dachte Stefanie und spürte Brechreiz in sich aufsteigen. In diesem Moment traf der Aufzug ein. Sie richtete den Blick wieder nach vorne und schwieg.

Kurz bevor sich die Tür schloss, schob sich ein Arm in das Fahrstuhlinnere.

»Nehmt ihr mich noch mit? Guten Morgen, ihr zwei.«

Stefanie schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Reto. In Leinenhose, weißem Hemd und beigefarbenen Mokassins. Fand heute ein Termin mit einem wichtigen Kunden statt oder warum sahen alle wie frisch aus dem Ei gepellt aus? Oder kam ihr das nur so vor? Sie hatte es bis jetzt vermieden, schielte aber nun verstohlen zum Spiegel im Aufzug und erschrak. Ihr Gesicht war bleich und ihre Augen hatten die Größe von Erbsen angenommen, die mühsam aus verquollenen Höhlen hervorlugten. Der hohe Dutt, zu dem sie ihre Haare unter größter Anstrengung gedreht hatte, saß wie ein gerupftes Vogelnest auf ihrem schmerzenden Schädel, der sich immer noch anfühlte, als würde er von innen mit mehreren kleinen Hämmern bearbeitet. Sie wollte ihre Erbsen-Augen gerade wieder abwenden, als sie im Spiegel sah, wie Reto Jessica beschwörend ansah und dabei fast unmerklich den Kopf schüttelte. Als er Stefanies Blick bemerkte, grinste er unbeholfen und zuckte mit den Schultern.

»Du sahst auch schon mal besser aus«, sagte er dann. »Hast du gestern zu viel gefeiert?«

»Ja, ihren beruflichen Aufstieg«, warf Jessica ein. »Ihren Aufstieg zur Betreuerin von Superkunden.«

Stefanie blickte von ihr zu Reto und wieder zurück. Irgendwas stimmt nicht, dachte sie, aber es ist alles einfach viel zu anstrengend. Sie sah Jessicas süffisantes, falsches Lächeln und antwortete: »Ja, ich hab gefeiert.« Die Aufzugtür öffnete sich und sie bemühte sich, mit Elan auszusteigen. »Genial gefeiert und noch genialer gevögelt. Denn«, sie griff nach dem Vogelnest auf ihrem Kopf und rückte es zurecht, »some people have it all

Reto prustete los und schob sich an ihnen vorbei. »Ich seh euch beide später.« Er öffnete die Tür zur Agentur und verschwand. Stefanie hörte, wie er Lore am Empfang gut gelaunt begrüßte, und wandte sich wieder Jessica zu, die sie kopfschüttelnd musterte.

»Sag mal, wie viel Restalkohol befindet sich noch in deinem Körper?«, fragte sie leise.

»Genug, um auf deine bescheuerten Kommentare einen Scheißrdeck zu geben!«

»Sag mal, tickst du nicht mehr ganz richtig?«

»Oh, doch, das tue ich.« Stefanie riss die Tür zur Agentur auf und stapfte am Empfang vorbei. »Guten Morgen, liebe Lore!«

»Morgen, Steffi. Allmächd, wie schaust du denn aus. Bist du gestern …«

»Alles prima, Lore, keine Sorge.« Sie streckte ihren Rücken durch und beschleunigte ihre Schritte. Übelkeit stieg erneut in ihr auf, aber sie würde jetzt nicht in der Toilette verschwinden. Sie würde flott, aber nicht überstürzt in ihr Büro gehen, dort erst einmal die Türe schließen, sich einige Minuten ruhig an ihren Schreibtisch setzen und durchatmen. Wasser trinken. Und dann irgendwie bis zum frühen Abend durchhalten. Und sie würde, und das schwor sie sich selbst inständig, nie mehr Alkohol trinken. Sie hatte noch nie viel vertragen und nicht bedacht, dass wochenlange Abstinenz diesen Umstand nicht unbedingt ändern würde.

»Hab einen beschissenen Tag«, zischte Jessica hinter ihr und bog ab.

Stefanie ignorierte sie und fixierte ihre Bürotür am Kopfende des Flurs wie eine Ertrinkende, die das rettende Ufer erblickt. Konzentrier dich. Noch ungefähr zehn Schritte. Neun. Acht. Sieben.

»Morgen, Steffi.« Maries Lockenkopf lugte aus der Tür. »Hoppla, du siehst irgendwie …«

»Alles paletti«, sagte Stefanie und blieb stehen, die Augen weiter geradeaus gerichtet. »Komm in einer Stunde zu mir ins Büro, ja?«

»Geht nicht schon vorher, ich hab total viel Interessantes zu Rolo …«

»In einer Stunde, Marie!«

»Okay, alles klar.« Der Lockenkopf verschwand ohne weiteren Kommentar.

Stefanie ging die letzten Schritte, öffnete die Tür, schloss sie und ging einen Moment in die Hocke. Sie fühlte kalten Schweiß auf ihrer Stirn und atmete flach. Nach einigen Sekunden erhob sie sich und nahm an ihrem Schreibtisch Platz. Computer hochfahren, Mails checken, Meeting mit Marie. Schön langsam. Schritt für Schritt. Und immer tief Luft holen.

 

Drei Stunden später fühlte Stefanie sich ein wenig besser, aber immer noch angeschlagen. Sie hatte mit Marie oberflächlich deren erste Ideen für Wolf Pack besprochen und Marco und Stefan, die bereits Powerpoint-Präsentationen ausgearbeitet hatten, auf den nächsten Tag vertröstet. Ihre Augen sahen nicht mehr ganz so aus wie die eines Boxers nach der achten Runde und das leichte Rumoren in ihrem Magen war inzwischen kein Zeichen mehr von Übelkeit, sondern Hunger. Sie beschloss, die Mittagspause allein zu verbringen und eine Kleinigkeit zu essen.

Die Hitze traf sie mit voller Wucht, als sie das Haus verließ. Sie hielt einen Moment inne und überlegte, wohin sie gehen sollte. Sie brauchte Schatten und sie brauchte Ruhe. Nach links in Richtung Fußgängerzone schied daher aus. Stefanie entschied sich für das Café Tambosi am Hofgarten. Dort würde sie sich an einen Tisch unter einen Sonnenschirm setzen, durchatmen, einen Salat bestellen, ein Wasser trinken und entspannt Passanten beobachten. Als sie ihr Fahrrad aufsperren wollte, bemerkte sie den Flyer eines Pizza-Lieferservices, der auf dem Gepäckträger eingeklemmt war. Sie griff danach, um ihn zu entfernen, stieß dabei ungeschickt gegen das Pedal und brachte ihr Rad zum Kippen. Und das daneben. Das übernächste ebenfalls. Auch das darauffolgende fiel krachend um und riss weitere fünf Räder mit sich.

Stefanie stand wie erstarrt. Ihr Körper wurde von einer heißen Welle überflutet und die vertraute Übelkeit stieg erneut in ihr hoch. Sie begann, die Räder aufzustellen, doch das stellte sich als schwieriger heraus als gedacht, und als sie immer wieder umfielen und keiner der Vorbeigehenden Anstalten machte, ihr zu helfen, gab sie auf, ließ auch ihr eigenes Rad liegen und ging zu Fuß.

Im Café Tambosi fand sie einen leeren Tisch, setzte sich und fächerte sich mit der Speisekarte Luft zu. Was für ein beschissener Scheißtag, dachte sie. Immerhin knurrte ihr Magen aber jetzt tatsächlich und sie entschied sich für Tomatensuppe und ein stilles Wasser. Nachdem sie bestellt hatte, sah sie sich um. Die Stadt flirrte vor Hitze. Auf den Stufen der Feldherrnhalle hatten sich zahlreiche Menschen schattige Plätze gesucht, aßen Salate aus Plastikboxen und tranken Kaffee aus Bechern. Touristen standen zwischen den Säulen und hielten ihre Fotoapparate oder Handys Richtung Ludwigstraße. Mehrere Japaner, jeder mit einem Schirm in der Hand, standen in der Mitte des Odeonsplatzes und lauschten einer Fremdenführerin, deren Hand immer wieder in Richtung der Theatinerkirche wies, die sich strahlend gelb gegen den wolkenlosen Himmel abhob.

Der Kellner servierte ihre Suppe und das Wasser. Stefanie atmete tief durch und begann langsam zu essen. Am Tisch zu ihrer Rechten saß ein Mann mittleren Alters, der trotz der Hitze einen dunklen zweiteiligen Anzug trug. Vor ihm auf dem Tisch stand ein Espresso. In der einen Hand hielt er ein Lesegerät, in der anderen eine Zigarette, deren Rauch Stefanie beständig in die Nase stieg. Sie wandte sich leicht ab. Direkt zu ihrer Linken saßen ein Mann und eine Frau, offensichtlich ein Pärchen, da sie ihm immer wieder zärtlich über den Rücken strich, und unterhielten sich angeregt. Die Frau warf den Kopf in den Nacken, wenn sie lachte, worauf sich ihr seidiges dunkelblondes Haar wie ein Wasserfall über den Rücken ergoss. Stefanie dachte an den zerrupften Knoten auf ihrem Kopf und drehte sich wieder mehr zur anderen Seite. Die heiße Suppe bekam ihr nicht und sie schob den Teller von sich. Hastig trank sie einige Schlucke Wasser und atmete tief ein. Zigarettenrauch stieg in ihre Nase und schlagartig war ihr so übel, dass sie Schlimmes befürchtete. Abrupt stand sie auf, schob den Stuhl nach hinten und wollte zur Toilette gehen, als hinter ihr ein schriller Schrei ertönte.

»Sagen Sie mal, sind Sie noch ganz dicht!«

Stefanie hielt inne. War sie gemeint? Die Farben der Sonnenschirme und Tische und Menschen verschwammen wie in einem Kaleidoskop und sie musste sich an einer Stuhllehne abstützen.

»Was müssen Sie hier wie ein Trampel herumgeistern! Es ist einfach unglaublich eng hier, das sieht doch jeder Vollidiot!«

»Sophie, jetzt mach mal halblang.«

»Du hast gut reden – mein Kleid ist ja auch nur hinüber. Und ich hab später noch einen wichtigen Termin!«

Stefanie wandte sich langsam um. Vor ihr stand die Frau mit dem Seidenhaar. Sie trug ein weißes, ärmelloses Sommerkleid, das ihre gebräunte Haut betonte und im Bauchbereich übersät war mit roter Farbe.

»War … war ich das etwa?«, stotterte Stefanie.

»In der Tat. Weil sie wie ein Derwisch herumturnen und gar nicht merken, was sie alles mit ihrer Handtasche vom Tisch fegen!«

»Das … das tut mir so leid … ich … mir … mir ist nicht gut.« Stefanies hilfesuchender Blick fiel auf den Mann, der sie stumm fixierte. Er legte seine Hand in einer beruhigenden Geste auf den Arm seiner Begleiterin.

»Komm, Sophie, spring schnell in die Toilette und rette, was zu retten ist.«

»Das kannst du vergessen«, fauchte sie. »Das Kleid ist ruiniert.«

»Dann kaufst du dir ein Neues.« Er lächelte. »Und ich begleite dich.«

»Und total heiß war die Suppe auch!«

»Es … tut mir wirklich … wahnsinnig leid.« Stefanie kramte in ihrer Handtasche. »Geben Sie mir doch einfach Ihre Bankverbindung und ich überweise Ihnen Geld und Sie kaufen sich ein …«

Der Mann lachte auf. »Das fehlt gerade noch. Komm, Sophie, wir gehen schnell in die Theatinerstraße und kaufen dir Ersatz. Und Sie«, er schaute Stefanie prüfend an, »gehen am besten nach Hause. Sie sehen nicht gut aus.«

Da bin ich jetzt aber wirklich die Einzige hier, dachte Stefanie. Der Mann war wie seine Begleiterin groß und schlank, sein dunkles Haar schien ebenso seidig, aber seine Art war vollkommen anders, sympathisch und sanft. Er zwinkerte ihr zu und Stefanie überkam der dringende Wunsch, sich kurz von ihm drücken zu lassen, doch dann verspürte sie einen erneuten Brechreiz und verwarf den Gedanken wieder.

Die Frau namens Sophie hatte mit der Serviette an ihrem Kleid herumgewischt und hob jetzt den Kopf. »Da hat er allerdings recht. Sie wirken ein wenig mitgenommen.« Ihre Miene wurde etwas freundlicher. »Okay, wissen Sie was. Egal!« Sie warf die Serviette auf den Tisch und breitete die Arme aus. »Total egal! Es ist Sommer und es ist herrlich und wir sind gesund! Was kümmern mich da ein paar rote Flecken auf meinem Kleid! Oder?« Sie sah den Mann fragend an.

Der lächelte und nickte. »Ganz deiner Meinung, Sophie.«

Stefanie wandte den Blick nur widerwillig von ihm ab. Sie fühlte sich von dem plötzlichen Stimmungsumschwung der Fremden noch überforderter, als sie es ohnehin schon war. Mit zitternden Fingern zog sie einen Zehn-Euro-Schein aus ihrem Portemonnaie und drückte ihn dem Mann in die Hand.

»Bitte«, sie flüsterte fast, »bitte zahlen Sie für mich mit, okay? Ich muss … ich muss schnell los.«

Sie presste sich an den beiden vorbei und ging, so schnell es ihr möglich war, Richtung Agentur. Sie spürte die Blicke im Rücken, aber es war ihr egal. Einfach nur zurück, in die kühle Sicherheit ihres Büros, einfach nur wieder allein sein. Sie wich Passanten aus, die ihr entgegenkamen, und konzentrierte sich darauf, niemanden zu berühren und weder nach links noch rechts zu schauen. Sie passierte die umgefallenen Räder, an deren Position sich nichts geändert hatte, stürzte in das Gebäude, fuhr mit dem Aufzug in den zweiten Stock und war froh, dass fast alle noch in der Mittagspause waren und sie unbehelligt in ihr Büro kam.

 

 

 

Sommer in der Stadt I

 

Im Tal

 

Peter Ullmann stand am geöffneten Fenster. Die Krawatte hatte er gelockert, die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt. Er beugte sich nach draußen. Die Straßenlokale waren voll, obwohl es erst früher Abend und ein Wochentag war. Lärm drang in sein Büro und ihm war nach einem kühlen Bier, aber er hatte keine Lust, es hier im Tal zu trinken. Zu hektisch ging es seiner Meinung nach zu in der Straße, die Marienplatz und Isartor miteinander verband und durch die zahlreichen Gaststätten, Schnellrestaurants und ihre Nähe zum Hofbräuhaus nahezu immer von trinkfreudigen Einheimischen und Touristen bevölkert war. Viel lieber würde er am Ufer der Isar ein kühles Augustiner aus der Flasche trinken, vielleicht am Flaucher, aber nicht auf Höhe des Tierparks, wo sich an einem Abend wie diesem Hunderte Grillwütige und Sonnenanbeter auf engstem Raum zusammenrotteten, sondern etwas weiter südlich.

Er wandte sich vom Fenster ab und seufzte. Steffi würde heute Abend mit Sicherheit das Haus nicht mehr verlassen wollen und er wollte sie auch nicht allein lassen, auch wenn sie auf seine Anwesenheit im Moment nicht allergrößten Wert zu legen schien. Es wurde Zeit, dass er seinem Leben neue Impulse verpasste. Und dem von Steffi ebenfalls.

Er griff nach seinem Handy, das fast im gleichen Moment zu klingeln begann. Stirnrunzelnd betrachtete er kurz die Nummer, dann nahm er den Anruf an.

»Ja?« Er lauschte einen Moment, bevor er zu grinsen begann. »Das ist großartig!« Er fuhr sich mit der freien Hand durch das Haar und ballte sie dann zur Faust. »Yesss! Hey, ich danke dir für alles! Ohne dich würde ich immer noch – was? Ja, ich werde es ihr sagen. Bald. Nicht heute. Wir sehen uns bald. Und ich freu mich wahnsinnig drauf.«

Als er aufgelegt hatte, atmete er tief durch. Impulse. Da waren sie. Jetzt musste er nur noch alles durchziehen. Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken.

Sein Vater steckte den Kopf zur Tür herein, die Lesebrille im schütteren grauen Haar steckend.

»Peter, ich werde gleich aufbrechen. Deine Mutter erwartet Gäste für eine Gartengrillparty.«

»Und du, Papa, du erwartest sie nicht?« Peter lächelte.

Herr Ullmann verzog das Gesicht. »Ich ertrage sie. Hannelore und Rüdiger. Aber ich freu mich auf Sonntag. Wir haben dich ja schon ewig nicht mehr mit Steffi bei uns gehabt. Drei Uhr?«

»Drei Uhr. Schönen Abend, Papa.«

Als er wieder allein war, schloss Peter Ullmann das Fenster, packte seine Aktentasche, verließ das Büro und setzte sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite in ein Lokal, wo er die Beine von sich streckte und genüsslich zwei Helle trank, bevor er nach Hause aufbrach.

 

Glockenbachviertel

 

Der Mann ließ seinen Kopf ächzend nach hinten fallen und bedeckte mit dem rechten Unterarm seine Augen. Sein Atem ging flach und schnell.

»Das war heftig«, stöhnte er. Seine linke Hand fasste nach oben, doch Vanessa wich ihr aus, glitt geschickt von seiner Hüfte und legte sich in einigem Abstand neben ihn. Er dreht sich zu ihr und stützte sich auf dem Ellenbogen ab. Seine Finger berührten leicht ihren Bauch.

»Heftig und toll«, sagte er leise.

Vanessa griff nach ihrem Handy auf dem Nachtisch, das auf lautlos gestellt war. Till hatte zweimal angerufen in der letzten halben Stunde.

»Oje, schon fast sieben«, sagte sie und richtete sich auf. »Ich hab noch einen total wichtigen Termin heute.«

»Immer busy, immer unterwegs.« Er rückte näher an sie heran und küsste zart ihren Oberschenkel, bewegte sich dann nach oben. »Das gefällt mir. Sehr.«

Sanft drückte sie ihn zur Seite. »Sorry, ich muss echt los.«

Er hob den Kopf. »Kann ich zumindest noch schnell duschen?«

»Jonas, ich hab’s wirklich eilig … »

»Wir könnten auch schnell zusammen …«

»Ich glaube, es ist besser, jeder duscht für sich allein. In seiner eigenen Dusche.« Sie schwang sich aus dem Bett, kickte mit dem Fuß ein paar der am Boden verstreuten Kleidungsstücke zur Seite und beugte sich dann nach unten. »Hier«, sie warf ihm seine Boxershorts zu. »Nummer eins. Und hier, Nummer zwei und Nummer drei.« T-Shirt und Jeans landeten neben ihm auf dem Kissen.

Jonas seufzte, setzte sich auf den Rand des Bettes und begann, sich widerwillig anzuziehen. »Meine Dusche befindet sich in Milbertshofen«, versuchte er es erneut. »Bis ich da hingeradelt bin –«

»Bist du schon wieder durchgeschwitzt. Lohnt sich also gar nicht.« Vanessa stand nackt im Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt. »Ich will dich nicht hetzten, aber ich …«

»Du hast es wirklich eilig, ich weiß. Kann ich dich anrufen?«

»Ich ruf dich an.«

»Hast du meine Nummer überhaupt?«

»Jonas, ich …«

Er stand auf und zog die Jeans hoch. »Alles klar. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder in Robinson’s Bar

»Schauen wir mal. Ab morgen bin ich wieder viel auf Tagungen.«

»Okay.« Jonas fischte einen Turnschuh unter der Wäschekommode hervor und sah sich suchend um.

»Hier«, sagte Vanessa. »Im Flur.«

Als er an ihr vorbeiging, strich er leicht an ihrer Hüfte entlang. Vanessa lächelte gequält, legte ihre Hand auf seinen Rücken, aber nur, um ihn mit sanftem Druck in Richtung Tür zu bewegen. Als sie allein war, atmete sie erleichtert auf und wählte Tills Nummer.

»Schatz? Ich bin’s. Nö, war nur unter der Dusche – bleibt es bei acht Uhr? Alles klar, bis gleich!«

Vanessa verschwand im Bad. Eine halbe Stunde später lief sie die Treppe aus dem dritten Stock des Altbaus hinunter. Ihr weiß-blau gestreifter Rock schwang locker um ihre Beine.

 

Viktualienmarkt

 

Stefanie blinzelte in die Sonne, die jetzt, um Viertel nach sechs, noch immer unvermindert stark vom Himmel schien. Sie zog am Strohhalm und leerte geräuschvoll den »Super Smoothie« aus Avocado, Blaubeeren, Granatapfel und Mango, den sie an einem Saftstand am Viktualienmarkt gekauft hatte.

Nachdem sie mittags schwitzend und keuchend ihr Büro erreicht, die Tür hinter sich geschlossen und eine halbe Stunde wie erstarrt an ihrem Schreibtisch gesessen hatte, war ein Entschluss in ihr gereift, der sich in den letzten Wochen und Monaten schon häufiger angedeutet, den sie aber immer wieder verdrängt und in hintere Gehirnregionen verpackt hatte: Sie musste etwas in ihrem Leben ändern. Es war ein gutes, ein schönes Leben, sie hatte im Grunde alles, was man sich wünschen konnte: einen liebevollen, tollen, verständnisvollen Freund, der sie über alles liebte, sie begehrte und sie unterstützte, wo er nur konnte. Der dazu noch gut aussah. Ihr Beruf war herausfordernd und meistens kreativ und dazu ordentlich bezahlt. Natürlich war er nicht das, wovon sie ursprünglich geträumt hatte, als sie mit dem Germanistik-Studium begonnen hatte, aber es konnte nun einmal nicht jede investigative Journalistin werden und die Welt retten. Vielleicht war sie dazu auch einfach nicht gemacht und die Journalistenschulen hatten das ganz richtig eingeschätzt, als sie ihre Bewerbung ablehnten. Sie hatte viele Freunde, war gesund, hübsch, halbwegs intelligent, ihre Eltern und die von Peter waren fit – eigentlich war doch alles in Ordnung. Aber was bedeutete das – in Ordnung? Die Jahre seit ihrem Universitätsabschluss waren so rasch vergangen, dass sie sich manchmal fragte, wo die Zeit geblieben war. Und was aus ihren Vorhaben und Träumen geworden war. Peter und sie wollten viel reisen, die Welt sehen, hatten unendlich viele Pläne geschmiedet, als sie sich vor acht Jahren kennengelernt hatten. Als Seelenverwandte hatten sie sich empfunden, als zwei Menschen, die sich einig darin waren, dass zum Leben mehr gehörte als Arbeit, Geld, Statussymbole und der übliche Verlauf aus Verliebt-verlobt-verheiratet-Kinderkriegen.

Doch dann kamen der Stress und der Druck der ersten Berufsjahre, die viel von der Euphorie nach dem Studium auffraßen, als sie endlich Geld verdienen konnten und dennoch so jung waren, dass ihnen alles offenstand. Aber die Kraft, sich zu befreien aus diesem Fahrwasser, das immer reißender wurde, schwand zusehends mit den Jahren. Aus wochenlangen Fernreisen wurden Wochenenden am Gardasee, aus dem geplanten tatkräftigen Engagement bei den örtlichen Gruppen von Amnesty International und terre des hommes wurden zwei monatliche Daueraufträge, und aus dem Vorsatz, den Job nicht das Leben beherrschen zu lassen, waren zwei Arbeitszeitkonten geworden, die vor Überstunden überquollen. Was war passiert? Ab wann hatte alles eine ganz andere Richtung genommen? Stefanie wusste, dass Peter und sie mit dieser Entwicklung nicht allein waren, aber war das eine Entschuldigung?

»Nein«, sagte sie so laut, dass zwei junge Frauen, die in ihrer Nähe standen, erstaunt zu ihr blickten.

»Nein«, wiederholte sie leiser, entsorgte ihren Becher in einem Abfalleimer, sperrte ihr Fahrrad auf und fuhr nach Hause. Sie brauchte fast doppelt so lang wie sonst für die Strecke.

 

DreamDesign

 

Jessica Hagedorn starrte auf ihr Handy. Nichts. Absolut nichts. Vor einer Stunde hatte sie die Nachrichten rausgeschickt, aber niemand hatte bis jetzt geantwortet. Niemand schien Zeit oder Lust zu haben, mit ihr an die Isar zu fahren, in den Biergarten zu gehen oder ein Eis zu essen. Davor war ER wieder mal abgesprungen. Spontan. Irgendetwas mit seinem Sohn. Knie aufgeschlagen. Aufführung im Kindergarten. Bagger kaputt und deswegen traurig. Seine Frau, die einen spontanen Termin hatte. Was auch immer. Es interessierte sie nicht.

Langsam lehnte sie sich in ihrem Drehstuhl zurück und lauschte dem Bimmeln der Straßenbahn, das in diesem Moment durch ihr Fenster drang. Von draußen, wo der Sommer flirrte und die Frauen in luftigen Kleidern ihre Beine zeigten und die Männern in T-Shirts ihre Armmuskeln, wo gelacht und geflirtet, gegessen und getrunken wurde. Wo die Menschen glücklich waren.

Die Tür zu ihrem Büro ging auf. »Jessica, ich bin weg«, sagte Marco. »Mach nicht mehr so lange, das Wetter ist zu schön, als dass man es in diesem Kabuff verbringen sollte.«

»Bin dann auch gleich weg«, antwortete Jessica und tippte engagiert auf ihrer Tastatur, »nur gerade so im kreativen Flow.«

»Na dann, noch frohes Schaffen. Bis morgen!«

»Schönen Abend!«

Als sie allein war, erstarb ihr Lächeln. Ihre Hände sanken auf den Schoß. Kreativer Flow, von wegen. Die Projekte, an denen sie mitarbeitete, waren dröge und nicht besonders wichtig für die Agentur, das wusste sie. Eine Weile saß sie mit hängendem Kopf da, dann griff sie nach der Maus und klickte sich durch die Projekte auf dem Server, auf den alle Zugriff hatten. Beim Ordner »Wolf_Pack« hielt sie inne, überlegte einen Moment, öffnete ihn dann. Nur zwei Dokumente befanden sich darin. Das eine, das ein paar oberflächliche Informationen zum Unternehmen aus dem Internet enthielt, schloss sie gleich wieder. Beim zweiten, das den Namen »VonWolf_Unternehmenshistorie_MGeorgi« trug, blieb sie hängen. Nach einigen Minuten hellte sich ihre Miene auf. Da hatte sich die kleine Marie aber mal wirklich Mühe gegeben. Sie kopierte den Inhalt des Dokuments in ein neues, kürzte und veränderte hier und da, öffnete schließlich das Mailprogramm und kopierte den neuen Text hinein. Nachdem sie die Nachricht abgesendet hatte, atmete sie tief durch. Dann stand sie auf, lugte in den Flur und lauschte. Nein, außer ihr war niemand mehr hier. Sie war allein. Rasch ging sie auf Stefanie Mertens’ Büro zu, öffnete die Tür und schloss sie sofort wieder hinter sich. Der Raum war in das warme Licht der Abendsonne getaucht und roch ein wenig muffig. Jessica kippte das Fenster und setzte sich dann auf den Bürostuhl. Ratlos sah sie sich um und war sich nicht sicher, was sie hier eigentlich wollte.

Schließlich griff sie zum Telefon auf dem Schreibtisch und wählte. Als es klingelte, packte sie plötzlich Panik, aber sie zwang sich dazu, nicht aufzulegen.

»Hallo?«, sagte jemand am anderen Ende der Leitung.

Jessica hielt die Luft an. Das Stimmchen war dünn und piepsig. Eine Kinderstimme.

»Hallo?«, fragte die Stimme erneut.

Jessica räusperte sich. »Äh? Fabian? Bist du das?«

Ein Knacken und Rascheln.

»Fabian? Du kannst ja schon telefonieren! Sag mal, ist der Papa auch da?«

Stille. Dann wieder ein Rascheln. Erneut eine Stimme. Diesmal die einer Frau. »Hey, junger Mann, das Handy vom Papa ist tabu! Ab mit dir!«

Ein Kichern folgte, dann das Trappeln kleiner Füße.

»Hallo?«, fragte die Frauenstimme in den Hörer.

Jessica öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen, schloss ihn jedoch wieder.

»Hallo? Sind Sie noch dran?«

Erschrocken legte Jessica den Hörer auf. Hastig erhob sie sich, schloss das Fenster, prüfte, ob auf dem Schreibtisch alles so aussah wie vorher, und verließ den Raum. Durch die verschlossene Tür hörte sie das Telefon in Stefanies Zimmer läuten.

 

Schulstraße

 

Er stand ihr gegenüber. Sie sah fantastisch aus und war ihm sympathisch, doch er sehnte sich nach der Vertrautheit seines Hauses und dem Garten. Nach Toni. Das Essen im Broeding war hervorragend gewesen, die Weinauswahl exquisit und sie eine anregende Gesprächspartnerin, die unterhaltend erzählen, aber auch zuhören konnte, die nachfragte, ohne aufdringlich zu sein. Jetzt stand sie vor ihm, die blauen Augen groß und rund, die blonden Locken wie die Haare eines Rauschgoldengels um ihr schmales Gesicht. Sie trug ein schwarzes, ärmelloses Etuikleid, das ihre schlanke Figur betonte, und Riemchensandalen, aus denen rot lackierte Zehen hervorlugten. Sie war ohne Zweifel eine sehr attraktive, anziehende Frau, aber er fühlte sich seltsam unberührt.

»Also dann …«, sagte sie und sah ihn fragend an. »ich müsste jetzt in diese Richtung …«, sie deutete mit dem Daumen über ihre Schulter. »Zur U-Bahn.«

»Und ich bin mit dem Fahrrad hier«, sagte er, »und muss quasi …«, er lachte nervös auf, »in die entgegengesetzte Richtung. Aber …«

Sie zog die Augenbrauen hoch und lächelte. »Aber ich könnte dich ja begleiten.« Sie griff nach seiner Hand. »Versteh mich nicht falsch. Ich würde einfach nur gerne sehen, wie du lebst.«

Er erwiderte einen Moment nichts und zog dann sanft seine Hand aus ihrer. Sie schwankte leicht und er sah, dass ihr roter Lippenstift sich in die feinen Fältchen um ihren Mund abgesetzt hatte. Ihr Blick war glasig.

»Claire, ich begleite dich noch zur U-Bahn, okay?«

Ihr Lächeln erstarb. »Oh. Ja. Das ist sehr nett.«

Sie war offensichtlich enttäuscht, aber was sollte er tun? Sie nach Hause einladen, um sie für den Moment nicht zu verstimmen? Mit zu ihr fahren, um spätestens am nächsten Morgen Ernüchterung zu verspüren? In Bezug auf Alkohol, Begehren, Anziehung, Gefühle?

Schweigend gingen sie eine Weile nebeneinander her.

»Und du fliegst also nächste Woche nach Bangkok?«, sagte er schließlich.

»Yep.«

»Wie gesagt, wenn du noch ein paar Tipps willst, sehr gerne, ich war ja …«

»Du warst schon einige Male dort, ja, hattest du gesagt.«

Sie blieben stumm, bis sie die Treppen zur U-Bahn erreicht hatten.

»Also dann«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen.

»Claire, ich …«

»Man sieht sich, Rolo.« Sie lief die Stufen hinunter, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Er blieb einige Minuten stehen und dachte über den Abend nach, gab sich dann einen Ruck und schwang sich auf sein Fahrrad.

 

 

 

Schwirren in der Luft

 

 

»Guten Morgen, Steffi, wunderbar, dass du uns auch schon die Ehre erweist. Und das bereits den zweiten Tag hintereinander!«

Stefanie schob sich zwischen der Wand und den Rücken von Stefan und Marco vorbei zu ihrem Stuhl und setzte sich. Verlegen lächelte sie in die Runde.

»Wieso den zweiten Tag?«

Reto sah sie über seine Lesebrille an und hob die Brauen. »Soweit ich weiß, bist du gestern auch schon ziemlich spät hier aufgeschlagen. Und dazu noch in einem Aggregatzustand, der einer Amy Winehouse würdig gewesen wäre.«

»So schlimm war’s aber echt nicht …«, begann Marie, brach jedoch ab, als sie Stefanies leichtes Kopfschütteln sah.

»Wie auch immer«, fuhr Reto Zöller fort, »ich möchte noch einmal betonen, dass ich euch gerade bei diesem Projekt in absoluter Topform brauche. Rolo von Wolf kommt«, er sah auf seine Armbanduhr, »in einer knappen halben Stunde und ich möchte, dass wir dann effizient mit ihm brainstormen, ich betone, mit ihm. Erst dann werden wir ein schlagkräftiges Konzept erarbeiten. Was habt ihr euch denn bis jetzt schon überlegt?«

Stefanie senkte den Kopf und hoffte, dass Reto sie nicht auffordern würde, zu sprechen. Sie atmete innerlich auf, als Marie aufgeregt zu sprechen begann: »Wenn ich darf, würde ich gerne was zu Anfang vorschlagen. Weil … weil ich wissen müsste, ob ich das«, sie verzog das Gesicht, wie um nicht in Gelächter auszubrechen, »Rolo von Wolf überhaupt vorschlagen kann.«

»Nur zu, Marie.« Reto Zöller verschränkte die Arme hinter dem Kopf und nickte aufmunternd.

Marie errötete und schob die Zettel, die vor ihr lagen, aufgeregt hin und her. »Vorausschicken möchte ich, dass euch die Idee vermutlich erst einmal antiquiert vorkommen mag in der heutigen Zeit, aber … Es ist doch so: Morgens lesen wir erst mal die aktuellen Nachrichten auf dem Smartphone, wir laden uns neue Romane als E-Books herunter, um unterwegs gute und sprichwörtlich ‚leichte‘ Lektüre zu haben, aber am Wochenende, wenn wir mal Zeit und Muße haben, dann …«

Sie brach ab und sah irritiert zu Reto Zöller, der stirnrunzelnd die Unterlagen vor sich auf dem Tisch durchforstete. Als er ihren Blick bemerkte, hielt er inne: »Mach nur weiter, Marie«, murmelte er, »ich hatte nur kurz das Gefühl, dass ich das … aber lass dich nicht aufhalten.«

»Ähm, ja«, fuhr Marie fort, »wenn wir also mal Zeit haben, dann greifen wir schon mal zu liebevoll gestalteten Bildbänden, zu cool designten Graphic Novels, zu einem opulenten Kochbuch. Und dann geht es nicht nur um den Inhalt, sondern auch um die Haptik. Um einen tollen Einband, eine aufwendige Prägung, um Details, die wir erst nach und nach entdecken. Gedruckte Bücher bilden einen erholsamen Gegenpol zum Digitalen, das wir meistens unterwegs konsumieren und schnell wieder vergessen. Deswegen hätte ich in Bezug auf Wolf Pack vorgeschlagen, dass wir zusätzlich zu einer neuen Website …«

»Auch eine Firmenchronik in Buchform erstellen, falls genug historisches Bildmaterial und ein Budget für aktuelle Fotos vorhanden ist?«, fragte Reto Zöller.

Marie schloss den Mund und sah ihn entgeistert an. »Ja, genau das wollte ich sagen.« Sie wurde noch eine Schattierung röter. »Hattest du die Idee auch schon?« Sie sah unsicher um sich. »Ist sie so nahliegend? Ich dachte nur, bei einem Unternehmen, dessen Geschichte so weit zurückreicht und das großen Wert auf Qualität legt, wäre ein hochwertiges Buch …«

»Eine gelungene Ergänzung zu allem anderen«, vollendete Marco den Satz. »Ich fände es super.«

Reto Zöller schob die Blätter vor sich zu einem akkuraten Stapel zusammen. »Ich finde die Idee auch gut«, sagte er und nahm seine Lesebrille ab. »Jessica hat sie mir gestern schon so in der Art gemailt. Gestern Abend. Ziemlich spät.«

»Ja, da hatte sie einen kreativen Flow«, murmelte Marco.

»Wie bitte?«

»Ach nichts.«

Stefanie beschloss, sich einzuschalten. »Jessica ist aber nicht im Team«, sagte sie. »Wenn sie sich in ihrer Freizeit zusätzlich um Projekte kümmert, für die sie nicht zuständig ist, ist das sehr lobenswert, aber im Grunde unnötig.« Sie ignorierte Retos säuerliche Miene und wandte sich zu Marie, die mit hängenden Schultern am Tisch saß. »Marie, die Idee ist gut und letztlich ist egal, von wem sie als Erstes eingebracht wurde. Die Frage ist tatsächlich: Gibt es ein Budget dafür? Und: Besteht vonseiten des Kunden überhaupt ein Interesse an einem solchen Produkt?« Sie warf einen Blick auf die Wanduhr und erhob sich. »Das werden wir ja alles gleich herausbekommen. Ich hol mir noch schnell einen frischen Kaffee. Bin gleich wieder da.«

Sie öffnete schwungvoll die Tür, trat in den Flur und stieß frontal gegen die Brust eines Mannes. Der kalte Kaffeerest in ihrer Tasse schwappte nach oben und direkt auf das weiße Hemd des Unbekannten.

»Oh Mist«, rief sie. »Das tut mir wirklich sehr leid!«

»Das hat es gestern auch schon getan, als Sie Sophie die Tomatensuppe über ihr Kleid geschüttet haben.«

Sie hob den Kopf, unfähig, auch nur einen Ton hervorzubringen.

»Immerhin«, er zog ein Taschentuch aus der Jeans und begann den Fleck auf seiner Brust zu bearbeiten, »ist die Flüssigkeit heute nicht auch noch kochend heiß.«

Stefanie sah betreten auf die leere Tasse in ihrer Hand.

»Jetzt schauen Sie nicht so, es ist ja nichts passiert.«

Ihr wurde bewusst, dass sie immer noch sehr nahe vor ihm stand, und wich einen Schritt zurück. »Sie müssen Rolo von Wolf sein«, sagte sie und lächelte gequält.

»In der Tat. Ich bin Rolo von Wolf und ich habe einen Termin mit Reto Zöller und seinem Team. Und Sie sind …«

»Ich bin Stefanie Mertens und ich … ich hole Kaffee.« Was redest du da, dachte sie im selben Moment.

»Sehr gut. Wenn Sie schon dabei sind – können Sie mir bitte einen mitbringen? Ohne Milch, ein Löffel Zucker?«

»Äh ja … natürlich.«

»Hervorragend. Muss ich hier rein?«

»Ja … einfach durch die Tür.«

»Durch die Wand werde ich heute ausnahmsweise nicht gehen. Danke schon mal für den Kaffee.« Er zwinkerte ihr zu, klopfte und trat dann in den Konferenzraum.

Stefanie blieb noch einen Moment stehen. Durch die Tür drang Gelächter von Reto Zöller und Rolo von Wolf, in das die anderen einstimmten. Sie atmete tief durch, straffte die Schultern und machte sich auf den Weg zur Küche.

Lore stand an der vollautomatischen Kaffeemaschine und fluchte. »Des neumodische Glump, des braucht doch kaa Mensch ned.« Es zischte und sie kreischte kurz auf. »So aa Glump! Wär mir jetzt aa schöner Fildderkaffee recht.«

Stefanie trat neben sie. »Komm, Lore, ich helf dir.« Nach einigen Handgriffen stand ein dampfender Espresso auf der Arbeitsplatte.

»Danke, Steffi.« Lore griff nach der Tasse und nahm schlürfend einen Schluck. »Wie läuft’s mit Reddo und dem hochwohlgeborenen Herren von und zu?«

»Mit Rolo von Wolf?« Stefanie zuckte die Achseln und holte eine frische Tasse aus dem Regal. »Keine Ahnung, er ist gerade erst gekommen.«

»So aa richtiger Adeliger, des ist doch spannend!«

»Naja, verarmter Adel«, sagte eine Stimme hinter ihnen. Jessica hatte die Küche betreten. Sie nahm den Wasserkocher und füllte ihn. »Verarmt seit vielen Jahren.«

»Wieso weißd nachad du des jetzt alles?«, fragte Lore.

»Jessica macht Fleißaufgaben in ihrer Freizeit«, murmelte Stefanie.

Sie sah, dass Jessica den Mund bewegte, aber ihre Worte gingen im lauten Gezische der Milchaufschäumdüse unter. Als ihr Cappuccino und der Kaffee für Rolo von Wolf fertig waren, griff sie nach einem Tablett, platzierte die beiden Tassen darauf und dreht sich noch einmal zur ihrer Kollegin um. »Dein Engagement in allen Ehren, aber es ist wirklich nicht nötig. Das Team funktioniert wunderbar – gerade hatte Marie einen vorzüglichen Vorschlag für Wolf Pack. Reto war völlig begeistert. Und jetzt entschuldigt mich. Die Arbeit ruft.«

Sie fühlte sich nicht wohl, wenn sie überheblich war, aber sie fühlte auch, dass sie keine Lust mehr hatte. Keine Lust auf Seilschaften im Büro, auf bissige Kommentare, dümmliche Anspielungen, Zickenterror und Hahnenkämpfe. Gefallen hatte ihr das noch nie, aber dass sie regelrecht Abscheu all dem gegenüber verspürte, das war neu.

Sie nahm das Tablett und balancierte es über den Flur. Vor dem Konferenzraum blieb sie stehen und überlegte. Dann klopfte sie sanft mit dem Fuß gegen die Tür. Keine Reaktion. Sie klopfte etwas energischer, doch niemand öffnete. Sie trat näher, drückte die Klinke mit dem Ellenbogen herunter und schob die Tür mit der Schulter auf. Keiner nahm Notiz von ihr und sie fühlte sich kurz an ihre Zeit als Verlagspraktikantin zurückversetzt, als sie häufig Kaffee servieren, tagelang unverlangt eingesandte Manuskripte prüfen und anschließend Gutachten darüber schreiben musste, obwohl ohnehin klar war, dass sie abgelehnt wurden. Als sie als Mitarbeiterin quasi unsichtbar war.

Sie stellte das Tablett auf dem Tisch ab und schob Rolo von Wolf, der gegenüber von ihr Platz genommen hatte, die Kaffeetasse hin. Da Reto gerade sprach, nickte er ihr stumm zu und lächelte.

Sie lächelte zurück. Rolo von Wolf war ihr sympathisch. Er war am Vortag, anders als seine Freundin, nicht ausgeflippt, als ihr das Malheur mit der Tomatensuppe passiert war. Er sagte »Danke« und »Bitte«, eine Selbstverständlichkeit, mochte man meinen, aber Stefanie hatte gerade in der Branche schon viele Menschen erlebt, die in ihrer Kommunikation weder das eine oder andere verwendeten.

Reto sprach gerade über die Wiederbelebung des Textilgeschäfts von Wolf. Über die Motivation Rolo von Wolfs, über seinen Wunsch, sein eigener Chef zu sein, nachdem er jahrelang als Unternehmensberater in der ganzen Welt unterwegs, aber an einem Punkt auch zermürbt gewesen sei von all dem Stress und der Fremdbestimmheit. Er erzählte von Leonor, Rolos verstorbener Frau (an dieser Stelle senkten alle kurz betreten die Augen) und ihrer Stiftung für Beschneidungsopfer, von »Leo«, die ihn bei allen Vorhaben immer so unterstützt habe, die hellauf begeistert gewesen sei von seinen Plänen, das Familienunternehmen wieder aufleben zu lassen.

Stefanie kannte die meisten der Informationen schon und schweifte ab. Verstohlen musterte sie Rolo von Wolf, der Reto unbewegt lauschte und sich hin und wieder Notizen machte. Die Ärmel seines weißen Hemds, auf dem der Kaffeefleck immer noch auszumachen war, hatte er hochgekrempelt. Er hatte dichtes, leicht gewelltes Haar, das fast schwarz war, und eine Frisur, die Stefanie als »herausgewachsenen Kurzhaarschnitt« bezeichnen würde: Es war offensichtlich, dass er einen Friseur aufgesucht hatte, aber ebenso klar, dass dieser Besuch schon einige Monate zurücklag. Kinn und Wangen waren von einem leichten Bartschatten bedeckt und seine Augen waren – in diesem Moment hob Rolo von Wolf den Kopf und sah sie direkt an –, sie waren grün.

Stefanie fühlte sich ertappt und wandte sich ruckartig Reto zu. Der schloss gerade seine Ausführungen mit der Hoffnung auf gute Zusammenarbeit, fruchtbare Diskussionen und kreative Lösungen.

 

Über eine der Lösungen war Stefanie sehr glücklich, als alle den Raum nach zwei Stunden verließen: Sie hatten nicht nur beschlossen, tatsächlich eine Firmenchronik als Buch, als traditionelles Buch mit Einband und Papier, zu produzieren, sondern auch, dass sie, Stefanie, sie schreiben würde. Das bedeutete immens viel Arbeit zusätzlich zu ihrem Job als Teamleiterin, aber die Entstehung eines Unternehmens aufzuschreiben, seine Entwicklung durch die Jahrhunderte, durch Krisen und Zeiten des Erfolgs lebendig zu machen, kam ihr, mit einem erfolgreich abgeschlossenen Germanistik- und Geschichtsstudium ausgestattet, nahezu traumhaft vor. Sie sah zu Rolo von Wolf, der sich im Flur mit Reto unterhielt und ihm gerade sanft mit der Faust an die Schulter stieß. Es war offensichtlich, dass sie sich lange kannten und mochten.

In diesem Moment trat Marie zu ihr. Ihre Wangen glühten noch von der angeregten Runde im Konferenzraum.

»Find ich super, dass du die Firmenchronik schreibst«, sagte sie.

Stefanie umarmte sie spontan. »Ich finde es super, dass du die Idee hattest«, flüsterte sie.

»Naja«, Marie lächelte gequält, »die hatten andere ja wohl auch. Sie ist nicht super-innovativ.«

»Aber für Wolf Pack genau das Richtige – und nur darauf kommt es an.« Sie schielte verstohlen zu Rolo von Wolf. »Er war ja wirklich sehr angetan von der Idee.«

»Wie auch immer.« Marie schob ihre Brille, die nach vorne gerutscht war, wieder auf den Nasenrücken. »Ich mach jetzt Mittag. Willst du mit? Ich gehe in den Hofgarten.«

»Das ist lieb, aber ich mach heute Pause am Schreibtisch. Ich muss von gestern noch einiges nachholen. Da ging es mir ja nicht so … so gut.«

Marie lachte. »Alles klar. Wir sehen uns später.«

Nachdem ihre Kollegin gegangen war, stand Stefanie eine Weile unschlüssig da. Marco und Stefan waren längst verschwunden, Rolo von Wolf und Reto Zöller standen immer noch im Flur und unterhielten sich angeregt. Sie trat zu den beiden.

»Herr von Wolf«, begann sie.

Die Männer unterbrachen ihr Gespräch und sahen sie fragend an.

»Entschuldigung, ich wollte nicht stören, nur betonen, dass ich das Projekt sehr interessant finde und mich auf die Zusammenarbeit freue.«

»Das tue ich auch, Frau Mertens«, sagte Rolo von Wolf und bedachte sie wieder mit dem jovialen Zwinkern, das sie mittlerweile schon kannte.

»Gut, dann werde ich mal keine Zeit verschwenden und in mein Büro gehen. Wir hören voneinander. Reto, bis später.«

Sie ging durch den Flur, ihre Unterlagen wie ein Schutzschild gegen ihre Brust gepresst, und spürte, wie sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht breitmachte.

 

Sie arbeitete konzentriert bis sieben und brach dann überstürzt auf, weil Peter vermutlich schon längst zu Hause war und kochte. Später konnte sie nicht mehr sagen, warum sie ausgerechnet an diesem Tag von ihrer ursprünglichen Route abgewichen und über die Maximilianstraße nach Hause gefahren war. Auf Höhe des Franz-Joseph-Platzes musste sie absteigen, weil zu viele Leute die Straße überquerten und zum Eingang der Staatsoper eilten. Fasziniert beobachtete Stefanie, wie geschmeidig und elegant einige der Frauen in Pumps mit hohen Pfennigabsätzen über das Kopfsteinpflaster liefen. Sie war mehr der Typ für flache Schuhe und fühlte sich unwohl, wenn sich ihre Ferse mehr als drei Zentimeter über dem Boden befand. Sie betrachtete die Kleider, die an ihr vorbeihuschten, und beschloss, in der kommenden Woche einmal richtig shoppen zu gehen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal einkaufen gewesen war.

»Jetzt behindern wir Kulturinteressierten Sie auch noch daran, in den wohlverdienten Feierabend zu kommen«, sagte eine Stimme schräg hinter ihr.

Stefanie wandte sich um. Vor ihr standen Rolo von Wolf und die Frau von gestern aus dem Café Tambosi. Sie trug ein bodenlanges Corsagenkleid mit Raubtiermuster und sah unfassbar glamourös aus, das musste Stefanie neidlos anerkennen. Ihre Armmuskeln waren definiert, ihr Dekolleté makellos. Die Haare hatte sie kunstvoll hochgesteckt, sodass ihr langer schlanker Hals zur Geltung kam. Sie erschien Stefanie noch größer als am Vortag und sie vermutete, dass sich unter dem Kleid ebenfalls Schuhe mit hohen Absätzen befanden.

»Schön, dass wir uns noch mal sehen«, sagte Rolo von Wolf. »Sophie, das ist Stefanie Mertens. Sie leitet das Team bei Reto Zöller, das für den Relaunch zuständig ist.«

Die Frau lachte. »Das ist ja ein Zufall!« Sie streckte Sophie ihre langgliedrige Hand entgegen. »Hallo, ich bin Sophie von Seidlitz. Tut mir sehr leid, dass ich gestern im Tambosi so ausgeflippt bin. Ich bin einfach richtig erschrocken, als die heiße Suppe auf mein Kleid geschwappt ist.« Wieder ein glockenhelles Lachen. »Rolo ist dann netterweise mit mir noch einkaufen gegangen.« Sie knuffte ihm in die Seite. »Auch wenn er – zu Recht – sagt, ich hätte schon genug zum Anziehen.« Sie legte ihre Hand auf Stefanies Schulter. »Unter uns Frauen: Es ist doch nie genug!«

Stefanie wusste nicht, was sie sagen sollte. Die Frau war schlicht und einfach nett. Etwas überdreht vielleicht, aber nett. Offen und freundlich und dazu wunderschön. Stefanie fühlte, wie sich Unbehagen und Unsicherheit in ihr ausbreiteten, und sie umfasste fest den Lenker ihres Fahrrads.

»Ja, das kenn ich«, sagte sie, obwohl der Inhalt ihres Kleiderschranks durchaus übersichtlich war. »Sie müssen sicher los. Was wird denn heute aufgeführt?«

»Turandot«, sagte Rolo von Wolf.

»Puccini, gut«, sagte Stefanie und wusste, dass es altklug klang.

»Sie sind auf jeden Fall besser informiert als ich!« Sophie von Seidlitz lächelte. »Aber wir sollten wirklich, Rolo. Ich würde dich gerne noch auf ein paar überteuerte Lachshäppchen einladen und ein Glas schlechten Sekt trinken, bevor wir uns dem Kulturgenuss hingeben. Hat mich gefreut, Frau Mertens. Wir sehen uns ja jetzt sicher öfter.«

»Und wir uns sehr bald«, sagte Rolo von Wolf schnell, bevor sie sich verabschiedeten.

Stefanie sah den beiden hinterher, wie sie auf den breiten Treppenaufgang der Oper zusteuerten, sie geschmeidig und sich leicht in den Hüften wiegend, er das Jackett lässig über die Schulter geworfen. Ein schönes Paar. Und sympathisch. Und stinkreich augenscheinlich. Sie seufzte und wollte sich gerade abwenden, als Rolo von Wolf sich unvermittelt umdrehte und ihren Blick auffing. Stefanie blieb wie erstarrt stehen, unfähig, ihre Augen von ihm zu wenden. Er nickte kurz, lächelte und zwinkerte dann in der ihr fast schon vertrauten Art, bevor er sich wieder nach vorne drehte und seine Hand auf den Rücken von Sophie von Seidlitz legte.

 

Stefanie lauschte. Peters gleichmäßige Atemzüge verrieten, dass er eingeschlafen war. Vorsichtig schlug sie die Bettdecke zur Seite, versuchte, nicht auf die Parkettfliese zu treten, die immer knarrte, und huschte in den Flur. In der dunklen Küche öffnete sie die Tür zum Balkon und trat ins Freie. Sie war nackt, aber sie fror nicht, die Temperaturen lagen immer noch über zwanzig Grad. Sie hatten miteinander geschlafen, nicht mit der Heftigkeit wie zwei Tage zuvor, sondern zärtlich und langsam. Ein prall gefülltes Wochenende lag vor ihnen und sie freute sich darauf, Freunde und Familie wiederzusehen. Eine Weile stand sie da und dachte nach. Dann ging sie zurück in die Küche, fuhr den Laptop hoch, tippte »Turandot« in die Suchmaschine und rief ein Video auf. Nach drei Minuten drückte sie auf Wiederholung und nach weiteren Minuten erneut. Nessun dorma. Keiner schlafe. Stefanie lächelte. Sie klappte den Laptop zu, schlich zurück in das Schlafzimmer und schmiegte sich an Peter, der noch immer in der gleichen Position schlief und ruhig atmete.

 

 

Wolkenkollision

 

 

Das Wetter löste nicht ein, was der Sonnenaufgang versprochen hatte. Als Stefanie frühmorgens die ersten Schritte entlang der Isar gejoggt war, hatte der östliche Horizont in einem tiefen Orange geleuchtet und die Gebäude am anderen Flussufer in ein intensives, warmes Licht getaucht, das einen strahlend schönen Tag anzukündigen schien. Auf dem Rückweg hatte sich die Farbe des Himmels in ein fahles Gelb verwandelt. Vereinzelte Wolken waren aufgekommen.

Sie war um halb sechs aufgewacht und gleich aufgestanden, weil sie eine Unruhe in sich spürte, die sie am Weiterschlafen hindern würde, das wusste sie. Peter war nicht aufgewacht, als sie ihre Laufklamotten aus dem Schrank geholt hatte, sondern hatte einmal tief geseufzt und sich auf die andere Seite gedreht. In dieser Position lag er jetzt immer noch, als sie, verschwitzt und mit geröteten Wangen, in das Schlafzimmer sah. Sie duschte, zog sich an, ging zum Bäcker, um frische Semmeln zu holen, und deckte den Tisch in der Küche. Es war Viertel nach acht. Um halb drei sollten sie bei Sandra und Martin sein, die seit einem halben Jahr Eltern von Leonie waren und nur wenige Wochen länger in einer Doppelhaushälfte in Aubing wohnten. Seit der Geburt der Kleinen hatte Stefanie ihre Freundin, die sie seit der fünften Klasse kannte, nur einmal gesehen, und das war auch schon wieder Monate her. Sandra, die als Grafikern in einer ähnlich großen Agentur wie DreamDesign gearbeitet hatte, wollte drei Jahre zu Hause bleiben, und Stefanie war empfindlich getroffen gewesen, als sie davon erfahren hatte. Sie hatten früher häufig darüber gesprochen, eines Tages etwas gemeinsam aufzuziehen, eine eigene Agentur für Text und Grafik zu gründen, doch dann war Sandra schwanger geworden, und je dicker ihr Bauch wurde, desto seltener ging sie enthusiastisch auf Stefanies Pläne ein, wenn diese davon sprach, wie ihre Agentur heißen, wo sich ihr Büro befinden und wie ihr Logo aussehen könnte. Zwei Wochen vor dem Geburtstermin eröffnete sie Stefanie, dass sie der »ganzen Arbeitsmühle« nichts mehr abgewinnen könne, dass sie sich besinnen wolle auf die »wirklich wichtigen Dinge im Leben« und vorerst nicht mehr ins Berufsleben zurückwollte. Stefanie hätte spätestens beim Einzug in die Doppelhaushälfte im äußersten Westen Münchens ahnen können, dass sich bei ihrer Freundin, die bis dahin eine ausgewiesene Stadtpflanze gewesen war, ein Sinneswandel eingestellt hatte, aber sie hatte es verdrängt.

»Hey, Steffi.« Peter erschien gähnend im Türrahmen. Seine Haare standen in alle Richtungen ab und seine Augen waren verquollen. Er sah auf den gedeckten Tisch. »Wie lange bist du denn schon wach?«

»Schon eine ganze Weile.«

»Magst du nicht noch mal ins Bett kommen?«

»Ich hab schon geduscht …« Stefanie stand auf und griff nach der Espressokanne. »Koffeinzufuhr?«

Peter ließ sich auf einen Stuhl fallen und nickte. »Müssen wir für Sandra und Martin noch was besorgen? Oder für Leonie?«

»Nö, sie waren diesmal wirklich rabiat. Keine Mitbringsel oder sie würden sauer. Sie freuen sich einfach, dass wir endlich mal wieder kommen … Aber …«

»Aber du hast natürlich trotzdem was?«

»Ja, für Leonie. Nichts Großes. Ein Pappbilderbuch.«

»Bist du denn bereit für einen Ausflug nach Suburbia?«

Stefanie wandte sich um. »Wieso fragst du?«

»Naja, freust du dich auf ein bisschen Garten und Grillen und Terrasse und Erholung?«

»Ich freu mich vor allem auf Sandra, aber ja, den Garten nehm ich gern mit.«

»Dann ist ja gut.«

Sie sah ihn irritiert an. »Wieso? Meinst du, ich komme wegen der ganzen Elternzeitgeschichte nicht mehr mit Sandra klar?«

»Nein, nein, keineswegs, aber …«

»Wenn es mir zu viel wird, setz ich mich in die Hollywoodschaukel. Allein.«

»Dann ist ja gut«, wiederholte Peter und stand auf. »Bin in zwei Minuten wieder da. Muss Platz schaffen für den Kaffee.«

»Too much information, Honey.«

»Sorry.« Er grinste. »Bis gleich.«

Stefanie lächelte. Sie liebte ihn am Morgen, wenn er verwuschelt und zerknautscht war und so gar nichts gemein hatte mit dem adretten Anwalt, der er unter der Woche für mindestens fünfzig Stunden war. Und doch war da etwas, was in ihr rumorte und arbeite und was sie nicht genau einschätzen konnte. Die Anrufe dieser Hanni? Eigentlich war sie überzeugt von dem, was Vanessa gesagt hatte: Es war unmöglich, dass Peter sie mit einer anderen Frau betrog. Aber etwas an ihm war seit einigen Wochen anders, das hatte sie gespürt, auch wenn ihre Aufmerksamkeit jobbedingt nicht die größte gewesen war. Oder hatte er sich verändert, weil sie sich verändert hatte? Irgendetwas hatte sich bei ihnen eingeschlichen, was Stefanie nicht gefiel, aber was sie auch nicht greifen konnte. Geschweige denn verändern.

»So, jetzt geht’s besser.« Peter kam zur Tür herein und setzte sich wieder. »Bereit für Kaffee und Co.«

Stefanie zog die gurgelnde Espressokanne von der Herdplatte, wartete einen Moment und goss Peter dann eine Tasse ein. Als sie aus dem Fenster sah, war der Himmel grau. Die Sonne, die morgens noch einen schönen Tag angekündigt hatte, war nun hinter dicken Wolken verschwunden.

 

Sie hatte alles in besserer Erinnerung gehabt. Das lichtdurchflutete Wohnzimmer, durch das man über die Terrasse in den Garten gelangte, wo beim ersten Besuch Schneeglöckchen und Gänseblümchen geblüht hatten. Heute, an diesem bewölkten Tag im Sommer, kam ihr das Eigenheim von Sandra und Martin zunächst bedrückend vor. Vielleicht lag es daran, dass so viele Menschen zu Besuch waren, die herumwuselten und eine hektische Atmosphäre vermittelten. Vielleicht daran, dass es keine einzige Freifläche in dem Haus gab, die nicht überquoll von Zeitschriften und Zeitungen (ungelesen?), Taschentüchern (gebraucht?), Briefen (ungeöffnet), Kuscheltieren (ungeliebt?) und vielem mehr. Vielleicht lag es aber vor allem an dem zweiten Pärchen, das zu Besuch war und weder sie noch Peter kannte. Sandra und Martin hatten Fritz und Sanne und deren Sohn Rafael, der in Leonies Alter war, bei einem Spaziergang im Viertel kennen- und nach eigener Aussage »sehr schätzen« gelernt. Stefanie konnte noch nicht ausmachen, warum, mahnte sich aber dazu, nicht gleich wieder zu unken und Leute vorschnell zu verurteilen, nur weil sie nicht auf ihrer Wellenlänge lagen. Aber es fiel ihr schwer. Sanne trug Rafael, einen pausbäckigen, haarlosen Buddha, wie eine Trophäe durch die Wohnung. Sie kommentierte jedes Glucksen, das er von sich gab, mit begeisterten Ausrufen in ultrahohem Sopran, bei dem sich Stefanie Sorgen um die Gläser auf dem Tisch machte, die sie im Geiste schon zerspringen sah. Fritz gehörte dagegen der Bassfraktion an und berichtete, als sie ihn höflichkeitshalber danach gefragt hatte, ohne Punkt und Komma und ohne die Tonlage auch nur im Entferntesten zu changieren, von seiner Arbeit bei Airbus. Bestimmt war sie spannend, doch durch die monotone Vortragsweise fühlte sich Stefanie schon nach fünf Minuten wie Mogli vor der Schlange Kaa und sah sich hilfesuchend nach Peter um. Der stand mit Sandras Eltern, Johanna und Sebastian, in der Küche, die schlafende Leonie so selbstverständlich und sicher im Arm, als hätte er nie etwas anderes getan. Alle drei lachten in regelmäßigen Abständen so laut, dass Stefanie zutiefst bereute, in einem Anflug von sozialer Mildtätigkeit auf Fritz zugegangen zu sein, der bis dato etwas verloren herumgestanden war.

»Steht ihm gut«, sagte Sanne, die in diesem Moment zu ihnen trat.

Das war er, der Satz, der fast unweigerlich auftrat, sobald sie oder Peter irgendwo ein Baby im Arm hielten. Und diese Momente häuften sich, da immer mehr ihrer Freunde mittlerweile Eltern waren. Stefanie wusste nie, wie sie darauf reagieren sollte. Sie mochte Kinder und wollte Kinder, ja. Prinzipiell. Sie hatte nie ernsthaft darüber nachgedacht, keine zu bekommen. Sie wollte nur jetzt noch keine und war sich darin mit Peter einig. Aber das immer erklären, sobald DER Satz fiel? Sie tat das, was sie in diesen Situationen meistens machte: Sie lächelte leicht gequält.

Sanne bohrte ihre Nase in die propere Wange von Rafael, der zu quieken begann. »Unser kleiner Terror-Chef. Foltert uns mit Schlafmangel und Lärmbeschallung, aber …«

»Aber was wir ihm an Liebe geben, gibt er uns tausendfach zurück«, ergänzte Fritz, und Stefanie, die nicht wusste, ob er es ernst oder ironisch meinte, lächelte einfach weiter.

»Und aus Liebe zu mir ist Fritz netterweise co-schwanger geworden.« Sanne tätschelte mit einer Hand den Bauch ihres Mannes, der über den Gürtel quoll und tatsächlich außerordentlich rund und prall wirkte. »Sieht im Gegensatz zur mir aber immer noch aus wie im neunten Monat.«

Fritz kniff ihr in die Hüfte. »Du nur noch wie fünfter Monat.«

Beide kicherten und küssten sich.

»Äußerlichkeiten treten wirklich extrem in den Hintergrund, wenn du ein Kind hast«, sagte Fritz. »Dafür erlebst du Gefühle in einer Intensität, wie du es dir vorher nicht hast vorstellen können.«

Stefanie spürte, wie sich ihre Gesichtsmuskeln verkrampften, aber lächelte weiter. Was um Himmels Willen hatten Sandra und Martin erzählt? Dass Peter und sie zwei kinderhassende Karrieristen waren, die beim Anblick eines Säuglings Fluchtreflexe entwickelten und vierundzwanzig Stunden am Tag damit beschäftigt waren, ihre Luxuskörper im Fitnessstudio zu stählen und Geld zu scheffeln?

»Willst du auch mal?« Sanne streckte ihr Rafael entgegen, der brabbelte und mit den Beinen strampelte. Aus seinen Mundwinkeln quoll weiße Flüssigkeit, die säuerlichen Geruch verströmte.

»Ist nur Milch«, erklärte Sanne.

»Yep, ich weiß«, sagte Stefanie. Sie nahm Rafael, setzte ihn auf ihrer Hüfte ab, zog ein Taschentuch aus ihrer Gesäßtasche und wischte dem Kleinen damit den Mund ab.

»He, schon voll der Profi!«, rief Sanne.

Stefanie wandte sich um zu Peter, der die Szene von der Küche aus beobachtet hatte. Sie wollte schon die Augen rollen, als ihr bewusst wurde, wie er sie ansah. Sie und das Baby. Irgendwie … entrückt. Nach einigen Sekunden schien er wieder in der Gegenwart angekommen zu sein, lächelte und zwinkerte ihr zu. Sie zwinkerte zurück, bemerkte aber im selben Moment, dass die Geste nicht ihr galt, sondern Fritz und Sanne, die, als Stefanie sich ihnen zuwandte, peinlich berührt grinsten, rasch noch einen Blick zu Peter warfen und dann übereifrig ankündigten, Sandra und Martin beim Decken des Tisches zu helfen.

 

Es wurde zunächst besser, bevor es katastrophal wurde. Sie hatten Erdbeerkuchen auf der Terrasse gegessen, unter einem großen, rotweiß gestreiften Schirm, obwohl die Sonne sich nur sporadisch zeigte, und wurden hin und wieder bedrängt von Wespen, die sich aggressiv auf die Teller stürzten. Rafael schlief in seinem Kinderwagen, über den ein Insektenschutz gespannt war. Fritz hatte ein neues Opfer gefunden, was seine Anekdoten aus dem Berufsleben betraf, und wiegte mit seinem monotonen Singsang nun Sandras Vater in ein nachmittägliches Nickerchen. Zumindest hatte dies den Anschein, da der Kopf des älteren Manns regelmäßig auf die Brust sank, bevor er ihn ruckartig wieder hochriss. Auch alle anderen saßen fast schläfrig um den Tisch.

»Fritz, verschon doch den armen Sebastian mal mit deinen Jobgeschichten«, sagte Sanne plötzlich, die an der Stirnseite des Tisches saß. »Du versetzt den armen Mann ja ins Koma!«

»Nein, des passt schon«, schaltete sich Johanna ein. »Der Basti interessiert sich für Flugzeuge und Technik.«

»Fritz arbeitet aber im Marketing. Ich glaube, das einzig Technische, was er am Tag bearbeitet, ist die Kaffeemaschine.« Sanne kicherte.

»Haha, sehr lustig.« Fritz stellte die Kaffeetasse ab und verschränkte die Arme vor der Brust. »Immerhin arbeite ich noch.«

Diesmal hatte er es eindeutig als Scherz gemeint, das wusste Stefanie, aber Sannes Miene verdunkelte sich um eine Nuance.

»Die Tage mit einem Säugling sind extrem anstrengend. Schwerstarbeit sozusagen«, sagte sie kühl.

»Schatz, ich …«

»Und wenn du gelegentlich früher nach Hause kommen würdest und nicht erst, wenn Rafael schläft, dann wärst du auch in der Lage, das mitzubekommen.«

»Sanne-Maus, ich sehe doch, was du leistest, vor allem nachts, ich wollte jetzt keineswegs …«

»Nachts ist ein guter Punkt! Schön, dass du es mal von selbst ansprichst.«

Fritz sah sie verdattert an. »Was … was meinst du?«

»Weil du ja arbeitest, als Einziger von uns, musst du natürlich nachts nicht aufstehen. Das mach immer nur ich!«

»Das stimmt nicht, am Wochenende …«

»Am Wochenende. Das ist ja zu gnädig!«

»Aber …«

Sandra schaltete sich ein. »Okay, vielleicht beruhigt ihr euch jetzt beide wieder.«

Fritz hob abwehrend beide Hände. »Ich bin ruhig. Immer gewesen.«

Sanne warf ihre Gabel auf den Teller. Sahne spritzte in alle Richtungen und auch in das Gesicht von Leonie, die auf Stefanies Schoß saß und sofort zu schreien begann.

»Du bist immer ruhig, das stimmt«, zischte Sanne. »Unglaublich ruhig und entspannt! Du bleibst sogar im Tiefschlaf, wenn neben dir ein Säugling verzweifelt brüllt!«

»Wir gehen mal besser in die Hollywoodschaukel, junge Dame«, sagte Stefanie und stand auf, die kreischende Leonie im Arm.

Sebastian erhob sich ebenfalls. »Opi kommt mit«, sagte er und wirkte erleichtert darüber, die Runde verlassen zu können.

»Okay.« Sandra stand auf, ging zu Sanne und fasste sie sanft an den Schultern. »Lass uns kurz reingehen. Komm. Das ist der Schlafmangel. Der macht mich auch fertig.«

»Und fett findet er mich auch!«, heulte Sanne.

»Nein, das tut er nicht.«

»Das … das tue ich wirklich nicht«, stotterte Fritz. Sein Kopf war so rot wie die Streifen des Sonnenschirms und von seiner hohen Stirn perlten winzige Schweißperlen.

»Ist doch klar.« Peter tätschelte seinen Arm. »Sollen wir allmählich den Grill anwerfen? Was meinst du, Hanni?«

Sandras Mutter hatte Sannes Ausbruch geschockt verfolgt und immer noch die Hand vor dem Mund. Martin beugte sich zu ihr. »Alles gut. Sandra kriegt das hin.«

»Ist meine Tochter auch so am Ende?«

»Meine Frau ist nicht am Ende«, sagte Fritz.

Peter stand auf. »Komm, wir bauen alles fürs Grillen auf.«

Fritz erhob sich wiederwillig. »Das erweckt hier einen ganz falschen Eindruck. Ich würde nie …«

»Das wissen wir, Fritz. Auf geht’s. Machen wir die Grillmeister.«

 

Stefanie beobachte die Szene von der Hollywoodschaukel aus. Es war nicht das erste Mal, dass Peter eine Situation entspannte und beruhigend auf Personen einwirkte, die er vorher noch nie gesehen hatte und die er womöglich nicht einmal sympathisch fand. Das unterschied ihn von ihr. Sollten sich Fritz und Sanne doch vor allen zerfleischen, wenn sie wollten. Es war sicherlich zermürbend, dauernd so zu tun, als sei es das Erfüllendste auf Erden, ein Kind zu bekommen, wenn es doch auch unfassbar anstrengend war.

Leonie saß auf ihrem Schoß und war wieder vergnügt. Stefanie pustete durch den hellblonden Flaum auf dem Kopf, der noch von Schorf überdeckt war, und kitzelte den kleinen kompakten Körper sachte. Leonie gluckste.

»Ja, des magst du, gell«, sagte Sebastian, und Stefanie erwartete einen der vertrauten Sätze, die so häufig in Gegenwart von Kinderlosen fielen, wenn sie sich mit einem Baby nicht so hilflos anstellten wie ein Handamputierter mit einer Nadel, aber es folgte keiner dieser Sätze.

»Man muss ein gutes Team sein«, sagte Sebastian stattdessen und als Stefanie nichts erwiderte, fuhr er fort: »Ein richtig gutes Team. Dann kann es klappen.«

»Und lieben sollte man sich«, ergänzte Stefanie und fühlte sich im gleichen Augenblick wie ein dummes kleines Mädchen. »Oder?«

Sebastian lachte. »Das auch. Und sich füreinander interessieren.«

»Wie lange bist du jetzt mit Johanna verheiratet?«

»Lass mich kurz nachrechnen. Vierzig Jahre sind es im nächsten Sommer.«

»Puh.«

»Gewaltige Zahl, oder?«

»Sehr gewaltig.«

»Gefällt es dir hier eigentlich? Mit dem Garten, ein wenig abseits der Stadt?«

Stefanie hob die Lippen von Leonies samtenem Hinterkopf und sah ihn erstaunt an. Hatte sie so eine ähnliche Frage nicht schon heute Morgen gehört? Von Peter?

Eine Wespe flog auf das Baby zu und sie vertrieb sie mit der Hand. Intensiver Blütengeruch lag in der Luft. Sandra und Martin hatten sich bei der Gestaltung des Gartens komplett auf Johanna verlassen, die einen ausgewiesenen grünen Daumen hatte. Ihr hatten sie es zu verdanken, dass sie umgeben waren von duftenden, bunten Inseln aus Großen Löwenmäulchen, Dahlien, Roter Scharfgabe und Sonnenblumen.

Stefanie atmete tief ein. »Ja, es ist schön hier. So friedlich.«

»Die kleinen orangefarbenen dort mag ich am liebsten«, sagte Sebastian. »Tagetes. Weißt du, wie man sie noch nennt?«

»Nein.«

»Studentenblume.«

Stefanie lachte. »Passt ja jetzt schon länger auf keinen von uns Anwesenden mehr.«

Sebastian seufzte und sah zum Himmel, wo ein Flugzeug zwischen zwei Wolken auftauchte und wieder dahinter verschwand. »Ja, es geht alles so schnell. Aber: Es ist nicht wenig Zeit, die wir zur Verfügung haben, sondern es ist viel Zeit, die wir nicht nutzen

»Klingt nach einem alten Griechen.«

»Nicht ganz. Seneca. Alter Römer.«

In diesem Moment traten Sandra und Sanne wieder auf die Terrasse. Leonies Arme begannen wild zu strampeln.

»Ich bring dich mal zu deiner Mama«, sagte Stefanie und stand auf. »Bis nachher, Opi.« Sie nahm eine von Leonies Händen in ihre und winkte Sebastian damit zu.

»Bis später, ihr zwei. Und Steffi?«

»Ja?«

»Wer Gelassenheit sein Eigen nennt, kann mit allem fertig werden

»Auch von Seneca?«

»Ich glaube nicht. Im Zweifel von zitate.net      

»Ich merke es mir trotzdem.«

 

Sanne und Fritz hatten gemeinsam Rafael im Wohnzimmer in den Schlaf gesungen, sich dann gegenseitig versichert, dass nichts von dem ernst gewesen sei, was sie sich zuvor vorgeworfen hatten, und standen nun Arm und Arm neben dem Grill, den Martin eben anfeuerte. In den freien Händen hielten sie jeweils einen mit Fleisch gefüllten Teller.

»Ich hab einen Mordshunger«, sagte Stefanie und trommelte mit der Gabel auf den Teller. »Ich finde, wir sollten in der ersten Runde von allen etwas auf den Grill werfen, nicht nur von Sanne und Fritz.«

Peter küsste ihre Schulter. »Woher kommt nur dein Futterneid, Schatz? Du bist doch Einzelkind und musstest eh nie teilen.«

»Vielleicht kann ich es deshalb bis heute nicht, Klugscheißer.« Sie küsste ihn auf die Wange.

»Wartet doch mit der freudigen Knutscherei bis später, wenn wir alle dabei sind.« Sandra kam an den Tisch und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »So, Leonie schläft auch.« Sie wandte sich zu ihrer Mutter, die gerade den Flieder mit der Gartenschere bearbeitete. »Mama, die Babys schlafen beide. Wir könnten also anfangen … Wir wollten ja noch vor dem Essen, damit wir danach nicht alle so träge sind.«

Stefanie war alarmiert. »Was wollt ihr vor dem Essen? Mein Magen hängt jetzt schon bis zu den Knien. Und der Grill ist ja schon auf Touren …«

Sandra grinste. »Wirst schon sehen. Vertrau mir, danach wird es dir noch besser schmecken!«

Peter lachte unterdrückt. »Das glaube ich auch.«

Stefanie stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Seite. »He, könntet ihr mich vielleicht einweihen? Ich bin zu unterzuckert, um jetzt investigativ nachzufragen.«

»Mama, wir sollten jetzt wirklich! Bevor Steffi uns schon vorher umkippt.«

»Was …?« Stefanie sah verwirrt von einem zum anderen.

»Wo ist der Papa?«

»In der Küche. Macht letzten Feinschliff.« Johanna betrachtete den Fliederstrauß in ihren Händen und nickte zufrieden. »Ich hol ihn gleich. Stellt euch doch schon mal alle auf.« Sie verschwand im Haus.

»Peter, was …?« Stefanie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. »Wieso benehmt ihr euch alle wie die Verrückten?«

»Keine Sorge, Schatz. Dauert nur fünf Minuten und danach werfen wir dir sofort ein halbes Schwein auf den Grill, okay?«

Stefanie wollte etwas erwidern, aber in diesem Moment kam Johanna wieder durch die Tür, in den Händen ein Tablett mit einem Gebilde, das wie ein Lebkuchenhaus aussah, aber Stefanie war sich nicht sicher. Ihr folgte Sebastian, der ein Tablett mit Sektgläsern trug.

»Falls ihr auf meinen dreißigsten anstoßen wollt, da seid ihr drei Jahre zu spät dran«, zischte sie.

»Du hast immer gesagt, du willst nachfeiern«, sagte Peter grinsend und stand auf. »Komm, es geht nicht um deinen Geburtstag. Es ist besser.«

Sie hatten einen Halbkreis gebildet und sich alle ein Glas Sekt genommen. Nur Martin stand etwas abseits und überwachte den Grill und die erste Schicht Würstchen, die darauf brutzelte.

Stefanie lächelte verlegen. »Jetzt bin ich aber mal gespannt.«

Auf dem Tablett in Johannas Händen befand sich tatsächlich ein Hauskuchen, mit weißen Wänden, offensichtlich mit Zuckerguss bestrichen, und einem Dach sowie Fensterrahmen und -kreuzen aus dunkler Schokolade.

Peter reichte Stefanie ein Sektglas.

Wenn er mir jetzt einen Antrag macht, renne ich davon, dachte sie und fühlte Panik in sich aufsteigen. Beziehungsweise, ich nehme diesen albernen Hauskuchen und werfe ihn Peter ins Gesicht! Oder Sanne, wenn sie weiter die ganze Zeit so bescheuert kichert. Oder am besten Fritz, denn wenn ich sein dämliches Grinsen noch eine Sekunde länger ertragen muss, dann –

»Liebe Steffi«, begann Peter. »Wir sind mittlerweile seit sieben Jahren zusammen.«

Oh Gott. Ohgottohgottohgott.

»Aber ich werde jetzt nicht annähernd so lange sprechen, weil ich weiß, dass du so etwas hasst.«

Jajaja! Ich hasse so etwas und ich hasse es, dass ich hier stehen muss, mit einem Glas schlechten Sekt in der Hand und in dieser Hitze und vor diesem bescheuerten Hauskuchen, dessen Schokodach sich gerade auflöst und an der Zuckergusswand heruntertropft und wieso ist dieser Kuchen überhaupt in der Mitte durchgeschnitten??

»Kurz und gut: Als wir vor einigen Monaten das erste Mal hier waren, hast du dich sehr begeistert über das Haus geäußert. Über den Garten. Über die Ruhe.«

Naja, ich habe gesagt, dass ich es mir viel schlimmer vorgestellt hatte in der Vorstadt …

»Sandra und Martin haben die Hälfte dieses Hauses von ihren Eltern geschenkt bekommen«, Peter wies mit dem Kopf in Richtung Kuchen. »Die andere Hälfte haben Hanni und Sebastian für uns reserviert.«

Hanni? Hannihannihanni? Dieser Name, woher kenn ich den? War das nicht …

»Ich will nicht weiter um den heißen Bei herumreden. Steffi, wir können die zweite Hälfte dieses Hauses haben. Sie ist quasi bezugsfertig und Schlüssel habe ich auch schon.«

Hanni, war das nicht die Unbekannte, die Peter in den letzten Wochen angerufen hat? Die vermeintliche Affäre?

»Vertraglich ist noch etwas zu erledigen, aber nachdem die Bernbauers dich schon fast dreißig Jahre kennen, sollte das kein Problem sein.«

Hanni, die Affäre, war Johanna Bernbauer, die Mutter ihrer Schulfreundin??

»Und falls du dich fragst, wie das finanziell gehen soll, kann ich dich tatsächlich ebenfalls beruhigen. Wir bekommen das gut hin!«

Nein, ich frage mich nicht, wie wir das finanziell hinbekommen. Ich frage mich eher, wie du hinter meinem Rücken –

»Steffi? Alles gut?«

»Sie ist total überwältigt«, kicherte Sanne. »Nimm schnell einen Schluck Sekt, Steffi! Ist gut für den Kreislauf.«

»Und gewöhn dich schon mal an uns.« Das Basslachen von Fritz. »Wir wohnen gleich um die Ecke.«

Mir ist schwindlig. Und irgendwie schlecht.

»Und wir können uns ganz oft sehen ab jetzt und können vielleicht gleich hier unsere Agentur gründen«, hörte sie Sandra sagen. »Die Vorstadtprofis!«

Stefanie versuchte, ihre Augen zu fokussieren, doch es gelang ihr nicht. Alles drehte sich.

Einen Stuhl, ich brauche einen Stuhl. Und ein Glas Wasser.

»Steffi, was …?«

»O scheiße …«

»Herrje, mitten auf die Blumen.«

»Bist du etwa schwanger? Dann wäre das Timing ja perfekt!«

»Jetzt halt mal die Klappe, Sanne.«

»Aber ich wollte doch nur …«

»Ruhe jetzt«, zischte Peter.

Steffi hatte die Hände auf die Oberschenkel aufgestützt und versuchte, ihren Atem zu beruhigen. Peter reichte ihr eine Serviette und beugte sich zu ihr herunter.

»Steff, es tut mir leid. Das war wohl etwas zu viel.«

Sie richtete sich langsam auf und ließ ihren Blick schweifen. Über Johanna, die das Tablett mit dem Kuchen hielt und verunsichert lächelte, über Sanne, die sie mit großen Augen anstarrte. Über Sandra, deren Miene leicht besorgt wirkte, und Sebastian, in dessen Augen so etwas wie Mitleid zu erkennen war. Sie warf einen Blick über die Sträucher auf das Nachbargrundstück. Der Rasen war akkurat kurz geschnitten, ein paar junge Bäume, die von Holzstöcken gestützt wurden, standen darauf. Die Haushälfte glich der von Sandra und Martin wie ein Ei dem anderen, natürlich.

Sie spürte Peters Arm auf ihrem Rücken. »Alles wieder okay, Schatz?« Er küsste sie auf die Wange. »Jetzt hab ich dich wirklich überrascht, oder?«

Sie nickte schwach. »Und ich hätte doch vorher was essen sollen.«

»Besser nicht. Sonst hätten die Blumen noch mehr abbekommen.«

»Willst du später mal nach drüben gehen?«, fragte Sandra vorsichtig. »In das Haus?«

»Nein…«, begann Stefanie. »Ich will …« Sie räusperte sich und sagte dann mit etwas festerer Stimme: »Das war echt mal eine Überraschung. Aber ich würde jetzt gerne«, sie griff nach Peters Hand, »ich würde jetzt wirklich gerne gehen …«

Sanne sah sie begriffsstutzig an. »Nach drüben?«

»Nein, ich will …«

Sandra trat entschlossen nach vorne und fasste ihre Freundin am Arm. »Sollen wir kurz nach drinnen, damit du dich ausruhen kannst? Du siehst ganz blass aus«, flüsterte sie.

»Das ist lieb, aber … nein, ich würde wirklich gerne nach Hause.«

Alle schwiegen betreten. Sebastian schüttelte den Kopf und warf Johanna einen finsteren Blick zu. »Ich hab’s dir doch gleich gesagt«, murmelte er.

»Komm, ruh dich ein wenig aus und danach grillen wir schön«, sagte Fritz und zum ersten Mal an diesem Tag kam es Stefanie vor, als läge etwas Elan in seiner Stimme.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich möchte gehen. Ich fühl mich schon den ganzen Tag nicht gut. Die Hitze. Zu wenig getrunken und gegessen. Peter?«

Sie sah ihn an und versuchte, nicht flehentlich zu wirken.

»In Ordnung«, sagte er leise. »Wir brechen sofort auf.«

 

Die erste Hälfte der Heimfahrt legten sie wortlos zurück. In Stefanies Kopf schwirrte es und sie wollte die durcheinandersausenden Gedanken ordnen, bevor sie etwas sagte. Wenn sie aussprechen würde, was sie im Moment alles dachte und empfand, würde eine wilde Flut an Vorwürfen, Klagen und Fragen durch das Auto stürzen.

Als sie die Schwanthalerhöhe erreichten, war es Peter, der das Schweigen brach.

»Steffi, ich hab offensichtlich einen Fehler gemacht und ich möchte mich bei dir entschuldigen. Ich kann mir vorstellen, was dich so fassungslos macht – dass ich so eine große Entscheidung ohne dich getroffen habe, nicht wahr?«

Stefanie nickte wortlos. Lass ihn ausreden, mahnte sie sich. Hör dir an, was er zu sagen hat. Reiß dich zusammen.

Peter seufzte. »Ich wollte das nicht allein entscheiden, ich wollte nur, dass wir uns wieder … dass wir uns wieder näher kommen. Nein, warte, sag nichts, nicht nur, weil du wegen deines Jobs in der letzten Zeit kaum Zeit für uns hattest. Wir arbeiten beide viel und haben das schon immer gemacht. Das war es nicht. Ich hatte das Gefühl, ich muss unserer Beziehung einen neuen Impuls geben … etwas, worauf wir uns beide freuen können. Das mit dem Haus … das erschien mir als so eine Richtung. Als ein – auch wenn es komisch klingt – Projekt, das wir gemeinsam angehen können. Bei dem wir gemeinsam an einem Strang ziehen können. Wo ganz neue Dinge entstehen können.«

»Kinder«, presste Stefanie hervor.

»Was?«

»Kinder«, wiederholte sie etwas lauter.

Peter fuhr sich in einer fahrigen Geste durch das Haar. Stefanie sah, dass sein T-Shirt unter den Achseln durchgeschwitzt war.

»Kinder, ja, von mir aus, ja auch. Das hatten wir ja ohnehin vor.«

Sie schwieg.

Er sah sie von der Seite an. »Das hatten wir doch. Das haben wir doch, Steffi, oder?«

»Peter, hier geht es nicht darum, was wir vorhaben oder deiner Meinung nach vorhaben. Hier geht es darum, dass du hinter meinem Rücken etwas festzurrst und es mir dann in Anwesenheit anderer Menschen präsentierst, mich im Beisein anderer völlig überrumpelst, damit die Chance größer ist, dass ich es lächelnd hinnehme.«

»Steff, für wie bescheuert hältst du mich? Das heute lief nicht so ab, weil ich dachte, du kannst dann nicht nein sagen. Sandra und ihre Eltern haben mir so viel geholfen in den letzten Wochen, dass ich es nur fair fand, dass sie dabei sein durften.«

Stefanie dachte an Sandra und fühlte ein dumpfes Gefühl der Enttäuschung, dass ihre Freundin so lange ein Geheimnis vor ihr gehabt hatte.

»Sandra fiel es verdammt schwer, dicht zu halten«, sagte Peter, als hätte er ihre Gedanken erraten, und seufzte. »Vielleicht hat sie auch irgendwie geahnt, dass du nicht begeistert sein wirst. Aber Hanni meinte …«

»Hanni«, äffte Stefanie.

»Was ist mit Hanni?«

»Nichts.« Sie kaute einen Moment auf ihrer Unterlippe. »Weißt du eigentlich, dass ich dachte, du hättest eine Affäre, weil du dich in den letzten Wochen so seltsam benommen hast?«

Sie hielten an einer roten Ampel, Peter ließ seinen Kopf in die Hand sinken und rieb seine Augen. »Oh Gott. Ja, ich bin nicht gut im Geheimniskrämern.«

Eine Woge Zärtlichkeit stieg in ihr auf, als sie ihn so sah, doch die Wut war größer.

»Warum hast du nicht einfach mit mir geredet, bevor du so etwas Entscheidendes in die Wege leitest? Warum?«

»Wann hätte ich das tun sollen in der letzten Zeit? Du warst immer am Arbeiten.«

»Das war ich deiner Aussage zufolge doch davor auch schon oft und dennoch hast du nicht hinter meinem Rücken Urlaube für uns gebucht. Oder Einladungen in unser beider Namen angenommen, ohne mit mir darüber zu sprechen. Warum war es dieses Mal anders? Warum war es gerade bei so etwas Gewaltigem wie dem Kauf eines Hauses plötzlich so verdammt anders?«

»Du musst nicht schreien.«

»Es ist grün, du kannst fahren.«

Sie schwiegen einen Moment.

»Noch mal«, sagte Peter dann. »Ich wollte uns einen Impuls verpassen. Zuallererst aber, Steffi, wollte ich dir einfach eine verdammt große Freude machen und dir einen Wunsch erfüllen.«

»Aber wie um Himmels willen kommst du darauf, dass du genau weißt, was ich mir wünsche.« Sie wusste, dass sie ihn damit traf, aber sie konnte nicht aufhören. »Was bitte gibt dir das Recht, meine Lebensplanung mit deiner gleichzusetzen? Automatisch. Ohne mit mir zu sprechen.«

Peter holte tief Luft, bevor er antwortete. »Steffi, ja, ich erlaube mir, sagen zu können, dass ich dich sehr gut kenne und sehr genau weiß, was du dir wünschst und was du magst und was nicht.«

»Wenn das so ist, dann wüsstest du auch, dass ich diese Art von Bevormundung hasse! Und nur weil ich sage, dass die Doppelhaushälfte von Sandra und Martin nicht absolut oberscheiße ist, heißt das nicht, dass ich mein Leben neben ihnen in einem Klonhaus verbringen will! Regelmäßig heimgesucht von Sanne und Fritz!«

»Steffi, was haben die beiden denn …«

»Nichts! Nichts haben die beiden mit meinem Leben zu tun! Und das soll bitteschön auch so bleiben! Und wenn du mit mir auch nur einmal gesprochen hättest, wüsstet du das auch!«

»Ich habe versucht, mit dir zu sprechen.«

»Wann?«

»Immer wieder mal … ich … siehst du, du merkst nicht einmal, wenn ich das Gespräch mit dir suche.«

»Ach so, jetzt bin ich an allem schuld oder was?

»Wir reden einfach nicht mehr miteinander. Warum hast du zum Beispiel nicht mit mir gesprochen, als du Angst hattest, dass ich eine Affäre habe?«

Stefanie machte eine abwehrende Handbewegung. »Darum geht es hier nicht.«

»Doch, Steffi, irgendwo schon.«

»Nein, es geht in erster Linie, darum, dass du nicht mit mir –«

Peter lenkte das Auto abrupt auf den Parksteifen und hielt mit quietschenden Reifen.

»Sag mal, spinnst du!«, schrie Steffi.

Er wandte sich zu ihr. »Anscheinend spinne ich ein bisschen, ja, weil ich versuche, diese Beziehung zu retten. Stopp, sag jetzt nichts, ich weiß, was kommt, nämlich dass man eine Beziehung nicht retten kann, indem man hinter dem Rücken des Partners etwas festlegt. Ich habe verstanden. Und weißt du was? Weißt du, was unglaublich ist? Wir müssen dieses Haus nicht kaufen, Steffi, kein Gesetz dieser Welt verpflichtet uns dazu. Ich rufe morgen Hanni an und blase die Sache ab, wenn es das ist, was du willst. Okay?«

Er fuhr wieder los.

»Ich will vor allem nicht, dass du etwas heimlich tust«, sagte Stefanie leise.

»Mach ich nicht mehr.«

»Lass uns morgen noch mal in Ruhe darüber sprechen. Aber ich befürchte tatsächlich, dass ich«, sie berührte ihn kurz am Arm, »dass ich wirklich nicht in dieses Haus ziehen will.«

»Ich hab das schon verstanden.«

»Peter, ich …«

»Es ist okay, Steff. Es war ein anstrengender Tag. Wir reden morgen.«

Sie fanden eine Parklücke direkt vor ihrem Haus und schlichen wie zwei müde Krieger die Treppe hinauf in den zweiten Stock.

»Ist doch schön hier«, murmelte Peter, bevor er im Bad verschwand. »Man kann alles problemlos auch in einer Altbauwohnung machen.«

Sie sah ihm nach und der Schmerz, der sie wie aus dem Nichts überkam, war so gewaltig, dass sie an der Wand entlangglitt und einige Minuten auf dem Boden sitzen bleiben musste.

 

Sie sagten den Besuch bei seinen Eltern am nächsten Tag ab, nachdem Peter Stefanie gestanden hatte, dass seine Eltern schon einige Wochen von dem geplanten Hauskauf wussten und auch bereit waren, sich daran finanziell zu beteiligen.

»Ich kann jetzt nicht zu Kaffee und Kuchen zu deinen Eltern und so tun, als wäre alles okay.«

»Ich versteh das, Steff. Es gibt nur noch etwas, das ich …«

»Meine Eltern?«

»Ja.«

»Sie wissen auch Bescheid?«

»Ja.«

»Würdest du sie bitte kontaktieren und darüber informieren, dass das Ganze abgeblasen wurde?«

»Mach ich.«

»Du kannst ja sagen: vorübergehend abgeblasen. Sonst machen sie sich Sorgen, dass …«

»Dass?«

»Dass wir alles abblasen.«

»Was wir nicht tun.«

»Nein.«

»Gut, ich ruf sie nachher an.«

»Danke.«

»Bitte.«

 

 

 

Unsichere Prognosen

 

 

Nachts hatte es geregnet, aber jetzt war die Sicht atemberaubend. Wie gemalt standen die Alpen am Horizont. Die Türme der Frauenkirche und die Dächer der Altstadt bildeten ein Postkarten-Panorama. Der Marienplatz füllte sich allmählich mit Menschen, die von hier oben wie Käfer wirkten.

Stefanie atmete tief durch. Es war kurz nach neun. Sie war die einzige Person auf der Aussichtsplattform des Alten Peter und saugte den Blick und die frische, klare Luft in sich auf. Erst nach einer halben Stunde, als die ersten Touristen erschienen, schwer atmend nach der Bewältigung von über dreihundert Stufen, trat sie den Weg nach unten an und fuhr zur Arbeit.

Jessica traf zeitgleich mit ihr ein und wirkte auf Stefanie, die sich nach dem Wochenende unendlich elend fühlte, wie eine Fata Morgana aus Frische und Unbekümmertheit. Ihre Arme und das Gesicht waren tief braun.

»Morgen«, flötete sie und schlürfte an ihrem Coffee to go. »Aufzug?«

Stefanie nickte. Sie hätte lieber wie immer die Treppe genommen, aber es erschien ihr als unhöflich.

»Und, gutes Wochenende gehabt?«, fragte Jessica auf dem Weg nach oben. »Wieder genial gefeiert?«

»Ziemlich gut, ja.« Stefanie bemühte sich, dem Blick ihrer Kollegin auszuweichen, und starrte in den Spiegel. Interessant, dachte sie, so sehe ich also beim Lügen aus. »Ziemlich gut. Sehr … sehr aufregend.«

»Aufregend ist immer gut. War es bei mir auch.« Sie nieste laut. »Entschuldigung. Man sollte abends nicht zu lange am Starnberger See sitzen. Ich hab mich ziemlich verkühlt.« Wie zur Bestätigung nieste sie erneut.

»Gesundheit«, sagte Stefanie pflichtschuldig.

»Danke … ich …« Jessica nieste erneut, hoch und schrill.

»Gesund-«, begann Stefanie und stutzte dann. Dieses Niesen. Das hatte sie doch erst vor Kurzem gehört. Aber wann und wo?

»Steffi?«

Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch. »Hm?«

Jessica stand in der Aufzugtür. »Kommst du?«

Am Empfang stand Lore, die Haare zu einem auberginefarbenen Riesendutt hochgesteckt, und sortierte die Post.

»Morgen, die flodden Damen«, sie sah kurz hoch. »Steffi, Reddo möcht dich sprechen.«

»Jetzt gleich?«

»Ja. Und sei gnädich: Dem armen Reddo hats am Wochenend ordentlich aufbrannd. Er sieht aus wie aa Domadn.«

»Wie was?«, fragte Jessica irritiert.

»Eine To-ma-te. War zu viel in der Sonne.«

Jessica wollte etwas erwidern, verzog aber plötzlich das Gesicht und nieste dreimal hintereinander. Sehr laut und wieder ungewöhnlich hoch.

Stefanie blieb stehen. Schlagartig erinnerte sie sich an die Situation, in der sie das Niesen schon einmal gehört hatte. Es war vor etwas mehr als einer Woche gewesen. In Retos Büro. Als er unter dem Schreibtisch gewesen war und sie vor ihm gestanden hatte wie ein Schulmädchen. Jemand war mit ihm im Zimmer gewesen und hatte geniest. Und dieser jemand war – sie musste schlucken – Jessica? Reto hatte etwas mit Jessica. Dass er eine Affäre hatte, das hatte sie geahnt, es stand ihr aber nicht zu, ihn deswegen offen zu kritisieren, auch wenn seine Frau ihr leid tat. Dass es nun aber eine Affäre mit Jessica war, mit Jessica, über die er sich, wenn er sie gegenüber Stefanie überhaupt erwähnte, bestenfalls belustigt äußerte, das nahm sie ihm übel. Sie ging rasch in ihr Büro und holte das Handy aus der Tasche.

Vanessa. Die Männer spielen alle verrückt. ALLE. Muss dich sprechen. Hast du heute Abend Zeit? LG, Steff

Es dauerte nur Sekunden, bis ihr Telefon vibrierte.

Verrückte Männer – ich bin dabei. Selber Ort, selbe Uhrzeit wie letztes Mal? V.

Ja, aber nicht dieselbe Alkoholmenge. Muss fit sein und bleiben. Bis später.

Bis später. Bin gespannt.

Seufzend ließ Stefanie ihr Handy sinken. Es war ja wirklich so, die Männer spielten verrückt. Zumindest zwei. Peter hatte in den letzten Wochen hinter ihrem Rücken beängstigende Nestbauambitionen entwickelt und diese ohne ihr Wissen quasi schon umgesetzt, mit sicherlich euphorischer Unterstützung seiner und ihrer eigenen Eltern. Die würden sicherlich alles tun, um ihrem einzigen Kind zum Eigenheim zu verhelfen, in dem es dann zügig mit der Familiengründung beginnen könnte. Nicht weil sie sich keinen anderen Lebensplan für ihre Tochter vorstellen konnten, aber weil sie mit Sicherheit dachten, dieser würde sie glücklich machen. Wieso sollten sie auch etwas anderes denken, wenn Peter, den sie seit dem ersten Treffen ins Herz geschlossen hatten, zu ihnen mit der Bitte um finanzielle Unterstützung kam und der absoluten Überzeugung, dass er mit seinem Vorhaben bei Stefanie nichts als Seligkeit auslösen würde.

Der zweite Verrückte war Reto. Manchmal verschroben. Streng, aber immer fair, stets penibel darauf bedacht, Privates von Beruflichem zu trennen und dies auch seinen Mitarbeitern abzuverlangen. Wer was wann und wo nach Feierabend machte, war ihm gleichgültig, solange die Arbeit exzellent erledigt wurde. Alles andere war ihm egal. Stefanie setzte sich auf und holte tief Luft. Es musste ihr ebenfalls egal sein, was er wann mit wem trieb. Sie mochte Jessica nicht und hatte bis jetzt immer das Gefühl gehabt, einen guten Draht zu Reto zu haben. Vielleicht sogar eine besondere Verbindung, die von gegenseitigem Respekt und Vertrauen geprägt war, aber anscheinend gab es diese Verbindung nur auf beruflicher Ebene, aber warum auch sollte es anders sein, was hatte sie erwartet?

Ein Klopfen unterbrach ihre Gedanken. Reto steckte den Kopf zur Tür herein, der, da hatte Lore nicht übertrieben, glühend rot war.

»Morgen, Steffi«, sagte er und fügte angesichts ihrer hochgezogenen Augenbrauen hinzu. »Ja, ich weiß, ich sehe aus wie eine Languste. Obwohl ich Hauttyp 3 bin. Einfache und langsame Bräunung, nur manchmal Sonnenbrand.«

Stefanie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Warst du am Starnberger See?«

»Ja, wieso? Woher weißt du das?«, fragte er und setzte sich.

»Naja, weil du dort regelmäßig mit Frau und Kindern bist.« Sie hörte, wie ihre Stimme spitz wurde.

Reto schwieg. Sein Gesicht erschien Stefanie noch eine Spur röter.

»Weswegen ich dich eigentlich sprechen wollte …«, sagte er nach einer Weile.

»Ja?«

»Du hast heute Nachmittag das erste Treffen mit Rolo von Wolf in seinen Büroräumen, nicht wahr?«

»Mm, ja, wieso?«

»Weil ich dich noch um etwas bitten würde.«

»Und das wäre?«

Reto sah sie erstaunt an. »Ist etwas am Wochenende passiert, dass du so schlecht gelaunt bist?«

»Ich bin prima gelaunt. Bestens. Mein Wochenende war knorke. Deins ja anscheinend auch.«

Reto blinzelte irritiert, bevor er fortfuhr. »Ich wollte dich bitten, dass du, wenn es irgendwie möglich ist, bei den Gesprächen mit Rolo das Thema Leonor von Wolf und vor allem ihren Tod nicht berührst.«

»Reto, ich konzipiere eine Firmenschrift, keine Biografie. Warum sollte ich auf dem Tod seiner Frau herumreiten?«

»Mir ist klar, dass du nicht auf ihrem Tod herumreitest. Mir wäre es aber lieb, wenn du das Thema einfach komplett aussparst.«

»Aussparen. Okay. Mach ich. Kein Problem. Aussparen schaff ich. Ich bin sehr diskret. Sehr.« Sie drehte sich mit dem Bürostuhl hin und her und tippte mit einem Kugelschreiber hektisch auf den Schreibtisch.

»Alles okay mit dir, Steffi?«

»Natürlich.«

Reto seufzte und erhob sich. »Na gut. Dann wünsche ich dir einen guten Tag und später ein spannendes Treffen mit Rolo. Wo es genau ist, weißt du?«

»Yep.«

»Nicht in Giesing bei der Produktion, sondern im Lehel. Da ist sein kleines Büro, das er noch …«

»… von früher hat, als er kurz freier Unternehmensberater war, ich weiß es, Reto. Ich hab meine Hausaufgaben gemacht.«

»Na dann.« Reto stand noch einen Moment unschlüssig vor ihr, bis er sich umwandte und den Raum verließ.

 

»Und das hier ist unser Firmenarchiv.« Ben Keller zeichnete zwei imaginäre Anführungszeichen in die Luft. »Katalogisierung und Aufbewahrung der Dokumente dürften allerdings nicht den allgemein für Archive geltenden Gesetzen entsprechen.«

Der junge Mann, der sich als »persönlicher Assistent von Herrn von Wolf« vorgestellt hatte (in Wirklichkeit, das erfuhr Stefanie später, war er Philosophiestudent und jobbte zweimal die Woche in Rolo von Wolfs Büroräumen als »Mädchen für alles«), war eifrig darauf bedacht, sich gewählt auszudrücken.

»Sehen Sie sich doch einfach schon einmal um, solange Herr von Wolf noch am Telefon ist. Wenn Sie etwas brauchen – scheuen Sie sich nicht, mich anzusprechen. Sie finden mich nebenan.«

»Gut zu wissen.« Stefanie grinste. »Vielen Dank.«

»We aim to please.« Ben deutete eine leichte Verbeugung an und ging rückwärts zur Tür. Wie ein Diener, dachte Stefanie. Ob er weiß, dass Rolo von Wolf dem verarmten Adel angehört?

»Vorsicht, Sie …«

Zu spät. Ben Keller war mit dem Po gegen den Türrahmen gestoßen, richtete sich schlagartig wieder auf, schob die verrutschte Brille zurück auf die Nasenwurzel und verschwand eilig.

Als sie allein war, sah sie sich genauer um. Den etwa fünfzehn Quadratmeter großen Raum als »Firmenarchiv« zu bezeichnen, war tatsächlich übertrieben. Neben einem kleinen Tisch und zwei Stühlen standen hier lediglich zwei Regale, die zwar bis unter die mit Stuck verzierte Decke reichten, aber nur im unteren Drittel gefüllt waren mit Aktenordnern und Aufbewahrungsboxen. Wahllos zog Stefanie eine heraus, stellte sie auf den Tisch und nahm den Deckel ab. Im Inneren befand sich etwa ein Dutzend Fotos, deren Farben sie an die Bilder aus ihrem Kindheitsalbum erinnerte. Stefanie nahm eines in die Hand. Es zeigte einen Jungen, der eine Angel in der einen, einen großen Fisch in der anderen Hand hielt und von einem Ohr zum anderen grinste. Seine Freude war so offensichtlich, dass sie fast ansteckend wirkte, obwohl es nur ein Foto war und die Situation sicherlich Jahrzehnte zurücklag. Stefanie setzte sich lächelnd und betrachtete das Bild eingehender.

»Fränkisches Seenland, 1979. Ich mit Karpfen«, sagte eine Stimme hinter ihr. »Leider bin ich seitdem rapide gealtert.«

Stefanie fuhr herum und stand hastig auf. »Herr von Wolf. Ich habe Sie gar nicht kommen hören.«

»Bleiben Sie sitzen, macht doch nichts.« Er nahm auf dem zweiten Stuhl Platz. »Ich sehe, Sie haben zielstrebig die wenigen Privataufnahmen gefunden, die hier sind. Vermutlich hatte mein Vater das Foto in seinem Büro.«

»Oh.« Stefanie spürte, dass sie rot wurde. »Ich wollte nicht herumschnüffeln.«

Rolo von Wolf lachte. »Dafür habe ich Sie doch engagiert.« Er beugte sich leicht vor. »Im Ernst: Schauen Sie sich alles in Ruhe an, Fotos, Dokumente, Briefe etc., hier liegt nichts, was Verschlusssache wäre. Sie können jederzeit vorbeikommen oder sich alles in die Agentur liefern lassen, wenn Ihnen das lieber ist.«

In die Agentur liefern lassen, dachte Stefanie sofort, doch dann hielt sie inne. Warum nicht hier arbeiten und zumindest ansatzweise das Gefühl haben können, etwas wirklich Eigenes zu schaffen, in eigenen Räumen zu arbeiten? Gut, natürlich waren es nicht ihre eigenen Räume und natürlich, sie sah sich rasch um, war es hier klein und nicht gerade gemütlich, aber sie würde hier allein und unbeaufsichtigt arbeiten können – so, wie sie und Sandra es sich immer vorgestellt hatten, wenn sie von ihrer gemeinsamen Agentur träumten.

Sie seufzte, wurde sich dann aber der Situation bewusst und räusperte sich. »Ich müsste noch mal Rücksprache mit Reto halten, aber generell … generell würde ich gern hier arbeiten.«

»Dann bekommen Sie gleich einen Schlüssel von mir und können hier ein- und ausgehen, wie es Ihnen zeitlich am besten passt.«

»Warum haben Sie hier noch ein Büro und nicht nur in Giesing?«

»Aus Gewohnheit. Kann aber sein, dass ich die Räumlichkeiten bald aufgebe. Spätestens, wenn ich die Rechnung für DreamDesign zahlen muss.« Er lachte und stand auf. »Hatten Sie vor, heute schon einmal einen Blick in die Unterlagen zu werfen?«

»Ja, zumindest grob«, sagte Stefanie und griff nach ihrer Tasche unter dem Tisch. »Meinen Laptop habe ich auf jeden Fall schon einmal dabei. Oder ist es heute nicht so gut, wenn ich gleich …«

Rolo von Wolf lachte erneut. »Gut ist, wie es Ihnen passt, ich lasse Ihnen da wirklich freie Hand. Nein, ich frage, weil ich gerade ausgesprochen Lust auf einen Kaffee habe. Wir könnten hier im Büro einen trinken, unsere Maschine ist nicht schlecht, aber ehrlich gesagt, ist mir mehr danach, in einem Straßencafé zu sitzen oder«, er sah aus dem Fenster, »oder im Café, weil es gleich anfängt zu regnen. Haben Sie Lust und Zeit, kurz mitzukommen? Das La Stanza ist gleich um die Ecke.«

»Eigentlich …«, Stefanie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, »ist es heute nicht so gut, weil ich …« Sie stockte und sah ihn an. Warum war es nicht gut? Rolo von Wolf war ein Kunde, ein wichtiger. Weshalb sollte sie mit einem wichtigen Kunden nicht während der Arbeitszeit einen Kaffee trinken gehen, zumal man schließlich auch bei einem Kaffee Geschäftliches besprechen konnte?

»In Ordnung«, sagte sie. »Ich komme gern mit.«

»Wunderbar. Wollen wir gleich gehen?«

Stefanie nickte.

Sie verließen das fünfstöckige Altbaugebäude, in dessen Erdgeschoss sich die drei Büroräume befanden, und waren innerhalb von fünf Minuten am St.-Anna-Platz, einem Ort, an dem Stefanie noch nie gewesen war, wie sie mit Staunen feststellte. Die ersten Regentropfen fielen auf das Pflaster.

»Ja, so ist das mit der eigenen Stadt«, sagte Rolo von Wolf. »Man geht hier selten auf Erkundungsreise. Fliegt lieber in die Ferne.«

»Reto hat mir schon erzählt, dass Sie wahnsinnig oft reisen.«

»Naja, früher war das vielleicht so. Mit meiner Frau.«

Stefanie schwieg betreten und dachte an Retos mahnende Worte bezüglich Leonor von Wolf.

»Inzwischen bin ich viel weniger unterwegs. Vor allem wegen meiner Tochter. Und ich habe München in den letzten Jahren, während ich auf der Suche nach meinem Büro und den Produktionsstätten war, ganz neu entdeckt.«

Er hielt Stefanie die Tür auf und sie betraten das La Stanza. Der Raum rechts von der Bar war klein, wirkte aber größer durch die verspiegelte Rückwand und wurde dominiert von einer Lampe, die aus mindestens zwanzig roten Schirmen bestand, die wie überdimensionale Longdrinkgläser geformt waren. Die Fensterfront zur Straße war geöffnet und ließ frische Luft herein, die der leichte Regen mit sich gebracht hatte.

Ein Kellner, in schwarzer Schürze und weißem Hemd, kam hinter der Bar hervor und mit ausgebreiteten Armen auf sie zugelaufen.

»Ehhh, ciao Rolo, bello ragazzo«, rief er und danach noch einiges, was Stefanie nicht verstand, Rolo von Wolf jedoch mit einem milden Lächeln und einigen Sätzen in fließendem Italienisch quittierte.

»Luigi meinte, meine Begleitungen werden jede Woche hübscher«, sagte er, als er sich aus der Umarmung des euphorischen Italieners befreit hatte. Sie setzten sich an einen der quadratischen Tische, die ideal für zwei waren, für mehr Personen aber eindeutig keinen Platz boten.

»Aha, Sie sind jede Woche hier«, sagte Stefanie. »Mit einer anderen Begleitung.«

Rolo von Wolf tat, als überlege er. »Mindestens. Eher zweimal die Woche.« Er schob die Karte in ihre Richtung. »Nehmen Sie eine torta della nonna und einen Espresso. Ich will Sie nicht bevormunden, aber Sie wären stupido, wenn Sie beides nicht versuchen würden. Und übrigens«, er fuhr sich durch die Haare, »wenn Sie schon so intime Einblicke in mein Privatleben bekommen haben, sollten wir uns vielleicht einfach duzen. Ich bin Rolo.« Er streckte die Hand über den Tisch.

Stefanie nahm sie und fühlte den Druck seiner Finger. Seine grünen Augen sahen sie belustigt an, aber es störte sie nicht.

»Ich bin Stefanie, bello ragazzo«, sagte sie und wunderte sich kurz über sich selbst. »Und ich freue mich auch.«

Er hielt sie noch immer fest, während seine zweite Hand in die Gesäßtasche seiner Jeans glitt und das vibrierende Handy hervorholte.

»Ja, Schatz?«

Vorsichtig zog Stefanie ihre Hand zurück und stand auf, um zur Theke zu gehen, wo sie zwei Espressi und zwei Stücke der torta della nonna bestellte. Als sie sich wieder setzte, legte Rolo gerade auf.

»Das war Antonia und hat gefragt, ob sie später mit ihrer Oma James Bond auf DVD anschauen darf und ich habe es ihr erlaubt. Meine Mutter ist bis zum Beginn der Ferien bei uns und schaut ein wenig nach dem Rechten. Anschließend fahren sie gemeinsam in das Familiendomizil nach Franken.«

»Wie alt ist sie denn?«

»Dreizehn.«

Stefanie lachte. »Ich meinte die Oma.«

»Einundsiebzig.«

»Und schaut James Bond.«

»Mit der Enkelin.«

»Das ist süß. Wie lange bleibt Antonia in Franken?«

»Wenn es nach ihr geht, bis zum Ende der Ferien. Die Omi hat nämlich Pferde.«

»Das ist unwiderstehlich für viele Dreizehnjährige.«

»Apropos unwiderstehlich«, sagte Rolo und lehnte sich ein Stück zurück, weil Luigi in diesem Moment Kaffee und Kuchen auf ihren Tisch stellte. »Grazie mille, Luigi.« Er hob seinen Espresso und prostete Stefanie damit zu. »Ich freue mich auf die Zusammenarbeit.«

 

»Du hast nicht auf die Blumen gekotzt! Bitte sag mir, dass du nicht wirklich auf die Blumen gekotzt hast, Steffi!«

»Ich hab auf die Blumen gekotzt.«

»Dein Freund eröffnet dir vor versammelter Mannschaft, dass er dir ein Haus kaufen will, und du kotzt auf die Blumen?«

»Ich sage es auch gern fünfzig Mal, Vanessa: Ja. Ich hab auf die Blumen gekotzt.«

»Und das kommt dir nicht komisch vor?«

»Dass ich auf die Blumen kotze, wenn mein Freund mir vor versammelter Mannschaft sagt, dass er mir ein Haus kaufen will?«

»Hör auf, ich brech zusammen!«

»Doch, das kommt mir komisch vor. Die Frage ist jetzt: Was soll ich machen?«

Sie saßen in Robinson’s Bar und Stefanie fühlte sich leicht dekadent, weil sie einen schnöden Werktag mehr auf Aussichtsplattformen und in Cafés denn am Schreibtisch verbrachte.

»Willst du nur das Haus nicht mit Peter kaufen? Oder willst du einfach nicht mit ihm zusammen sein? Schau mich nicht so entgeistert an, ich frage doch nur.«

Stefanie seufzte. »Ich weiß es nicht. Die letzten Monate … erst dachte ich, der wochenlange Stress ist daran schuld, dass wir uns … voneinander entfernt haben. Und ich dachte, wenn der Stress erst einmal vorbei ist, nähern wir uns wieder an, treffen uns dort, wo wir uns vorher quasi … kurzfristig getrennt haben. Aber jetzt …«

»Aber was? Was ist jetzt?«

»Jetzt habe ich das Gefühl, ich finde diese Stelle nicht mehr, an der wir uns getrennt haben. Ich finde den Anschluss nicht mehr. Ich habe manchmal das Gefühl, ich könne nicht zurück.«

»Klingt melodramatisch.«

»Es ist jedenfalls nicht ganz einfach.«

»Meinst du, Peter hat dieses Gefühl auch?«

»Ich weiß es nicht. Wir haben nicht darüber gesprochen.«

»Solltet ihr vielleicht mal.«

»Ja, denn irgendetwas arbeitet mit Sicherheit in ihm. Sonst hätte er nicht diese unglaubliche Haus-Geschichte geliefert.«

»Und du hättest nicht auf die Blumen gekotzt.«

»Genau.« Stefanie griff nach ihrer Apfelschorle. »Prost.«

»Prost.« Vanessa hob ihren Hugo und nahm einen Schluck. »Steffi«, sagte sie dann. »Ich kenn dich jetzt echt schon ewig. Und ich kenne Peter jetzt auch schon seit … seit wie vielen Jahren?«

»Acht.«

»Seit der Party.«

 

Die Party. Es waren Stefanies letzte offizielle Tage als Studentin gewesen. Alle Prüfungen hatte sie bereits überstanden, den Abschluss schon in der Tasche, nur die Zeugnisvergabe, die ihr dann offiziell den Titel »Magistra Artium« verleihen würde, stand noch aus. Vanessa, die ihr Pharmaziestudium erst zwei Jahre nach ihr beenden, aber dann sofort deutlich besser verdienen würde als Stefanie mit deutlich längerer Berufserfahrung, hatte sie überredet, zu einer Examensparty der juristischen Fakultät mitzukommen.

»Quasi deine letzte Studentensause, komm schon, alte Dame. Danach kannst du von mir aus auf After-Work-Partys so richtig die Sau rauslassen.«

 

Vanessa fischte ein Minzeblatt aus dem Glas und steckte es in den Mund. »Soweit ich das beurteilen kann, warst du immer glücklich mit ihm. Auch wenn du temporär unglücklich warst – verstehst du, was ich meine?«

Stefanie runzelte die Stirn. »Du meinst, selbst wenn ich genervt von ihm war, weil er jedes Wochenende beim Biken war, oder zu Tode betrübt, weil er sich kurzzeitig in eine Kollegin verguckt hatte … war ich trotzdem im Grunde glücklich mit Peter, weil ich mir absolut sicher war, dass ich mit ihm zusammen sein wollte?«

»Genau, diese Sicherheit hat dich – hat euch irgendwie durch Krisen und Probleme gebracht. Und ich hatte den Eindruck, dass dich diese Sicherheit glücklich macht. Ist ja auch verständlich. Wenn man völlig sicher und entschlossen ist, mit dieser einen Person zusammen sein zu wollen, dann … dann kann man es irgendwie schaffen.«

 

Stefanie hatte sich auf der Party gelangweilt. Vanessa war nach fünf Minuten von einem Typen angesprochen worden und mit ihm Richtung Bar verschwunden. So lief es fast immer ab, wenn sie gemeinsam unterwegs waren. Nach kürzester Zeit hatte Vanessa jemanden an der Angel, während Stefanie sich vorkam wie das fünfte Rad am Wagen, auch wenn Vanessa sich bemühte, sie in das Gespräch miteinzubeziehen. Anfangs hatte sie sich in solchen Situationen unwohl gefühlt, mittlerweile machte es ihr nichts mehr aus, auf Partys oder in Clubs allein herumzustehen und mit der Hand ein Getränk zu umschließen (etwas zum Festhalten brauchte sie immer noch). Hin und wieder wurde sie natürlich auch angesprochen, aber mehr als ein kurzes Geplänkel hatte sich mit Partybekanntschaften nie ergeben. Sie war nicht mehr in einer Beziehung gewesen, seit sich Sebastian vor zwei Jahren von einem Tag auf den anderen verabschiedet hatte, weil er sich unsterblich in eine Kommilitonin von Stefanie verliebt hatte. Stefanie und Sebastian, die in der Abi-Zeitung zum »Süßesten Paar« des Jahrgangs gewählt worden waren, waren seitdem Geschichte.

 

»Puh«, Vanessa fächelte sich mit der Speisekarte Luft zu, »das mit der Sicherheit ist nicht ganz mein Spezialgebiet, ich war mir noch nie bei einem Mann wirklich sicher und solange ich das nicht bin, halte ich es lieber mit allen locker.« Sie griff nach ihrem Glas und trank. »Kann sich natürlich jederzeit ändern, aber momentan ist es für mich gut, so wie es ist. Aber du bist anders, Steffi, du lässt dich von vornherein nur mit einem Mann ein, wenn du dir sicher bist.« Sie lachte trocken. »Da wäre ich bis heute Jungfrau. Mit Sicherheit!«

Stefanie beugte sich vor und drückte sanft den Oberarm ihrer Freundin. »Auch für dich kommt irgendwann der Richtige, das …«

»Das ist jetzt nicht das Thema«, unterbrach Vanessa sie. »Es ist gut so und du weißt, dass ich mir das auch nicht einrede.«

Stefanie lehnte sich wieder zurück. »Ich weiß«, sagte sie. Sie sah durch das Fenster auf den Gärtnerplatz und das Rondell in seiner Mitte, wo die Dahlien und Stiefmütterchen ihre Köpfe hängen ließen. Es regnete mittlerweile stärker.

 

Als Vanessa zwei Stunden verschwunden war, beschloss Stefanie, nach Hause zu gehen. Die Party war in vollem Gange, aber sie war müde und sehnte sich nach ihrem Bett. Also stellte sie die leere Bierflasche ab und suchte ihre Jacke, konnte sie aber in den Kleiderbergen auf dem Tisch neben der Eingangstür nicht finden.

»Mist«, murmelte sie und wühlte sich weiter durch Anoraks und Mäntel.

»Steppmantel, blau und mit Pelzkapuze?«

Sie wandte sich um. »Ja, woher …?«

»Hier, rechts unten, ich hab vorhin gesehen, wie du ihn abgelegt hast.«

»Ah, okay. Danke.«

»Ich bin übrigens Peter.«

»Hi, Peter.«

»Mein Freund Matthias ist mit deiner Freundin an der Bar.«

»Ach, mit Vanessa.«

»Wenn das ihr Name ist.«

»Ja, so heißt sie.«

»Und du, wie heißt du?«

»Ich bin Steffi.«

»Hi, Steffi.«

 

Vanessa leerte geräuschvoll ihr Glas und stellte es ab. »Sag mal, ich bin wie gesagt nicht die Beziehungsexpertin per se, aber … wie wäre es denn, wenn ihr eure Beziehung ein wenig … na, wenn ihr ein bisschen Schwung in alles bringt.«

Stefanie rollte mit den Augen. »Komm mir jetzt nicht mit irgendwelchen Tipps, wie wir die Leidenschaft wieder entfachen können. Es geht hier nicht um Sex.«

Vanessa wiegte den Kopf hin und her. »Es geht mit Sicherheit auch darum. Aber darauf wollte ich gar nicht hinaus. Wenn ich mich recht erinnere, wolltet ihr immer MEHR am Anfang. Mehr Achtsamkeit für den anderen …«

»Ja, weil ich damals sicher war, dass Basti mich verlassen hat, weil ich mich nicht mehr genug um ihn gekümmert habe.«

»Quatsch, der war scharf auf diese Tante.«

Stefanie zuckte zusammen.

»Sorry.«

»Schon okay, du hast ja recht.«

»Ihr wolltet mehr. Mehr auf den anderen achten, mehr Sinnvolles machen, mehr reisen, ich kann mich gut an diese ganzen Vorsätze erinnern.«

Stefanie schnaubte. »Vorsätze, das klingt, als hätten wir nichts davon umgesetzt.«

»Habt ihr denn?«

»Man muss nicht alles umsetzen, wovon man träumt. Das geht gar nicht. Aber wenn man nur noch von etwas träumen darf, wenn man es auch hundertprozentig umsetzt, sorry, dann lass ich das mit dem Träumen in Zukunft.«

»Stefanie, so meine ich das nicht. Aber denkst du nicht, dass ihr … nehmen wir an, ihr nehmt beide ein Sabbatical und geht auf Reisen – nein, warte, sag jetzt nicht, dass es nicht geht, Peters Chef ist sein Vater und du hast einen guten Draht zu deinem Boss. Nehmen wir nur mal an, ihr würdet das machen. Raus aus dem täglichen Stress, raus aus dem Trott, ihr beide an wunderschönen, abenteuerlichen Orten, viel Zeit, um zu sprechen, um euch aufeinander zu konzentrieren, um …«

»Hast du das aus einer Frauenzeitschrift?«

»Ja, aus der mit dem Titel Gesunder Menschenverstand und weibliche Intuition. Mensch, Steffi, es ist nur ein Vorschlag. Aber ich kenn euch beide. Ihr liebt euch! Ihr passt super zusammen! Und ihr steckt gerade im Morast aus Alltag und Gewohnheit, aber noch könnt ihr da raus. Zumindest temporär. Ihr habt keine Kinder und in naher Zukunft wohl, pardon, auch kein Haus, das ihr einrichten müsst, ihr könntet einfach raus. Ich fürchte, vorher wird sich nichts ändern.«

»Nehmen wir an, wir ziehen uns aus allem raus – und merken dann, dass es gar nicht am Alltag liegt. Sondern … an … an uns.«

»Dann kannst du dir wenigstens sicher sein.«

»Ja. Dass wir uns trennen müssen. Super.«

»Aber du bist dir immerhin sicher. Und das willst du doch sein.«

»Ich weiß«, sagte Stefanie leise. »Ja, ich will mir wieder absolut sicher sein.«

 

»Du gehst schon, Steffi?«

»Ja … ich«, sie sah sich um, »ich hab übermorgen ein Vorstellungsgespräch und möchte mich morgen darauf vorbereiten. Da muss ich fit sein.«

»Ach, du studierst gar nicht mehr?«

»Nein, bin fertig.«

»Was?«

»Germanistik und Geschichte. Du?«

»Jura. Gerade Zweites Staatsexamen.«

»Puh, stressig, oder?«

»Ziemlich. Ich wollte deswegen jetzt auch gehen.«

»Okay. Hast du deine Jacke?«

»Ja, bin bereit.«

»In welche Richtung musst du?«

»Westend. Du?«

»Laim.«

»Dann können wir ja gemeinsam …«

»Ja. Lass uns gehen. Vielleicht können wir ja unterwegs noch was trinken.«

»Und du bist sicher, dass du nicht hier bleiben und mit deiner Freundin, sondern mit mir …?«

»Ja, Peter. Da bin ich mir absolut sicher.«

 

 

 

Turbulenzen

 

 

»Das ist ja furchtbar.« Stefanie seufzte. »So eine Katastrophe. Hat sie es gestern erfahren? Wie geht es ihr?«

»Ja, abends«, sagte Reto. »Sie ist gleich nach dem Anruf nach Hause aufgebrochen. Sie klang gefasst und ziemlich pragmatisch.«

Maries Mutter hatte Brustkrebs. Noch war es zu früh, langfristige Diagnosen zu stellen, aber es schien ernst zu sein. Marie war sofort nach Berlin aufgebrochen, um ihrer Mutter beizustehen, die seit der Scheidung von ihrem Mann allein lebte.

»Ich habe ihr gesagt, sie soll jetzt mal auf die Agentur pfeifen und sich für ihre Mutter alle Zeit der Welt nehmen.«

»Ja, das soll sie. Hoffentlich geht alles gut. Meinst du, ich kann sie anrufen?«

Reto nickte. »Ich denke, sie freut sich.« Er fuhr mit den Händen langsam über die Lehnen des Bürostuhls vor Stefanies Schreibtisch. »Es mag jetzt etwas hart klingen, aber die Arbeit hier muss ja trotzdem weitergehen. Schaffst du das Wolf-Projekt auch ohne Marie?«

Stefanie wiegte den Kopf hin und her. »Schwierig. Momentan sichte ich ja erst einmal alles im Archiv und lese mich parallel zu allgemeiner Wirtschafts- und Sozialgeschichte ein. Natürlich mache ich das in meiner Freizeit«, ergänzte sie rasch, als Retos Augenbrauen nach oben wanderten. »Aber ich werde Marie bald brauchen, klar. Zumal die Firmenchronik ihre Idee war. Und es gibt Unmengen anderes zu tun.«

»Das hab ich mir gedacht.« Retos Hände waren zu den Stuhllehnen gewandert und umfassten diese fest. »Sollen wir das Team aufstocken? Zumindest solange Marie nicht da ist?«

Stefanie sah ihn scharf an. Retos Nase und seine Stirn waren immer noch stark gerötet. An einzelnen Stellen löste sich die Haut. »An wen hattest du gedacht?«, fragte sie.

Retos Hände begannen wieder die Lehnen zu erkunden. »Naja, ich dachte an Jessica. Sie betreut zwar gerade das Fegemann-Projekt, hätte aber … noch zeitliche Kapazitäten und …«

»Zeitliche Kapazitäten.«

»Ja, aber vor allem … interessiert sie das Thema.«

»Soso.« Stefanie verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. Ihr Blick wanderte aus dem Fenster, hinter dem sich ein wolkenloser Himmel zeigte. Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Sie konnte sich eine Zusammenarbeit mit Jessica bei diesem Projekt nicht vorstellen. Zumal sie Maries Idee für ihre eigene ausgegeben hatte. Und mit Reto schlief. Nun, Letzteres sollte, nein, musste ihr egal sein, das durfte hier und jetzt keine Rolle spielen, das war …

»Du schläfst mit Jessica«, hörte sie sich sagen.

Einen Moment herrschte Stille im Raum. Sie hörte den Lüfter ihres Computers arbeiten und jemanden hastig über den Flur an ihrem Zimmer vorbeigehen. Sie wagte es nicht, Reto anzusehen.

»Und du meinst«, sagte er nach einer Weile leise, »du meinst, diese Tatsache beeinträchtigt mein Urteilsvermögen so sehr, dass ich dir eine Teamkollegin aufdrängen möchte, von der ich nicht überzeugt bin?«

Stefanie schwieg.

»Meinst du das wirklich?«

»Du streitest es also nicht ab.«

»Weil es keine Rolle spielt. Ich glaube, ich habe schon öfter deutlich gemacht, dass es mir völlig gleichgültig ist, wer sich wie privat vergnügt, solange die Arbeit gut gemacht wird. Ich erwarte im Gegenzug diese Einstellung auch von meinen Mitarbeitern, was mich angeht. Ich treffe keine beruflichen Entscheidungen aufgrund persönlicher Vorlieben, sondern einzig und allein aufgrund professioneller Abwägungen! Und du hast das verdammt noch mal nicht anzuzweifeln und mit pikierten Blicken und bescheuerten Anspielungen zu kommentieren!«

Beim letzten Satz war seine Stimme so laut geworden, dass Stefanie das Fenster schloss, was zugegebenermaßen albern war, weil niemand unten auf der Straße sein Geschrei im zweiten Stock hören würde.

»Reto, ich wollte nicht …«

»Mach einfach deine Arbeit, Steffi, und kümmere dich nicht um die Privatangelegenheiten anderer.« Reto war aufgestanden. Sein Kopf war tiefrot und von seiner Nasenspitze baumelte ein Hautfetzen, der bei jedem Ausatmen Retos bibberte. Er ging zu Tür und riss sie auf.

»Reto«, sagte Stefanie und sie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme brüchig klang.

Er wandte sich um. »Was ist noch?«

Sie räusperte sich. »Was ich dir jetzt sage, ist das Ergebnis ausschließlich professioneller Überlegungen.«

Er schloss die Tür wieder, blieb aber an Ort und Stelle stehen.

»Ich möchte Jessica nicht in meinem Team haben, weil ich sie nicht für kompetent genug halte. Ich glaube nicht, dass sie den Ansprüchen genügen wird, die du, die aber vor allem Rolo von Wolf an dieses Projekt stellt.«

Wieder herrschte Stille. Dann drehte sich Reto Zöller ruckartig um und verließ den Raum, ohne die Tür hinter sich zu schließen.

 

»Es kann so schnell vorbei sein«, sagte Rolo und platzierte den Teller mit Penne routiniert auf seinem Schoß. »Meine Schwiegermutter ist auch an Krebs gestorben. Nur ein paar Wochen nach der Diagnose. Metastasen.«

Stefanie wusste nicht, was sie darauf sagen sollte, und war zudem damit beschäftigt, ihren Teller ebenfalls ohne Malheur auf ihren Oberschenkeln abzustellen. Sie nickte deshalb nur.

»Sie hat zeitlebens ihrem Mann den Rücken freigehalten, damit er sich voll und ganz auf den Beruf konzentrieren konnte«, fuhr Rolo fort. »Das hat sie nie bedauert, auch ganz am Schluss nicht, aber Leonor und mir hat es für sie leid getan, dass sie nicht mehr von der Welt gesehen, nicht mehr für sich getan hat.«

»Das denke ich mir bei meiner Mutter auch manchmal«, sagte Stefanie. »Sie arbeitet zwar, hat ihr eigenes Geld, aber sie … sie gesteht sich so wenig zu. Weißt du, was ich meine?«

»Ich denke schon.«

Seit Kurzem kam Stefanie jeden Tag für einige Stunden in Rolos Büro und arbeitete im »Archiv«, seitdem verbrachten sie entweder die Mittagspause zusammen oder gingen am Nachmittag auf einen Kaffee. Die Orte suchte immer Rolo aus, weil Stefanie erkennen musste, dass sie das Lehel einfach nicht gut genug kannte, um Vorschläge zu machen.

Jetzt saßen sie auf einer Bank vor dem Fräulein Grüneis, einem Kiosk im Englischen Garten, der vor wenigen Jahren noch ein marodes Toilettenhäuschen gewesen war. Jetzt präsentierte es sich aber als adrettes Mini-Café, mit grün-weiß gestrichenem Giebel, grünem Dach, Holzböden und Holztheke im Inneren.

»Man muss sich etwas zugestehen, weil man es sonst ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr macht«, sagte Rolo. »Weil man es vergessen hat. Man muss Träume haben und sie auch verwirklichen. Zumindest manche. Sonst wird’s irgendwann wirklich dröge.«

Sie aßen eine Weile schweigend. Warum nur, dachte Stefanie, habe ich das Gefühl, alle sprechen gerade mit Vorliebe über die Verwirklichung von Träumen? Oder ist meine Wahrnehmung gerade so selektiv? Und wenn ja, was soll mir das sagen?

Rolo stellte den leeren Teller neben sich. »Kaffee?«

»Ja, gern.«

»Ich hole. Espresso? Cappuccino?«

»Cappuccino. Ich zahle heute aber selbst.«

Rolo grinste, ging ein paar Schritte auf den Eingang des Kiosks zu, wandte sich dann aber um und kam zurück. Seine Miene war ernst geworden.

Stefanie starrte ihn an. »Was ist los? Geht es dir nicht gut?«

»Und mach es jetzt, Stefanie! Wenn du Träume hast, dann verwirkliche sie jetzt und schieb es nicht immer wieder hinaus. Denn es ist immer dasselbe. Im-mer der glei-che Dreck!« Er hatte den Zeigerfinger gehoben und stieß damit im Rhythmus seiner Worte in Stefanies Richtung, die noch Nudeln im Mund hatte und nicht wagte zu kauen. »Für extrem viel Scheiße ist unendlich viel Zeit da, aber nicht für das, was einem wirklich wichtig ist. Und irgendwann ist es zu spät. Fucking too late.«

Er drehte sich wieder um, ging mit ausladenden Schritten auf den Kiosk zu und verschwand in der Eingangstür, über der noch immer der alte Toiletten-Schriftzug »Frauen« prangte.

 

Stefanie räusperte sich. Zum dritten Mal innerhalb von zwei Minuten. Peter sah auf.

»Hast du einen Frosch im Hals?«

»Nein, aber ich … wollte dich etwas fragen.«

Peter klappte den Laptop zu, nahm einen Schluck aus dem Weinglas, das neben dem Sofa auf einem Stapel Akten stand, und sah sie an. »Nur zu.«

Stefanie sah auf ihre nackten Füße, die seine berührten. »Aber versprich mir, dass du weder gleich nein sagst noch es als verrückt abtust.«

Peter stellte das Glas zurück und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. »Du willst das Haus doch kaufen?«

»Okay, vergiss, dass ich etwas gesagt habe.« Stefanie schwang die Beine von der Couch und stand auf. »Ich dachte, das Thema wäre durch.«

»Steffi, es war ein Scherz.«

»Dieses Haus ist nicht einmal Scherzmaterial! Wir haben beschlossen, bis auf Weiteres in dieser Wohnung zu bleiben. Punktum.«

Peter schob den Laptop zur Seite und stand ebenfalls auf. Langsam kam er auf Stefanie zu, die hastig zwei Meter in die eine, zwei Meter in die andere Richtung stapfte, und stoppte sie, indem er sie in die Arme nahm.

»Es tut mir leid«, sagte er leise und sie spürte seinen Atem an ihrer Schläfe. »Lass uns bitte wieder hinsetzen und du stellst die Frage, die du stellen wolltest.«

»Gleich«, murmelte Stefanie. Sie wollte ihren Kopf noch einen Moment länger an ihn schmiegen, seinen Herzschlag durch das T-Shirt spüren. »Gleich.«

Sie standen in der Mitte des Wohnzimmers, eng umschlungen, bis sie sich nach einigen Minuten voneinander lösten, sich wieder auf das Sofa setzten und Stefanie ihre Frage stellte.

Danach sah Peter sie einen Moment schweigend an. »Warum jetzt?«, fragte er dann. »Und wieso so lange? Und … wann genau würdest du das machen wollen?«

Stefanie nestelte an einem Kissen herum. »Warum jetzt? Weil wir es jetzt können, Peter. Wir haben das Geld und im Job dürfte es auch kein Problem sein, wenn wir …«

»Stoppstoppstopp!« Peter hatte die Hände erhoben, als wolle er sich ergeben. »Sorry, dass ich da gleich Einspruch erheben muss, aber: Es ist ein Problem für mich im Job. Mein Vater …«

»Dein Vater ist absolut fit und kann die Kanzlei auch ein paar Monate allein …«

»Nein, das kann er nicht. Oder anders: Er will es nicht. Er will sich zurückziehen. Schon lange. Und ich habe mit ihm abgemacht, dass …«

»Du hast etwas mit ihm abgemacht, ohne mit mir darüber zu sprechen? Wird das jetzt zur Gewohnheit, dass du Entscheidungen, die auch mich angehen, grundsätzlich ohne mich triffst?«

Jetzt war es Peter, der aufstand und aufgebracht hin und her lief. »Sag mal, Steffi, spinnst du? Du weißt seit Jahren, seit Jah-ren, dass ich die Kanzlei übernehmen will und werde. Und es war dir auch nie unrecht. Im Ge-gen-teil.« Er hatte den Zeigefinger gehoben und stieß damit rhythmisch in die Luft.

Wie Rolo, dachte Stefanie. Nur ganz andere Intention.

»Warum sollte es mir unrecht gewesen sein«, sagte sie. »ich konnte doch nicht ahnen, dass deine Pläne, die Kanzlei zu übernehmen, alle andere Pläne null und nichtig machen.«

»Steffi! Wann hatten wir wirklich geplant, eine Weltreise zu machen. Ein halbes oder sogar ein ganzes Jahr lang? Wann bitte? Wann?«

»Wir hatten … wir hatten früher öfter darüber gesprochen.«

»Früher, früher, früher. Da waren wir einfach noch jünger und naiver und …«

»Glücklicher«, sagte Stefanie leise.

Peter starrte sie an. »Was?«

»Nichts. Du willst also nicht noch einmal etwas ganz anderes machen, nicht noch einmal nicht genau wissen, was am anderen Tag passiert, einmal auf alles pfeifen, bevor …«, sie stockte, »bevor wir ja vielleicht wirklich einmal ein … ein Haus kaufen oder … Kinder bekommen.«

Peter ging vor ihr in die Knie und griff nach ihren Händen. »Doch, Steffi, das will ich. Sehr gern sogar. Nur nicht in diesem Ausmaß. Ich will mit dir noch unendlich viel machen, auch reisen. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als mit dir an einem fantastischen Ort zu sein und nicht zu wissen, was am nächsten Tag passiert, aber …«

»Aber nicht für ein Jahr.«

»Nein, Steffi.« Er stand wieder auf. »Nicht für ein Jahr. Auch nicht für ein halbes. Aber es gibt daneben so unendlich viel Schönes, das wir zusammen machen können.« Seine Hand fuhr über ihren Scheitel, fasste die Haare im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammen und zog sanft an ihm, bis sie den Kopf hob und Peter ansah. »Wir machen es uns schön, Steffi. Hier und anderswo? Okay?«

Sie konnte nicht antworten, weil etwas ihr die Kehle zuschnürte, obwohl sie wusste, dass er recht hatte. Also nickte sie nur und hoffte, dass es überzeugend wirkte und dass es wahr werden würde, was Peter sagte.

 

»Das ist jetzt nicht wahr. Einfach so, aus dem Nichts? Warum?«

»Geht es vielleicht auch eine Spur leiser?«, murmelte Reto. »Wir sind hier in einem öffentlichen Raum.«

»Verstehe. Du hast mich hierhergebracht, weil du gehofft hast, dass ich keine Szene mache, wenn wir unter Leuten sind«, zischte Jessica und schob ihren Gin Tonic mit angewiderter Miene zur Seite.

Reto spürte, wie ihre Füße sich aus ihrem Stammplatz zwischen seinen Knöcheln zurückzogen, und unterdrückte den Impuls, ihre Hand zu nehmen.

Sie saßen in der Bar Centrale, wo es an Freitagabenden immer brechend voll war und die Tische nur eine Handbreit voneinander entfernt standen. Jessica hatte recht. Er war zu feige, um ihr unter vier Augen zu sagen, dass er nicht mehr konnte. Und nicht mehr wollte. Dass ihm all die Lügen und Heimlichtuereien zu viel geworden waren, das schlechte Gewissen ihn mittlerweile fast rund um die Uhr plagte, er nachts schlecht schlief und gegenüber Sarah und Fabian in der wenigen Zeit, die er zu Hause war, regelmäßig gereizt reagierte, was wiederum das schlechte Gewissen noch mehr befeuerte. Einmal hatte spätabends jemand auf seinem Handy angerufen, als Fabian damit gespielt hatte. Sarah hatte ihm das Telefon in die Küche gebracht und sein Herz klopfte bis zum Hals, als sie sagte, es sei einfach aufgelegt worden. Dann sah er, dass es Stefanie vom Büro aus gewesen war, und rief sofort an, aber sie war wohl schon weg. Sein Puls hatte sich an diesem Abend nur langsam wieder beruhigt.

»Du hattest fünf Monate kein schlechtes Gewissen. Warum jetzt?« Sie wirkte gefasst, aber Reto kannte sie mittlerweile gut genug, um die mühsam aufrechterhaltene Beherrschung in ihrem Gesicht zu erkennen. Ihre Lider flatterten und die Nasenflügel bebten leicht.

»Ich hatte immer ein schlechtes Gewissen und das weißt du auch.«

»Hättest du nicht haben müssen, wenn du deiner Frau gegenüber mit offenen Karten gespielt und ihr gesagt hättest, dass es da jemanden gibt, dass du dich …«

»Dass ich mich verliebt habe?« Reto sprach jetzt so leise, dass Jessica sich vorbeugen musste, um ihn zu verstehen. »Woher weißt du das? Wir haben nie darüber gesprochen, was das mit uns genau ist.«

Ihr Oberkörper schnellte zurück, ihre Arme verschränkten sich vor dem Brustkorb, der sich abrupt hob und senkte. Ein Kellner näherte sich mit der tragbaren Tafel, auf der die Tageskarte geschrieben stand, aber Reto verscheuchte ihn mit einer Handbewegung.

»Jessica«, sagte er dann. »Lass uns das wie zwei erwachsene Menschen regeln. Es geht so nicht weiter. In der Arbeit … ist es anscheinend auch kein Geheimnis mehr. Stefanie weiß auf jeden Fall Bescheid.«

Jessicas Augen verengten sich zu Schlitzen. »Na und? Warum darf die von dir vergötterte Stefanie nicht davon wissen? Was ist schlimm daran, wenn sich zwei Menschen verlieben. Oh pardon«, sie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, »der Herr Zöller war ja gar nicht verliebt. Dem ging’s ja nur darum, mal wieder ordentlich zu vögeln, weil seine Frau ihn nicht mehr ranlässt!«

Reto spürte die Blicke der um sie sitzenden Menschen und das dringende Verlangen, sein Bier in einem Zug zu leeren und dann kommentarlos das Lokal zu verlassen.

»Uhh, und dann kommt die tolle Stefanie und rümpft das tolle Näschen und schon ist der Herr Zöller voll des schlechten Gewissens und vergisst alles, was er in den letzten Monaten gesagt und getan hat.«

»Jessica, ich habe nichts vergessen, aber ich kann so einfach nicht mehr weitermachen. Es geht hier nicht um Stefanie. Es geht um Sarah. Um Freunde, die ich in das Ganze mit hineingezogen habe. Die ich als Ausrede gegenüber Sarah verwende. Rolo musste ich einweihen, weil sonst schon längst alles aufgeflogen wäre, weil ich mehrmals gesagt habe, ich sei mit ihm unterwegs, während ich stattdessen bei dir war. Ich musste ihn einweihen, weil er uns oft besucht und es mir zu heikel war, wenn ich am Freitag gesagt habe, ich gehe mit ihm auf ein Bier und er dann am Samstag bei uns ist. Kannst du verstehen, wie schwierig …«

»Aha. Und der fantastische Rolo von Wolf hat dir auch ins Gewissen geredet, oder? Dich gefragt, ob es so eine wie ich wirklich wert ist, um dafür die Ehe mit der sensationellen Sarah aufs Spiel zu setzen.«

»Jessica, darum geht es doch gar nicht. Ich …«

»Hab ich recht?«

»Es spielt keine Rolle, was Rolo …«

»HAB ICH RECHT?«

Reto schwieg.

»Und war es Stefanies Entscheidung, dass ich nicht in das Wolf-Team darf?«

Reto sah betreten auf die Tischplatte.

Jessica sah ihn eine Weile stumm an, nahm dann ihre Handtasche und stand auf. »Du bist ein Arschloch, Reto Zöller. Noch ein größeres als Martin und das ist eine stramme Leistung.« Sie ging auf den Ausgang zu, machte dann noch einmal kehrt und kam zurück an den Tisch.

Reto streckte seine Hand nach ihrer aus, doch sie griff nach ihrem Glas. »Ist doch zu schade zum Zurückgeben, wenn es bessere Verwendungszwecke gibt«, sagte sie, bevor sie ihm den Gin Tonic mit Schwung ins Gesicht schüttete.

 

 

 

Ruhe vor dem Sturm

 

 

Wenn Stefanie später an das Gespräch mit Peter zurückdachte, kam es ihr vor, als hätte damals alles begonnen. Oder geendet. Oder begonnen zu enden. Oder endgültig aufgehört, so zu sein wie vorher. Sie hatte gewusst, dass er nicht euphorisch reagieren würde, sie hatte gewusst, dass er ihre Reisepläne als Hirngespinst abtun würde, und wenn sie ehrlich war, fühlte sie Erleichterung darüber. Denn so hatte Peter letztendlich nur bestätigt, was sie seit Wochen ahnte: Sie hatten sich zu weit voneinander entfernt. Sie steuerten auf unterschiedlichen Wegen unterschiedliche Ziele an und keiner konnte zum jetzigen Zeitpunkt sagen, ob und wann sich diese Wege wieder kreuzen und sie ein Stück des Wegs oder die gesamte Strecke gemeinsam zurücklegen würden. Und keiner von ihnen machte sich momentan die Mühe, sich auf den Weg des anderen zu schlagen, ihn dabei zu unterstützen, sein Ziel zu erreichen.

War das normal nach acht Jahren? Sie hatten ein Plateau erreicht, auf dem aufregende Momente, Spaß und Leidenschaft nur noch seltene Gäste waren und stattdessen ein beständiger Fluss aus Konstanz, Vertrauen, Wärme, Sicherheit und Beständigkeit den Alltag prägte. Ja, das war normal. Und es war schön. Stefanie fühlte sich wohl in ihrem Leben, aber es war, wie Vanessa es gesagt hatte: Sie war sich nicht mehr sicher, ob dieses Leben sie noch weitere Jahrzehnte glücklich machen würde. Aber eine Garantie auf Glück gab es nicht und sie war noch nie so naiv gewesen zu glauben, das Anfangsstadium einer Liebesbeziehung könne konserviert werden. Alles veränderte sich. Auch die Liebe zwischen zwei Menschen. Die Menschen selbst. Was, wenn sich der Mensch so veränderte, dass man ihn nicht mehr lieben konnte? Oder wenn die Zeit und der Alltag die Liebe so ausgehöhlt hatten, dass sie nichts mehr war als eine Hülle, unter der sich nicht mehr viel verbarg?

»Steffi?«

Oder war die Liebe noch da und kämpfte lediglich in dem erwähnten Fluss aus Konstanz, Vertrauen, Wärme, Sicherheit und Alltagstrott darum, gesehen zu werden? Kämpfte ums Überleben und versuchte verzweifelt, an der Oberfläche zu bleiben und gerettet zu werden? Gab es Möglichkeiten, sie zu retten, oder musste man sich ab einem gewissen Zeitpunkt eingestehen, dass man nichts mehr für sie tun konnte und sie den Strudeln überlassen musste?

»Steffi!«

Sie sah erschrocken auf. »Ja?«

»Ich gehe jetzt.« Ben Keller trug trotz der sommerlichen Temperaturen wie immer ein langärmliges Hemd. Seine Haare, sonst lockig und wirr abstehend, lagen eng am Kopf an.

»Jetzt schon«, sagte Steffi. »Es ist doch erst«, sie warf einen Blick auf die Uhr, »oh, schon halb sechs.« Sie sah ihn an und lächelte. »Hast du ein Date?«

Eine sanfte Röte überzog Bens Gesicht. »Kann man noch nicht genau sagen.«

»Verstehe.«

»Also dann. Bis morgen, Steffi. Mach nicht mehr so lange. Ist tolles Wetter.«

»Nein, ich bin bald raus hier.«

»Kommst du denn voran?«

»Ja, ich denke schon.«

»Einen schönen Abend.«

»Dir auch, Ben.«

Stefanie hatte ihm bei ihrem zweiten Besuch im Büro das Du abgerungen, was kein leichtes Unterfangen gewesen war, weil es ihm dann schwerer fiel, formvollendet höflich aufzutreten. Als er weg war, wanderte ihr Blick über die Stapel vor ihr auf dem Tisch. Sie hatte die Dokumente nach Jahrzehnten geordnet und parallel dazu angefangen, die Geschichte des Unternehmens »von Wolf« in Kapitel zu unterteilen, in denen die wichtigsten Entwicklungsschritte zusammengefasst wurden. Daneben las sie so viel zur Industriegeschichte, wie es ihr möglich war, dennoch bereitete das Projekt ihr Kopfschmerzen. Es sollte ein bildlastiges Buch werden, mit wenig Text, der aber viel sagte, ohne dabei mit Fakten überfrachtet zu sein. Eine spannende Story über ein Familienunternehmen, in der sich die Zeitgeschichte zwar widerspiegelte, aber eben nur dezent. Schwierig. Stefanie seufzte.

»So schlimm?« Rolo war in das Zimmer gekommen, wie immer ohne Ankündigung, aber es störte sie nicht. Sie hatte sich in der letzten Zeit an vieles gewöhnt, was Rolo betraf. Wenn sie beide im Büro waren – Stefanie war meistens an zwei von fünf Tagen hier –, konnte es passieren, dass er sie morgens einsilbig begrüßte, stundenlang in seinem Büro verschwand und sie später gut gelaunt fragte, ob sie mit ihm mittagessen oder einen Kaffee trinken wolle. Meistens waren sie zu zweit, weil Ben sein »Budget schonen« wollte, wie er sagte, und sich belegte Brote mitgebracht hatte. Einladungen von Rolo oder Stefanie lehnte er strikt ab. Es gab auch Tage, da fragte Rolo sie nicht, sondern verließ das Büro wortlos oder nach kurzem Gruß und kam nach ein, zwei Stunden wieder. Stefanie nahm an, dass er sich bei diesen Gelegenheiten vor allem mit Sophie von Seidlitz traf, aber sie fragte nicht danach. Warum auch. Sie fragte ihn nicht nach Privatem, was mit Retos Aufforderung, Rolos verstorbene Frau nicht zu thematisieren, zu tun hatte. Auch. Nicht nur. Denn wenn sie ehrlich war, wollte sie das Gespräch gar nicht auf Sophie von Seidlitz lenken, die atemberaubend schön, temperamentvoll und überhaupt der personifizierte Albtraum jeder Durchschnittsfrau war. Sie blendete Sophie von Seidlitz aus, weil sie Rolo gut fand. So formulierte sie es sich selbst gegenüber und fand nichts Schlimmes daran, einen Mann »gut zu finden«. Sie fand ihn gut, weil sie sich gut bei ihm fühlte. Sich wohlfühlte. Er war aufmerksam und hörte zu. Er stellte Fragen, aber nicht aus reiner Höflichkeit, wie es Stefanie schien, sondern aus ehrlichem Interesse. Seit dem Tag, als sie ihm von Maries Mutter und ihrer Krebserkrankung erzählt und er sie aufgefordert hatte, ihre Wünsche zu verwirklichen, sprachen sie über Stefanies Ausbildung, ihre Arbeit in der Agentur, ihre beruflichen Pläne. Das Private umschifften sie auch bei ihr, und Stefanie erzählte nicht von Peter. Warum auch. Es gab Momente, in denen fand sie Rolo nicht nur gut, sondern auch attraktiv.

Wenn er wie jetzt neben ihr stand, die Ärmel seines Hemds hochgekrempelt bis zum Ellenbogen, sodass seine gebräunten Arme zum Vorschein kamen, wenn seine schmale, aber dennoch kräftige Hand auf dem Tisch auflag und die Adern leicht hervortraten. Oder wenn sie seinen Geruch wahrnahm und nur Frisches wie Zitrone und Bergamotte ausmachen könnte, wenn seine Augen, die grün und eher schmal waren und seinem Gesicht dadurch einen stets verschmitzten Ausdruck verliehen, sie ansahen. Und sie mochte, wenn seine Lippen, die lange nicht so voll waren wie die von Peter, sich zunächst kräuselten, bevor sie sich in ein Grinsen verwandelten.

Sie wusste nicht, ab wann sie diese Einzelheiten bewusst wahrgenommen hatte, aber es spielte auch keine Rolle. Die Aufenthalte in Rolos Büro waren wie kleine Fluchten aus ihrem Alltag, der ihr mehr und mehr wie ein Theaterstück vorkam, in dem sie eine Rolle übernehmen musste, für die andere besser geeignet wären. Hier war alles anders. Rolo kannte nur die professionelle, toughe, aufgeschlossene, schlagfertige Steffi, die witzige Antworten auf witzige Bemerkungen geben konnte, die entspannt und in sich ruhend, aber dennoch wie jemand wirkte, der wach und aufmerksam durch die Welt ging. Die sich über das Weltgeschehen Gedanken machte und die Menschen und das Leben an sich. Er kannte nicht die Stefanie, die abends angespannt im Bett lag und hoffte, ihr Freund würde sie nicht berühren, und gleichzeitig darauf hoffte, jemand würde sie berühren. Die gereizt und ungerecht mit Menschen umging, die sie liebten und mochten, die spürte, dass sie etwas ändern musste und dennoch viel zu träge und ängstlich war, um diese Änderung anzugehen. Die das Gesicht ganz nahe an den Badezimmerspiegel rückte und sich fragte, seit wann die Querfalte oberhalb das Nasenrückens so tief geworden war, die nachts wach lag und sich aus dem Gedankenstrudel nicht befreien konnte, der sie in die Tiefe zu reißen drohte. Hier war alles anders.

»Ist es so schlimm?«, wiederholte Rolo, und sie sah zu ihm auf.

»Ich weiß es noch nicht«, sagte sie dann.

 

 

Zwischenhoch

 

 

Jessica Antholz tippte eifrig. So wirkte es zumindest auf Marco, der ihr gegenüber arbeitete und in diesem Moment seine Umhängetasche zuklappte.

»Ich pack’s«, sagte er. »Du bleibst noch?«

Als Jessica nicht reagierte, klopfte er mit der Faust auf die Schreibtischplatte. »Jessica, ich gehe.«

Sie riss ihren Kopf hoch, scheinbar überrascht. »Was?«

»Ich verschwinde. Solltest du auch tun, auch wenn du vermutlich gerade wieder«, er zog die Augenbrauen hoch, »im Flow bist.«

Sie versuchte, entspannt zu lächeln, und hoffte, nicht zu rot zu werden. »Ja, so in der Art.« Sie zuckte die Schultern. »Wenn man mal drin ist, sollte man nicht stoppen.«

»Natürlich nicht. Ich wünsch dir ein schönes Wochenende.«

»Ich dir auch. Bis Montag.«

Sie sah ihm nach, bis er aus der Tür verschwunden war, verharrte dann noch einen Moment und lauschte seinen Schritten auf dem Flur. Als nichts mehr zu hören war, wandte sie sich wieder ihrem Bildschirm zu und betrachtete das Ergebnis ihrer vorgeblich eifrigen Tipperei. Es war nichts als Kauderwelsch, eine Aneinanderreihung von Buchstaben, die keinerlei Sinn ergab. Sie schloss das Dokument, ohne es abzuspeichern, und öffnete dann zielstrebig den Ordner »Wolf_Pack«. Mittlerweile befanden sich deutlich mehr Dokumente darin. Sie öffnete wahllos einige davon, scrollte sich durch die Texte, schloss sie wieder. Sie klickte sich durch den Ordner mit den eingescannten Bildern, rollte mit den Augen, schob die Maus zur Seite, überlegte.

Schließlich tippte sie »Rolo von Wolf« bei Google ein. Nicht viel. Ein Profil bei Linkedin, eines bei xing, zwei, drei Artikel über sein Unternehmen, »Münchner Merkur« und »Süddeutsche Zeitung«, natürlich kein Wikipedia-Eintrag, Jessica schnaufte, aber wieso sollte Rolo von Wolf auch einen haben. Sie klickte weiter, den Kopf auf die linke Hand gestützt, ging auf Bilder- und wieder zurück auf die allgemeine Suche, Seite 1, Seite 2, Seite 3, hier war bereits nichts mehr zu finden. Sie klickte dennoch weiter. Auf Seite 9 gähnte sie lauthals und war im Begriff, ihren Account bei Facebook aufzurufen, als etwas ihre Aufmerksamkeit weckte. Sie klickte, las. Ihre Augenbrauen hoben sich, langsam richtete sie sich auf.

»Das gibt’s ja nicht«, murmelte sie. »Der feine Herr von Wolf.«

Sie druckte den Artikel aus, steckte das Blatt in ihre Handtasche, setzte sich wieder, starrte minutenlang auf den Bildschirm, bis sie entschlossen aufstand, das Büro verließ und auf der Theatinerstraße Richtung Marienplatz ging.

Der Himmel über München war tiefrot und kündigte einen weiteren heißen Tag an.

 

Es passierte am Freitag, den 2. August zwischen 21.15 und 21.45 Uhr, und Stefanie konnte die Zeit deswegen so exakt benennen, weil sie kurz davor und kurz danach auf ihr Handy gesehen hatte. Es war eine halbe Stunde, und sie änderte die folgenden Wochen und Monate und dann ihr ganzes Leben. Hätte sie gewusst, was danach alles geschehen würde, mit ihr und mit anderen, hätte sie sich vielleicht dagegen gesträubt, hätte diese wenigen Sekunden, in der sie noch klar im Kopf gewesen war, genutzt, um den Lauf der Geschehnisse zu stoppen, sich in Sicherheit zu bringen, in gewohnte Gefilde, aber es war zu spät. Die ungewohnten Gefilde lockten so sehr, dass sie sich willenlos zu ihnen ziehen ließ.

Sie war erst am späten Nachmittag in das Büro von Rolo gekommen und ein Agenturtag mit langen Meetings und Besprechungen lag hinter ihr. Sie begann gleich zu schreiben, aber nach wenigen Minuten spürte sie, dass sie heute nichts Brauchbares zu Papier bekommen würde, und wandte sich stattdessen den Kartons mit den Bildern zu. Auch hier erstarb ihre Konzentration nach wenigen Minuten. Sie stand auf und ging eine Weile hin und her, bevor sie auf den Flur ging, an die Tür zu Rolos Büro klopfte und sie öffnete, ohne eine Antwort abzuwarten.

Rolo stand mit den Rücken zu ihr am Fenster und drehte sich langsam um.

»Heute muss ich mal deine Frage stellen«, sagte Stefanie. »Wollen wir einen Kaffee trinken gehen?«

Er lachte und sah auf seine Armbanduhr.

»Wenn es nicht geht, ist es kein Problem«, sagte sie rasch.

»Doch, doch, es geht. Ich frage mich nur, ob wir nicht gleich auch was essen sollten. Ist ja schon fast halb sechs. Hast du Hunger?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Fast immer.«

»Sieht man dir aber nicht an.«

»Nicht im angezogenen Zustand«, antwortete sie, ohne zu überlegen.

 

Sie blieben bis kurz vor neun im La Stanza, wo sie einen Tisch direkt an der geöffneten Fensterfront fanden, Pasta aßen und zum Abschluss noch Espresso und Grappa tranken. Danach schlenderten sie zum Büro zurück. Stefanie fühlte sich beschwingt, genoss die warme Luft auf ihrer Haut und das warme Gefühl in ihrem Bauch. Reto ging neben ihr und manchmal berührten sich ihre Hände fast, und später, als sie im Büro ihren Laptop zuklappte und in ihre Tasche schieben wollte, stand er plötzlich hinter ihr. Er sagte ihren Namen, und als sie sich umdrehte, gab es jene Sekunden, in denen sie alles noch hätte stoppen können, aber er stand viel zu nahe vor ihr, und obwohl sie nicht wusste, was er eigentlich wollte, ob er ihr eine Frage zum Projekt stellen oder sich bis zum nächsten Mal verabschieden wollte, beugte sie sich vor. Als sich ihre Lippen trafen, war ihr nicht mehr nur warm. Hitze durchströmte ihren Körper und sie schloss die Augen, um alles Sichtbare auszublenden und nur noch zu fühlen. Sie spürte Rolos Hände, die sie sanft an den Oberarmen fassten und zu ihm zogen, sie spürte seine feinen Bartstoppeln auf ihrer Haut und schmeckte den leicht süßlichen Geschmack von Grappa auf seiner Zunge. Sein Griff wurde fester und seine rechte Hand wanderte über ihren Rücken. Stefanie drückte sich fest an ihn und spürte die Härte seines Glieds. Als sich ihre Lippen kurz trennten und er leise aufstöhnte, fuhr sie mit der Hand zwischen seine Beine. Seine Finger krallten sich in ihren Po und sein Mund suchte erneut ihren, bevor er sie ruckartig packte, auf den Tisch hob, ihren Rock nach oben und ihren Slip nach unten zerrte. Stefanie beugte sich nach hinten, wollte sich noch einmal aufrichten, weil die Laptoptasche sie drückte, doch sie kam nicht mehr dazu. Rolo hatte sich über sie gebeugt, ihre Knie auseinandergeschoben und drang keuchend in sie ein, und sie sank zurück und spürte nicht nur ihn, sondern zum ersten Mal seit Langem auch sich selbst.

 

Lust und Scham. Unbekümmertheit und schlechtes Gewissen. Glück. Verzweiflung. Die Bandbreite an Gefühlen, die Stefanie in der nächsten Zeit durchlebte, war gewaltig, hinderte sie aber nicht daran, das Gaspedal durchgedrückt zu lassen.

In der Agentur funktionierte sie normal, arbeitete routiniert und effizient und verbot sich in der Zeit in ihrem Büro zu viele Gedanken an Rolo. Alles andere hätte sie herausgerissen und ein pünktliches Gehen verhindert. Sie schrieb ihm Mails oder SMS lediglich, um ihr baldiges Kommen anzukündigen,

Wenn sie bei Rolo im Büro war, schliefen sie miteinander, meistens sofort nach ihrer Ankunft. Wenn Ben ebenfalls da war, fielen sie in dem Moment übereinander her, in dem er ging und die Tür sich hinter ihm schloss. Es gab keine Couch in Rolos Büro, auch keine Sessel, nicht einmal einen Teppich, und so lief es meistens so ab wie beim ersten Mal. Nach einigen Tagen fragte Rolo sie, ob sie nicht mit ihm nach der Arbeit an die Isar fahren wollte, ganz weit in den Süden, dorthin, wo der Fluss Kiesbänke aufgeschoben hatte und man zwischen Haselnussbüschen ungestört in die Sonne blinzeln könne. Unter anderem.

»Ist besser für deinen Rücken als hier«, sagte er und zwinkerte.

Sie lachte und wunderte sich, dass alles so einfach war, der Umgang mit ihm, aber zunächst auch mit Peter, der schon geschlafen hatte, als sie an jenem Abend mit angehaltenem Atem zu ihm ins Bett gekrochen war. Sie hatte in sich hineingehorcht, ob ihr schlechtes Gewissen sich intensiv melden würde, aber da war nur ihr laut pochendes Herz gewesen, ein Nachklang der vergangenen Stunden. Das schlechte Gewissen kam später.

 

Sie fuhren am westlichen Ufer der Isar, weil Stefanie vorgab, dass es dort schöner sei, aber in Wahrheit fürchtete sie sich vor der anderen Seite, weil sie Angst hatte, dort von Peter gesehen zu werden. Er hatte angekündigt, sich mit Michi zu treffen, wenn sie schon wieder länger arbeiten müsse, und obwohl Stefanie davon ausging, dass sie in den Biergarten gingen, wollte sie auf Nummer sicher gehen.

In einer von Büschen umgebenen Bucht breiteten sie die Decke aus und schliefen erst bei Einbruch der Dunkelheit miteinander, kichernd und in ständiger Panik, gleich von jemandem überrascht zu werden.

Der Sommer hielt an und sie verbrachten gestohlene Stunden am Fluss oder in seiner unmittelbare Nähe im Café Italia am Roecklplatz, tranken Espressi mit Vanilleeis – oder Affogato al caffè, wie Rolo sagte. »Espresso Affogato ist falsch« dozierte er, »es bedeutet übersetzt ertrunkener Espresso

»Was hab ich Glück, dass ich so einen weltläufigen Mann an meiner Seite habe«, sagte Stefanie.

»In der Tat«, sagte Rolo und schubste seine in die Haare geschobene Sonnenbrille zurück auf die Nase. »Ich habe aber auch Glück«, fuhr er fort, sprach dann aber nicht weiter.

Ihre Gespräche waren auf seltsame Weise unverbindlich, aber nicht oberflächlich. Sie unterhielten sich über Länder, die sie bereist hatten und noch bereisen wollten, über Bücher, die sie liebten, über den Wunsch, entschleunigen zu wollen, und die Chancen, das in der Realität auch umzusetzen. Rolo erwähnte Sophie von Seidlitz mit keinem Wort und Stefanie verschwieg Peter und alles, was mit ihm zu tun hatte.

An einem Tag aßen sie im Café Pini im Glockenbachviertel, das Stefanie wegen seines Retro-Looks und der guten Kuchen liebte. Hier trafen sie auf eine frühere Arbeitskollegin von ihr, mit der sie keinen Kontakt mehr hatte. Sie stellte Rolo von Wolf als Kunden der Agentur vor und ihr Puls stieg während des Gesprächs nur unwesentlich. Es war schließlich nicht gelogen.

Einmal meinte sie Vanessa zu hören, als sie mit Rolo im Shoya am Viktualienmarkt saß und auf ihr Sushi wartete. Sie ließ Rolos Hand los, erstarrte kurz und hilflos, bis klar wurde, dass sie sich geirrt hatte. Später war sie fast enttäuscht, dass es nicht ihre beste Freundin gewesen war, denn dann hätte sie ihr Rolo vorstellen und später vielleicht alles erzählen können, was sie momentan einfach noch nicht schaffte.

An einem Wochenende musste Peter beruflich nach Hamburg und sie traf sich mit Rolo am Samstagmorgen an der Wittelsbacher Brücke. Die Luft war noch frisch und klar, doch nach eineinhalb Stunden, als sie den Eisweiher erreicht und sich einen beschatteten Platz unter Weidenbäumen und Tannen gesucht hatten, war es bereits so heiß, dass sie die Kleider vom Leib rissen und sich in das kühle Wasser stürzten. Später lagen sie unter dem Schutz der Bäume, durch deren Äste die Mittagssonne filigrane Muster auf ihre nackte, noch feuchte Haut malte, und als Stefanie die Augen nach einem kurzen Schlaf wieder öffnete, lag Rolo neben ihr, den Kopf auf eine Hand gestützt, und betrachtete sie.

»Alles okay?«, fragte sie.

Er strich eine feuchte Haarsträhne aus ihrer Stirn. »Sehr okay«, sagte er und beugte sich vor und küsste sie. Seine Lippen wanderten über ihren Hals, zu ihren Brustwarzen, weiter zum Bauchnabel und in ihren Schoß. Als sie kam, hielt sie sich den Mund mit der linken Hand zu, während die rechte sich in seinen Haaren verkrampfte. Rolos Lippen glitten wieder nach oben und fanden ihren Mund. Stefanie schloss die Augen, als er in sie eindrang, schlang die Finger um seinen Nacken, spürte den Waldboden durch die Decke und seinen Körper auf ihr.

Am frühen Abend radelten sie wieder wenige Kilometer Richtung München zum Gasthaus zur Mühle an der Floßrutschen, im Volksmund auch Straßlacher Mühle genannt. Sie fuhr hinter Rolo und versuchte, sich an die Namen der Bäume und Sträucher zu erinnern, die er ihr auf dem Hinweg gezeigt hatte. Kiefer, Weißerle, Fichte, Weide, Wacholder, Weißdorn, Schneeball.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du dich so sehr für Pflanzen interessierst«, hatte sie gesagt.

»Antonia hatte mit neun eine Baumphase. Und meine Frau hat mir da einiges beigebracht, die war ziemlich naturaffin.«

Stefanie schwieg einen Moment erschrocken, aber er hatte es so leichthin gesagt, dass sie überlegte nachzufragen, doch sie tat es nicht. Vielleicht später. Immerhin schien er den Tod seiner Frau ja vielleicht doch besser verarbeitet zu haben, als es Reto durch seine Bitte suggeriert hatte.

An der Mühle parkten sie ihre Räder und fanden einen Platz mit Blick auf die vorbeifahrenden Flöße. Rolo aß Schweinsbraten, Stefanie den frischen Saibling, und erst mit Einbruch der Dunkelheit, nachdem die Sonne spektakulär und blutrot untergegangen war, brachen sie auf. Der Himmel war sternenklar, und je näher sie an die Wittelsbacher Brücke kamen, desto intensiver wurden der Grillgeruch und das Gemisch aus Gelächter, Gesprächen, Musik und dem Klirren von aneinandergestoßenen Gläsern und Flaschen.

Sie verabschiedeten sich an der Stelle, an der sie sich morgens getroffen hatten. Stefanie war kurz versucht, ihn zu sich einzuladen, aber im Flur lagen Peters Schuhe und hingen seine Jacken und im Badezimmer standen seine Zahnbürste und sein Rasierapparat und im Schlafzimmer war nicht nur ihre Seite des Bettes benutzt.

»Wir sehen uns bald?«, fragte sie stattdessen.

Er nickte. »Spätestens am Montag. Morgen muss ich vermutlich …«

»Ist schon okay«, unterbrach sie ihn, weil sie nicht wusste, ob sie es hören wollte. »Wir sehen uns am Montag.«

Als sie die Rücklichter von Rolos Rad nicht mehr sehen konnte, schaltete sie ihr Handy an. Peter hatte einmal angerufen, danach nicht mehr, was typisch für ihn war. Er wartete dann lieber, bis sie zurückrief. Aber er hatte eine Nachricht geschrieben, in der von Vermissen und Lieben und Freuen auf ein Wiedersehen die Rede war und die Stefanie schnell löschte, bevor sie sich den Inhalt einprägen und er in ihr etwas auslösen könnte.

 

 

 

 

Wetterumschwung

 

 

Am Montag kletterten die Temperaturen in München stellenweise auf über fünfunddreißig Grad. Nachmittags hatte Stefanie das Gefühl, als würde die Hitze durch die dicken Altbaumauern allmählich auch in die Räume der Agentur kriechen und die durch die Klimaanlage gekühlte Luft verdrängen. Sie hatte seit der Mittagspause nichts Konstruktives mehr geschafft, sondern sich Tagträumen hingegeben, die sie nur unterbrach, wenn jemand anrief oder in ihr Büro kam. Das Wochenende, Rolo, seine Berührungen und Blicke hatten sich in ihr Gedächtnis gebrannt und wenn sie die Augen schloss und an seine Lippen auf ihrer Haut dachte, durchfuhren sie wohlige Schauer.

Es klopfte.

Stefanie wandte sich rasch dem Bildschirm zu, fixierte etwas Imaginäres mit zusammengezogenen Augenbrauen und hoffte, dabei konzentriert und kritisch zu wirken.

»Hey, Steffi.« Jessica schlüpfte herein und schloss die Tür rasch hinter sich. »Hast du einen Moment Zeit?«

Stefanie wandte sich scheinbar mühsam vom Bildschirm ab und sah auf ihre Armbanduhr.
»Dauert nicht lange«, sagte Jessica und setzte sich auf den Stuhl vor Stefanies Schreibtisch. »Es geht um Rolo.«

Es war seltsam, nur seinen Vornamen aus Jessicas Mund zu hören, und Stefanie spürte leises Unbehagen. Sie räusperte sich. »Was ist mit Herrn von Wolf?«

»Du kennst ihn doch mittlerweile ganz gut, oder?«

Stefanies Herz klopfte hart und schnell. Sie dachte an den Mörder in der Kurzgeschichte von Edgar Allen Poe, der den Polizisten schließlich in Panik das Versteck verrät, in dem sich sein Opfer befindet, weil der immer lauter werdende Herzschlag des vermeintlich Toten ihn in den Wahnsinn treibt. Dabei war es sein eigenes Herz, das so laut schlug, dass er meinte, jeder im Raum müsse es hören.

Sie fixierte Jessica. Was wusste sie?

»Ich würde nicht sagen, dass ich ihn gut kenne«, sagte sie. »Warum fragst du? Jessica, wenn du sauer bist, dass du nicht im Team bist, dann …«

»Nein, nein, nein.« Jessica schüttelte rasch den Kopf. »Darum geht es nicht. Ich finde nur, du solltest wissen, dass …«

Es klopfte erneut. Stefanie schickte ein Stoßgebet zum Himmel. »Ja«, rief sie hastig.

Lores Kopf, mit hochsitzendem violettem Pferdeschwanz, erschien im Türrahmen. »Steffi, tädst du bidde drandenken, mir deine Bewirtungsbelege für den Juli rechtzeitig zu geben.« Sie sah streng über den Rand ihrer Lesebrille. »Sind ja vielleicht einige mehr als sonst.«

Stefanies Herz schlug bis zum Hals. War sie schon verrückt geworden, dass sie allerorten Anspielungen witterte? Hatte jemand aus der Agentur Rolo und sie gesehen? Unmöglich war es nicht, sie hatten kaum auf ihre Umgebung geachtet, aber waren doch zurückhaltend gewesen in Cafés und Lokalen und am Eisweiher konnte sie doch eigentlich kaum jemand …

»Ich hab auch noch ein paar Fragen zu den Belegen«, sagte Stefanie. »Können wir ja vielleicht gleich klären, oder?«

»Wegen mir schon«, sagte Lore. »Aber seids ihr ned grad in einer …«

»Wir sind fertig«, sagte Stefanie schnell.

Jessica lächelte süffisant und stemmte sich aus dem Stuhl hoch. Ohne sie anzusehen, stand Stefanie ebenfalls auf und folgte Lore durch den Flur. Vor der Küche trafen sie auf Reto, der einen formvollendeten Latte Macchiato vor sich hertrug.

»Da Reddo könnt glatt als Barista arbeiten«, sagte Lore, wurde rot und drückte sich schnell an ihm vorbei.

»Der Reto könnte seine Geliebte vor allem davon abhalten, mich zu stalken«, zischte Stefanie.

Reto hatte gerade einen Schluck genommen und sah jetzt erstaunt hoch, an seiner Oberlippe ein Hitler-Bärtchen aus Milchschaum.

»Wovon redest du?«

»Vergiss es.« Sie hatte kein Recht, ihn wegen Jessica zu verurteilen oder anzugehen.

»Es geht dich zwar nichts an«, sagte Reto leise, »aber mit Jessica und mir, das ist vorbei. Wir müssen darüber also nicht mehr sprechen.«

Stefanies Kopf begann zu glühen und sie ging rasch weiter. Wie konnte sie sich in irgendeiner Form aufspielen, wenn sie gerade mit Retos bestem Freund schlief? Der eine Freundin hatte. Und mit dem sie wiederum Peter betrog. Ob Rolo Reto etwas erzählt hatte? Sie stöhnte kurz auf.

»Alles in Ordnung, Steffi?« Lore wandte sich um.

»Ja, alles gut. Ich … Mir ist nur grad eingefallen, dass ich unbedingt … jemanden anrufen muss. Ich komm gleich noch mal vorbei, okay?«

Sie ging eilig in ihr Büro zurück, wanderte auf und ab und plötzlich überrollte sie eine Lawine aus Gefühlen. Sehnsucht nach Rolo überkam sie, aber auch das schlechte Gewissen Peter gegenüber fühlte sie plötzlich wie ein Brennen auf ihrer Haut. Etwas war eingetreten, das bisher außerhalb ihres Vorstellungsvermögens gewesen war, etwas, das sie, wenn sie es von anderen hörte, immer als unmöglich abtat. Aber nun, da sie selbst mittendrin war, war es ihr unmöglich, sofort eine Entscheidung zu treffen. Sie konnte es einfach nicht.

Ihr Handy vibrierte. Vermutlich Rolo. Stefanie stürzte zum Schreibtisch. Oder Peter. Sie hielt inne. Dann setzte sie sich und vergrub den Kopf in beiden Händen. Es vibrierte erneut. Widerwillig griff sie mit der einen Hand nach dem Telefon und lugte durch die Finger der anderen auf das Display. Es war Marie, die sich per WhatsApp gemeldet hatte.

 

Liebe Steffi, tausend Dank für deine Nachricht und bitte entschuldige, dass ich mich erst jetzt melde, es war zu viel los, wie du dir sicher denken kannst. Meine Mutter schlägt sich tapfer und wir freuen uns, dass ihr alle an uns denkt. Ich melde mich wieder. Liebe Grüße, Marie.

 

PS: Rolo von Wolf ist jetzt schon mein absoluter Lieblingskunde und niemand wird ihn jemals wieder von diesem Thron stoßen können.

 

Jetzt fing auch noch Marie an, ominöse Andeutungen zu machen. Stefanie überlegte einen Moment, bevor sie tippte.

 

Liebe Marie, freut mich sehr, von dir zu hören, und ich hoffe inständig, deiner Mutter geht es bald besser. Du fehlst hier!! Und denk nicht an die Arbeit, die ist jetzt unwichtig. Auch wenn Rolo von Wolf natürlich ein super Kunde ist. Was genau hat ihn auf seine Thronposition gebracht?

Liebe Grüße, wir denken an dich. Steffi

 

Es dauerte nur eine Minute, bis die Antwort eintraf.

 

Er hat von meiner Mutter erfahren (von dir?) und mir den Kontakt zu einem Experten in Berlin vermittelt, der eigentlich nur Privatpatienten nimmt und zudem ellenlange Wartelisten hat. Schulfreund von ihm. Wir sehen ihn nächste Woche. Fand ich echt nett. Hoffentlich ist er im Arbeitsalltag auch so!

 

Stefanie musste lächeln.

 

Ja. Ist er. Und ja, vermutlich hat er es von mir erfahren. Oder von Reto. Einen guten Tag noch. Liebe Grüße an deine Mutter.

 

Sie drückte das Handy an ihre Brust und dachte nach. Dann schrieb sie:

 

Lieber Rolo, gerade hat sich Marie aus Berlin gemeldet und mir erzählt, was du für ihre Mutter getan hast. Finde ich wirklich toll, dass du so prompt reagiert hast. Danke. Bis bald und liebe Grüße, Steffi.

 

Kurz darauf kam die Antwort.

 

Liebe Steffi, das war doch selbstverständlich und wirklich nicht der Rede wert. Hoffentlich geht alles gut aus. Ja, bis bald. Ich vermisse dich. R.

 

Ich vermisse dich auch, begann Stefanie zu schreiben und hielt dann inne, löschte die Nachricht und sah aus dem Fenster. Dann begann sie erneut.

 

Sehen wir uns heute Abend? Vielleicht Kino?

 

Minuten vergingen.

 

Klingt gut, aber heute bin ich schon vergeben. Aber ich freu mich, wenn du wieder hier bist.

 

Sie drehte das Telefon in ihrer Hand, atmete entschieden aus und tippte:

 

Vergeben an Sophie?

 

Sie legte das Handy rasch weg, wandte sich ihrem Bildschirm zu und klickte sich hektisch durch ihre eingegangenen E-Mails. Das Telefon vibrierte. Sie ignorierte es. Sie hatte Angst vor der Antwort. Sie hätte nicht fragen sollen. Warum erwartete sie, dass er von Sophie erzählte, während sie Peter verschwieg? Was erwartete sie überhaupt von Rolo? Was wollte sie eigentlich selbst? Es vibrierte erneut. Mit geschlossenen Augen tastete sie nach dem Telefon, hielt die Luft an, zählte bis drei, riss die Augen auf, las.

 

Wieso Sophie? Nein, ich treffe einen Freund. Aber nicht Reto. .-)

 

Steffi? Hast du angenommen, dass Sophie meine Freundin ist?

 

Ja, hatte ich, dachte sie. Denke ich. Was ja irgendwie nicht schlimm gewesen wäre, weil ich ja auch einen Partner habe. Es wäre irgendwie sogar nur fair, wenn wir beide …

Das Telefon klingelte. Es war Rolo.

Scheiße, dachte sie.

Das Klingen dauerte an. An der Tür klopfte es.

»Steffi, ich muss mit dir reden.« Reto trat in den Raum.

»Jetzt nicht, bitte!«, rief sie.

Reto verschwand mit konsternierter Miene. Das Klingeln war verstummt.

Tief durchatmen, dachte sie, tief ein, tief aus, tief ein, tief aus. Sie nahm das Handy und wählte.

»Hey, Steffi«, kam es vom anderen Ende der Leitung.

»Hi. Tut mir leid, wenn ich störe, aber hast du heute Abend Zeit? Also: etwas mehr Zeit als sonst. Ich muss unbedingt mir dir sprechen.«

»Sehr gut, ich mit dir auch.«

»Ja?«

»Ja. Hab noch mal nachgedacht.«

»Über was?«

»Das erzähle ich dir später, in Ordnung? Hab gleich noch eine Besprechung. Bis später.«

»Ich … ich«, stotterte sie, aber Peter hatte bereits aufgelegt.

Es klingelte erneut und ohne zu überlegen, nahm sie ab.

»Steffi, hier ist Rolo.«

»Oh, hi … ich … hier ist total viel los und ich … ich konnte nicht …«

»Kein Problem. Steffi, ich wollte das nur rasch persönlich und nicht per SMS klären. Falls du denkst, Sophie von Seidlitz sei meine Freundin – das stimmt natürlich nicht. Ich kenne Sophie seit dem Kindergarten und bin seitdem mit ihr befreundet. Wir Kinder aus verarmtem Adel mussten einfach zusammenhalten.«

Stefanie versuchte zu lachen, doch es hörte sich eher an wie ein trockener Husten. »Ich … ich weiß gar nicht, was ich dachte. Ja, ich dachte wohl schon, dass ihr …«

»Ich weiß, dass der Eindruck leicht entsteht, wenn man uns so sieht. Wir sind einfach sehr vertraut, wie Geschwister. Sie hat mir unendlich viel geholfen nach dem Tod von Leonor.«

Die Tür ging auf und Reto kam entschlossen herein. »Steffi, wir müssen reden.«

»Nein, nein, nein«, zischte sie und wedelte mit der freien Hand. »Später!«

»Wann ist später?«, fragte Reto.

»Alles okay bei dir?«, fragte Rolo.

Sie hielt das Handy von sich weg. »Ich bin in einer Viertelstunde bei dir, okay?«

Reto verschwand kopfschüttelnd.

»Rolo, ich bin da. Sorry, heute ist hier die Hölle los.«

»Es ist vielleicht auch nicht sinnvoll, das am Telefon zu besprechen.« Seine Stimme klang sanft. »Ich wollte es dir nur rasch sagen: Ich bin nicht mit Sophie zusammen, das würde ich weder dir noch ihr antun.«

Stefanie kniff die Augen zusammen. Sie spürte den Schweiß in ihren Achselhöhlen und Kniekehlen, auf der Stirn. Ihr Herz schlug rasend schnell.

»Aber ich bin …«, begann sie.

»Du bist mit Peter zusammen, ja.«

»Du weißt es?«

»Ja, von Reto. Und Steffi, ich mache dir deswegen keine Vorwürfe. Wir müssen nur … irgendwann …«

»Du hast mit Reto über mich gesprochen?«

»Ich habe nach unserer ersten Besprechung lediglich zu ihm gesagt, dass du sehr sympathisch seist. Und er meinte, keine, Chance, Alter, die ist vergeben.« Er lachte leise. »Es ist ja auch kein Wunder, dass du es bist.«

»Aber … aber warum hast du trotzdem … mit mir …?«, stotterte sie und wusste im selben Moment, wie absurd ihre Frage war. Sie hatte sich auf Rolo eingelassen – trotz Peter.

»Weil ich mich in dich verliebt habe.«

Sie schwieg.

»Steffi?«

»Ja«, sie räusperte sich. »Ich bin da.«

»Bist du schockiert?«

Sie rieb sich mit der Hand die Schläfen und schüttelte den Kopf. »Nein. Nein, nein, ich bin nicht schockiert.« Etwas Feuchtes lief über ihre Wangen, das kein Schweiß war. »Ich bin … gerührt. Und«, sie schluckte, »es geht mir auch so. Ich bin verliebt in dich.«

In der Leitung war es still.

»Und ich werde«, fuhr sie fort, »ich werde mit Peter sprechen. Heute Abend noch.«

»Steffi, bitte fühl dich nicht unter Druck gesetzt. Das ist alles nicht einfach und kam so schnell. Wegen mir musst du es heute nicht tun.«

»Ich tue es nicht wegen dir, sondern wegen mir. Und ich möchte dich damit auch nicht unter Druck setzen. Es ist überfällig. Unabhängig von dir. Ich muss es tun.«

»Okay.«

Sie schwiegen.

»Gut«, sagte sie schließlich. »Ich mach dann mal weiter. Und melde mich später, ja?«

»Tu das. Ich denke an dich.«

Als Stefanie aufgelegt hatte, bemerkte sie, dass ihre Hände zitterten. Ihr Mund war staubtrocken. Sie griff nach dem Glas Wasser auf ihrem Schreibtisch, leerte es in einem Zug und beschloss dann, nach Hause zu gehen und auf ihr übervolles Überstundenkonto zu verweisen, falls Reto sich beschweren würde.

 

Die Stufen kamen ihr höher vor als sonst und jeder Schritt nach oben raubte etwas von der Entschlossenheit, mit der sie in der Agentur aufgebrochen war. Schon auf der Heimfahrt hatten sich ihre Stimmung und das Wetter verfinstert. Wolkengebirge hingen drohend am Himmel, ihre Gefühle fuhren Achterbahn und kamen schließlich ganz tief unten zum Stehen, als ihr bewusst wurde, was sie im Begriff war zu tun. Sie wollte Peter erzählen, dass sie sich in einen anderen Mann verliebt hatte. Was direkt nach ihrer Beichte geschehen würde, ob er sie bitten würde, sofort die Wohnung zu verlassen und ihm nicht mehr unter die Augen zu treten, oder ob er sie anflehen würde, doch noch einmal alles zu überdenken und abzuwarten, ob nicht alles ein Strohfeuer war – darüber machte sie sich weniger Gedanken. Was ihr die Kehle zuschnürte, war die Tatsache, dass sie einen Menschen, den sie einmal über alles geliebt hatte, verletzten würde, unendlich verletzten. Und wofür? Was war das mit Rolo? Was sagten drei Wochen aus, die gefüllt waren mit unbeschwerten, leidenschaftlichen Momenten? Dass alles besser war als mit Peter? Dass sie für Peter nichts mehr empfand? Dass ihre Beziehung keine Chance hatte? Was erwartete sie von ihrer Beichte? War sie danach mit Rolo zusammen, offiziell und mit allem, was nach allgemeiner Auffassung »dazugehörte«? Natürlich nicht. Sie kannte Rolo von Wolf ja kaum.

Sie steckte den Schlüssel in das Schloss und drehte ihn vorsichtig. Peters Fahrrad hatte im Hof gestanden, er war also bereits hier. Mittlerweile war es draußen so finster geworden, dass kaum Tageslicht in die Wohnung drang. Der Flur lag dunkel vor ihr, nur unter der Küchentür war ein heller Streifen zu sehen.

Stefanie hörte das Klappern von Gläsern und spürte einen Kloß im Hals. Es waren vertraute Geräusche, die sie schon unzählige Male empfangen hatten, wenn sie nach Hause gekommen war. Peters Hantieren mit Geschirr, oft begleitet von Musik und seinem Summen und Singen.

Sie legte ihre Hand auf die Klinke und zog sie wieder weg. Ihr Atem war flach und hektisch und ihr Herz klopfte wieder so schnell wie bei dem Gespräch mit Jessica. Sie zählte bis drei und öffnete dann entschlossen die Tür.

Peter fuhr herum. »Wie, du bist schon da?« Er kam auf sie zu und schob sie wieder halb auf den Flur. »Nicht gucken, okay?«

Sie nickte, warf aber gleichzeitig einen Blick über seine Schulter. Auf der Arbeitsfläche neben der Spüle standen zwei hohe Gläser mit brauner Flüssigkeit, daneben lagen aufgeschnittene Limetten und ein Bund Minze.

Stefanie schloss die Augen. Cocktails. Peter hatte Cocktails gemacht und schien irgendetwas feiern zu wollen. Was man eben so machte mit Cocktails. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann hatte sie im Stillen gehofft, dass er vielleicht selbst darauf gekommen war, dass seit ein paar Monaten etwas grundsätzlich falsch lief und sie einen Schnitt machen müssten. Und hatte er nicht vorhin angekündigt, unbedingt mit ihr sprechen zu wollen? Aber jetzt standen da diese Cocktails und Peter hatte sie wohl kaum gemixt, um mit ihr auf das Ende ihrer Beziehung anzustoßen.

Er hantierte mit dem Rücken zu ihr. »Setz dich doch schon mal«, sagte er.

Sie folgte seiner Aufforderung. Müdigkeit und eine tiefe Traurigkeit überkamen sie und schluckten den letzten Rest an Elan. Sie fürchtete Schlimmes.

Peter wandte sich schwungvoll um, in jeder Hand eines der Gläser. »Tataaaaa, Cuba Libre, die Dame.«

Stefanie nahm einen Cocktail und lächelte gequält. »Wow, wofür … was gibt es denn zu feiern?«

»Die Tatsache, dass dein Freund ein bisschen nachgedacht hat und zu dem Ergebnis gekommen ist, dass du vollkommen recht hast. Wir sollten noch mal raus. Reisen! Nicht nur zwei, drei Wochen nach Thailand. Nein, richtig raus.« Er zog am Strohhalm. »Ob Kuba dabei ist, weiß ich natürlich nicht, aber ich weiß, dass du das hier magst.« Er hob das Glas.

»Aber ich dachte, dass … was ist mit deinem Vater?«

»Hab ich alles schon mit ihm abgesprochen. Nein, stopp, keine Sorge, ich habe nicht mit ihm ausgemacht, wann und wie lange wir verreisen, ich weiß, dass ich dich mit der Hausgeschichte ordentlich traumatisiert habe.« Er setzte sich und griff nach ihrer Hand. »Ich habe nur mit ihm ausgemacht, dass wir es machen. Das wollte ich schon seit Wochen tun, habe mich aber erst heute getraut.«

»Und was hat er gesagt?«, fragte Stefanie, obwohl sie die Antwort schon kannte.

»Dass er es toll findet und bereut, mit Mama nicht auch einmal so etwas gemacht zu haben. Meine Eltern stehen voll hinter dieser Entscheidung. Und freuen sich für uns.«

Ja, weil sie denken, ich komme mit Enkel im Bauch zurück, dachte Stefanie.

»Was sagst du?«

»Ich … ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich bin einfach sehr überrascht.«

»Das war ich auch. Ich finde, wir sollten das auswärts feiern und essen gehen. Fürs Kochen bin ich jetzt irgendwie zu aufgedreht.«

Er war so euphorisiert, wie ihn Stefanie schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte. Seine Wangen waren gerötet, seine Augen glänzten, er sah aus wie der Peter von früher, wenn er ihr begeistert von Konzerten, früheren Reisen, Begegnungen, ja sogar von Gesetzestexten und Fällen erzählt hatte, die er interessant oder spektakulär fand. Eine Welle der Zuneigung erfasste sie, aber sie ebbte sofort wieder ab und sie spürte, wie die Traurigkeit sie erneut fest umklammerte.

»Komm, lass uns in die EscoBar gehen. Nicht kubanisch, kommt dem aber am nächsten.« Er stand auf. »Gib mir fünf Minuten. Trink deinen Cocktail. Bin gleich wieder da!«

Stefanie hörte, wie sich die Badtür hinter ihm schloss, und ging rasch in den Flur, um ihr Handy aus der Tasche zu ziehen. Sie überlegte fieberhaft, dann tippte sie.

 

Lieber Rolo, denke unendlich an dich. Können wir uns morgen treffen und reden? S.

 

Die Badezimmertür öffnete sich und sie ließ das Handy in ihre Tasche fallen. »Bin schon so weit«, sagte sie und fuhr sich durch das Haar.

Sie kamen noch trocken in die mexikanische Kneipe und rasten zwei Stunden später im strömenden Regen wieder nach Hause. Rolo hatte nicht geantwortet, und als Peter neben ihr endlich regelmäßig atmete, schlich sie sich in die Küche, um ihr Handy noch einmal anzuschalten, aber da war nichts. Sie lauschte dem Prasseln hinter dem Fenster, zog die Füße hoch auf den Stuhl und ihr T-Shirt nach unten. Kälte kroch in ihr hoch und sie fror so erbärmlich, wie sie Stunden zuvor geschwitzt hatte.

 

 

 

 

Sommer in der Stadt II

 

 

Nymphenburg

 

Seit über einer Woche kam jeden Abend ein Gewitter auf und folgte dabei immer der gleichen Choreografie. Am Vormittag bildeten sich bereits erste kleinere Haufenwolken am strahlend blauen Himmel, die später die Form von Blumenkohl annahmen. Am Nachmittag wurde die Schwüle unerträglich, die Luft diesig, später kam Wind auf und fernes Donnergrollen war zu hören. Kurz bevor der Regen anfing, trat Stille ein, der Wind schwächte für einen Moment ab, bevor der Himmel seine Schleusen öffnete.

Rolo von Wolf spürte den Luftzug, der durch die angelehnte Balkontür drang, und leerte das Glas in einem Zug. Der Whisky brannte kaum noch in seiner Kehle und die Wärme, die er in seinem Bauch erzeugte, währte lediglich Sekunden. Er sah auf sein Handy auf dem Beistelltisch, aber verspürte keine Lust, es anzuschalten. Die eingegangenen Nachrichten und verpassten Anrufe erforderten Handlung. Und er wollte nicht handeln, sondern einfach nur hier sitzen, den Wind um die nackten Füße spüren und durch den Alkohol allmählich in einen Zustand geraten, der Vergangenheit und Zukunft vernebelte und den Moment erträglich machte. Er hob die mittlerweile schweren Lider und sah zur Wand, von der ihn Dutzende Augenpaare zu beobachten schienen.

»Was soll ich tun?«, fragte er leise. »Sag mir, was ich tun soll?«

 

Im Tal

 

Mittlerweile schüttete es wie aus Kübeln. Peter Ullmann stand am Fenster und betrachtete sein Fahrrad, das an einen Laternenmast angeschlossen war. Die Plastiktüte, die er morgens über den Sattel gestreift hatte, war längst vom Wind weggetragen. Er würde später nach Hause radeln, wenn sich das Gewitter beruhigt und der Regen nachgelassen hatte.

Er wandte sich wieder zu seinem Schreibtisch, auf dem er eine Weltkarte ausgebreitet hatte. Mehrere Orte waren markiert, Orte, über die sie schon öfter gesprochen hatten. Er freute sich auf die Reise, auch wenn sein Anfangselan merklich abgenommen hatte, da Steffis Begeisterung sich in Grenzen zu halten schien. Aber vielleicht hatte seine Überraschung sie zu sehr überrumpelt. Oder sie war noch skeptisch angesichts seines Sinneswandels und traute der Sache nicht. Oder sie hatte doch Muffensausen bekommen angesichts der Aussicht, ein halbes Jahr einfach aus München zu verschwinden und Arbeit, Familie, Freunde, Wohnung und das Vertraute zurückzulassen. Er wusste es nicht. Sie hatte in den letzten Tagen auf Vorschläge und Fragen zu ihrem Vorhaben ruhig und geduldig geantwortet, aber nicht euphorisch. Eher kooperativ. Sie schien ihm auch in allem anderen, was sie tat, verhalten und abwesend, aber er hatte nicht zu fragen gewagt, ob sie die Sache vielleicht einfach abblasen und doch lieber klassisch ein, zwei Mal im Jahr in den Urlaub fahren wollte. Am Ende hätte sie allein diese Frage wieder als Bevormundung empfunden.

Egal. Er faltete die Karte zusammen. Bald müssten sie eine Entscheidung fällen und alles festklopfen. Sein Handy klingelte.

»Ullmann?« Er lauschte einen Moment. »Ach, super, schon fertig. Ich hol ihn heute noch ab.« Er sah zum Fenster und lachte. »Ja, das schaff ich schon. Auch im Regen.«

 

Orleansplatz, Haidhausen

 

Stefanie spürte den Regen nicht, auch wenn ihr Top längst durchnässt war, die Sporthose feucht an ihren Schenkeln und der Rucksack unangenehm an ihrem Rücken klebte. In den Turnschuhen hatte sich Wasser gesammelt und von der Bank, auf der sie saß, kroch Kälte ihren Rücken hinauf. Sie starrte auf das Handy in ihrer Hand:

Bangkok.

Rolo war in Bangkok. Zumindest hatte Ben das gesagt, dessen glühenden Kopf sie sogar durch das Telefon spürte.

»Der Herr von Wolf … ist … also, er musste dringendst … beruflich, also verreisen«, hatte er gestammelt und Stefanie hatte nicht weitergebohrt, weil Ben ihr in seiner Rolle als Übermittler unangenehmer Nachrichten leid tat.

Hätte sie insistiert, wäre ihr die Frage herausgerutscht, ob es denn in Thailand kein WLAN gebe, und das hätte Ben vollends um seine Contenance gebracht.

Seit dem Telefonat in ihrem Büro, in dem Rolo gesagt hatte, er sei in sie verliebt, waren mehrere Tage vergangen. Es war das Letzte, was sie seitdem von ihm gehört hatte. Er war verschwunden. Abgetaucht. Wie vom Erdboden verschluckt. Und jetzt angeblich in Bangkok. Sie hatte versucht, ihn auf seinem Handy zu erreichen, in seinem Büro, hatte Nachrichten auf Mailbox und Anrufbeantworter hinterlassen und E-Mails geschrieben – nichts. Sie hatte erwogen, Reto nach Rolos Privatnummer oder seinem Verbleib zu fragen, aber das war ihr nach kurzer Überlegung als unmöglich erschienen. Was, wenn er doch Bescheid wusste und sie ihm offenbaren musste, das sein bester Freund sie aber mal so richtig ausgenutzt hatte.

Denn so kam sie sich vor. Verarscht und ausgenutzt. Hochgejubelt und fallen gelassen. Stundenlang hatte sie sich den Kopf zerbrochen, was sie falsch gemacht, ob sie im letzten Gespräch etwas gesagt hatte, was Rolo in Panik versetzt hatte. War es die Ankündigung, mit Peter zu sprechen? Wäre das nicht ein wenig übertrieben panisch von Rolo? Zumal sie ihm deutlich gesagt hatte, dass sie das für sich selbst machen würde. Andererseits musste sie sich eingestehen, dass Rolo ihr gegenüber keinerlei Verpflichtungen und natürlich jedes Recht der Welt hatte, sich nicht mehr zu melden. Oder zu verreisen.

Auch nach Bangkok.

Bangkok. Sie vergrub den Kopf in beiden Händen.

»Hey, alles in Ordnung mit dir?«

Sie fuhr hoch. Vor ihr stand Tim, dessen Tae-Bo-Stunde sie eben besucht hatte, in der Hoffnung, den Kopf dadurch freipusten zu können.

Sie stand hastig auf. »Jaja, musste mich nur abkühlen nach deiner Stunde.«

Er lachte. »Das ist prinzipiell gut, aber vielleicht nicht so.« Er wies auf die Bank. »Nicht hier. Magst du vielleicht …?

»Nein, nein, nein«, sagte sie. »Ich muss heim und mich abtrocknen, du hast völlig recht. Bis bald.« Mit schnellen Schritten steuerte sie ihr Fahrrad an, das sie vor dem Kaufring geparkt hatte, und ließ den jungen Mann mit verdatterter Miene stehen.

 

Harlaching

 

Vor Reto Zöller saß ein dicker Hase mit langen Ohren und sah ihn skeptisch an.

»Hast du auch einen Indianernamen?«

Reto Räudiger Hurensohn, dachte er, aber er schüttelte den Kopf und sah auf den Nager hinunter. »Nein. Hast du einen?«

Der Hase nickte. »Häuptling Gefährlicher Panzer.«

Die Moderne macht auch vor der idyllischen Welt der Indianer nicht halt, dachte Reto. »Bist du fertig?«, fragte er.

Der Hase nickte, sodass die Ohren wackelten, und sprang hinunter.

»Stoppstoppstopp«, sagte Reto. »Abputzen. Hände waschen.« Er betätigte die Spülung. »Und dann ab zu den anderen.«

»Sommerwald« war das Motto, unter dem Fabian seinen vierten Geburtstag feiern wollte. Reto und seine Frau hatten luftig bekleidete Waldfeen mit Blumenranken im Haar und Jungen in kurzen blauen Hosen und weißen T-Shirts, die als »Wolke« kamen, erwartet, aber das Wetter hatte ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Jetzt liefen Finn, der Hase, ein Bär, ein Jäger, in der Tat zwei Waldfeen (mit Strumpfhosen) und der Regentropfen Fabi (ganz in Blau) durch das Erdgeschoss ihres Hauses. Der Garten, in dem sich die Kinder eigentlich müde toben sollten, war grau und nass, Blumen und Sträucher beugten sich unter der Last der Regentropfen.

Er spürte sein Telefon in der Hosentasche vibrieren und ging nach einem Blick auf das Display schnell in den Flur.

»Du sollst hier nicht anrufen, das weißt du ganz genau«, zischte er.

»Wieso? Hattest du nicht gesagt, man könne dich immer anrufen, wenn es in der Arbeit brennt?«

Reto rollte mit den Augen. »Wo brennt es denn?« Er warf einen Blick in das Wohnzimmer, wo Sarah die Kinder gerade zu dem von ihr selbst ausgedachten Spiel »Wir sind Eichhörnchen, eine Gruppe verbuddelt, die andere Gruppe sucht die Süßigkeiten« motivieren wollte. Er schloss die Tür.

»Es geht um deinen Freund Rolo von Wolf.«

»Ja, was ist mit ihm?« Reto fühlte Unbehagen in sich aufsteigen.

»Ich weiß das mit ihm und seiner Frau.«

Reto war einen Moment zu perplex, um zu antworten.

»Reto? Bist du noch dran?«

»Du weißt das mit ihm und seiner Frau?«, antwortete er und hörte, wie schneidend seine Stimme war. »Na und? Das weiß ich auch. Sie ist vor einigen Jahren verstorben, na und? Das wissen ausgesprochen viele Menschen.«

»Ja, aber kennen sie auch die Hintergründe? Wissen sie, dass Rolo …«

»Hör mir zu, Jessica.« Er ging den Flur entlang, öffnete die Haustür und ging bis an den Zaun, der ihr Grundstück vom Bürgersteig trennte. Innerhalb von Sekunden war er klitschnass. »Hör mir genau zu. Ich kann verstehen, dass du gekränkt bist, dass ich …«

»Darum …«

»Du hörst mir jetzt zu, verdammt noch mal!«, rief er. »Ich kann verstehen, wenn du wegen uns gekränkt bist, aber wenn du nun versuchst, mich zu erpressen, indem du …«

»Reto, ich …«

»Indem du versuchst, Schwachsinn über einen Freund von mir zu verbreiten, dann werde ich dich nicht nur hochkant aus der Agentur werfen, sondern auch dafür sorgen, dass du in dieser Branche keinen Fuß mehr auf den Boden bekommst. Weder hier noch in Hamburg oder Berlin oder Frankfurt oder Buxtehude oder sonst wo! Hast du mich verstanden?«

»Ich wollte doch nur …«

»Ob du mich verstanden hast?«, schrie er.

Statt einer Antwort hörte er ein Klicken. Jessica hatte aufgelegt.

»Mist«, rief er und wandte sich um. Sein Hemd klebte wie ein nasser Lappen an ihm.

Im Hauseingang hatten sich ein Regentropfen, ein Hase, ein Bär, ein Förster und zwei Waldfeen versammelt und schauten ihn neugierig an. Hinter ihnen stand Sarah und warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Ich glaube, der Papa will auch ein Regentropfen sein«, sagte Fabian.

»Ich will auch einer sein«, sagte Ole, der Bär. Er machte Anstalten, die Treppen hinunterzutappsen, doch Sarah hielt ihn fest, winkte mit der anderen Hand Reto, der ihr half, die Truppe wieder ins Innere des Hauses zu treiben, wo sie anschließend weiter nach verbuddelten Süßigkeiten suchte.

 

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739402055
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (November)
Schlagworte
Liebesroman Unterhaltung Australien Glück Spannung Reise Liebe Thailand Island

Autor

  • Anne Lux (Autor:in)

Anne Lux lebt und arbeitet in München. Neben ihrem Hauptjob im Kulturbereich schreibt sie regelmäßig Romane. Ihre Liebes-Trilogie und die zwei Cornwall-Bücher "Tausche Alltag gegen Insel" und "Tausche Alltag gegen Glück" standen wochenlang in den Bestseller-Listen.
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Titel: Alles auf Liebe: Drei Romane in einem Band