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Tausche Alltag gegen Cornwall

3 in 1: Drei Cornwall-Bestseller in einem Band

von Anne Lux (Autor:in)
790 Seiten

Zusammenfassung

+++ 3 in 1: Die drei Cornwall-Besteller „Tausche Alltag gegen Insel“, „Tausche Alltag gegen Glück" und "Tausche Alltag gegen Horizont" in einem Band +++

Tausche Alltag gegen Insel (Cornwall 1)

Kunstlehrerin Vivian würde ihrem Leben bestenfalls die Note 4 geben: Ihre große Liebe ist weg, ihre Arbeit ein Kompromiss und ihr Alltag festgefahren. Nur ihr attraktiver Kollege Jonas sorgt für gelegentliche Hochgefühle. Bevor sich die beiden jedoch näherkommen können, erhält Vivian einen unerwarteten Anruf aus England. Es folgen eine spontane Reise auf die Scilly-Inseln vor der Küste Cornwalls, eine Beerdigung der etwas anderen Art und eine schmerzhafte Begegnung mit ihrer Vergangenheit. Bald nach ihrer Rückkehr zeigt sich, dass der Kurztrip für Vivian alles verändern könnte. Aber will sie das überhaupt?

Tausche Alltag gegen Glück (Cornwall 2)

Vivian Steiner hat es getan: Sie hat ihren Job als Lehrerin gekündigt, um ihr Leben neu zu gestalten. Nicht im heimatlichen München, sondern auf St. Maryʼs, einer kleinen Insel vor der Küste Cornwalls. Hier, in der »Südsee Englands«, will sie die Galerie ihres verstorbenen leiblichen Vaters weiterführen und als freie Fotografin ihr Glück versuchen. Doch es ist nicht alles eitel Sonnenschein im Insel-Paradies, im Gegenteil. Zwar muss sie keine Schüler mehr bändigen und Lehrpläne befolgen, aber eine verrückte Praktikantin, eine verheerende Vernissage, fehlende Sicherheit und eine Fernbeziehung machen ihr den Alltag nicht gerade leicht. War sie zu naiv? Ehe Vivian sich versieht, ist sie auch in St. Maryʼs gefangen in Problemen – und der Traum vom Neubeginn droht zu platzen …

Tausche Alltag gegen Horizont (Cornwall 3)

Ein Cottage mit Meerblick und eine eigene Galerie machen noch kein perfektes Leben. Das hatte Vivian auch nicht erwartet, als sie vor zwei Jahren von München auf die idyllische Insel St. Mary’s vor der Küste Cornwalls gezogen war. Als Fotografin zufrieden und mit Paddy glücklich sein, mehr wollte sie nicht. Doch ihre beruflichen und privaten Pläne werden durch eine Verkettung unglücklicher Umstände jäh durchkreuzt. Vivian muss rasch handeln, damit nicht alles auseinanderbricht, was sie sich auf St. Mary’s aufgebaut hat. Ein lukrativer Auftrag führt sie nach New York, doch dort wird alles noch viel komplizierter. Denn Vivian wird völlig unerwartet mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert – und trifft eine fragwürdige Entscheidung.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1

Neunundzwanzig Augenpaare waren auf Vivian gerichtet. Oder besser: Neunundzwanzig Augenpaare blickten knapp an ihr vorbei oder durch sie hindurch und starrten einfach ins Nichts.

Es war Vivians anstrengendste Stunde in der Woche. Kunsterziehung in der 11a am Donnerstagnachmittag – das war häufig wie eine One-Woman-Show vor neunundzwanzig Untoten, deren Aufmerksamkeitsspanne sich seit morgens um dreiviertel acht beständig verkleinert hatte. Neunundzwanzig Untote, die ihr nichts mehr entgegenzusetzen hatten außer trägem Desinteresse.

Vivian warf einen raschen Blick aus dem Fenster, das laut Schulordnung nicht mehr geöffnet, sondern zwischen den Stunden nur noch kurz gekippt werden durfte. Das hatte zwar dazu geführt, dass keine Kaugummis mehr aus dem zweiten Stock gespuckt wurden und in den Büschen im Hof landeten, verhinderte aber auch eine gründliche Stoßlüftung. Es kam nicht genügend Frischluft in den Raum, um den Klassen-Mief, eine Mischung aus Schweiß, Parfüm, Östrogen und Testosteron, zumindest temporär zu vertreiben.

Draußen kündigte der Tag bereits sein Ende an, obwohl er noch über acht Stunden Schicht hatte. Es schien bereits zu dämmern, die wenigen verbliebenen Blätter an den Bäumen wurden von einem hartnäckigen Wind geschüttelt, der laut Wetterbericht noch deutlich stärker werden sollte.

Vivian seufzte innerlich. Der November war nicht ihr Lieblingsmonat. Vor allem weil seine Anwesenheit unweigerlich darauf hinwies, dass schon bald gewisse Ereignisse eintreten würden. Ereignisse, die sie seit letztem Jahr nicht mehr mochte: Weihnachten und Silvester.

„Frau Steiner?“

„Ja?“

„Sie wollten uns noch die Arbeiten rausgeben …“

Vivian sah auf ihre Armbanduhr, die sie längst hatte austauschen wollen gegen eine neue, weil die jetzige sie ebenfalls an Weihnachten erinnerte. Noch knapp drei Minuten bis zum Gong.

„Das stimmt, Simon, vielen Dank.“

Kurzes Aufflackern in einem Augenpaar, zartes Rot, das in Wangen schoss, Lippen, die für Sekunden ein Lächeln andeuteten.

Zumindest Simon zeigt vage Anzeichen, dass Leben in ihm steckt, dachte Vivian und sah auf den Kopf seines Banknachbarn Manuel, der inzwischen bewegungslos auf der Tischplatte lag.

„Die meisten von euch …“, sagte sie und legte ihre rechte Hand auf den Stapel, der auf dem Lehrerschreibtisch lag, „haben die Aufgabe wirklich gut gelöst, kreativ und engagiert.“

Keine Reaktion aus ihrem Publikum.

„Kunst im öffentlichen Raum, die Gestaltung eines Ortes, an dem jeden Tag Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen vorbeikommen – wie gesagt, die meisten hatten tolle Ideen …“ Sie griff mit Daumen und Zeigefinger nach dem obersten Blatt Papier. „Aber bei deinem Beitrag, Manuel, war ich mir nicht ganz sicher …“ Sie hob das Blatt hoch. „Ich nehme an, du wolltest griechische Säulen malen und wurdest dann … abgelenkt, von etwas, was interessanter und animierender war und deine ursprüngliche Intention in andere Bahnen gelenkt hat?“

Die müden Ausdrücke veränderten sich nicht, ein paar Augenpaare wurden gerollt.

Okay, hätte ich auch witzig machen können, dachte Vivian und legte das Blatt wieder ab.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich irgendjemand, vor allem eine Frau, darüber freut, wenn sie in einer Unterführung flankiert wird von überdimensionierten … männlichen Geschlechtsteilen.“

Noch letztes Jahr hätten bei dem letzten Wort zumindest einige der Mädchen gekichert, vielleicht auch der eine oder andere Junge. Jetzt: nichts. Manuels Kopf blieb bewegungslos auf dem Tisch liegen.

„Können wir uns darauf einigen, in Zukunft darauf zu achten, keine derart sexualisierten …“

Der Gong schnitt ihr das Wort an und wiederbelebte die lethargischen Gestalten vor ihr. In Windeseile schoben sie ihre Sachen in die Rucksäcke und die Stühle nach hinten. Nur Simon packte mit bedächtigen Bewegungen und ging dann Richtung Tür, wo er sich noch einmal umwandte.

„Bekommen wir die Arbeiten dann nächste Woche?“

„Ja, ganz sicher, Simon. Das war jetzt einfach zu knapp.“

„Schade eigentlich, dass es nur eine Stunde Kunst in der Woche gibt.“

„Finde ich auch.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Tja, bedank dich beim bayerischen Kultusministerium.“

„Sie sollten Mathe unterrichten. Oder Deutsch.“

„Ach ja, warum?“

„Weil Sie uns dann öfter hätten.“

„Wie gesagt: Die Lehrpläne mache nicht ich. Leider.“

„Okay. Dann bis bald.“

„Tschüss, Simon. Bis nächste Woche.“

Als sie allein war, ließ sich Vivian seufzend auf den Stuhl fallen. Vielleicht sollte sie das Wort „Geschlechtsteil“ doch nicht in der Anwesenheit von hormonbelasteten Teenagern äußern. Vielleicht hatte es doch Auswirkungen auf den einen oder anderen. Vielleicht täuschte sie sich aber auch und Simon hatte eben nicht versucht, mit ihr zu flirten.

Sie sah durch das Fenster. Ein einsames, rot verfärbtes Blatt an einem schaukelnden Ast versuchte verzweifelt, sich zu halten, um nicht auf den kalten Betonboden zu fallen.

Nach einer Weile gab sie sich einen Ruck, verstaute den Stapel Papier in ihrer ausgebeulten Ledertasche und ging auf den Flur.

Kaum war sie aus der Tür, kam ihr Kollege Jonas aus der 11b nebenan. Vivian sah ihn aus den Augenwinkeln, machte eine scharfe Rechtskurve und tat, als hätte sie ihn nicht bemerkt. Er hatte wieder darauf gewartet, bis sie aus ihrer Klasse gekommen war. Sie hörte das Quietschen seiner Sneaker auf dem Linoleumboden und das Klackern ihrer Stiefelabsätze, die durch den Flur hallten. Kein einziger Schüler war mehr zu sehen. Nach der letzten Stunde mutierten sie alle zu Superathleten und waren in der Lage, die Distanz zwischen Klassenzimmer und Hauptausgang in übermenschlichen Zeiten zurückzulegen.

Vivian beschleunigte ihren Schritt, wandte sich aber an der Ecke vor dem Lehrerzimmer so abrupt um, dass Jonas überrascht anhielt und sie fragend ansah.

„Hi!“, sagte sie und rang sich ein Lächeln ab. „Na, den Tag überstanden?“ Besser hier die Sache über die Bühne bringen als im Lehrerzimmer, dachte sie. Besser zu zweit im Flur als vor den Kollegen.

Wie auf Kommando kam Otto Hörmann um die Ecke geschlurft. Geschichte-Erdkunde-Sport, ungefähr Ende der Fünfzigerjahre geboren, zweimal geschieden, länger als jede andere Lehrkraft an der Schule und fast immer in einem eng geschnittenen Adidas-Trainingsanzug, um den sich das Gerücht rankte, Hörmann habe ihn während der olympischen Spiele 1972 in München erworben. Osmanen-Otto oder Ottomane genannt wegen seiner präferierten Epoche der Geschichte.

Als er Vivian und Jonas sah, blieb er kurz stehen, um dann zwinkernd an ihnen vorbeizugehen. „Mahlzeit!“

Vivian stöhnte kaum hörbar. Sie hatte Hörmann schon öfter gebeten, das Zwinkern sein zu lassen, zumal, wenn er an einer Gruppe Schülerinnen vorbeiging und sich seine Lider so rasch bewegten wie die Flügel eines Kolibris.

„Trockene Augen“, hatte er trocken behauptet und Vivian einfach stehen gelassen. Später hatte Lilli sie einmal unauffällig an Ottomanes Fach im Lehrerzimmer vorbeigezogen, im dem gut sichtbar ein kleines Fläschchen stand.

„Augentropfen“, hatte Lilli geraunt, und seitdem war Vivian gegenüber Ottomane milder gestimmt, wenn auch nicht restlos davon überzeugt, dass die zwanghaften Bewegungen seiner Lider ausschließlich körperliche Ursachen hatten.

Sie wartete, bis er und seine zwinkernden Augen verschwunden waren, und wandte sich dann wieder Jonas zu.

„Du gehst mir aus dem Weg“, sagte er.

„Quatsch, wieso sollte ich.“

„Wegen vorletztem Wochenende …“, begann er, aber sie hob die Hand, als wolle sie sich damit vor weiteren Worten abschirmen.

„Nein, Jonas“, sagte sie schnell. „Wir müssen nicht darüber reden. Es … Wir waren betrunken und es ist einfach passiert und ich weiß nicht, was ich mir gedacht habe, als ich dich …“

„Ich war nicht betrunken. Ich trinke keinen Alkohol.“

Vivian sah ihn verblüfft an. Seine Augen richteten ein tiefes Grün auf sie, sein Blick war offen und klar. Nicht einmal die Anzeichen eines Zwinkerns.

„Von meiner Seite aus ist es nicht einfach so passiert“, sagte er und lachte. „So etwas passiert nicht einfach so, wir sind keine ferngesteuerten Roboter, Vivian.“

Mach hier kein Drama, wir haben uns doch bloß geküsst, dachte Vivian mit einem Anflug von Ärger, ich mach das hin und wieder, Männer küssen. Sie hielt den Satz im letzten Moment zurück, bevor er an die Oberfläche kommen konnte. Jonas war mit Sicherheit ein prima Kerl, sie musste ihn nicht beleidigen mit einer Aussage wie dieser.

„Ich …“, sie wies mit dem Daumen über ihre Schulter. „Ich müsste …“

„Wollen wir am Wochenende etwas unternehmen? Kaffee, Kino, Museum?“

Sie schüttelte stumm den Kopf. „Ich muss arbeiten“, sagte sie dann.

„Korrigieren?“

„Ja. Unter anderem.“

„Ich auch.“ Jonas wies mit dem Kopf in Richtung Papierstapel, den er unter den rechten Arm geklemmt hatte. „Gedichtinterpretation. Rilke. Sie haben sich die Finger wundgeschrieben.“

Vivian sah auf die Blätter und den Bizeps, der sich unter dem Langarmshirt abzeichnete. Ihr Blick wanderte nach oben, traf wieder auf die grünen Augen.

Jonas Berger, Deutsch-Sport („Eine Traumkombi“, wie Lilli immer betonte. „Ein Mann, der läuft UND liest!“), fünfunddreißig, seit einem guten Jahr an der Schule und seit einigen Monaten getrennt von seiner langjährigen Partnerin, trug im Gegensatz zu Ottomane Trainingsklamotten nur in der Turnhalle.

Am vorletzten Tag der Herbstferien hatte er sie in strömendem Regen bis vor ihre Haustür gebracht, nach einem Essen bei Lilli und Alex. Die beiden luden regelmäßig Freunde, Bekannte und Kollegen zu sich ein, mehrheitlich Singles und immer ein Alibi-Paar, das, davon war Vivian überzeugt, darüber hinwegtäuschen sollte, dass die Abende eigentlich Kuppeleiveranstaltungen waren.

Als sie zusammen mit Jonas unter dem Schirm vor ihrem Haus stand, kroch die Kälte vom nassen Asphalt durch ihre Stiefel. Oben in ihrer dunklen Wohnung, das wusste sie, war es kaum wärmer, dort wartete nichts auf sie außer finsterer Kühle. Da fragte sie ihn. Ob er mit hochkommen wolle. Er verneinte lächelnd, zögerte kurz und beugte sich dann vor und küsste sie, zärtlich, aber doch fordernd, berührte sie nur mit den Lippen. Vivian hatte die Augen geschlossen, spürte die Wirkung der zwei Gläser Wein, sie hob die Hände und legte sie auf die Unterarme von Jonas, fragte ihn noch einmal. Er verneinte erneut, schob sie sanft von sich weg und sagte, dass er sich sehr freue, sie am Montag in der Schule wiederzusehen. Als sie allein in ihrer Wohnung stand, schämte sie sich wegen ihrer plumpen Vorgehensweise und war gleichzeitig verwirrt. So war es ihr noch nie ergangen. Bis jetzt hatte sie in solchen Situationen stets die Choreografie vorgegeben, und die Männer waren ohne Widerspruch ihren Anweisungen gefolgt.

„Es klappt sicher bald“, sagte Jonas jetzt und ging an ihr vorbei. „Spätestens in den Weihnachtsferien schaffen wir es.“

Sein Tonfall duldete keine Widerrede. Vivian sah ihm mit hochgezogenen Augenbrauen nach und folgte ihm dann ins Lehrerzimmer.

Kapitel 2

An ihrer Wohnungstür klebte eine Nachricht ihrer Nachbarin aus dem Erdgeschoss, die bat, das Paket rasch abzuholen, das bei ihr abgegeben worden war. Für den Fall, dass sie wieder keine Benachrichtigungskarte bekommen hätte. Vivian riss den Zettel ab und überlegte, was heute angekommen sein könnte. Sie hatte den Überblick verloren. Es war ihr dritter Anlauf, die Wohnung neu zu gestalten, und wie bei den zwei Versuchen davor war er nach dem Bestellen der Dekogegenstände ins Stocken geraten.

Der Flur empfing sie düster und abweisend, es roch noch leicht nach dem Toastbrot, das ihr heute Morgen verbrannt war. Vivian machte Licht und schlüpfte aus Stiefeln und Mantel. Als sie den dicken Wollschal vom Hals wickelte, lösten sich leise knisternd einige Blätter und segelten auf den Boden. Kaum hatte sie die Mütze vom Kopf gezogen, richteten sich ihre Haare wie elektrisiert auf und strebten in alle Richtungen.

„Wild“, sagte eine Stimme hinter ihr, und Vivian fuhr kreischend herum, schlug die Hand von ihrer Schulter und griff reflexartig nach dem Regenschirm, den sie heute Morgen auf der Kommode im Flur vergessen hatte.

„Woah, ganz ruhig.“ Der Mann, der nur T-Shirt und Boxershirt trug, wich zurück in Richtung Schlafzimmer, aus dem der gekommen war.

„Himmel, hast du mich erschreckt“, zischte Vivian. „Was zum Teufel machst du noch hier?“

„Ich habe auf dich gewartet?“

„Du warst den ganzen Tag hier und hast …“

„Ich war zwischendurch mal Zigaretten holen.“

„Wie bist du danach wieder reingekommen?“, fragte Vivian scharf.

Er wies mit dem Kopf auf den Korb auf der Kommode. „Du hast einen Ersatzschlüssel hier.“

„Du hast alle Schlüssel ausprobiert?“

Er zuckte mit den Schultern. „Sind ja nicht viele.“

„Hast du keinen Job, zu dem du musst?“

„Ich studier noch und …“

„Was? Wie alt bist du denn? Nein, stopp. Egal.“ Vivian presste beide Zeigefinger an die Schläfen. „Okay. Hör zur, ich hatte einen langen Tag und wäre sehr froh, wenn ich jetzt allein sein könnte …“ Sie ließ die Hände sinken und sah ihn an.

„Du weißt nicht mehr, wie ich heiße.“

„Doch, ich …“, sie warf einen Blick auf die Armbanduhr, die ihr Ben vor drei Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte, „aber ich möchte jetzt wirklich, dass du gehst.“

„Darf ich dich anrufen?“

„Ich ruf dich an.“

„Hast du denn meine Nummer noch?“

„Muss ich gucken.“ Sie wusste, dass sie gereizt klang, aber es tat ihr nicht leid. Allmählich ging ihr der Typ wirklich auf die Nerven.

„Kleine Erinnerungsstütze“, fuhr er fort. „Offensichtlich hattest du gestern doch mehr intus, als ich dachte. Wir haben gestern auf der Vernissage im Café Glück Nummern getauscht. Beziehungsweise du hast mir deine gegeben und ich hab dich sofort auf deinem Handy angerufen. Gegen halb zehn. Diese Nummer bin also ich.“ Er verschwand im Schlafzimmer. Vivian hörte etwas klackern, vermutlich die Schnalle eines Gürtels, und stöhnte leise.

„Hör zu“, sagte sie dann laut, „ich … ich habe einfach sehr viel um die Ohren gerade, im Beruf vor allem.“

Er erschien wieder im Türrahmen, jetzt in Jeans und Pulli, und sah sie abwartend an.

„Ich … ich vergesse gerade wirklich irgendwie alles und …“

„Schon okay“, sagte er, „kannst dich ja melden, wenn du willst. Wie gesagt: die Nummer von gestern, die dich um halb zehn angerufen hat. Kannst du abspeichern unter T. Wie Tobias.“

Vivian sah ihn stumm an.

„Oder auch nicht“, sagte Tobias, verschwand erneut und kam mit einem Paar Sneaker in der Hand zurück in den Flur. „Ich gehe dann jetzt. Und wünsche ein angenehmes Leben.“

Als Tobias weg war, löschte Vivian seine Nummer in ihrem Handy, band ihre verwuschelten Haare rasch zu einem Knoten im Nacken und versuchte, auch Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Sie war gestern nicht betrunken gewesen, sie trank unter der Woche grundsätzlich nicht. Und sie hatte auch nicht vergessen, wie der Mann hieß, mit dem sie die Nacht verbracht hatte. Aber so zu tun, als habe sie keine Erinnerung mehr, aus welchen Gründen auch immer, funktionierte am besten. Die meisten meldeten sich daraufhin nie mehr.

Der Kühlschrank war noch voll von ihrem Samstagseinkauf am Markt. Zwiebeln, Chilischoten, Süßkartoffeln, Zucchini. Grünkohl, der schon etwas ermattet aussah. Sie hatte Reis, Kokosmilch, Knoblauch, Ingwer, Curry-Paste, sie könnte eine Art Gemüse-Curry machen, den Rest einfrieren und später in der Woche noch einmal davon essen. Sie verharrte in der Hockstellung vor dem Kühlschrank, bis ihr die Knie schmerzten, dann nahm sie eine Zwiebel heraus, stand abrupt auf und legte sich Brett und Messer auf die Arbeitsfläche. Langsam und bedächtig begann sie zu arbeiten: Zwiebel häuten, halbieren, würfeln, Knoblauch, Ingwer und Chili klein schneiden. Als sie den Herd einschaltete und sich sofort der leichte Geruch von Gas in der Küche ausbreitete, klingelte ihr Handy auf dem Tisch. Vivian zog laut Luft ein. Dieser Tobias würde hoffentlich nicht die Ausnahme sein, die die Regel bestätigte. Als sie die Nummer sah, atmete sie auf. Sie legte das Messer ab und drehte den Herd aus.

„Papa?“

„Schätzchen, ich wollte nicht stören, habe nur zwei kurze Fragen.“

„Papa, du störst nie.“

„Was machst du?“

„Ich koche und werde dann essen und danach auf die Couch sinken, mich stundenlang nicht mehr erheben und auf ein mobiles Endgerät oder den Fernseher schauen.“

„Das klingt gemütlich und sehr passend für ein so scheußliches Wetter wie heute.“

„Sehe ich auch so. War das schon die erste Frage? Was ich mache?“

Er lachte. „Nein, Schätzchen. Ist unsere kleine Gabe gut bei dir angekommen?“

„Ihr habt mir wieder Geld überwiesen?“

„Nun ja. Nur ich eigentlich … also … deine Mutter …“

„Mama weiß es nicht.“

„Nein, nicht wirklich.“

„Papa, ihr sollt und müsst mir kein Geld überweisen, ich komme wirklich klar und ihr habt selber doch nicht … also … nicht sooo …“

„Ich weiß, ich weiß. Es war ja auch nicht viel, das mache ich jetzt vielleicht noch ein, zwei Monate und ab nächstem Jahr gibt es erst wieder zu Weihnachten Finanzspritzen von uns, okay?“

„Okay. Ich schaffe das wirklich, wirklich auch allein.“

„Ich weiß, aber ich wollte … ah, da kommt deine Mutter … Moment … ja, was meinst du, Karla?“

Vivian hörte die Stimme ihrer Mutter im Hintergrund, verstand aber nicht, was sie sagte.

„Mama lässt grüßen.“

„Das war alles? Klang nach mehr.“

„Nein, sie …“

„Sag ihr, ich komme ganz sicher bald wieder vorbei. Ich weiß, dass sie danach gefragt hat. Es ist nur einfach … es ist so viel zu tun zurzeit.“

„Ich weiß, Schätzchen. Ich will dich jetzt auch nicht mehr aufhalten.“

„Was war denn die zweite Frage?“

Einen Moment war es ruhig in der Leitung. Vivian wusste, dass er wartete, bis ihre Mutter den Raum wieder verlassen hatte. Und sie wusste, was er fragen würde, es war ein seit Jahren eingespieltes Ritual, das seit ihrer Trennung von Ben nur noch häufiger stattfand als davor.

„Wie geht es dir, Vivian?“

„Papa, mir geht es gut.“

„Beruflich und privat.“

„Ja.“

„Gut, Liebes, das wollte ich hören.“

„Wie geht es dir? Bei dem Wetter?“

„Die Hüfte mag den November nicht, aber ich komme zurecht. Deiner Mutter geht es …“

„Wie gesagt, ich komme sicher bald zu euch.“

„Wie es dir passt. Wir freuen uns. Jetzt koch weiter, Vivian, wir hören uns bald. Schönen Abend.“

„Dir auch, Papa. Euch auch.“

Kaum hatte Vivian aufgelegt, klingelte es erneut.

„Was ist heute los?“, zischte sie, als sie den Namen auf dem Display sah. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, und sie ärgerte sich darüber. Kurz überlegte sie, nicht ranzugehen, dann nahm sie das Telefon und sagte möglichst beiläufig: „Ja?“

„Hallo, Vivi. Stör ich?“

„Ich koche.“

„Ah, schön.“ Sie kannte ihn und wusste, dass er so entspannt war, wie er klang. Entspannt und freundlich, in sich ruhend. Glücklich. „Was gibt’s Leckeres?“

Sie sah auf Ingwer, Knoblauch, Chili. „Nur ne schnelle Nudel.“ Curry hatten sie zu oft gemeinsam gekocht. „Muss gleich noch mal los zu einer Verabredung“, log sie.

„Und sonst? Alles gut? Wie läuft es in der Schule?“

„Gut, sehr gut. Viel zu tun, wie immer, aber es macht mir immer noch Spaß.“

„Das ist doch schön.“

Ein paar Sekunden Schweigen, dann überwand sich Vivian. „Und bei dir?“

„Puh, ja. Deswegen rufe ich an.“

Vivian schwieg. Puh, ja? Wann immer Ben in ihren gemeinsamen neun Jahren „Puh“ gesagt hatte, war etwas passiert, was ihm nicht gefiel. Überhaupt nicht gefiel. Vielleicht waren er und Eva …? Tief in Vivian begann sich etwas zu regen, kroch langsam in ihr hoch. Sie versuchte es zu ignorieren, sah aus dem Fenster in den Hof, wo die Birke im Wind hin und her wogte.

Sie fixierte ihr Spiegelbild im Fenster und sah sich selbst in die Augen. Vivian Steiner, einunddreißig, Kunstlehrerin, seit knapp einem Jahr von ihrer großen Liebe getrennt, auf die sie sich, das war in der Therapie mehrmals zur Sprache gekommen, zu sehr fixiert und darüber eigene Interessen vergessen hatte. Sie war nicht sehr groß und ihre Beine waren ein wenig zu kurz und stämmig, aber wenn es auf ihr Äußeres kam, hielt Vivian es mit Romy Schneider, die über sich einmal gesagt hatte: „Meine Haxen sind eigentlich krumm, aber mit meiner Fresse reiß ich alles wieder raus.“

„Ich wollte es dir dieses Mal sagen, bevor du es von Dritten erfährst“, fuhr Ben jetzt fort und seufzte. „Das von damals tut mir immer noch leid.“

„Ach“, sagte Vivian. „Schnee von gestern.“ Wieder eine Lüge. Was Ben andeutete, hatte sich bei ihr eingebrannt und Narben hinterlassen. Wenige Wochen nach ihrer Trennung war er mit Eva nach Neuseeland aufgebrochen, zu einer Reise, von der Vivian immer geträumt hatte. Sie hatte es durch Zufall erfahren, durch ihre Mutter, die Bens Mutter bei einem Konzert getroffen hatte? Oder im Theater? Sie wusste es nicht mehr. Es war auch egal. Sie wusste jedenfalls, dass Ben und Eva monatelang eine Affäre gehabt hatten, bevor sie sich endlich entschlossen, es der arglosen, dämlichen Vivian zu sagen. Im Januar sollte die Beichte erfolgen. Und kurze Zeit später die Abreise nach Neuseeland. Doch so lange hatte Ben nicht durchgehalten. Am ersten Weihnachtsfeiertag war es aus ihm herausgeplatzt. Auf dem Flur im Haus ihrer Eltern. Vivian hatte die Worte gehört, die aus seinem Mund kamen, aber sie hatte sie nicht verstanden. Sie hatte auf seinen neuen Wollpullover gestarrt, den ihre Eltern ihm für den Skiurlaub in der kommenden Woche geschenkt hatten, und auf das Etikett, das noch am Halsausschnitt hing. Der Pullover war immer noch bei ihren Eltern. Der Ski-Urlaub fand nicht statt und für die Neuseelandreise war er nicht geeignet. Dort hatte es im Januar tagsüber im Durchschnitt fünfundzwanzig Grad.

„Vivi, wir …“

„Naja, zumindest eine Karte aus Neuseeland hättet ihr mir schreiben können …“

„Ich …“

„Alles gut, war nur ein Scherz.“ Sie zwang ihre Lippen zu einem Lächeln, weil sie hoffte, dass sich das positiv auf ihre Stimme niederschlagen würde. „Ist lange her und verjährt.“

„Okay.“ Sie hörte ihn tief Luft holen und wieder seufzen.

„Ben? Was ist passiert? Alles okay mit dir und Eva?“

Vivian wusste, dass in ihrer Frage die böse Hoffnung mitschwang, die sich gerade auch in ihrem Körper ausbreitete. Sie war fast froh, dass er nicht darauf einging.

„Ich … Also, ich wollte fragen, ob es in Ordnung wäre, wenn ich demnächst die beiden Schlitten aus dem Keller hole. Du hast mich ja ein paar Mal darum gebeten und jetzt … puh. Ja, ich wollte sie holen.“

„Muss nicht mehr unbedingt sein, Ben.“ Sie dachte an das vollgestopfte ehemalige Arbeitszimmer. „Ich habe in der Wohnung ja jetzt mehr Platz.“

Als er schwieg, runzelte sie die Stirn. „Ist das alles, Ben?“

Er lachte schnell. Es hörte sich nicht mehr entspannt an. „Nein, nicht ganz. Ist mir nur grad noch eingefallen.“

Die warme Hoffnung, die in ihr aufgestiegen war, verfestigte sich zu einem Klumpen und zog sich langsam zurück. Vivian legte ihre linke Hand flach an die Wand, als ob sie sich damit stützen könnte. Falls die kommenden Worte sie umhauen würden.

„Und dann wollte ich …“ Er lachte und klang zum ersten Mal in ihrem Gespräch nicht mehr ganz entspannt, „wollte ich dir sagen, dass ich … Also, dass wir, dass Eva und ich heiraten werden.“

Der Klumpen in ihr wurde zu einem Stück Eis. Vivian versuchte ihn hinunterzuschlucken und zu antworten, aber sie brachte kein Wort heraus.

„Eva meinte, ich solle es dir persönlich sagen. Bevor du … wie gesagt … es wieder von jemand anderem erfährst.“

Die tolle Eva. Immer sensibel und mitfühlend. Sie spürte, wie der Klumpen wieder hochschoss, kochend heiß dieses Mal, mit Wut und Hass im Schlepptau.

„Ist ja toll“, brachte sie unter Aufbietung aller Kräfte heraus. „Schön. Herzlichen Glückwunsch.“

„Danke, Vivi.“

Die Art, wie er die Kurzform ihres Namens aussprach. So vertraut. Und so vergiftet.

„Ich melde mich wegen der Schlitten“, sagte sie mit belegter Stimme. „Das Wasser kocht, Ben, ich muss, ich melde mich ganz bald.“

„Vivi, warte, und dann ist da …“

„Bis bald, Ben.“

Sie legte auf und hielt das Telefon mit angehaltenem Atem von sich weg. Doch er rief nicht wieder an. Nach einer Weile wandte sie sich der Arbeitsfläche zu. Sie nahm das Messer, ließ es jedoch sofort wieder sinken, als sie sah, dass ihre Hand zitterte.

Nein. Sie schüttelte den Kopf, schloss die Augen und atmete einige Male tief durch. Nein. Es war okay, dass sie jetzt kurz traurig und enttäuscht war. Geschockt. Aber nur kurz. Sie war schon so weit gekommen. Hatte so viel unternommen, um gegen die Hass- und Wutwellen anzukämpfen, und zuletzt waren sie so schwach und so selten gekommen, sie würde sich jetzt nicht zurückwerfen lassen, nur weil Ben die Schlitten holen wollte, um damit in Kürze mit seiner zukünftigen Gattin die Mini-Hügel im Englischen Garten hinunterzusausen. Oder irgendwo am Tegernsee. Nach dem Besuch der See-Sauna.

Sie öffnete die Augen wieder. Vermutlich hatte Eva ihm empfohlen, erst etwas Argloses wie die Schlitten zu erwähnen. Um erst einmal eine Gesprächsbasis zu haben. Die tolle Eva. Selbstlos und sooo empathisch.

Sie sah auf ihre Hand, die sich beruhigt hatte, und hackte lustlos ein wenig Knoblauch. Schließlich legte sie das Messer seufzend zur Seite und trommelte minutenlang mit den Fingern auf die Arbeitsfläche. Dann stieß sie sich ab, holte die letzten zwei Scheiben Toastbrot aus der Packung und steckte sie in den Toaster.

Als sie fertig gegessen hatte, rief sie Jonas an und sagte ihm, dass sie am Wochenende doch Zeit hätte. Er war überrascht, sagte aber gleich zu.

Gut gemacht, Vivian, dachte sie, als sie den Termin in ihren Wandkalender eintrug und mit einem Stift mehrfach umkreiste. Es war Zeit, nach vorne zu schauen und wieder ein Leben zu führen, in dem keine One-Night-Stands mehr vorkamen. Mit Studenten, die den ganzen Tag nur einmal kurz die Wohnung verließen, um Zigaretten zu holen. Oder, sie dachte mit Schaudern an den Oktober, mit Anwälten für Familienrecht, die bei jedem Treffen über die Exfrau schimpften. Oder, sie schüttelte sich leicht, mit Trainern aus dem Fitnessstudio, deren Bauchpartie so hart wie Granit war, denen aber im Bett so schnell die Puste ausging, dass sie danach, mit Panik in den Augen, in Vivians Küche stürmten, den Kühlschrank aufrissen und sich drei rohe Eier in den Mund kippten. Schuld an der sexuellen Misere sei nämlich nur die Tatsache gewesen, dass sie in der letzten Zeit zu wenig Eiweiß konsumiert hätten.

Vivian schaute auf den eingekreisten Termin und nickte erneut. Sie war wieder eine gute, zuverlässige Lehrerin. Sie kellnerte in ihrer Freizeit, um sich allein eine schöne Wohnung im teuren München leisten zu können. Sie war fleißig, sie trieb regelmäßig Sport und aß nicht jeden Tag nur Toast. Rauchte nicht und trank kaum. Also: sehr wenig. Zumindest nicht wirklich viel. Sie hatte ihr Leben im Griff. Zumindest, was das Berufliche und das Finanzielle betraf.

Und alles andere würde ebenfalls wieder ins Lot kommen. Zum Beispiel ihr Sozialleben. Sie würde ihre Freundinnen, die ihr nach der Trennung beigestanden hatten, wieder öfter sehen. Und sie würde sich mit netten, freundlichen, tollen Männern treffen. Treffen. Ohne Sex. Ohne peinliche Situationen am Morgen danach. Ohne irgendetwas. Also. Zumindest zunächst.

Sie würde den feinen, klugen Deutsch-Sport-Jonas treffen und sich gut mit ihm unterhalten. Dass sie ihn einmal geküsst hatte, spielte keine Rolle. Sie würden in eine Ausstellung und dann Kaffee trinken gehen und anschließend gepflegt parlieren.

Yep. Sie warf einen letzten Blick auf den Kalender und begann dann mit dem Aufräumen der Küche.

Kapitel 3

Sie waren drei eng miteinander befreundete Paare gewesen, die sich seit Uni-Tagen kannten und gemeinsam in die Zeit nach dem Studium gestartet waren. Mittlerweile fand das Rennen allerdings ohne die drei Paare statt. Vivian und Ben waren die Ersten, die ausgeschieden und auf der Strecke geblieben waren, lange vor dem Ziel.

„Das Ziel ist nicht, dass wir auf Teufel komm raus bis an unser Lebensende zusammenbleiben“, hatte Ben gesagt, als sie letztes Jahr am zweiten Weihnachtsfeiertag auf dem Flur von Vivians Eltern standen. An diesen Satz erinnerte sie sich noch gut. Sie erinnerte sich auch noch an ihren Vater, der schwungvoll um die Ecke gekommen war, um sie wieder ins warme Wohnzimmer zu holen, und ebenso energisch kehrtgemacht hatte, als Ben in diesem Augenblick gesagt hatte: „Und wir beide sind nicht glücklich, Vivi. Nicht so. Nicht zusammen.“

An die Fahrt nach Hause erinnerte sich Vivian dagegen nicht. Irgendwann waren sie wieder in ihrer eigenen Wohnung gewesen, wo Ben weiter auf sie eingeredet und sie erneut auf seinen Mund gestarrt hatte, dem Wort und Wort entkam.

Als die Dämmerung die Nacht verdrängte, war Ben gegangen.

Sie seien eben gerade nicht auf der Strecke geblieben, sagte er, als er plötzlich wieder vor Vivian stand. Sie wusste nicht, wie viele Stunden vergangen waren, seitdem er die Wohnung verlassen hatte, sie hatte sich in der Zeit nicht bewegt, war auf dem Sofa sitzen geblieben und hatte aus dem Fenster gestarrt, hinter dem zarte Flocken zur Erde rieselten. Zum ersten Mal seit vielen Jahren schneite es an den Weihnachtsfeiertagen.

Sie seien nicht auf der Strecke geblieben, wiederholte Ben, im Gegenteil. Sie seien vielmehr vom Weg abgekommen, um nicht auf der Strecke zu bleiben. Vom Weg, der eine Einbahnstraße war und sie definitiv nicht glücklich machte. „Und ich habe eine Chance bekommen, wieder glücklich zu werden. Und du wirst sie auch bekommen, Vivi.“

Dann hatte er ein paar Sachen gepackt und war erneut verschwunden. Wahrscheinlich hatte er noch viel mehr gesagt oder sagen wollen, aber Vivian konnte sich nicht mehr an Details erinnern. Auch nicht an die Wochen nach der Trennung.

Kurze Zeit nach ihrer Trennung hatten sich, als hätten Ben und sie eine ansteckende Krankheit, ihre Freunde Marie und Tom getrennt, nur wenig später Lilli und Florian. Nur Lilli und Ben waren inzwischen wieder liiert. Marie und Tom arbeiteten viel und reisten allein oder mit wechselnden Bekanntschaften munter durch die Weltgeschichte, Florian war nach einer gescheiterten Blitzehe mit einer Internetbekanntschaft, die er kurz nach der Trennung von Lilli kennengelernt hatte, überzeugter Single und trainierte in seiner Freizeit Marathon. Eine Strecke, die man besser einkalkulieren konnte als die als Paar.

Nachdem Ben aus ihrem Leben verschwunden war, hatte Vivian versucht zu funktionieren, hatte sich wie ein Roboter von Anforderung zu Anforderung manövriert. Morgens aufzustehen, nach einer von schlechten Träumen und ewigen Gedankenspiralen zerstückelten Nacht, war dabei das Schwierigste gewesen. Viel schwieriger jedenfalls als der Unterricht, den sie ihrer Meinung nach eigentlich ganz passabel über die Bühne brachte, bis der Direktor höchstpersönlich sie zur Seite nahm und ihr mitteilte, dass ihm Beschwerden über sie zu Ohren gekommen waren. Von Schülern und deren Eltern. Dann die Krankschreibung. Die vielen Wochen zu Hause, in denen sie planlos durch die Tage waberte, schließlich eine Therapie und die Ratschläge von Frau Dr. Franke, die sie mit dem Eifer der Verzweiflung umzusetzen versuchte. Tun Sie sich was Gutes, hatte Dr. Franke oft gesagt, gönnen Sie sich was. Damit hatte sie Kultur und Sport und Sauna gemeint. Ein neues Hobby. Vivian war öfter in die Sauna gegangen, hatte phasenweise exzessiv Sport gemacht, war gerannt, bis ihr vor Erschöpfung und Trauer die Tränen über die Wangen liefen. Sie war mit Lilly in Paris gewesen, ein Wochenende, an dem sie vor Kummer kaum aufstehen konnte und von dem ihr die Decke des Hotelzimmers besser in Erinnerung geblieben war als der Anblick des Eiffelturms oder die Aussicht über die Dächer der Stadt der Liebe. Aber sie hatte es versucht, sie hatte wirklich versucht, Dr. Frankes Ratschläge zu beherzigen, und irgendwann festgestellt, dass es ihr ein wenig besser ging. Nach drei Monaten hatte sie beim Aufstehen nicht mehr das Gefühl gehabt, neben ihrem Körper auch noch ein tonnenschweres zusätzliches Gewicht aus dem Bett zu stemmen. Sie konnte abends wieder ins Bett gehen, ohne Angst haben zu müssen, dass ein schwarzer Strudel aus Gedanken sie bis zur Dämmerung am Schlafen hinderte.

Dann hatte sie erfahren, dass Ben und Eva zusammengezogen waren. Der Rückschlag ließ nicht lange auf sich warten, auch wenn sie weiterhin Sport trieb und in die Sauna ging und gemeinsam etwas mit Freundinnen unternahm. Sie fühlte sich einsam. Getroffen und wund. Die Wohnungseinweihungsparty von Lilly und Alex, kurze Zeit nach den Hochzeits-News, hatte sie nicht allein verlassen, und am nächsten Morgen war sie nicht allein aufgewacht. Die kalte Ernüchterung, die sich nach dieser Nacht eingestellte hatte, mit einem Mann, den sie nicht liebte, war nichts, was sie sich weiterhin gönnen wollte. Aber es war weiterhin passiert. Passierte immer noch.

Aber jetzt würde sich alles ändern. Dass Eva und Ben jetzt heirateten, hatte sie kurz ins Schwanken gebracht, jedoch nicht umgeworfen. Ihr aber klargemacht, dass sie genug getrauert und verarbeitet und genug Übersprungshandlungen ausgeführt hatte. Es war Zeit für einen Neubeginn, einen richtigen Neubeginn, ohne Wenn und Aber, ohne die leise Hoffnung, dass das mit Ben und Eva bald in die Brüche gehen würde. Was ohnehin schon ein Fortschritt war im Vergleich zu Vivians früherer Hoffnung, dass es klingeln, Ben vor der Tür und sie auf Knien anflehen würde, ihn wieder zurückzunehmen, weil er erkannt habe, dass sie und nur sie allein die Liebe seines Lebens sei. Ab jetzt wäre Schluss mit One-Night-Stands, die für einen Moment Nähe versprachen und dann nichts als schale Leere hinterließen. Sie würde die Wohnung und ihr Leben endgültig umgestalten und nicht mehr zurücksehen. Sie würde sich verabreden mit Männern wie Jonas. Klugen, freundlichen, selbstbewussten Männern, ohne mit ihnen gleich ins Bett zu gehen.

Vivian hielt das Glas gegen das Licht, kniff die Augen zusammen und befand es für sauber. Sie stellte es zurück in das kleine Wandregal über dem Tresen und sah dann durch den Raum. Alle waren versorgt, keiner suchte den Blickkontakt mit ihr. Es war warm und gemütlich im Café Glück, einer geschützten Oase, in der die Gäste ihre Hände um dampfende Kaffee- und Teetassen schlossen, während draußen der Wind die Hausfassaden entlangpfiff.

Vivian arbeitete seit einigen Monaten jeden Samstag von zehn bis sechzehn Uhr hier. Sie und Ben waren Stammgäste im Café Glück gewesen. Bis zur Trennung. Dann war Vivian von einem Tag auf den anderen nicht mehr hierhergekommen, zum einen, weil es sie schmerzhaft an glückliche Tage mit Ben erinnerte, zum anderen, weil sie Angst davor hatte, ihm und Eva zu begegnen. Nach einem halben Jahr hatte Michi, der Besitzer des Cafés, bei ihr angerufen. Er hätte ihre Handynummer von Lilly und vermisse sie und Ben, meinte Michi, und er frage sich, ob der Kaffee oder das Essen im Café Glück so schlecht geworden sei, dass sie nicht mehr kämen. Vivian hatte lachen müssen und war gerührt gewesen, dass er sich meldete. Sie erzählte ihm alles. Das Gespräch endete mit ihrem Versprechen, bald wieder im Café Glück zu erscheinen und ein riesiges Stück Kuchen zu verdrücken, und seinem Angebot, dass er helfe, wo immer er könne.

Später hatte sich Vivian wieder an Michis Worte erinnert. Es war der Tag gewesen, an dem ihr klar geworden war, dass sich ihre Wohnsituation ändern musste. Die Dreizimmerwohnung, in der sie mit Ben gelebt hatte, war zu groß und viel zu teuer für sie allein und natürlich eine konstante Erinnerung an die gemeinsame Zeit. Andererseits hing Vivian an ihrem Zuhause, der Nähe zum Fluss, zum Wochenmarkt am Mariahilfplatz, zur Schule. Außerdem verursachte die Aussicht, sich auf dem angespannten Münchner Mietmarkt auf Suche zu begeben, bei ihr Panikgefühle. Sie besprach sich mit Dr. Franke und kam zu dem Schluss, das ehemalige Arbeitszimmer von ihr und Ben unterzuvermieten. Dann hätte sie regelmäßig Gesellschaft und wäre gezwungen, den Raum leerzuräumen, der mittlerweile zur Abstellkammer verkommen war. Doch schon bei der Formulierung der Anzeige kamen ihr Zweifel. Die Vorstellung, abends mit einer fremden Person zusammen zu kochen und mit ihr das Bad zu teilen, verursachte ihr mehr Unbehagen als Freude und so verwarf sie den Plan wieder. Und kümmerte sich weiter nicht um das ehemalige Arbeitszimmer, in das sie alles packte, was sie zu sehr an das Leben mit Ben erinnerte. In das sie all die Gegenstände steckte, mit denen sie die Wohnung eigentlich umdekorieren wollte. In dem Zimmer vermischten sich nun Gegenstände aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, bildeten große Stapel und Haufen und waren so nah an die Tür herangewachsen, dass diese sich kaum mehr öffnen ließ. Irgendwann würde sie die Sache angehen. Irgendwann. Erst einmal musste sie sich einen Nebenjob suchen, wenn sie in der Wohnung bleiben, ihr Auto behalten und sich auch mal wieder einen größeren Urlaub leisten wollte. Ein guter Teil ihres Gehalts ging für die Miete drauf und solange sie nicht verbeamtet war, würde das auch so bleiben.

Als sie an das Gespräch mit Michi dachte, ging sie am selben Nachmittag ins Café Glück, aß ein riesiges Stück Schokoladenkuchen, trank einen großen Cappuccino und machte sich zwei Stunden später wieder auf den Heimweg. Mit vollem Bauch und einen Nebenjob als Kellnerin. Das hatte sich als Glücksfall entpuppt. Die Tätigkeit erforderte Schnelligkeit und Aufmerksamkeit, aber sie überforderte sie nicht, sie hatte viel gekellnert während ihres Studiums. Sie kam unter Menschen, konnte aber unverbindlich mit ihnen umgehen, was ihr vollkommen reichte. Sie durfte exzellenten, frisch gemahlenen Kaffee und übrig gebliebenen selbst gebackenen Kuchen mit nach Hause nehmen und natürlich nach ihren Schichten jedes der leckeren Gerichte von der Mittagskarte verspeisen, das es noch gab. Sie verdiente das notwendige Geld. Wie lange sie diesen Job noch machen wollte, wusste Vivian nicht. Zu sagen, dass es zeitlich eine Herausforderung wäre, wäre gelogen, sie bekam beides, Kunstlehrerin und Kellnerin, gut unter einen Hut, ja, sie war geradezu erstaunt darüber, wie viel mehr Zeit sie als Single hatte.

Ein kalter Luftzug verriet ihr, dass ein neuer Gast eingetroffen war. Vivian nickte dem Mann zu, der eben das Café betreten hatte und sich an den letzten freien Tisch setzte, den „Tulpen-Tisch“, wie Vivian ihn nannte, weil hinter ihm das Bild einer riesigen gemalten Tulpe hing. Saß ein Gast ungünstig, sah es aus, als würde ihm eine Blume aus dem Kopf wachsen.

Vivian lächelte. Heute sah es wieder besonders lustig aus. Sie mochte die naiv gemalten Pflanzenbilder der Hobbykünstlerin nicht besonders, die regelmäßig hier im Café Glück ihren Tee trank und Michi wohl irgendwie von einer Ausstellung ihrer Werke hatte überzeugen können.

„Wie findest du die Kunstwerke eigentlich?“, hatte er Vivian am Tag vor der Vernissage gefragt, und sie war rot geworden und hatte zu stottern begonnen.

Michi hatte gelacht und ihr auf die Schulter geklopft. „Keine Sorge, sind nur knapp drei Wochen, dann sind sie wieder weg. Dann könnten wir“, er senkte die Stimme etwas, „dann könnten wir ja vielleicht Fotos von dir ausstellen. Lilly hat mir erzählt, dass du davon ein ganzes Arsenal zu Hause hast.“

Vivian hatte während seiner Worte die Stirn gerunzelt und die Arme vor der Brust verschränkt.

„Also …“ Michi sah sie verunsichert an. „War natürlich nur so eine Idee.“ Er zog das Geschirrtuch von der Schulter. „Dachte nur, du fotografierst wie eine Wahnsinnige.“

Vivian löste ihre Arme und begann die Salz- und Pfefferstreuer neu zu ordnen. „Nein. Ich fotografiere nicht mehr wahnsinnig. Eigentlich fotografiere ich gar nicht mehr.“

„Das könntest wieder.“

„Könnte, hätte, Fahrradkette. Ich könnte so vieles, Michi.“

Kapitel 4

Jonas Berger war überrascht, dass es sofort nach dem ersten Läuten surrte, und drückte reflexhaft die Tür auf. Er ging ein paar Schritte in den Flur und blieb für einen Moment vor den Briefkästen stehen, schaute auf das Namensschild „Steiner“ und überlegte, hier unten zu warten. Doch als sich der Türöffner noch einmal energisch meldete, begann er die Treppe hinaufzusteigen. Ihn fröstelte. Auf halbem Weg zu Vivians Haus hatte es zu regnen begonnen, seine Haare und sein Gesicht waren feucht und sein Anorak glänzte vor Nässe. Er fuhr sich mit den Handinnenflächen über Augen und Wangen und durch die dunklen Locken.

Die Tür im zweiten Stock war nur angelehnt. Jonas hob die Hand, um zu klopfen, aber Vivians Stimme kam ihm zuvor.

„Einfach reinkommen! Ich bin gleich so weit.“

In dem schwach erleuchteten Flur roch es leicht nach dem Parfüm, das sie auch auf Lillys Party getragen hatte. An dem Abend, als sie sich geküsst hatten. Jonas atmete tief ein und aus und trat lautlos von einem Bein auf das andere, ihm war kalt.

Eine Tür am Ende des Flurs öffnete sich einen Spalt und entließ einen Strahl helleren Lichts.

„Bin sofort da.“ Der Duft ihres Parfüms wurde stärker. „Du bist ja superpünktlich. Um nicht zu sagen: zu früh.“

„Es schüttet und ist saukalt. Das hat mein Tempo beschleunigt.“

„Oje.“ Die Tür schloss sich wieder, Licht und Duft wurden im selben Moment schwächer, ihre Stimme dumpfer. „Wir können uns gleich im Café aufwärmen. Oder … oder willst du hier schnell deine Sachen trocknen und einen Tee … also, nur deinen Anorak trocknen, meine ich … Also, nicht dass du wieder denkst, ich will dich …“

„Ich zieh mich eben aus, gute Idee. Kann ich meine Jeans und meinen Pulli über die Heizung legen irgendwo? Und diese auch einschalten? Ist ja relativ frisch hier bei dir. Sparst du an den Heizkosten?“

Aus dem Bad drang kein Laut.

„Vivian?“

„Bleib lieber angezogen“, drang es durch die Tür.

„Sicher?“

Er hörte sie lachen. „Ganz sicher. Und ich versuche tatsächlich, an den Nebenkosten zu sparen, also lass die Finger von meinen Heizkörpern!“

Jonas grinste. Er trat näher an das Schwarzweißfoto, das in einem schlichten Rahmen an der Wand gegenüber der Eintrittstür hing.

Ein Mädchen, er schätzte es auf acht oder neun Jahre, lief im Badeanzug auf das Meer zu, das glitzernd vor ihm lag. Im Laufen wandte es sich um, streckte die Hand in Richtung des Betrachters, als wollte es sagen: Komm mit mir! Der Wind pustete Haare in das kleine sommersprossige Gesicht, die Füße des Mädchens hatten Abdrücke im Strand hinterlassen. Das Bild strahlte Sommer, Wärme und Unbeschwertheit aus.

Im Bad ging die Toilettenspülung. Jonas wandte sich langsam um und betrachtete das Foto neben der Eingangstür.

Es war farbig und dennoch trist. Zwei grüne Container, vermutlich aus der Hocke fotografiert, aus denen allerlei Sperrmüll ragte, Tisch- und Stuhlbeine, Antennen, Elektrogeräte. Darüber der Himmel, grau und mit verzerrten, abweisenden Wolken. Beide Container waren voller Graffiti. Alles ist möglich. ACAB. Kampf der Wegwerfgesellschaft. Neben dem rechten Container stand ein schlichter Holzstuhl, dessen Sitzfläche durchgebrochen war.

„Die Container standen nach dem letzten Isar-Hochwasser hier im Hinterhof.“ Vivian war unbemerkt neben ihn getreten. „Unsere Keller waren überschwemmt und viele darin gelagerte Sachen einfach hinüber.“

Er sog unmerklich ihren Duft ein. „Hast du das gemacht?“

„Ja.“

„Und das am Meer?“

Sie folgte seinem Blick. „Das bin ich. Hat mein Vater aufgenommen.“

Jonas nickte anerkennend. „Ein Polizist, der fotografiert.“

Vivians Lider flackerten kaum merklich. „Hobby, wie viele andere auch.“ Sie griff nach dem Schirm auf der Kommode. „Wollen wir gehen?“

Jonas süßte seinen Espresso, indem er den Löffel über der Tasse ein paarmal vorsichtig zur Seite kippte und den Zucker sachte und portionsweise in die Tasse rieseln ließ. Danach rührte er lange und bedächtig um.

Vivians beobachtete seine Handgriffe und dachte an Bens Bewegungen, die deutlich abgehackter gewesen waren: Löffel in den Zucker rammen, Zucker in den Kaffee kippen, lautstark umrühren.

Jonas war da viel liebevoller, behandelte die Gegenstände fast andächtig. Ob er den Löffel jetzt auch noch zärtlich ablecken würde, bevor er ihn auf den Rand seines Untertellers bettete?

„Warum lachst du?“, fragte er.

„Habe nur gerade an etwas gedacht.“ Vivian griff rasch nach dem warmen Glas und nahm einen Schluck von ihrem Latte.

„Du beobachtest mich wie ein Geier und lachst dann.“ Jonas seufzte. „Das gibt mir richtig viel Selbstvertrauen.“

„Davon hast du doch genug.“

„Ist das eine Berufskrankheit?“

„Was?“

„Das genaue Beobachten.“

„Hm. Meine Schüler habe ich schon immer gut im Blick und …“

„Das meine ich nicht. Ich meine, es ist eine Berufskrankheit von Fotografen, dieses Aufspüren von Details, oder?“

„Ich bin Kunstlehrerin, keine Fotografin.“

„Bei Lilly und Alex hängen Bilder von dir in der Wohnung.“

„Nun ja.“

„Und Lilly meinte, du würdest fabelhafte Bilder schießen.“

Vivian nahm sich vor, mit ihrer Freundin bald ein ernstes Wort zu reden. Lilly erzählte zurzeit zu vielen von ihrer, Vivians angeblich herausragender Begabung.

„Du wolltest ursprünglich Fotografin werden, meinte Lilly.“

„Das ist ewig her, ich …“

„Ich sage das nur, weil ich ursprünglich Schriftsteller werden wollte und dann … Tja, jetzt bin ich Deutschlehrer.“

„Bist du damit nicht zufrieden?“

„Doch. Nicht immer, aber meistens. Aber der Plan, der Traum war ursprünglich ein anderer. Aber so …“

„So ist das ja oft“, unterbrach ihn Vivian. „Beruflich wie privat.“

„Das stimmt, aber …“

„Wie lange genau bist du schon getrennt?“, fragte Vivian schnell und hoffte, die Themen dauerhaft auf anders Terrain ziehen zu können. Sie wollte nicht über geplatzte berufliche Träume und vertane Möglichkeiten sprechen. Dann lieber über gescheiterte Beziehungen.

Sie waren in einer Ausstellung über die Bildagentur Ostkreuz gewesen, die sich nach einem Berliner Bahnhof benannt hatte, dessen Form an eine Windrose erinnerte.

„Die meisten Fotografen waren in der DDR große Stars gewesen“, hatte Vivian erklärt. „Als sie die Agentur 1991 gründeten, wollten sie für ihre Arbeit in alle Himmelsrichtungen aufbrechen. Und ein Kreuz ist ein Punkt, von dem …“

„Von dem man gut in alle Richtungen aufbrechen kann“, vervollständigte Jonas den Satz und blieb vor einem Bild stehen, das drei verschmitzt lächelnde, ältere Damen im Prenzlauer Berg zu DDR-Zeiten zeigte. „Gut erwischt, und über ihnen mit krakeliger Schrift der Name Mandy. Tolles Bild.“

Jetzt saß er vor Vivian, sah kurz an ihr vorbei durch das Fenster auf den St.-Anna-Platz, über den nur vereinzelt Menschen durch den Regen eilten. Mit einer Hand knetete er eine Serviette. Es wirkte nicht nervös, sondern erneut, Vivian verbiss sich ein Lächeln, ziemlich liebevoll.

Seine grünen Augen reflektierten das Grau des Tages, als sie sich wieder auf Vivian richteten.

„Seit Juli.“

„Wirklich? So kurz erst?“

„Ja, wieso?“

„Du bist so … so … entspannt. Ihr wart doch auch ewig zusammen.“

„Mir geht es allein viel besser. Meine Freundin ist monatelang zweigleisig gefahren und hat sich aus zwei Welten das Beste genommen. Für die finanzielle Sicherheit den Beamten, für den fantastischen Sex den Yogalehrer.“

„Oops.“

„Ziemliches Klischee, ja. Aber sie ist damit glücklich und das freut mich für sie.“

Vivian hob ihr Glas und hielt es ihm entgegen: „Auf uns. Auf die Betrogenen und Verlassenen.“

„Ich bin nicht verlassen worden.“

Vivian öffnete den Mund und schloss ihn wieder.

„Ich habe sie verlassen“, fuhr Jonas fort. „Sie wollte einen Neustart, alles wieder gut machen, hat Stein und Bein geschworen, dass ab jetzt alles ganz anders wird, dass die Geschichte mit dem anderen nicht wichtig war. Aber nach so etwas kann es nicht mehr gut werden.“

Vivian ließ ihren Arm wieder sinken. „Immerhin warst du es, der verlassen hat.“

„Spielt das eine Rolle für dich?“

Vivian zuckte mit den Schultern. „Ach, irgendwie schon. Dann ist einem das alles nicht nur widerfahren. Dann hatte man auch einen aktiven Part. Ist nicht nur ein Statist, während der andere Regie führt. Entscheidet, wann er lügt, wie oft und wo er betrügt, dann beschließt, dass es aus und die andere besser ist, und alles einfach beendet …“ Sie holte tief Luft. „Entschuldige. Kein so erfreuliches Thema.“

Jonas hatte die Serviette zu Seite geschoben, seinen Blick auf den Tisch gerichtet und schwieg einige Sekunden. Dann sah er sie an. „Dir geht es noch nicht richtig gut, oder?“

„Nein.“ Die Antwort war so schnell gekommen, dass Vivian verblüfft innehielt. Sie nahm einen Schluck Kaffee und räusperte sich. „Es geht schon besser, aber …“

„Weißt du, was mir in der Zeit danach geholfen hat?“

Vivian lehnte sich zurück. „Kontaktsperre zu deiner Ex, Gegenstände, die dich an sie erinnern, in den Keller packen, Wut in Sport umsetzen, Aktivitätenplan für die Wochenenden, Feiertage und Ferien erstellen, aber nicht in ungebremsten Aktionismus verfallen, sondern sich auch Ruhezeiten verordnen, das Angebot des Expartners, Freunde zu bleiben, ausschlagen?“

„Oh, wow. Ähm … nein, ich habe wieder begonnen, regelmäßig zu schreiben.“

Vivian schlug sich mit der Hand an die Stirn. „Stimmt, das wiederaufgenommene Hobby, das man während der Beziehung vernachlässigt hatte. Oder das neue Hobby. Hatte ich vergessen.“

„Du bist zynisch.“

„Nein.“ Vivian umfasste mit beiden Händen das Glas, das mittlerweile erkaltet war. „Nein, nein. Entschuldige. Also, du schreibst wieder regelmäßig. Und was?“

„Erst waren es Briefe, wütende Briefe an … an meine Ex, die ich …“

„Die du natürlich nicht abgeschickt hast. Soll man nicht, auch eine goldene Regel.“ Sie senkte den Blick. „Sorry.“

„Dann wurden es längere Texte und inzwischen arbeite ich an einem Roman. Es ist Wahnsinn, wie viel mehr Zeit man als Single hat.“

Vivian nickte. „Das habe ich auch gemerkt, ja.“

„Und womit füllst du sie?“

„Dass ich samstags in einem Café kellnere, hat dir Lilly vermutlich auch erzählt.“

„Hat sie.“

„Sprecht ihr auch noch über anderes als mich?“

„Nur wenn es sich nicht vermeiden lässt.“

„Was ich sonst noch so mache? Naja, gerade treffe ich dich.“

„Was mich sehr freut.“

„Vielleicht treffen wir uns ja bald wieder.“

„Nur wenn es sich nicht vermeiden lässt.“

„Gut, freut mich.“

„Und du solltest wieder fotografieren, Vivian. Oder wir machen ein Projekt zusammen: Du lässt deine Schüler fotografieren und meine steuern Texte bei oder irgendwas. Aber mach was aus deinem Talent.“

„Du hörst …“

„Ich höre mich an wie ein Motivationscoach, ich weiß. Aber deine Bilder sind toll.“

„Jonas, das ist ganz nett, aber …“

Du bist toll, Vivian.“

Ihre Augen richteten sich ruckartig auf seine, die ihren irritierten Blick auffingen und gelassen erwiderten. In der plötzlichen Sorge, seine Finger könnten zu ihren wandern, zog Vivian beide Hände unter die Tischplatte. Sie schaute von ihm weg und zu dem jungen Mann hinter der Theke, der gerade die Petit Fours in der Auslage geraderückte. Als er hochsah, formte sie mit dem Mund lautlos das Wort „Zahlen“.

„Vivian, ich wollte nicht …“

„Es ist schon gut. Aber für mich ist das alles noch zu früh.“

„Vivian, ich habe dir nur gesagt, dass du toll bist. Weil es so ist. Ich wollte es einfach sagen, nichts weiter. Ich habe dir keinen Heiratsantrag gemacht.“

Sie spürte, wie ihre Lippen sich erst fest aufeinander pressten und dann leicht zu zittern begannen. Und nicht damit aufhörten. Das warme Grün von Jonas’ Augen, sein blau-weiß gestreifter Pullover, die Menschen an den anderen Tischen, alles verschwamm zu einem farbigen Brei.

„Vivian“, hörte sie ihn leise fragen, „Vivian, warum weinst du?“

Sie schloss die Tür ab und lehnte sich mit dem Rücken dagegen, lauschte in das Dunkel ihrer Wohnung. Wie konnte es sein, dass es hier kälter war als im Freien, kälter als im Regen, der so unerbittlich geworden war, dass sie auf dem Rückweg an einer überdachten Haltestelle Unterschlupf gesucht hatten. Sechs Busse hatten gehalten und waren wieder losgefahren, als Vivian und Jonas schließlich weiterzogen. Sie hatten nicht mehr viel gesprochen, weder im Café noch im Bushäuschen noch vor ihrer Haustür, wo sie ihn mit einer flüchtigen Umarmung verabschiedet hatte. Trotzdem hatte ihr seine Anwesenheit gut getan, die beiläufige Art, wie er ihr in den Mantel half, sie sanft am Rücken berührte, als sie vor ihm das Café verließ, die wenigen Blicke, die er ihr zuwarf, und wenigen Worte, die er sagte.

Mit einem Ruck stieß sich Vivian schließlich von der Tür ab, warf einen raschen Blick auf ihr sehr junges Selbst, das ihr mit unverminderter Fröhlichkeit entgegenschaute, und steuerte das ehemalige Arbeitszimmer an.

Kapitel 5

Es war, als habe sich der November zu einer Typberatung durchgerungen und beschlossen, noch einmal das Beste aus sich herauszuholen. Es war kühl, aber regnete nicht, der Wind hatte sich gelegt. Mit all ihrer spätherbstlichen Kraft beleuchtete die Sonne den kümmerlichen Rest bunter Blätter an den Bäumen, färbte das graue, reißende Wasser der Isar einen Ton wärmer und verpasste den schlammigen Grünflächen ein wenig Glanz.

Vivian war vor allem froh, dass es nicht mehr schüttete wie aus Kübeln. Ein wolkenverhangener Himmel wäre nicht schlimm gewesen, hätte sogar zu den Motiven gepasst, aber Dauerregen war ein echtes Problem.

„Tropfen auf der Linse, Kamera muss dauernd geschützt werden, macht keinen Spaß.“ Sie schraubte das Standardobjektiv ab und überlegte kurz. „Bitte das Weitwinkel.“

„Ähm …“

„Das zweite von rechts.“ Sie verkniff sich ein Lächeln. „Soll ich die Objektive nicht doch selber …?“

„Nein, alles gut. Besser als gut. Meine Potenz steigt minütlich.“ Er straffte die Schultern. „Ein Gürtel mit fünf Objektivtaschen – es kommt mir vor, als hätte ich vorne fünf … fünf … Prachtstücke an mir baumeln.“

„Sechs.“

„Sechs?“

„Vergiss das Original nicht.“

„Stimmt. Wie konnte ich.“ Er ächzte leise. „Hilfe, wir reden wie unsere Schüler. Pubertistisch. Hormonell aufgeladen. Wann sind wir so geworden, Vivian?“

„Meine Schüler haben die Pubertät schon lange hinter sich. Mit sechzehn. Sie sind abgeklärt, richtig abgeklärt. Auf beängstigende Weise. Heute hat mich ein Schüler gefragt, ob wir nicht einmal einen Vortrag über Kunst besuchen können. Um das im Unterricht Besprochene zu vertiefen.“

„Naja, das ist …“

„Allein! Also zu zweit. Nur er und ich.“

Jonas seufzte. „Okay. Das ist in mehrerer Hinsicht verstörend. Jetzt bekomme ich auch noch Konkurrenz von ganz jungen Typen.“

„Das zweite Objektiv von rechts, jetzt aber sofort, Herr Berger! Wir müssen auch mal arbeiten.“

„Jawoll, bitte sehr.“ Ihre Finger berührten sich leicht bei der Übergabe. „Was kommt als Nächstes? Wertstoffhof? Heruntergekommener Hinterhof?“

„Gefallen dir meine Motive nicht?“

„Doch. Ich habe einen Riesenspaß.“ Er bewegte die Hüften nach rechts und links, sodass die Objektivtaschen sanft hin und her schwangen.

„Wir gehen auch gleich Kaffee trinken.“

Jonas hielt inne und kam auf sie zu. Vivian wich nicht zurück, als sie seine Hand auf ihrem Rücken spürte, aber sie richtete sich kerzengerade aus, um zumindest einen Millimeter zwischen sich und seine Fingerspitzen zu bringen.

„Vivian, ich habe Riesenspaß“, flüsterte er in ihr Ohr.

Als Vivian ihren Kopf drehte, legten sich seine Lippen auf ihre und blieben dort, bis das Handy in ihrer Manteltasche läutete.

„Da möchte ich rangehen“, sagte sie leise und trat einen Schritt zur Seite. „Mein Vater. Ja? Papa?“

„Was machst du, Vivian?“

„Ich bin unterwegs.“

„Warum und mit wen?“

Sie lachte. Er wusste, dass er mit seiner Unverblümtheit entwaffnend war, und nutzte es gnadenlos aus.

„Ich bin fotografieren. Mit Jonas.“

„Wer ist Jonas?“

„Mein Kollege.“

„Nett?“

„Papa.“

„Oh. Gleich so nett.“

Vivian dreht sich etwas weg von Jonas. „Schieß los, Papa.“

„Wir haben die Rahmen gefunden, Vivian. Im Keller. Sie sind verstaubt, aber prima in Schuss.“

„Sehr gut, ich dachte, sie wären bei mir im Arbeitszimmer, aber ich habe sie anscheinend mal zu euch gebracht.“

„Willst du sie holen oder sollen wir mal bei dir …?“

„Ich hole sie demnächst bei euch ab. Vielen Dank, Papa.“

„Deine Mutter wollte noch wissen, wofür du sie brauchst.“

Vivian rollte mit den Augen und wandte Jonas den Rücken zu. „Für ein Projekt. Sag ihr, sie muss sich keine Sorgen machen, ich bin nach wie vor auf dem direkten Weg ins Beamtentum.“

„Vivi-Schatz, sie wollte doch nur …“

„Ich melde mich, bevor ich sie abhole.“ Sie legte auf und verstaute das Telefon tief unten in ihrer Tasche.

„Was war das denn?“

Sie wandte sich langsam um. „Was meinst du?“

„Auf dem direkten Weg ins Beamtentum?“ Jonas lachte. „Hat deine Mutter Angst, dass du irgendwie auf der Strecke bleibst?“

Auf der Strecke bleiben. Da war es wieder. Vivian seufzte. „Hatte sie früher, als ich noch glaubte, ich wäre die Größte und die Welt hätte auf meine Kunst gewartet. Hat sie an eine unschöne Zeit in ihrem Leben erinnert.“

„Okay. Möchtest du …?“

„Gehen wir weiter?“

„Klar. Was kommt als Nächstes?“

„Ich dachte tatsächlich an den Wertstoffhof. Einverstanden?“

„Einverstanden. Meine sechs Prachtstücke und ich folgen dir willenlos, aber aufgeräumt.“

Kapitel 6

Der Wind war zurückgekehrt. Er schob unablässig Wolkenfetzen vor sich her, hinter denen sich ein fahlgrauer Himmel verbarg. Im Laufe des Tages sollte er orkanartig werden, was bereits für letzte Woche vorausgesagt worden, aber nicht eingetreten war.

Als sie den Königsplatz erreicht hatten, begann es zu regnen, doch der Laune ihrer Schüler tat das keinen Abbruch. Sie waren für jede Unterbrechung des regulären Unterrichts dankbar, und wenn es nur die zehn Minuten Fußweg vom Charlotten-Gymnasium zur Glyptothek waren.

Vivian zählte sie regelmäßig durch, um sicherzugehen, dass sich keiner davonmachte, denn das war ihr während des Ausflugs in das Haus der Kunst vor wenigen Wochen passiert. Ansonsten griff sie nicht ein, mahnte die auf ihre Handys starrenden oder in lautstarke Gespräche vertieften Teenager nicht zur Vorsicht oder Ruhe und hinderte Lotte und Max nicht am Austausch von Zärtlichkeiten. Sollten sie sich jetzt doch alle an der frischen Luft austoben. Sobald die Führung begann, würden sie von einer Sekunde auf die nächste ins Wachkoma fallen und erst wieder daraus erwachen, wenn die Aussicht bestand, im Museumscafé einzukehren.

„Ich bin schon sehr gespannt“, sagte jemand neben ihr.

Okay, dachte Vivian, es muss sie ja geben. Die Ausnahme, die die Regel bestätigt. „Das ist schön, Simon. Hast du dir den Text zur Ausstellung auf der Homepage angesehen?“

„Nur oberflächlich.“ Es folgte eine detaillierte Beschreibung der Exponate, die sie gleich sehen würden.

Vivian hörte die Ausführungen nur mit halbem Ohr. Ihre Gedanken wanderten zurück zum Sonntag. Zu dem Moment, als sie in ihre Wohnung zurückgekehrt waren. Als Jonas Jacke und Schuhe ausgezogen, den Gürtel mit den Objektiven gelöst und behutsam auf der Kommode abgelegt hatte und dann in das Wohnzimmer verschwunden und dort ächzend auf die Couch gesackt war. Als wäre es das Selbstverständlichste, dass er es sich dort gemütlich machte. Erst als der Espressokocher gurgelte, kam er in die Küche, nahm zwei Tassen aus dem Regal, stellte sie auf den Tisch, wartete, bis Vivian die Kanne ebenfalls platziert hatte, und fasste sie dann mit beiden Händen um die Taille.

„Die Porträtkunst hat ja bei Griechen und Römern ihre erste große Blüte erreicht“, referierte Simon, „und fand zugleich bereits eine vollendete Form.“

Vivian dachte an Jonas’ Lippen auf ihren und seine Fingerspitzen, die an ihrer Wirbelsäule entlangfuhren, an das vertraute, aber lange nicht mehr in dieser Form empfundene Pochen in ihrem Unterleib, das sich dabei einstellte.

„Hab ich was Falsches gesagt?“

„Wie bitte?“

„Weil Sie schmunzeln.“

„Nein, du hast nichts Falsches gesagt“, sagte Vivian schnell. „Ich freue mich, dass du dich so engagierst.“

Simons von Wind und Wetter und Reden gerötete Wangen wurden noch dunkler, und Vivian war froh, dass sie die breite Treppe zur Glyptothek erreicht hatten.

„Ionisch“, sagte Simon leise und berührte im Vorbeigehen eine der zwölf Säulen, die das Dach der Vorhalle trugen.

Vivian zählte ihre Schüler rasch durch, befahl ihnen, alle Handys nun unverzüglich auszuschalten und zu verstauen, und dirigierte die Digital Natives dann hinein zu den antiken Skulpturen, Vasen und Dachfriesen.

Jonas stand vor dem Schulgebäude, als sie zurückkam. Seine Haare waren zerzaust, an seiner blauen Outdoorjacke zerrte der Wind.

„Es kommt doch noch Sturm heute“, sagte er und zeigte zum Himmel, über den mittlerweile tief graue Wolken fegten. „Wo sind deine Schüler?“

„Alle auf dem Weg nach Hause.“ Vivian zog den Gurt ihrer Umhängetasche von ihrer Schulter. „Oder zu McDonald’s.“ Die Tasche knallte auf den Boden. „Oder zu Starbucks.“

„Wo wart ihr genau?

„Ausstellung. Charakterköpfe – Griechen und Römer im Porträt.“

„Nicht schlecht.“

„Homer, Sokrates, Alexander der Große, Augustus, Cicero und Marc Aurel.“

„Bei mir wieder nur Rilke.“

Sie schwiegen beide, bis Jonas ansetzte, etwas zu sagen, sich aber dagegen entschied.

„Ich muss noch mal ins Lehrerzimmer“, sagte Vivian schließlich. „Wir sehen uns morgen?“

„Morgen und gerne auch wieder am Wochenende. Und in den Weihnachtsferien. Und …“

Mit Schwung manövrierte Vivian ihre Umhängetasche zurück auf ihre Schulter. „Erst einmal morgen“, sagte sie lächelnd.

„Ist alles in Ordnung, Vivian? Habe ich …“

„Alles gut. Michi vom Café Glück findet allerdings meine Bilder richtig mies und ich ärgere mich ein wenig darüber.“

„Was hat er denn gesagt?“

„Dass München eine so schöne Stadt sei. Und warum ich denn nicht diese schönen Seiten zeige anstatt der ganzen … vergammelten Orte.“

„Das hat er gesagt?“

„Nicht direkt. Aber so gemeint hat er es.“

„Er hat dein Prinzip eben nicht verstanden.“

„Das Prinzip von Orten und Nicht-Orten und Transiträumen? Vielleicht ist das auch ein viel zu verkopftes Prinzip für eine Mini-Ausstellung in einem Café, wo sonst gerne naive Blumenmalerei die Wände ziert. Vielleicht hätte ich Herbst- und Parkszenen einfangen und dann im Sepia-Look einfärben sollen, das wäre dann schöner geworden. Beziehungsweise: Ich hätte das Ganze einfach sein lassen sollen. Ich habe wirklich genug anderes zu tun.“ Vivian zerrte genervt am Gurt ihrer Tasche, bis Jonas sie vorsichtig von ihrer Schulter zog.

„Komm“, sagte er, „ich bring dich noch rein.“

„Nein.“ Vivian nahm ihm die Tasche wieder ab. „Mach Feierabend. Mach was Schönes. Ich rufe dich später an, okay?“

„Okay.“ Jonas zögerte kurz, dann nahm er ihren Kopf in beide Hände und küsste sie.

Als Vivian die Augen wieder öffnete, sah die Welt schon wieder ganz anders aus. Sprichwörtlich und tatsächlich. Sprichwörtlich, weil Michis Fotourteil nicht mehr so an ihr nagte. Und tatsächlich, weil die Wolken, die der Wind über den Himmel trieb, jetzt kohlrabenschwarz waren. Es wirkte, als habe jemand über München das Licht gedimmt.

„Fahr heim“, flüsterte sie in Jonas’ Ohr und legte ihr Kinn auf seine Schulter, hob es im selben Moment jedoch wie elektrisiert wieder an. Zwanzig Meter entfernt von ihnen, bei den Fahrradständern, stand Simon, dessen Kopf im schwachen Licht des düsteren Nachmittags wie ein roter Ballon leuchtete. Stocksteif stand er da und starrte sie an, die Kordeln seines Anoraks vollführten einen Schlangentanz im stärker gewordenen Wind. Nach einigen Sekunden wandte er sich abrupt ab.

„Mist“, murmelte Vivian.

Jonas schob sie ein wenig von sich weg. „Was ist?“

„Nichts.“ Sie sah Simon nach, der mit abgehackten Schritten über den Schulhof in Richtung Straße stapfte. „Gar nichts.“

Lilly hatte eine Wange auf die Unterarme gebettet und schlief. Ihr hellrotes Haar stand wirr vom Kopf ab, der – Vivian trat näher, um die Schrift auf dem ersten Blatt lesen zu können – auf einem Stapel Französisch-Arbeiten lag. Vivian lächelte.

Lilly Mattuschek, einunddreißig, Französisch-Englisch, Croissant- und Hundeliebhaberin, seit vier Jahren an der Schule. Ihre gute alte Freundin.

Jemand räusperte sich leise. Ottomane thronte am anderen Ende des langen Tisches im Lehrerzimmer und hob kurz die Hand, als er Vivians Blick auffing. Ihm gegenüber saß Frau Siebert, Latein-Deutsch, die nur kurz nickte, weil sie gerade an einem Bissen ihrer belegten Semmel kaute. Dann schluckte sie jedoch hör- und sichtbar und wies mit dem Kinn in Richtung Lilly, bevor sie murmelte: „Die Hormone.“

Ottomane nickte bedächtig.

„Nein“, sagte Vivian. „Zu viel Arbeit.“ Sie setzte sich neben Lilly und strich ihr mit dem Handrücken über den Oberarm. „Lilly? Wach auf.“

„Hmm?“

„Wach mal auf“, flüsterte Vivian noch leiser. „Ottomane denkt, du hast Menstruationsbeschwerden und schlummerst während der Dienstzeit.“

Ein Lid hob sich langsam. „Wiebidde?“

„Komm, lass uns gehen. Dein Sofa daheim ist viel bequemer.“

Lilly stöhnte und richtete sich langsam auf. Ihre rechte Geschichtshälfte war gerötet und ein wenig zerknautscht.

„Wahnsinn, bin einfach eingeschlafen.“

„Hast du wirklich deine Tage?“, raunte Vivian.

Lilly schloss kurz die Augen und atmete tief ein und aus.

„Ist dir nicht gut?“, fragte Vivian.

„Bisschen flau.“ Ruckartig stand Lilly auf, schob die Schularbeiten in eine Klarsichtfolie und dann in ihre Tasche. „Komm, lass uns gehen.“

Ohne Ottomane und Frau Siebert weiter zu beachten, zog sie Vivian aus dem Klassenzimmer auf den Flur, wo sie nach ein paar Schritten abrupt haltmachte.

„Wo ist Jonas?“

„Zu Hause? Auf dem Weg dorthin? Wieso?“

„Er wollte warten, bis du von deiner Exkursion zurückkommst.“

„Hat er auch. Er war da. Wieso …?“

„Es … es …“ Lilly schob sich fahrig eine Strähne aus der Stirn und riss kurz die Augen auf, als wollte sie sie scharfstellen. „Puh, mir ist nicht gut.“

„Willst du dich setzen? Sollen wir zurück? Du siehst ziemlich blass aus.“

„Nein, lass uns einfach weitergehen, damit mein Kreislauf wieder in Schwung kommt.“ Sie hakte sich bei Vivian unter. „Jonas war also da?“

„Ja.“

„Ihr versteht euch ganz gut, oder?“

„Klar. Ganz gut.“

„Das ist schön.“

„Wir … wir lassen es langsam angehen, Lilly. Es nicht so, dass ich die Sache mit Ben …“

„Hat er sich eigentlich mal bei dir gemeldet in jüngster Zeit?“

„Wer? Jonas?“

„Ben.“

„Wieso?“

„Nur so.“

„Ja, hat er. Er heiratet Eva. Ich wollte es dir sagen, aber dann kam immer was dazwischen, es ist ja auch keine Sache, die uns oder unser Leben betrifft, also nicht besonders wichtig, deswegen …“

Lilly blieb stehen und atmete schwer. „Und was sonst noch?“

„Wie, was sonst noch?“

„Hat er sonst noch etwas gesagt?“

„Zusätzlich zur Hochzeit? Hm. Ich finde, das reicht, Lilly. Er heiratet Eva. Nach einem Jahr. Mich hat er nach neun Jahren nicht …“ Vivian hielt inne und kräuselte die Stirn. „Moment. Ist dir zu schlecht, um auf diese Nachricht angemessen zu reagieren?“

„Vivian, ich …“

„Oder findest du es nachvollziehbar, dass er sie so schnell heiratet, während er mich …“ Vivian entzog ihrer Freundin den Arm und wich ein wenig zur Seite.

„Vivian, ich wusste davon.“ Lillys Blick wanderte zu dem grauen Linoleumboden, bevor er sich wieder auf Vivian richtete. „Ich weiß es seit ein paar Wochen.“

„Du wusstest, dass er heiratet?“

„Ja, aber ich wollte, dass er es dir selbst sagt.“

„Aber … Woher wusstest du …?“ Vivian brach ab, als sich die Tür zum Lehrerzimmer öffnete und Ottomane heraustrat. Er trug einen knielangen wattierten Parka über seinem Trainingsanzug und eine Fellmütze mit Ohrenklappen. Seine Augen begannen erstaunlicherweise nicht zu zwinkern, als er seine beiden Kolleginnen im Flur bemerkte, die sich im Abstand von zwei Metern gegenüberstanden und anstarrten.

„Geht es Ihnen besser, Frau Mattuschek?“, fragte er nur, und als sie nicht reagierte, fügte er hinzu: „Vielleicht sollten Sie es mit emotionalen Begegnungen momentan nicht übertreiben.“ Er formte seine Brauen zu Dachgiebeln und sah kurz zu Vivian, die mit den Augen rollte.

„Herr Hörmann, es ist grad nicht die Zeit für irgendwelche sexistischen Bemerkungen über Frauen und ihren Zyklus. Sie sehen doch, dass wir hier eine private Unterhaltung führen und …“

„Vivian!“ Lilly hatte sie am Arm gefasst und schüttelte heftig den Kopf. „Lass es gut sein.“

„Meine Damen, ich verabschiede mich an dieser Stelle.“ Ottomane tippte mit dem Zeigerfinger an seine Stirn und stiefelte davon. „Seien Sie nett zueinander.“

Sie schwiegen, bis das Geräusch seiner hallenden Schritte verklungen war.

„Sorry, aber er regt mich wirklich oft extrem auf“, sagte Vivian dann. „Diese Anzüglichkeiten, diese doofen …“

„Aber er hat recht. Ich muss gut auf mich aufpassen.“

„Das müssen wir alle, Lilly.“

„Aber ich muss für zwei aufpassen.“

Vivian wich noch einen Schritt zurück. „Was heißt das?“, fragte sie, obwohl ihr sofort schmerzhaft bewusst geworden war, was Lillys Aussage bedeutete,

„Ich kriege ein Kind, Vivian, und ich … Oh, bitte, jetzt bleib stehen, Vivian, ich wollte es dir längst sagen, aber … jetzt bleib stehen … aber ich wollte die ersten drei Monate abwarten und sicher sein und außerdem …“

„Und was?“ Sie hatten die schwere Eingangstür erreicht, wo sich Vivian noch einmal umwandte. „Ich weiß es schon. Du dachtest, ich ertrage es nicht. Dass du schwanger bist und ich Single bin. Dass du Mutter wirst, während ich meinem Ex hinterhertrauere.“

„Es ging dir immer noch nicht wirklich gut. Ich war verunsichert und wusste nicht, was ich machen soll. Und dann habe ich noch erfahren ... Ich … ich habe beim Frauenarzt Eva … ich … Ich habe Ben und Eva dort getroffen.“

Vivians Hand glitt von der Messingklinke, die sicher einmal glänzend und neu gewesen, jetzt aber matt und abgegriffen war von den vielen Tausend Schülerfingern, die sich im Laufe von Jahrzehnten um sie geschlossen hatten.

Eva und Ben heirateten nicht nur, sie bekamen ein Kind. Sie waren nach Neuseeland gereist, sie waren zusammengezogen, sie hatten geheiratet und gründeten nun eine Familie.

Eva hat mir die Hauptrolle in meinem eigenen Leben weggeschnappt, dachte Vivian, und ich kann nur noch dabei zusehen, wie sie von einer rührseligen Szene zur nächsten springen. Nach einem Drehbuch, das doch eigentlich für mich geschrieben war.

Sie sah auf.

„Bitte, Vivian.“

Lilly stand vor ihr, mit geröteten Wangen und glänzenden Augen. Vivians Augen wanderten weiter nach unten. Unter dem dicken roten Strickpulli war kein größerer Busen oder Bauch zu erkennen. Noch nicht.

„Du hast es Ottomane erzählt“, sagte sie leise. „Du hast es Ottomane und Frau Siebert vor mir erzählt.“

Lilly seufzte. „Ich habe mich vorhin zweimal fast im Lehrerzimmer übergeben und bin in letzter Minute zur Toilette gekommen. Ich musste es ihnen sagen, damit sie nicht denken, ich bin unheilbar krank.“ Sie lächelte schwach. „Oder habe starke Menstruationsbeschwerden.“ Als Vivian nicht reagierte, ging sie einen Schritt auf sie zu. „Ich wollte es dir wirklich, wirklich sagen. Aber dann habe ich Ben und Eva getroffen und musste daran denken, wie wir einmal, also wir vier, wir alten Pärchen, du, Jonas, Florian und ich uns darüber unterhalten haben, dass es schön wäre, zur gleichen Zeit Kinder zu bekommen, dann musste ich daran denken, wie weh es dir getan hat, als du von deiner Mutter erfahren hast, dass Ben und Eva so kurz nach eurer Trennung nach Neuseeland gereist sind, und ich habe Ben gebeten, er möge es dir bitte unbedingt rasch selbst erzählen, dass er Vater wird. Und er hat Stein und Bein geschworen, es bald zu tun. Ich habe natürlich bei ihm nicht mehr nachgefragt, wir haben ja sonst nichts mehr miteinander zu tun, aber war mir sicher, dass er sich bei dir meldet, und habe die ganze Zeit darauf gewartet, dass mein Handy Sturm klingelt oder du angestürmt kommst oder einfach nur ganz ruhig davon erzählst, was ja das Beste gewesen wäre, aber du bist nicht gekommen.“

Vivian schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Ben wollte es mir erzählen, als er neulich anrief. Aber ich habe ihn nicht ausreden lassen.

„Ich wusste also nicht, was du weißt, wusste nicht, was ich tun sollte, wusste nicht, wie es dir geht …“

Wie es mir geht? Ich habe Angst, dass mich all das um Monate nach hinten wirft, nachdem es endlich für längere Zeit bergauf gegangen ist.

„Ich wusste nur aus Jonas’ Berichten, dass du bei einem Treffen mit ihm geweint hast und …“

Vivians Augen schossen auf. „Was hat Jonas damit zu tun?“

„Naja, er hat viel Zeit mit dir verbracht und …“

„Jonas berichtet dir von unseren Treffen?“

„Wir haben uns vor Monaten mal über dich unterhalten und da …“

„Da hast du beschlossen, ihn auf deine bedauernswerte Freundin anzusetzen, damit sie ein bisschen gepampert ist, wenn du ihr die Baby-Nachrichten überbringst.“

Lillys Wangen nahmen schlagartig einen tieferen Rotton an. „Vivian, das ist Blödsinn und das weißt du auch. Ich verstehe absolut, dass du jetzt sauer bist und enttäuscht und wütend, aber weder hast du noch hat es Jonas nötig, dass ihr aufeinander angesetzt werdet.“

„So fühlt es sich aber an und ich werde auf keinen Fall … Himmel, was ist denn?“ Ihr Handy klingelte. Vivian zog es rasch aus ihrer Tasche und drückte den Anruf weg. Es war ihr Vater, der schon während des Besuchs in der Glyptothek versucht hatte, sie zu erreichen.

„Wenn das Jonas ist, dann …“

„Es ist mein Vater“, murmelte Vivian und drückte die Klinke herunter. „Bitte kümmere dich nicht um mich und Jonas. Kümmere dich nicht um mein Liebesleben und mein Seelenheil. Erzähl niemandem, wie es mir geht. Es ist mein Leben!“ Sie drückte die Klinke herunter. „Lass mich einfach in Ruhe!“

Sie öffnete die Tür und prallte im selben Moment zurück. Draußen war es fast dunkel, der Wind ging so laut, dass Vivian nicht verstehen konnte, was Lilly hinter ihr sagte. Die Räder, die nicht in der Abstellanlage standen, waren umgekippt, Papierfetzen, Laub und Plastikblätter sausten über den Boden und verfingen sich in der schmalen Grünfläche vor der Mauer oder in den Büschen, die im Wind zitterten.

Jetzt ist doch der Orkan gekommen.

Sie ließ die Tür wieder zufallen und wandte sich zu Lilly um.

„Ich ruf uns zwei Taxis, okay? Du siehst nicht gut aus und ich will bei diesem Wetter …“

„Vivian, lass uns doch bitte miteinander reden.“

„Das tun wir schon die ganze Zeit.“ Vivian holte ihr Telefon erneut hervor. „Ich möchte jetzt nach Hause.“

„Vivian, ich bekomme ein Kind! Gibt es nicht noch irgendetwas, was du mir sagen möchtest?“

„Momentan noch nicht.“ Vivian suchte auf ihrem Display nach der Taxi-App. „Morgen vielleicht. Morgen ist auch noch ein Tag.“

Lilly sah sie fassungslos an. „Was …“

Vivians Handy klingelte. Seufzend nahm sie das Gespräch an.

„Papa, bitte ganz schnell, es ist Sturm, ich bin müde, ich will nach Hause, ich brauche ein Taxi. Und ich … was?“

Für ein paar Momente war nur das gedämpfte Toben des Sturms zu hören. Lilly atmete tief ein und aus, um das flaue Gefühl in ihrem Magen zu vertreiben und ihren Herzschlag zu beruhigen. Verstohlen sah sie zu Vivian, die das Telefon an ihr Ohr und die freie Hand auf ihren Bauch gepresst hatte. Unwillkürlich tat sie dasselbe. Sie hatte ihr Kind schon einmal gespürt, am vergangenen Sonntag, während einer Verfolgungsjagd im „Tatort“ hatte es plötzlich gekickt, und sie hatte ungläubig ihren Pullover hochgeschoben, Alex‘ Hand genommen und dorthin gelegt, wo sich die Haut kaum merklich nach außen beulte. „Dein Sohn, Papa“, hatte sie gesagt und sich darauf gefreut, bald Vivians Hand zu nehmen und ebenfalls auf die Stelle zu legen.

Vivian ließ das Telefon langsam sinken. „Das war mein Papa“, sagte sie, und ihre Stimme klang dünn und brüchig.

„Ist irgendetwas passiert?“

Vivian hob den Blick. „Mein Vater ist tot.“

„Dein …“ Lilly schluckte. „Moment. Dein Vater hat doch gerade angerufen. Wie kann er dann …?“

„Mein Papa hat angerufen. Und mein Vater ist tot. Mein leiblicher Vater. Er war sehr krank.“

„Das tut mir … Du hast noch nie … Also, ich wusste schon, dass du noch einen … Aber …“

„Ich wusste nichts von seiner Krankheit. Ich wusste gar nichts mehr von ihm.“

„Das tut mir …“

„Ich rufe uns jetzt zwei Taxis, okay?“

„Möchtest du nicht zu uns kommen? Oder soll ich mit zu dir?“

„Nein.“ Vivian hob erneut das Telefon. „Ich möchte nach Hause. Ich möchte einfach nur nach Hause!“

Einmal waren sie beim Wandern entlang der Küste auf eine Robbe getroffen. Das Tier lag auf einem großen Stein am Strand und Vivian bemerkte es erst gar nicht. Erst als ihr Vater sie vorsichtig anstupste und ihr zuraunte, den Kopf langsam zur Seite zur drehen, sah sie es. Sie legten sich auf einen abgeflachten Felsen in der Nähe und waren von da an Wissenschaftler, die sich gegenseitig das Fernglas reichten und darüber fachsimpelten, wie alt die Robbe wohl war, wie lange sie da schon in der Sonne lag und was wohl ihre Lieblingsposition war. Vivian tippte auf Seitenlage mit in die Höhe gestreckter Flosse, ihr Vater war der Meinung, dass sich die Robbe am wohlsten auf dem Rücken fühlte.

„Dann kann sie den ganzen Tag den Himmel beobachten“, sagte er.

„Und die Wolken zählen.“

Vivian trat einen Schritt näher an das Bild im Flur heran, betrachtete das fliegende Haar, das fröhliche Gesicht und sah sich in ihre eigenen Augen. Nach dem Besuch mit der Robbe war sie nicht mehr auf der Insel gewesen und hatte ihren leiblichen Vater auch nie mehr gesehen.

Sie war fest entschlossen, nicht zu seiner Beerdigung zu fahren.

„Es ist alles so lange her, Vivi“, hatte ihre Mutter am Telefon gesagt. „Niemand erwartet, dass du kommst. Das kann auch niemand erwarten.“

Hannes, ihr zweiter, ihr anderer Vater, der mit ihrer Mutter seit über zwanzig Jahren verheiratet war, vertrat dieselbe Meinung. „Aber sie würden sich natürlich alle schon freuen“, fügte er leise hinzu. „Wenn du kommst.“

Vivian lächelte. „Ich weiß nicht, Papa.“

Es war typisch für ihn, die Dinge nicht nur schwarz oder weiß zu sehen. Er vermittelte, wo er konnte, half, wo er konnte, zeigte Verständnis, wo er konnte, und wo er es nicht konnte, da sprach er sein Unverständnis nicht aus, sondern überlegte, ob es vielleicht an ihm lag, dass er anderer Meinung war. Und überdachte seine Meinung.

Ganz anders als Vivians Mutter, die sich an ihre Überzeugungen klammerte wie eine Ertrinkende an den Rettungsring. Die Diskussionen, ganz gleich, über welches Thema, oft schon im Keim erstickte mit dem Hinweis, sie habe keinen Grund, ihre Ansicht zu ändern. Früher habe sie das getan, habe sich auf Meinungen und Versprechungen anderer verlassen, und das habe ihrem Leben nicht gut getan. Ihr Mann Hannes hatte, vermutlich unbewusst, über die Jahre einen Ausgleich zu seiner Frau geschaffen, um die innerfamiliäre Diskussionskultur nicht ganz verkümmern zu lassen.

Vivian hörte ihr Handy in der Küche klingeln und wandte sich langsam ab. Jonas hatte schon mehrmals während der Gespräche mit ihren Eltern angerufen, vermutlich hatte Lilly ihm schon vom Tod ihres leiblichen Vaters berichtet, den Vivian ihm gegenüber noch nie erwähnt hatte.

Sie griff nach dem Telefon, ohne auf die Nummer zu achten, und nahm das Gespräch an.

„Hallo?“

Em, hello, is this Vivian speaking? Vivian Berger?“ Es war eine tiefe, ruhige, männliche Stimme, die der von Jonas sehr ähnlich war.

„Ähm ja, yes.“ Vivian widerstand dem Impuls, einfach wieder aufzulegen. „Ich bin es“, sagte sie stattdessen auf Englisch.

„Hier ist Paddy aus Hugh Town. Ich bin … war … ein guter Freund deines Vaters und ich wollte … wollte zunächst mein allerherzlichstes Beileid aussprechen.“

Als Vivian schwieg, sprach er weiter.

„Ich bin sicher, du hast gerade anders zu tun, als dich mit Reiseplanung zu beschäftigen, deswegen nur ganz kurz, alles Weitere besprechen wir dann nächste Woche. Also: Der Flug nach St. Mary’s. Würdest du lieber in Exeter oder in Newquay starten? Wir setzen außerplanmäßig eines unserer Flugzeuge ein, die vom Festland starten, weil noch ein paar andere Gäste aus London am Montagabend anreisen, und wir überlegen gerade, ob wir von Exeter oder New… Hallo? Bist du noch dran, Vivian?“

„Ich …“ Sie schluckte. „Ja, ich …“

„Sorry, ich wollte dich nicht überrumpeln, ich … kann mir vorstellen, wie schwer das alles für dich ist, auch wenn ihr euch nicht mehr … Ähm, also wir freuen uns jedenfalls sehr darauf, dich wiederzusehen!“

Wiederzusehen, dachte Vivian. Ich habe dich noch nie gesehen, ich kenne dich nicht. Und wer ist mit „wir“ gemeint?

„Mary-Ann, Mabel, Philip, Jack, ich natürlich – wir alle würden uns wahnsinnig freuen. Und hey, ich habe gerade erfahren, dass das Wetter in Deutschland ziemlich mies ist, auf den Scilly Islands dagegen …“ Vivian hörte, wie er mit der Zunge schnalzte. „Erstklassig. Tagsüber fast zwanzig Grad, Sonne, sanfter Wind, in dem sich die Palmen wiegen …“

Vivian sah in den schwarzen Novemberhimmel. Morgen würde es tagsüber wieder grau sein. Grau, regnerisch, windig. Wie die Tage darauf auch. Ben und Eva bekamen ein Kind. Lilly und Alex auch. Und sie, Vivian, war jemand, der zum bemitleideten Gesprächsgegenstand geworden war.

„Ein Wetter, wie es John zum Fotografieren geliebt hat“, hörte sie Paddy weiterreden. „Klares Licht, scharfe Konturen, alle Motive noch draußen unterwegs, die Vögel und ihre menschlichen Beobachter, die …“, er lachte, „nervigen Touristen, die Schafe, Robben, Delfine, die …“

„Die Robben?“

„Wie bitte?“

„Könnte ich bei euch Robben sehen?“

„Naja, bei uns auf St. Mary’s jetzt nicht direkt, da müsstest du nach St. Martin’s rüber, da hat Chris erst letzte Woche …“

„Gut“, unterbrach ihn Vivian. „Das ist gut.“

Einen Moment war es still in der Leitung. „Soll ich dich also … mit einplanen für Dienstag?“, fragte Paddy dann. „Wo soll ich dich abholen? Du kannst bis Exeter, Newquay oder Land’s End mit dem Zug von London fahren. Von einem der drei Orte fliegen wir dann rüber nach Scilly. Weißt du ja.“

Ich weiß gar nichts, dachte Vivian. Sie schloss für einige Sekunden die Augen, öffnete sie wieder, und musste plötzlich lächeln.

Kapitel 7

Vivian zog ihren gefütterten Wintermantel von den Schultern, stopfte ihn neben ihre Tasche in das Gepäckfach über ihrem Kopf, nickte dem Anzugmann, der neben ihr am Fenster saß, zu und sank mit einem stummen Seufzer in den Sitz. Sie war erst in London und fühlte sich jetzt schon so erschöpft wie nach einer Reise um den halben Erdball. In London ist man ja in Nullkommanix. Sie schnaubte. Der Meinung war sie auch immer gewesen, aber jetzt nicht mehr. Sie hatte hinter sich, in der Reihenfolge ihres unrühmlichen Auftretens: eine Fahrt mit der S-Bahn, die wegen einer Signalstörung auf halbem Weg stehen geblieben und bedenklich lange nicht weitergefahren war. Einen Sprint durch das Flughafengebäude und einen verschwitztem Zieleinlauf bei ihrem Gate. Die Information, dass sich der Abflug ihrer Maschine wegen des Wetters um gut sechzig Minuten verzögern würde. Einen zweistündigen Flug auf einem Mittelsitz, dessen Armstützen die Herren zu ihren Seiten trotz Vivians Protesten immer wieder zu ihrem Hoheitsgebiet erklärten. Einen halbstündigen Aufenthalt in einer Toilette in Heathrow, weil während des Hinunterschlingens eines Sandwiches von Pret A Manger Mayonnaise auf ihren blauen Pullover aus reiner Wolle getropft war und genug Zeit hatte, schön feste einzutrocknen. Und schließlich die Fahrt im vollbesetzten Heathrow Express zum Bahnhof Paddington, die zwar nicht sehr lang gedauert hatte, aber in Vivians Ohren immer noch nachklang, weil sie eine knappe halbe Stunde dem angeberischen Gefasel ihres alternativlosen Sitznachbarn ausgesetzt war, der dem Menschen am anderen Ende der Leitung von seinen grandiosen Erfolgen am Aktienmarkt erzählte.

Vivian lehnte sich seufzend zurück. Egal. Sie war schon strapaziöser gereist. Und sie war endlich hier. Stunden später als geplant, aber hier.

Ihr Blick wanderte an ihrem Sitznachbarn vorbei zum belebten Bahnsteig und dann zu dem imposanten gewölbten Glasdach und seinen schmiedeeisernen Stützen.

Schau mal, Vivian, wie ein Palast aus Glas! Durch sein Dach kannst du immer direkt auf die Wolken schauen.

Seine Hand, die ihre umschloss, fest und rau und schwitzend von der sommerlichen Wärme und der Hektik, die immer ausbrach, wenn er merkte, dass sie zu lange auf einer Bank gesessen und Eis gegessen hatten und jetzt im Begriff waren, ihren Zug zu verpassen.

Vivian wandte den Kopf nach links. Um sie herum verstauten andere Reisende ihre Habseligkeiten, holten Smartphones, Laptops und Sandwiches aus Koffern und Taschen und machten es sich auf den bunt gemusterten Sitzen bequem, deren Design vor dreißig Jahren modern gewesen war.

Auf der anderen Seite des Ganges lümmelte ein junges Mädchen mit breiter grüner Haarsträhne neben einem Mann in Tweedjackett, eine Reihe weiter fummelte eine weißhaarige Dame an ihrem Hörgerät, während ihr Begleiter eine Thermoskanne aus seiner abgewetzten Ledermappe nestelte und anschließend dampfenden Tee in geblümte Tassen eingoss, die er vorher zusammen mit einigen Stückchen Shortbread auf dem Tischchen am Fernster drapiert hatte.

Vivian zwang sich, den Blick von der bezaubernd englischen Szenerie abzuwenden, und guckte erneut nach draußen. Der Zug war mit einem leichten Ruckeln losgefahren, die Köpfe der Menschen auf dem Bahnsteig begannen immer schneller an ihr vorbeizugleiten, das Bahnhofsdach aus Glas und Stahl wich einem wolkenverhangenen Himmel. Die vorletzte Etappe ihrer Reise hatte begonnen.

Sie verließen die Stadt in Richtung Westen und gelangten bald in die Außenbezirke. Rote Backsteinhäuser, dampfende Schornsteine, schmale Gärten, in denen immer wieder Wäsche im Wind wehte. Als sie nach einiger Zeit einen Fluss überquerten, entdeckte Vivian zwei Ruderboote, deren Besatzungen sich einen Wettkampf lieferten. Die Paddel tauchten perfekt choreografiert ins Wasser, die Ruderer legten sich wie eine Einheit in die Riemen, die Boote glitten über graues Nass. Vivian erinnerte sich, dass Jonas einmal von seiner Zeit als Jugendlicher im Ruderverein erzählt hatte.

Das eintönige Rattern des Zugs entspannte sie. Je länger sie fuhren, desto ruhiger wurde sie, desto leichter fühlte sie sich. Wie schön wäre es, immer weiterzufahren. Einfach nur zu sitzen und die Welt vorbeifliegen zu lassen. Und mit dem Fahrtwind alle Unwägbarkeiten des Lebens für ein paar Stunden abzustreifen: die Sache mit der Liebe, Ärger in der Arbeit, schwierige Schüler und immer wieder belangloser, immer gleich ablaufender Alltagstrott. Vivian gähnte herzhaft. Der Mann neben ihr warf ihr einen amüsierten Blick zu und vertiefte sich dann wieder in seine Zeitung. Es knisterte und raschelte, als er die Seiten anhob. Ein Geräusch, das aus den öffentlichen Verkehrsmitteln nahezu verschwunden war. Gemütlich, dachte Vivian, bevor die Schwerkraft ihre Augenlider übermannte und sie einschlief.

Ein Stoß an ihrer Schulter weckte sie auf. Vivian fuhr hoch und sah sich erschrocken um. Eine Frau in hohen Schuhen und Businesskostüm stöckelte durch den Gang davon, eine große schwarze Handtasche mit silbernen Pyramiden-Nieten baumelte an ihrer Schulter. Ihr Pferdeschwanz wippte wichtig von links nach rechts.

„Macht nichts“, murmelte Vivian, gähnte unterdrückt und holte das Handy aus der Tasche. Keine neuen Nachrichten, obwohl sie mehr als zwei Stunden geschlafen hatte. Sie sah sich um. Ihr Sitznachbar am Fenster war verschwunden, das ältere Ehepaar auf der anderen Seite des Ganges gemeinsam entschlummert. Der Kopf des Mannes ruhte an der Schulter seiner Frau, ihre Wange war auf sein schütteres Haar gesunken, in der einen Hand hielt sie ein mit Sternen besticktes Taschentuch, die andere Hand umklammerte ihre hellblaue Handtasche, deren Design Vivian an die Taschen der Queen erinnerte.

Sie hatten Exeter hinter sich gelassen und fuhren nun durch die sanft gewellte Landschaft des Dartmoor. Vivian hatte die Niederlage der Wolken gegen die Sonne verschlafen und bestaunte jetzt die gut ausgeleuchtete Pracht der Grafschaft Devon. Weite Heidegebiete mit stacheligem Ginstergebüsch wechselten mit kleinen Gehölzen, lange Steinmauern umfriedeten grün-braune Wiesen, die geschwungene Horizontlinie wurde von Hügeln mit Granitfelsen durchbrochen.

Weißt du noch, wie man diese Hügel mit den Felsen nennt, Vivi? Nein? Sie heißen „Tors“.

Wie Fußballtore?

Nein, das Wort kommt von den Kelten und bedeutet einfach „Hügel“.

Als sie den Fluss Tamar und damit die natürliche Grenze zu Cornwall überquert hatten, schoben sich rasch Wolken über die Sonne, und auch Vivians entspannte Stimmung verschwand schlagartig. Sie sah sich in dem Abteil um, das sich seit ihrem Halt in Plymouth deutlich geleert hatte. Das ältere Paar und das Mädchen mit der grünen Haarsträhne waren verschwunden, nur der Mann im Tweedjackett saß noch auf seinem Platz und schlief.

Vivian atmete tief durch. Sie trommelte mit den Fingern auf der hochklappbaren Ablagefläche und starrte nach draußen. Was genau machte sie hier eigentlich? Warum fuhr sie zu der Beerdigung des Mannes, den sie seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte? Von dem sie nichts wusste außer dem, was ihre Mutter ihr kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag in dürren Worten mitgeteilt hatte: John Hunter, ihr leiblicher Vater, war seit vielen Jahren zum zweiten Mal verheiratet und hatte mit seiner Frau noch einen Sohn bekommen, Philip. Es stünde Vivian, da sie ja nun volljährig war, völlig frei, Kontakt mit ihrem Vater aufzunehmen, aber, an dieser Stelle müsse sie das noch einmal betonen, Vivian möge vorgewarnt sein, John Hunter neige dazu, Menschen zu enttäuschen.

Nach diesen Worten war der Ausdruck, Vivian erinnerte sich noch gut, um den Mund ihrer Mutter hart geworden und Hannes’ Blick scheinbar teilnahmslos aus dem Fenster gewandert. Dann war Tim erschienen mit einer Frage zu seinen Mathe-Hausaufgaben und hatte die Lage entspannt. Tim, ihr jüngerer Halbbruder. Ihren anderen jüngeren Halbbruder Philip würde sie morgen bei der Beerdigung zum ersten Mal in ihrem Leben sehen. Genauso wie seine Mutter Mary-Ann. Es waren alles wildfremde Menschen. Denen sie Rumkugeln von Dallmayr als Gastgeschenke mitbrachte, was für eine Schnapsidee. Vivian schnaubte. Es war dumm gewesen, dem ebenfalls wildfremden Paddy zu versichern, dass sie ihn am Tag vor der Beerdigung in Newquay treffen und mit ihm auf St. Mary’s, die größte der Scilly Islands vor der Küste Cornwalls, fliegen würde, dorthin, wo ihr Vater gelebt hatte. Sie hatte das Kopfschütteln ihrer Mutter regelrecht durch das Telefon gespürt, als sie ihr die Entscheidung mitgeteilt hatte.

„Sie sollten dir eigentlich die Reisekosten ersetzen, Vivian, das meine ich ganz ernst.“

„Karla, bitte“, hörte sie ihren Vater im Hintergrund sagen, „wenn Vivi da ein Problem hat, dann kommen natürlich wir dafür auf.“

„Wir sind schon für alles …“

„Mama, ich zahle das selber, es ist doch keine Summe. Und übernachten soll ich bei einer gewissen Mabel, einer alten Bekannten von … John.“

„Mittlerweile ist sie tatsächlich schon alt. Lass dir keine Geschichten von ihr erzählen, Vivian, sie war immer schon …“

„Mama! Mein leiblicher Vater ist an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben. Ich wurde zu seiner Beerdigung eingeladen. Was höflich ist. Ich gehe hin. Weil es höflich ist. Ich bleibe zwei Nächte und fliege am Morgen nach der Beerdigung wieder nach Hause. Nichts weiter. Das werden wir alle überleben.“

Im kleinen Bahnhof von Par wechselte Vivian in einen Zug der Atlantic Coast Line, der sie nach Newquay bringen würde. Nur eine Handvoll Menschen stieg mit ihr um, der Großteil der verbliebenen Insassen schien nach Penzance weiterfahren zu wollen.

Das Abteil empfing sie menschenleer. Sie setzte sich auf einen Fensterplatz und verbrachte die letzten dreißig Minuten Fahrt damit, die Landschaft anzustarren und sich einzureden, dass die nächsten achtundvierzig Stunden in Windeseile vorbei sein würden und sie bald schon wieder in ihren normalen Alltag eintauchen könnte. Der, wenn sie es jetzt betrachtete, vielleicht gelegentlich unerfreulich, aber besser kalkulierbar war als das, was die nächsten zwei Tage vor ihr lag. Was sie jetzt erwartete, konnte sie nicht abschätzen, und das gefiel ihr nicht. Ihre Aufregung stieg mit jedem Kilometer, den sie zurücklegten, und war, als sie in Newquay ausstieg, so stark, dass ihr fast übel war. Sie schlug die Kapuze ihres Mantels hoch, um sich gegen den Sprühregen zu schützen, und sah sich um.

Am Ende des verwaisten Bahnsteigs stand eine männliche Gestalt in schwarzer Hose und weißem Oberteil und schirmte die Hand gegen die Sonne ab, die gar nicht schien. Das musste Paddy sein, der angekündigt hatte, sie abzuholen. Vivian ging ein paar Schritte auf ihn zu, hielt aber inne, als aus einer Tür weiter vorne die Business-Dame mit der gewalttätigen Handtasche ausstieg und den Mann so schnell ansteuerte, wie es ihre hochhackigen Schuhe zuließen.

Sie hielten sich eng umarmt, als Vivian sie erreichte, und küssten sich so leidenschaftlich, dass sie nicht wusste, wohin sie schauen sollte. Eine Weile starrte sie auf ihre Fingernägel, dann in den wolkenverhangenen Himmel, schließlich holte sie tief Atem und räusperte sich hörbar. Nur langsam lösten sich die Küssenden voneinander, völlig unbeeindruckt von der Zuschauerin, die sich neben sie platziert hatte.

„Entschuldigung, dass ich störe …“, sagte Vivian. „Aber bist du Paddy?“

„Das bin ich in der Tat“, sagte der Mann, dessen schwarz-weißes-Ensemble sich aus der Nähe als Piloten-Uniform entpuppte. „Und du musst Vivian sein. Wow, du siehst exakt so aus wie John!“ Er zog die Business-Dame noch etwas enger an sich. „Vivian hat früher immer Sand in meine Schwimmhose gestopft und ist dann kichernd weggerannt. Abends war mein Hintern total sandig und hat gejuckt. Und nicht nur der Hintern, sondern auch die …”

„… die Vorderansicht”, ergänzte die Business-Dame und zeigte zwei Reihen makelloser Zähne. „Hi, Vivian, Ich bin Iris.“

Vivian schüttete ihre und dann Paddys Hand und überlegte fieberhaft. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie bei einem ihrer Aufenthalte auf den Scilly Islands jemals einem Jungen Sand in die Badehose gesteckt hatte und dann kichernd davongelaufen war.

„Was ist mit dem perfekten Wetter passiert, das du versprochen hast?“, fragte sie rasch, um das Thema zu wechseln.

„Macht kurz Pause, um sich für morgen zu schonen. Morgen wird es wieder sonnig. Zumindest am Vormittag.“

Sie betrachtete Paddy schräg von der Seite, während er vor ihr herging, in der linken Hand ihren Rollkoffer, in der rechten die Taille von Iris, die trotz ihres grauen Wollmantels beeindruckend schmal war.

Paddy sah aus wie eine jüngere Ausgabe von Robert Redford, dichtes rotblondes Haar, volle Lippen, markantes Kinn, breite Wangenknochen, ausgeprägte Lachfältchen um die blauen Augen. Er ging federnd und beschwingt, zog immer wieder Iris zu sich heran und flüsterte ihr etwas ins Ohr, was sie mit einem hellen Lachen und einem Beschleunigen ihrer Schritte quittierte. Vivian hatte Mühe, den Verliebten zu folgen, und den Eindruck, dass das auch von den beiden beabsichtigt war. Sie kam sich vor wie ein Dackel, der mit seinen kurzen Beinen eifrig und vergeblich versuchte, mit seinem Herrchen auf gleicher Höhe zu bleiben. Erleichtert atmete sie auf, als sie in einem roten VW Polo saßen, den Paddy als seinen „Festland-Wagen“ bezeichnete, und damit zum gut fünf Meilen entfernten Flugfeld fuhren.

Eine halbe Stunde und eine kurze Sicherheitseinweisung später erhob sich die Propellermaschine mit den acht Sitzen und dem einsehbaren Cockpit in die Lüfte. Sie seien außerplanmäßig unterwegs, hatte ihnen Paddy erklärt, deswegen gebe es auch keinen Co-Piloten wie sonst üblich, wenn Touristen auf St. Mary’s geflogen wurden.

„Bleibt angeschnallt, lasst euer Gepäck im Gepäckfach, guckt ansonsten nach draußen.“ Er wandte seinen Kopf ein wenig zur Seite. „Wann warst du das letzte Mal hier, Viv?“

Vivian antwortete nicht sofort. Fasziniert beobachtete sie, wie das Festland unter ihnen verschwand und sich stattdessen grau und stumpf die Keltische See ausbreitete. In einem weiten Bogen flog Paddy nach Westen und bot Vivian somit einen perfekten Blick auf Cornwalls Küste, auf die schroffen, steilen Felsen, an die sich die Schaumkronen der Wellen warfen, auf die langen Strände und spektakulären Buchten. Wie traumhaft musste das alles erst bei schönem Wetter sein. Sie seufzte leise.

„Ich war hier das letzte Mal vor über zwanzig Jahren“, sagte sie dann und wiederholte es noch einmal lauter, als Paddy ihr bedeutete, dass er sie wegen des Motorenlärms nicht hören konnte.

„Wow“, rief er, „dann wird es ja Zeit, dass du zurückkommst.“

Vivian nickte stumm. Sie würde Paddy später fragen, woher er ihren leiblichen Vater kannte.

Kurze Zeit später kam St. Mary’s in ihren Blick, die größte der insgesamt über 140 Scilly-Inseln, von denen nur sechs bewohnt waren. Dem warmen Golfstrom war es zu verdanken, dass Klima und Vegetation des Archipels mehr an die Südsee denn an das kühle England erinnerten. Die Strände waren lang und weiß, überall auf den Inseln wuchsen Palmen, subtropische Bäume wie Pinien und Pflanzen wie Rhododendren und Azaleen.

All das hatte sich Vivian vor ihrer Reise angelesen, denn ihr Gedächtnis lieferte keinerlei solchen Fakten. Manchmal schossen, wie während der Zugfahrt, Bruchstücke aus einer vergangenen Zeit in ihr auf, vage, verschwommene Bilder, mehr Gefühle als scharfe Erinnerungen.

„Cabin crew, please prepare for landing“, rief Paddy nach hinten, und Iris, die sich während des gesamten Flugs stumm und blass an die Armlehnen geklammert hatte, lachte angespannt auf.

Kapitel 8

Hugh Town lag auf einer pfotenförmigen Halbinsel im Südwesten von St. Mary’s. Die meisten der gut 1700 Einwohner lebten in einem der Häuser, die sich auf einem nur wenige hundert Meter breiten und kaum längeren Dünenstreifen erstreckten, der die „Pfote“ mit dem Rest der Insel verband. Im Norden wie im Süden grenzten Sandstrände an Hugh Town, die in den Sommermonaten, so berichtete Paddy, bevölkert waren wie die Adria.

Als die Landebahn des Insel-Flughafens nach einer knappen halben Stunde Flug in Sicht gekommen war, hatte Vivian schlucken müssen. Das, was eher wie eine schlecht asphaltierte Straße anmutete, setzte für ihren Geschmack viel zu nah an einer steil abfallenden Küste ein und hatte in etwa die Länge ihres Wohnungsflurs.

„Jetzt übertreib mal nicht“, rief Paddy grinsend, der mit seinen überdimensionierten Kopfhörern etwas von Micky Maus hatte. „Sind gut sechshundert Meter.“

Iris stieß einen lauten Seufzer aus, und Vivian erwähnte nicht, dass die Start-/Lande-Bahn in München ihres Wissens vier Kilometer lang war.

In einem weiteren VW Polo („Mein Insel-Wagen“, erklärte Paddy) ließen sie den winzigen Flughafen von St. Mary’s hinter sich und steuerten das Zuhause von Mabel Mallory an, bei der Vivian die nächsten beiden Nächte verbringen sollte. Paddy hatte ihr nicht nur Informationen zu seiner Person verwehrt, sondern auch nicht erklärt, wer Mabel war. Vivian hatte daraus gefolgert, dass er annahm, sie würde über all das Bescheid wissen, und fragte nicht nach. Iris würde er anschließend ins nahe gelegene Star Castle Hotel bringen, erzählte Paddy weiter, und Vivian beschloss, auch hierzu keine Fragen zu stellen. Es würde schon einen Grund geben, warum er die Lady mit der waffenscheinpflichtigen Tasche nicht mit in sein trautes Heim nahm.

Mabel Mallory wohnte in einer Straße namens Sally Port. Ihr Haus war ein schlichter, grauer, unverputzter Backsteinbau, hinter dem sich im Abstand von wenigen Metern Teile der ehemaligen Garnisonsmauern erhoben. Die Fensterrahmen waren auffallend weiß und, wie Vivian später erfuhr, erst ein Jahr alt und damit viele Dekaden jünger als die Wände, in die sie eingefasst waren.

„Die Aussicht oben ist hervorragend“, schnaufte Mabel, die es sich nicht nehmen ließ, Vivians Rollkoffer in den ersten Stock zu tragen, wo sie ihren Gast in ein kleines Gästezimmer führte und sofort das Fenster öffnete.

„Das ist doch was, oder?“, sagte sie und schaute erwartungsvoll. „Im Süden Porthcressa Beach, im Norden der Hafen.“

Die einsetzende Dämmerung hatte einen grauen Dunstschleier über Hugh Town gehängt. In einigen Häusern brannte bereits Licht und vermittelte eine zumindest etwas heimelige Stimmung. Zu ihrer Rechten konnte Vivian zwischen zwei Dachgiebeln einen fahl-beigen Strandstreifen und einen tristen Flecken Meer sehen.

„Schön“, lobte sie pflichtschuldig.

Mabel nickte lächelnd. „Ich lasse dich jetzt mal allein, damit du dich frisch machen kannst. Bitte melde dich, wenn du irgendetwas brauchst, ich bin unten in der Küche.“

Eine knappe halbe Stunde später wusste Vivian nicht, was sie noch tun konnte, und sah sich unschlüssig in dem kleinen Raum um. Sie hatte ihre Schlafklamotten unter die zwei Decken auf dem King-Size-Bett gesteckt, das Kleid für den morgigen Tag in den schmalen weißen Holzschrank gehängt und ihren Mantel über das geblümte Sofa gelegt, vor dem ein kleiner runder Tisch stand. Sie hatte sich in dem winzigen Bad Hände und Gesicht gewaschen und vorher mit der englischen Toilettenspülung einen Kampf ausgefochten, die laut wie die Niagara-Fälle durch das Haus rauschte, aber eine Druckwelle erzeugte wie ein paar Regentropfen, die träge an einer Scheibe hinunterflossen.

Vivian horchte in sich hinein, ob Mabel Mallorys Trauer in ihr etwas ausgelöst hatte. Die kleine, kräftige Frau mit den praktisch geschnittenen grauen Haaren war in lautes Schluchzen ausgebrochen, als Vivian, Paddy und Iris vor ihrer Tür gestanden hatten.

Oh Sweetheart“, hatte Vivian noch gehört, bevor zwei feste Arme sie umschlossen und sich ein wogender Busen auf Höhe ihres Bauches an sie schmiegte. „Oh, es tut mir so unfassbar leid.“ Währenddessen hatte Paddy Vivians Rücken getätschelt, sich mit der anderen Hand verstohlen über die Augen gewischt und schließlich dankbar ein Taschentuch von Iris angenommen.

Eine Weile standen sie so, bis sich Vivian aus der Umarmung löste und Mabel behutsam ein wenig wegschob, worauf diese aufsah und erneut zu schluchzen begann. „Du bist deinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, oh, Vivian, es tut mir so leid, er war so ein guter Mann, so ein guter Mann, es ist nicht fair. Die ganze Insel ist traurig.“

Vivian betrachtete die seltsam geformte weiße Deckenlampe, die aussah, als sei sie aus Porzellan, und auf jeder ihrer fünf Seiten ein anderes gemaltes Postkartenmotiv zeigte. Ein Fischer in seinem Boot, zwei Möwen, ein Cottage, zwei Schafe auf einer Wiese. Und eine Robbe auf einem Felsen.

Vivian wandte den Blick wieder ab. Ein guter Mann. Das hatte auch Paddy gesagt während ihres Telefonats am vergangenen Donnerstag. Ein guter Mann. Das war er für die Menschen hier, für seine Freunde und Bekannten. Für seine Familie. Und für sie, Vivian? Sie zuckte mit den Schultern, als müsse sie ihre Unsicherheit auch nach außen zeigen, in dieses kleine, leicht nach Lavendel riechende Zimmer im ersten Stock eines Backsteinhauses auf einer knapp vier Kilometer langen und drei Kilometer breiten Insel, die etwa fünfundvierzig Kilometer vom englischen Festland entfernt im Atlantischen Ozean lag. Warum war sie hierhergekommen? Sie verspürte keine Traurigkeit über den Tod von John Hunter, dem guten Mann, dessen Tod sämtliche Inselbewohner in Trauer versetzt hatte. Alles, was sie im Moment verspürte, war Unbehagen. Darüber, dass sie diesen unbekannten Menschen bei ihrer zutiefst privaten Trauer zusah und eingedrungen war in eine Welt, die mit ihrer nicht das Geringste zu tun hatte. Sie hätte zu Hause bleiben sollen, in München. Sie hätte endlich wieder einmal ihre Eltern und ihren Bruder besuchen sollen, anstatt hier mit Wildfremden eine Beerdigung zu feiern. Sie hätte sich mit Lilly über ihre Schwangerschaft freuen und mit Jonas vernünftig reden sollen, anstatt sich beurlauben zu lassen und einfach abzudüsen.

Vivian zog ihr Handy aus der Manteltasche und ließ es nach kurzer Zeit wieder sinken. Sie hatte keine neuen Nachrichten erhalten. Von wem auch. Lilly war mit Sicherheit enttäuscht und eingeschnappt. Zu Recht. Ihren Eltern hatte sie von London aus gesimst, dass sie gut angekommen sei und sich nach der Trauerfeier wieder melden würde. Und Jonas … Sie hatte ihm mit dürren Worten vom Tod ihres leiblichen Vaters und von ihrer spontanen Reise gesimst und ebenfalls gesagt, dass sie sich melden würde. Er hatte lieb geantwortet, sein Verständnis geäußert und am Ende geschrieben, dass er sich sehr auf sie freue. Vivian seufzte. Es war so albern gewesen zu denken, dass er und Lilly einen geheimen Plan zur Rettung ihres Liebeslebens geschmiedet hatten. Sie griff nach dem Handy, doch bevor sie tippen konnte, klopfte es an der Tür.

„Ja, herein!“

Drei Köpfe schoben sich durch den Türspalt, oben der von Mabel, unten die von zwei grau getigerten Katzen, die vorsichtig in den Raum staksten und argwöhnisch an Vivians braunen Lederstiefeln schnupperten.

„Es gibt Essen, Vivian“, sagte Mabel, deren Augen immer noch leicht gerötet waren. „Du musst ja nach der Reise völlig ausgehungert sein.“

„Das ist sehr nett … ich“, Vivian hielt inne, weil eines der Tiere sich auf die Hinterbeine stellte und Anwandlungen machte, seinen Kopf in den Stiefelschacht zu versenken. „Ich komme sofort.“

„Es gibt Fish and Chips. Das hast du früher so geliebt.”

„Ich …“

„Jetzt kommt, ihr zwei, lasst Vivians Sachen in Ruhe.“ Mabel klatschte in die Hände, sodass beide Katzen von den Stiefeln abließen und sich aus dem Zimmer trollten. „Entschuldige bitte, Marks und Spencer sind sehr liebenswürdig, aber auch ausgesprochen neugierig. Katzen-Brüder.“ Sie blieb kurz unschlüssig stehen. „Also, bis gleich. Der Kamin ist schon an.“

Vivian war überzeugt, dass sie in ihrem Leben nie mehr so köstlich essen würde wie an diesem Abend in Hugh Town: Es gab knusprige Pommes, zarten Fisch in krosser Panade und fluffiges Erbsen-Minz-Püree. Nach ihrer zweiten Portion kratzte sie ihren Teller so sauber, dass Mabel ihr erneut Nachschlag anbot.

„Wie früher“, sagte sie und häufte einen Berg Pommes auf Vivians Teller. „Da konntest du davon auch nicht genug bekommen.“

Als Vivian ihrem Blick auswich und stattdessen Marks und Spencer betrachtete, die es sich jeweils auf einem gut gepolsterten Kissen vor dem Kamin bequem gemacht hatten, setzte Mabel sich zu ihrem Gast.

„Dir fehlen die Erinnerungen, nicht wahr, Vivian? An die Besuche auf St. Mary’s? Oder an mich?“

„Ein bisschen.“ Vivian spießte mit der Gabel zwei Pommes auf. „Ich … Wie oft war ich denn hier? Ich meine, es war nicht oft, oder? Nicht so oft, dass ich …“

Mabel schob ihre dünnrandige Brille mit den runden Gläsern in die Haare und presste mit Daumen und Zeigerfinger ihre Nasenwurzel. „Nein, du warst nicht oft hier“, sagte sie dann leise. „Drei- oder viermal. Und seitdem ist so viel passiert in deinem Leben, es ist verständlich, dass du dich nicht mehr erinnern kannst. Dich hierher reisen zu lassen, war immer sehr aufwendig und deine Mutter hat es nicht gerade …“ Sie brach ab und schüttelte den Kopf. „Es spielt keine Rolle mehr. Sie hatte alles so entschieden und es ist nicht mehr zu ändern.“

Vivian schwieg und krallte ihre Zehen in den bunt geblümten, flauschigen Teppich, der einen Großteil des Wohnzimmerbodens bedeckte. Sie aß nur selten hier, hatte ihr Mabel erzählt, als sie Vivian an den kleinen quadratischen Tisch am Fenster geführt hatte. Nur bei hohem Besuch würde hier gespeist, ansonsten äße sie in der Küche.

Vivian fühlte sich nicht wie ein hoher Besuch, sondern hatte plötzlich das Gefühl, als müsse sie sich verteidigen, müsse den Umstand rechtfertigen, dass sie nicht oft hier gewesen war, dass ihre Mutter irgendwann entschieden hatte, dass es zu weit, zu teuer und zu gefährlich war, ein neunjähriges Mädchen auf diese lange Reise zu schicken. Oder zumindest nach London, umsorgt von freundlichen Flugbegleiterinnen und lieben Ladys, die sie nach der Landung zu ihrem Vater in den Ankunftsbereich gebracht hatten. Kerstin, Merle, Joan, Lucy.

Vivian wunderte sich. Das Gedächtnis war ein seltsames Ding. An die Namen von vier der Frauen, die für sie zuständig gewesen waren, konnte sie sich erinnern. Wahrscheinlich war die Erfahrung, allein zu reisen und dabei eine Betreuerin zu haben, die sich regelmäßig um sie kümmerte, ihr Gummibärchentüten mit dem Fluggesellschaftslogo oder – welche Glückseligkeit! – eine Dose Cola brachte, zu einschneidend gewesen, um sie zu vergessen.

Mabel hatte sie schweigend beobachtet und räusperte sich jetzt leise. „Ich war eine gute Freundin deiner Großmutter“, sagte sie dann. „Violet Hunter. Sie ist früh gestorben, schon lange vor deiner Geburt. Sie und ihr Mann, dein Großvater James, Gott hab ihn ebenfalls selig, waren für mich wie eine Familie, vor allem nachdem mein Verlobter …“ Sie winkte ab. „Spielt keine Rolle mehr. Das ist Jahrzehnte her.“ Sie zog ein Taschentuch aus ihrem Ärmel und schnäuzte sich umständlich, bevor sie fortfuhr. „Violet stammte wie ich nicht von den Scilly-Inseln, sondern aus St. Ives, sie hat hierher geheiratet und ich bin ihr gefolgt, später, nachdem William … sich anders entschieden hat. Und ich habe es nie bereut. Es ist ein Paradies hier, Vivian, es ist ein wahres Paradies, trotz der Touristen und Reichen, die hier im Sommer doch sehr zahlreich sind. Vielleicht kannst du morgen vor … vor der Kirche noch einen kleinen Spaziergang machen. Zwanzig Meter rechts von meinem Haus führt ein niedriger Durchgang durch die Garnisonsmauer, und danach beginnt ein wunderbarer Rundweg entlang der Küste, mit Blicken auf unsere Nachbarn, auf St. Agnes, auf Samson, Bryher, Tresco, St. Martin’s, die im blauen Meer liegen wie Karibikinseln. Oh doch, glaub mir, morgen wird die Sonne scheinen. Du kannst den äußeren Küstenpfad nehmen oder innerhalb der Garnisonsmauer wandern, dann bist du höher und der Blick ist noch besser. Am Ende kommst du direkt am Hafen raus, unserem bezaubernden Hafen, wo selbst jetzt noch, im November, zahlreiche Bötchen schaukeln und …“ Mabel schüttelte den Kopf und stand auf, um die Teller ineinander zu stapeln. „Ich weiß, ich höre mich an wie eine Fremdenführerin, das passiert einfach, wenn man jedes Jahr mehreren hundert Gästen dasselbe erklärt.“

Vivian überlegte, ob Mabel in der Tourismusbranche arbeitete, wie wohl der Großteil der Insulaner, doch bevor sie danach fragen konnte, sprudelte es weiter aus Mabel heraus.

„Du gehst morgen früh einfach los, wenn du Lust hast, ob nach links oder rechts ist ganz allerlei, ich verspreche dir, du wirst auf St. Mary’s nicht verloren gehen.“ Sie lachte auf, was ihr vorwurfsvolle Blicke von Marks und Spencer einbrachte. „Und wenn du dich doch verirrst, dann schicken wir Paddy und seinen Schnüfflerhund Tesco zu deiner Rettung los. Tesco ist ein toller Hund, akzeptiert aber keine Hausbewohner neben Paddy, deswegen kann Caroline auch nicht bei ihm schlafen und muss im Star Castle Hotel nächtigen. Armes Ding. Wobei“, sie lachte erneut, doch dieses Mal waren die beiden Kater vorgewarnt und zeigten keinerlei Regung, „es gibt Schlimmeres, als sich einen Aufenthalt im Luxushotel leisten zu können, wenn du mich fragst. Ich persönlich habe ja den Verdacht, dass es gar nicht an Tesco liegt, sondern am Zustand von Paddys Wohnung, dass er keinen Besuch empfängt. Meistens ist er ja eh bei den Ladys. Er ist nur im Sommer hier, dann fliegt er Touristen und fischt ein bisschen, ansonsten ist er bei seiner aktuellen Freundin und … ja, was er da macht, das wissen wir eigentlich gar nicht.“ Sie kicherte. „Ich werde Caroline morgen mal fragen.“

Sie holte tief Luft, was Vivians Chance war.

„Ich weiß nicht, ob ihr Zweitname Caroline ist“, sagte sie schnell, „aber die Dame von heute heißt eindeutig Iris.“

Mabel sah sie einen Moment sprachlos an, dann warf sie den Kopf in den Nacken und kicherte. Marks oder Spencer spitzte die Ohren und schob dann eine Pfote über seinen Kopf, sein Bruder lag bewegungslos auf dem Rücken und streckte alle Viere von sich. „Stimmt“, sagte sie und kniff sich wieder in die Nasenwurzel. „Stimmt ja. Caroline war die Kleine mit der Bienenstockhochsteckfrisur aus Bristol. Sah aus wie Amy Winehouse. Nur viel kräftiger. Jaja. Ach ja, wir verlieren den Überblick bei unserem lieben Paddy. Annabelle war seine große Liebe, seitdem sie weg ist … hat es ihm ein bisschen den Boden unter den Füßen weggezogen.“ Sie neigte den Kopf zur Seite und sah Vivian an. „Du weiß ja, wie das ist“, sagte sie leise.

Unwillkürlich richtete sich Vivian gerade auf, doch bevor sie etwas sagen konnte, stand Mabel auf, nahm die Teller und trug sie in die Küche. Als sie zurückkam, war ihre Miene so ernst, dass Vivian sich nicht mehr traute, etwas zu fragen,

„Wann willst du morgen frühstücken, Vivian? Die Feier beginnt um zehn und wir brauchen nur etwa fünf Minuten zur Kirche.“

Die Feier. Die Kirche. Vivian schloss kurz die Augen. Wie schön wäre es, wenn sie einfach nur eine Touristin wäre, die jetzt mit der Bed-and-Breakfast-Besitzerin besprach, wann sie morgen ihre Rühreier und ihren Kaffee zu sich nehmen wollte. Die nach dem Frühstück eine Brotzeit packen und eine Wanderung um die ganze Insel starten, erst am Abend zurückkehren und den Tag am Kaminfeuer entspannt ausklingen lassen würde. Eine Touristin, die keiner kannte und von der niemand etwas wollte. Sie öffnete die Augen wieder. Nun ja. Wer kannte sie hier schon? Das war nicht das Problem. Paddy hatte sie heute zum ersten Mal gesehen und Mabel kannte nur die kleine Vivian, die früher wohl ein paar Mal zu Besuch gewesen war. Sonst kannte sie niemand auch nur im Geringsten.

Als sie eine gute Stunde später im Bett auf dem Rücken lag und sich den vollen Bauch hielt, stand ihr Entschluss fest. Sie gehörte nicht zu John Hunters Familie. Sie würde morgen nicht in der ersten Reihe sitzen und so tun, als sei das der Fall. Sie würde nach dem Gottesdienst ihrem Halbbruder Philip und seiner Mutter Mary-Ann die Hände schütteln und sich danach dezent zurückziehen. Beide, so hatte Mabel gemeint, seien am Boden zerstört, hätten das Geschehen noch gar nicht wirklich begriffen. Das bestärkte Vivian in ihrem Vorhaben, am Leichenschmaus nicht teilzunehmen. Mary-Ann und Philip würde es schon genug Kraft kosten, ihn durchzustehen, da brauchten sie nicht noch die unbekannte verlorene Tochter von John Hunter, die sie beide noch nie in ihrem Leben gesehen hatten. Am Ende fühlten sie sich verpflichtet, Vivian neben sie zu setzen, mit ihr Small Talk zu betreiben oder gar über den Verstorbenen zu reden.

Kurz bevor sie zu Bett gegangen war, hatte Vivian den Versuch unternommen, ihren Vater ins Gespräch zu bringen, vorsichtig zu erkunden, wie er sein Leben hier gestaltet hatte, bevor der Bauchspeicheldrüsenkrebs es so früh und unbarmherzig beendet hatte. Sie war fast dankbar gewesen, als Mabel erneut in heftiges Schluchzen ausgebrochen war, sich ein Taschentuch vor den Mund gepresst und mühsam herausgebracht hatte: „Nicht jetzt, Vivian.“

Sie hatte nicht weiter insistiert. Vielleicht war es besser, nicht allzu viel zu reden und zu erfahren. Es war leichter, die Beerdigung eines Fremden frühzeitig zu verlassen als die eines Vertrauten.

Ihre Augen wanderten zum Fenster. Sie hatte es gekippt und die Vorhänge nicht ganz zugezogen, konnte aber nicht erkennen, wo sie endeten und den Blick nach draußen freigaben.

Wie dunkel es hier war. Und wie ruhig. Nur einmal war das Schreien einer Möwe zu hören, dann das gedämpfte Bellen eines Hundes.

Ob das Paddys Hund Tesco war? Und ob hier alle Tiere die Namen von britischen Einzelhandelsketten trugen?

Sie ließ ihren Blick zu der Deckenlampe schweifen, deren Umrisse in der Dunkelheit ganz schwach zu erkennen waren.

Und ob es möglich war, dass der Tod eines Menschen eine kleine Insel unter Schock setzte, wenn er doch, wie ihre Mutter es betont hatte, eine Neigung hatte, andere zu enttäuschen. Ob es möglich war, dass sie, Vivian, es versäumt hatte, sich mit ihrer Vergangenheit zu beschäftigen? Und ob es jetzt zu spät war? Vielleicht. Morgen war jedenfalls nicht der geeignete Zeitpunkt dafür.

Über diesem Gedanken fiel sie in einen unruhigen Schlaf, an dessen Ende ein Tag auf sie wartete, den sie nie in ihrem Leben vergessen würde.

Kapitel 9

Es roch anders als zu Hause in München, nicht nur wegen der leichten Lavendelnote, die immer noch im Raum hing. Es war der Duft nach Salz und offener See, der durch das gekippte Fenster drang.

Vivian dreht sich zur Seite, zog die Beine angewinkelt nach oben und atmete tief ein und aus. Vielleicht würde die frische Meeresluft ihren Magen beruhigen, der seit den frühen Morgenstunden zwickte und ihr die Rechnung für die Unmengen an Fish and Chips vom Vorabend präsentierte. Vivian stöhnte leise. Oder war sie schlicht und einfach nervös?

In dem Streifen Sonnenlicht, der durch den Vorhang fiel, irrten Staubpartikel hin und her, von unten drang die gedämpfte, aber unverkennbar gut gelaunte Stimme eines Radiosprechers herauf. Vivian ächzte erneut. Die Deutschen hatten kein Patent auf unerträglich optimistische Guten-Morgen-Shows mit flachem Humor und schlechter Musik.

Sie richtete sich vorsichtig auf, setzte einen Fuß nach dem anderen auf den Teppichboden und stand langsam auf. Die Hände über ihrem Bauch gefaltet ging sie zum Fenster, zog die Vorhänge beiseite und starrte mit offenem Mund hinaus.

Es war, als sei sie über Nacht an einen anderen Ort gebracht worden. Oder als sei der Ort über Nacht in einen Farbtopf gefallen oder durch mehrere Glamour- und andere Filter in ein Paradies verwandelt worden. Der Blick von heute hatte mit dem von gestern nichts zu tun.

Das Meer zu ihrer Rechten, das zwischen zwei Häusergiebeln zu sehen war, lag nicht mehr grau und trist da, sondern schimmerte wie türkisfarbene, leicht bewegte Seide, die heller wurde, je näher sie dem Ufer kam. Der Sandstrand leuchtete golden in der Morgensonne und lockte in gleichmäßigem Abstand kleine Wellen an, die auf ihn zurollten, sich brachen und zurückzogen und einen dunkleren Streifen hinterließen, auf dem ein einsamer Spaziergänger zu sehen war. Die kleine Gestalt bewegte sich nach Westen, wo die Bucht von Felswänden begrenzt war. Als Vivian sich etwas aus dem Fenster beugte, sah sie bis zum Horizont, wo Himmel und Meer sich milchig ineinanderwoben.

Langsam wandte sie ihren Kopf in die andere Richtung, an die sie gestern gar keinen Blick mehr verschwendet hatte. Über Dutzende Dächer hinweg sah sie ein Stück von Town Beach, ein Stück der Hafenmauer und zahlreiche bunte Boote, die im Hafenbecken schaukelten, auf einer Wasseroberfläche, die ein wenig dunkler und bewegter war als die in der südlichen Bucht, aber genauso magisch glänzte.

Als eine Windböe sie an der Nase kitzelte, raschelte es unterhalb des Fensters, und Vivian nahm zum ersten Mal die saftig grünen Bäume entlang von Sally Port wahr, die zwei Palmen, die ihre Wedel flattern ließen, und die üppig blühenden gelben Narzissen in dem schmalen Vorgarten des Hauses gegenüber.

Sie war in England. Im November. Und hatte das Gefühl, gerade auf den Malediven erwacht zu sein.

Die kurze Freude darüber erstarb, als das Radio plötzlich verstummte und kurz darauf Schritte auf der knarzenden Treppe zu hören waren. Vivian wandte sich hastig um und ging auf den Schrank zu, wo ihr schwarzes Kleid bereits auf seinen Einsatz wartete.

Kapitel 10

Die Kirche hieß St. Mary’s, wie die Insel, auf der sie stand, und befand sich in der Church Street. Der Fußmarsch von Sally Port zu dem methodistischen Gotteshaus dauerte nicht einmal zehn Minuten, zu kurz, wie Vivian fand, viel zu kurz. Verstohlen sah sie immer wieder nach links, wenn zwischen den Häusern der Hafen auftauchte und das Meer. Mittlerweile war sie so nervös, dass sie am liebsten eines der Ausflugsboote, die im Hafen auf Gäste warteten, bestiegen hätte, um sich so weit wie möglich von der Insel zu entfernen. Aber dazu hätte sie sich von Mabel losmachen müssen, die sich bei ihr untergehakt hatte, diese fremde, kleine, untersetzte Frau, die ihren Vater sein ganzes Leben gekannt hatte, länger, viel länger als sie, seine Tochter.

Vivian schnaufte leise. Ihr war warm in ihrem langärmeligen schwarzen Kleid und den blickdichten Strumpfhosen. Zumindest ihren Cardigan hätte sie gerne ausgezogen, aber auch dafür hätte sie Mabel ihren Arm entziehen müssen, und diese schien umso mehr ihre Stütze zu benötigen, je näher sie ihrem Ziel kamen. Vivian holte tief Luft, aber es half nichts gegen den Druck in ihrem Bauch. Sie hatte vorhin keinen Bissen hinunterbekommen und nur einige Schlucke Pfefferminztee getrunken, dennoch fühlte es sich an, als sei ein Mühlstein in ihrem Magen versenkt worden.

Als die Kirche in ihren Blick kam, blieb Vivian abrupt stehen. In ihrer Erinnerung war es ein recht mächtiges Gotteshaus, aber jetzt sah sie einen grau-braunen, schmucklosen Backsteinbau, der von einem seltsam gedrungenen Turm nur wenig überragt wurde. Davor schien die gesamte Inselbevölkerung versammelt zu sein.

„Wie sollen all diese Menschen in die Kirche passen?“, flüsterte Vivian.

„Die Kirche ist nur der Treffpunkt“, sagte Mabel lächelnd und zog sie mit überraschend resoluter Kraft weiter. „Wir verabschieden John am Meer.“ Einige der Menschen, von denen auffällig viele farbig gekleidet waren, hörten auf zu sprechen, als sie Mabel und ihre Begleiterin wahrnahmen. Vivian verlangsamte erneut ihren Schritt und fühlte im selben Moment Mabels Hand auf ihrem Unterarm.

„Keine Sorge, Sweetheart. Wir sind alle für dich da.“

Eine schmale Frau in einem geblümten Kleid löste sich aus der Gruppe der Wartenden und kam ihnen entgegen. Ihr folgte ein junger, schlaksiger Mann mit dichten, kastanienbraunen Haaren, die sich leicht wellten und Vivian eigentümlich vertraut vorkamen.

„Vivian, wie schön, dass du es geschafft hast“, sagte die Frau so leise, dass der leichte Wind die Worte fast davontrug. „Ich bin Mary-Ann, Johns Frau. Und das hier …“, sie zog den jungen Mann, der neben sie getreten war und aus der Nähe kaum älter wirkte als die Schüler aus Vivians elfter Klasse, noch dichter an sich heran, als wolle sie sichergehen, dass er ihre Seite nicht verließ, „ist Philip. Dein Bruder.“

Während Mabel, Mary-Ann und Philip über das Glück mit dem Wetter plauderten, ließ Vivian ihren Blick rasch über die vielen unbekannten Gesichter um sie herum wandern und sprach sich innerlich Mut zu. Der Plan, unauffällig in der letzten Reihe der Kirche Platz zu nehmen und sich danach abzuseilen, würde zwar nicht aufgehen. Aber sie konnte sich immer noch unter die vielen Menschen mischen und am Ende der Veranstaltung dezent verschwinden. Unbedingt vor dem Leichenschmaus, der in einem Pub am Hafen stattfinden sollte. Das hatte sie Mabel auch angekündigt, die zwar nachdenklich geschaut, dann aber ihr Verständnis geäußert hatte.

Als sie ihren Namen hörte, zwang Vivian ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Gespräch zwischen Mabel und Mary-Ann.

„Ach wirklich?“, sagte diese gerade und schenkte Vivian ein Lächeln, dem anzusehen war, wie viel Anstrengung es ihr bereitete. „Unterrichten, arbeiten im Café und jetzt noch eine Ausstellung. Wie wundervoll, dass du es trotzdem einrichten konntest.“

Vivian sah rasch zu Mabel. Hatte sie ihr von der Arbeit im Café Glück erzählt? Woher wusste Mabel von der Ausstellung, deren Durchführung so ungewiss war wie die Sache zwischen Jonas und ihr? Bevor sie etwas sagen konnte, trat ein großer Mann mit breiten Schultern zu ihnen, den Vivian nur an seinem weißen Stehkragen als Geistlichen erkannte. Er trug ein blaues Hemd, schwarze Jeans und eine Frisur so blond und bürstig und stehend, dass Vivian kurz dachte, Billy Idol stünde vor ihr und nicht Pfarrer Robert Green, der sich ihr freundlich vorstellte.

„Mary-Ann, ich würde sagen, wir gehen langsam los“, sagte er dann, und seine Stimme klang überraschend sanft und melodisch wie die eines Schnulzensängers. „Machen wir den Anfang, damit uns alle folgen.“

Er nickte Vivian kurz zu und ging dann langsam in Richtung Straße. Die Menschen wichen ein wenig vor ihm zurück und bildeten ein Spalier, durch das der Geistliche gemächlich schritt. Ihm folgten Mary-Ann, die sich bei Philip untergehakt, und Mabel, die Vivian bei der Hand genommen hatte.

Als die über hundert anwesenden Menschen sich ebenfalls in Bewegung setzten, begannen die Glocken der St. Mary’s Church zu läuten.

„Ist das legal?“ Vivian musste fast schreien in dem Gejohle und Gejubel, das sich erhoben hatte.

Mabel schnäuzte in ihr Taschentuch und zuckte dann mit den Schultern. „Es ist hundertprozentig John!“, rief sie.

Fasziniert verfolgte Vivian das Flugzeug, das jetzt eine weite Rechtskurve flog, um danach wieder die Insel anzusteuern. Davor hatte Paddy die Propellermaschine auf das Meer hinausgesteuert, um seinen Wellen die Asche von John Hunter anzuvertrauen. Direkt. Nicht in einer speziellen Urne, die in Deutschland bei Seebestattungen gesetzlich vorgeschrieben war.

Von der Kirche aus waren sie zum nahegelegenen Portmellon Beach gelaufen, einem breiten Sandstrand in einer kleinen Bucht, die an das Hafenbecken grenzte. Pfarrer Green hatte nur kurz gesprochen, höchstens zehn Minuten, und anfangs auch erklärt, warum. John Hunter habe nicht an Gott und die Kirche geglaubt, und der Grund, warum er, Pfarrer Green, hier spreche, sei nicht sein Beruf, sondern die Tatsache, dass sie sich seit der Grundschule kannten.

„John hat an das Leben geglaubt, und an die Freundschaft. Vor allem aber an die Familie und die Liebe.“

An dieser Stelle waren vereinzelte Schluchzer zu hören gewesen, die der auffrischende Wind lauter und leiser werden ließ, während Vivian so tat, als bemerke sie weder Mabels Finger, die ihren Handrücken tätschelten, noch ihren trauerumflorten Blick. Sie war froh, als Pfarrer Green den Anflug von Paddy ankündigte, der einen von Johns letzten Wünschen erfüllen würde.

Jetzt dröhnte die kleine Maschine über sie hinweg, über das Geklatsche und Gelächter, die „John“- und „Hooray“-Rufe. Vivian legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen, roch die frische Luft, die Algen, die nahe See, spürte, wie ihre Haare flatterten, und hatte plötzlich das Verlangen, loszulachen und gleichzeitig zu weinen. Über die ausgelassene Stimmung, über die absurde Situation, in der sie sich befand, über ihren leiblichen Vater, dessen Asche gerade auf den Grund des Atlantiks sank, über Jonas, den sie vermisste, über Ben und Eva und ihr Kind, über Lilly und Alex und ihr Kind und über die vielen Augenpaare, die sich während der Ansprache von Pfarrer Green auf sie gerichtet hatten – das hatte sie gespürt. Einmal hatte eine Person so laut aufgestöhnt, dass Vivian sich umgedreht hatte, um zu sehen, ob jemand Hilfe bräuchte. Es war Iris gewesen, die nach ihrem Klagelaut rasch die Hand vor den Mund gepresst und in ihrer Handtasche, einem kleineren Modell als der Bitch-Bag, nach einem Taschentuch gesucht hatte. Als Vivian sich gerade wieder umdrehen wollte, nahm sie den Blick eines älteren Mannes in einem Tweed-Anzug wahr, der auf ihr ruhte. Als er merkte, dass sie ihn ansah, neigte er seinen Kopf Richtung Iris, verdrehte die Augen und zwinkerte dann Vivian zu. Sein Gesicht war zerfurcht, wie bei einem Menschen, der häufig Wind, Wetter und Sonne ausgesetzt war. Vivian hatte ihm hastig zugenickt und sich schnell umgewandt.

Das Motorengeräusch des Flugzeugs, das zurück zum Flughafen flog, und die fröhlichen Rufe waren verstummt. Der Wind hatte nachgelassen, sodass jetzt das Schluchzen von Mary-Ann deutlich zu hören war. Sie stand so nah am Wasser, dass die Ausläufer der Wellen die Spitzen ihrer flachen schwarzen Schuhe berührten. Ihre Schultern bebten. Neben ihr, ohne sie zu berühren, stand Philip, den Kopf starr auf das Meer gerichtet. Wolken waren aufgezogen, Möwen segelten knapp über den Wellen dahin.

Pfarrer Green wandte sich zu den Trauergästen. Der böige Wind hatte seinen blonden Bürstenhaaren nichts anhaben können, aber Vivian sah ihm an, dass er ebenfalls geweint hatte. Mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken löste er die offizielle Feier für John Hunter auf und bedeute den Anwesenden, den Rückweg anzutreten.

Vivian sah sich um, sah Mabels gerötete Augen, spürte, wie sich die Hand der kleinen Frau wieder um ihre schloss, und verwarf den Plan vom früheren Rückzug endgültig. Sie würde am Leichenschmaus für ihren Vater teilnehmen.

Die unverputzten Wände des Mermaid Inn waren kaum auszumachen unter den unzähligen gerahmten Fotografien von früheren und heutigen Bewohnern der Insel, den Bildern von Bands, die hier aufgetreten waren, den zahlreichen Postkarten und Fahnen aus aller Welt, den Rettungsringen, Fischerkörben, Flaschen, Schiffsmodellen und Seemannsknoten.

Das Pub am westlichen Ende des Hafenbeckens war in früheren Zeiten beliebter Treffpunkt für Fischer, aber auch für Schmuggler und Piraten gewesen, und wenn Vivian sich so umsah, schien ihr der Gedanke nicht abwegig, dass einige Nachkommen der eher unrühmlichen Inselbewohner heute ebenfalls hier waren.

Der Mann mit dem zerfurchten Gesicht stand am Ende des holzvertäfelten Bartresens, direkt unter eine Flagge mit Totenkopf und einem Steuerrad, die an der niedrigen Decke befestigt waren. Zu ihm hatten sich einige ältere Herren gesellt, die nicht weniger mitgenommen aussahen als er.

„Verwandte von John“, raunte Iris, die sich neben Vivian auf die gepolsterte Fensterbank gesetzt hatte. „Alle trinkfest, meint Paddy“, fügte sie ungefragt hinzu.

Das Pub war bis auf den letzten Platz besetzt, auch wenn Mary-Ann, Philip, Pfarrer Green und einige andere Besucher der Trauerfeier nicht mitgekommen waren.

„Es ist zu viel für Mary-Ann“, hatte Mabel erklärt. „Aber mach dir keine Sorgen, Sweetheart, sie ist gut umsorgt, und wird sich die nächsten Monaten nicht retten können vor Besuch, selbst gebackenen Scones und warmen Suppen.“

Mabel selbst dagegen lebte auf, als sie das Pub erreicht hatten, wurde mit großem Hallo von einer Gruppe Damen in pastellfarbenen Strickjacken empfangen und zu einem Ecktisch gezogen, wo sie bald schon in eine Bridgerunde vertieft waren.

„Gibt es denn noch … ein offizielles Programm?“, fragte Vivian. „Also, Reden, Anekdoten … irgendwas? Weißt du da Bescheid?“

„Ich glaube nicht“, sagte Iris, während sie mit dem Daumen auf das Display ihres Handys tippte. „Wir verbringen den Tag einfach so, wie es John gefallen hätte. Wir essen, trinken, reden, spielen Karten, Dart, Billard, erzählen uns Geschichten, haben Spaß am Beisammensein, essen und trinken wieder, genießen und lieben das Leben. Wie John Hunter!“

„Du … du kanntest ihn sehr gut?“, fragte Vivian zögernd.

Iris sah überrascht auf. „Nein, ich habe ihn nie getroffen. Ich bin zum ersten Mal hier. Wieso?“

„Oh. Ach so. Nur so.“

„Wenn du an die Bar gehst, bringst du mir ein Bier mit?“

„Ich … ich glaube, ich werde bald aufbrechen, mir geht es nicht so …“

„Wie bringst du das fertig?“ Iris sah sie mit großen Augen an. Ihre zündholzlangen Wimpern fächerten so eifrig, dass Vivian erwartete, jeden Moment einen leichten Lufthauch zu spüren. „Er war doch dein Vater!“

„Ja, aber … Ich … Er und ich … Wir kannten uns …“ Vivian stand abrupt auf. Ihr Magen rumorte, aber erneut nicht vor Hunger. „Ich hole uns was zu trinken.“

Sie drängte sich mit einem entschuldigenden Lächeln zwischen zwei der älteren Herren hindurch an die Bar und winkte der etwa fünfzigjährigen Frau mit den rostroten Haaren, die gerade den Tresen abwischte.

„Ein Bier, bitte, und eine Tasse …“ Sie fing den Blick des Mannes neben ihr auf. Anders als bei seinen Freunden war seine gebräunte Gesichtshaut nicht zerfurcht, sondern spannte sich wie ein straffes, glattes Segel um seinen kahlen Schädel. Seine Lider verdeckten seine Augen zur Hälfte und es sah aus, als läge es nicht an der Tageszeit, sondern sei ein dauerhafter Zustand. Er sah nicht so aus wie die Mitglieder seiner Seeräubergang, gehörte aber eindeutig zu ihr, denn die schlecht verheilte Narbe, die vom äußeren Rand seiner rechten Augenbraue bis zum rechten Mundwinkel verlief, war Zeugin eines erbitterten Kampfes, wie ihn, davon war Vivian überzeugt, nur raue Typen ausfochten, mit ihresgleichen, mit wilden Seeungeheuern oder den Gezeiten oder –

„Bekanntschaft mit Bierflasche“, brummte der Mann mit einer Stimme, die klang wie mit Whisky geölt, und klopfte auf seine Wange, „hat meine Ex nach mir geworfen.“

„Oh. Ach so.“ Vivian wandte sich wieder der Frau hinter dem Tresen zu, die ihre Hand in die Hüfte gestützt hatte und sie abwartend ansah. „Äh … ein Bier. Und eine Tasse Schwarztee, bitte.“

„Und für mich bitte noch einen Scotch, Betty“, brummte der Mann.

Vivian hatte es sich ausgerechnet: Sie würde den Tee drei Minuten ziehen lassen, ihn zehn Minuten trinken und dabei Small Talk mit Iris machen, die ihr aufgrund ihrer fehlenden Beziehungen zur Insel und zu John Hunter gerade als am wenigsten verunsichernde Gesprächspartnerin erschien. Danach würde sie sich von Iris verabschieden. Die Trauer. Sie sei so überwältigend. Sie müsse sich zurückziehen wie Mary-Ann und Philip. Das müsse man verstehen. Er war doch ihr Vater!

„Liebes!“

„Was?“

Betty zog eine schmal gezupfte Augenbraue hoch. „Einen Tee. Okay. Und was für ein Bier, Liebes?“ Sie machte eine ausladende Handbewegung über den Tresen, an dem sich ein Zapfhahn an den nächsten reihte.

„Oje.“ Vivian tat, als überlege sie kennerhaft, obwohl ihr keiner der Namen etwas sagte. „Ähm, das da, bitte, das zweite von rechts.“

„Das zweite von rechts, wie gewünscht.“

Während das malzbraune Bier in ein Pintglas floss, stand der Mann auf, der Vivian während der Trauerfeier zugezwinkert hatte, und reichte ihr die Hand. „Ich bin Jack, ein Cousin von deinem Vater. Weißt du sicher schon. Und das sind“, er zeigte zu Vivians Linker, „… meine Brüder Robert und Henry und …“, er wies in die andere Richtung, „… Bill und Peter.“

Vivian hörte vielschichtiges Brummen und nickte rasch in beide Richtungen.

„Wir sind quasi deine Onkels“, fuhr Jack fort und offenbarte zwei Reihen schiefer Zähne. „Also, wir kommen dem am nächsten, John hatte ja keine Geschwister.“

„Dein Bier, Liebes“, sagte Betty und stellte das Glas, über dessen Rand der Schaum troff, auf den Tisch.

„Du siehst ihm übrigens sehr ähnlich“, fuhr Jack unbeirrt fort und wies mit dem Kopf zu einigen gerahmten Fotos neben der Bar, die Vivian aus der Entfernung nicht genau erkennen konnte„ aber …“

„Aber du bist natürlich viel hübscher als der alte Zausel“, brummte Henry, der Mann mit der Narbe.

„Viel hübscher“, attestierte Peter.

„Yo“, brummte Robert.

„Yo. Dieser Ben ist ein Idiot, dass er sich eine andere gesucht hat“, murmelte Bill so leise, dass Vivian sich nicht sicher war, ob sie ihn verstanden hatte, auch weil im selben Moment die Eingangstür aufschwang, einen Schwall frische Meeresluft in das Pub schickte und dann mit lautem Krachen zuflog.

Sie sah verkrampft lächelnd von einem zum anderen und zuckte zusammen, als sich plötzlich zwei Hände auf ihre Schultern legten.

„Kaum da und schon in die Fänge der Fab Five geraten“, sagte eine Stimme hinter hier. „Meine Herren, ich muss euch enttäuschen, unser hoher Besuch ist bereits vergeben, an einen hohen Beamten.“

Jack grinste. „Unser perfekter Piloten-Paddy. Vielleicht kümmerst du dich lieber um deine eigene Miss. Hat momentan nur ihr Handy, an dem sie sich festhalten kann.“

Er verfiel in dröhnendes Gelächter, in das seine Brüder nacheinander von links nach rechts einstimmten.

Vivian wandte sich langsam zu Paddy um und sah ihn stirnrunzelnd an. „Was meinst du?“, fragte sie

„Er ist doch verbeamtet, oder?“

„Wer?“

„Na, dein neuer Freund. Julius, Jonah, Jeremy … vergessen.“

„Er ist nicht mein … Woher weißt du …“

„Liebes, Earl Grey oder English Breakfast?“

„Was?“

Betty trommelte mit ihren korallenfarbenen Nägeln auf den Tresen. „Dein Tee. Earl Grey oder English Breakfast?“

„Sie trinkt Tee?“, fragte Paddy.

„Sie trinkt Tee“, sagte Betty und bewegte nun auch die zweite Augenbraue. Sie stemmte ihre Hand wieder in die Hüfte und sah Paddy abwartend an.

„Du trinkst keinen Tee“, sagte er, legte Vivian seinen Arm um die Schultern und drückte sie an sich. „Nicht jetzt und heute, nicht an einem Tag wie diesem. Nicht bei deinem ersten Besuch nach zwanzig Jahren. Verstanden? Ich will mit dir anstoßen, okay?“

Vivian rollte mit den Augen. „Okay.“

Nachgeben, dachte sie, nachgeben, Bier trinken, Small Talk machen, nach Hause gehen. Dauert nicht viel länger als mit dem Tee.

„Perfekt.“ Paddy grinste. „Betty“, rief er und drehte seinen erhobenen Zeigefinger in der Luft. „Einmal Ale für alle!“

Kapitel 11

Sie lag schon eine Weile wach und lauschte dem Pochen in ihren Schläfen, bis sie sich entschloss, die Augen zu öffnen. Leider schlich nur das rechte Lid nach oben, das linke versagte den Dienst, sodass Vivian auch gleich wieder das andere schloss. Es war ohnehin besser, ihre Konzentration auf den Bauch zu richten, dorthin zu atmen, wo sie ständig Druck spürte, der mal leichter, mal intensiver wurde. Sie blieb auf dem Rücken liegen, ohne Decke, weil ihr warm war, und breitete die Arme zur Seite, stieß mit ihren Fingern an etwas Hartes, seufzte und war schon fast wieder eingeschlafen, als ein brummendes Geräusch die Stille unterbrach.

Vivian stöhnte und öffnete erneut die Augen. Als ihr Sichtfeld wieder eingeschränkt blieb, griff sie mit der Hand an ihren Kopf, fuhr über ihre Stirn, ihr linkes Auge, stutzte und zog schließlich an dem elastischen Band.

Eine Weile starrte sie auf den Gegenstand in ihrer Hand.

Warum um alles in der Welt trug sie eine Augenklappe? Wie ein Seeräuber?

Als der Druck auf ihren Bauch wieder zunahm, richtete sie ihren Blick langsam in seine Richtung.

„Hey“, flüsterte sie.

Marks oder Spencer hob kurz seinen getigerten Kopf, um dann unbeeindruckt seine zukünftige Schlafstatt, die Gegend um Vivians Bauchnabel, weiter mit seinen Pfoten plattzutreten. Sein Schnurren war so laut, dass es Vivians Kopfschmerzen verstärkte.

„Hör zu“, sagte sie leise und merkte, wie trocken ihr Mund war. „Du springst unverzüglich von mir herunter. Dann passiert uns beiden nichts.“

Marks oder Spencer machte keine Anstalten, der Aufforderung Folge zu leisten, sondern drehte sich, schnurrend und tretend, einmal um die eigene Achse.

„Wenn du aber meinen Bauch weiter malträtierst, dann …Dann kann ich für nichts garantieren. Mir ist seit vierundzwanzig Stunden flau im Magen und der Abend gestern hat nicht unbedingt zur Besserung beigetragen.“

Der Kater sah sie wieder an und kniff dann behaglich seine Augen zusammen, bevor er sich umständlich niederließ. Kaum hatte er seine Vorderpfoten fest unter seinen Bauch wie in einen Muff gesteckt, klingelte es so durchdringend, dass er fauchend vom Bett sprang und aus der weit offen stehenden Tür schoss.

Die kleine Wolken aus Haaren, die er hinterlassen hatte, sank langsam auf Vivians Bauch herunter. Es klingelte erneut.

„Mabel …“, murmelte Vivian. „Aufmachen …“

Sie hörte, wie sich im Erdgeschoss ein Schlüssel im Schloss drehte, und kurz darauf Schritte auf der Treppe, die so energisch waren, dass es nicht die ihrer Gastgeberin sein konnten.

Wakey, wakey!“ Paddy erschien im Türrahmen. Er trug wieder die schwarze Hose und das weiße Hemd, die er auch bei Vivians Ankunft getragen hatte. „Wenn du deinen Flieger in London kriegen willst, müssen wir jetzt los. Jetzt.“

„Oh bitte, nicht so laut und nicht so …“

„Jetzt, Vivian.“

„Ich kann nicht so schnell …“

„Oh wow, der eintätowierte Anker an deinem Knöchel macht sich wirklich hervorragend!“

„Wie bitte?“ Vivian fuhr hoch, winkelte ihre nackten Beine an und inspizierte ihre Füße. „Heilige Sch… Wieso … Woher …“ Sie erinnerte sich vage, traute aber ihrem Gedächtnis gerade nicht.

„Zweimal duschen und das Teil ist weg, keine Sorge.“ Paddy griff nach ihrer Jeans, die über der Stuhllehne hing, und warf sie auf das Bett. „Komm schon, Vivian, los geht’s. Du hast zwanzig Minuten. Wer feiern kann, kann auch fliegen.“

„Ist ja gut.“ Als Vivian ihre Beine aus dem Bett schwang, stieß sie mit der Hand wieder nach dem harten Gegenstand und hob ihn hoch.

„Genau, vergiss das Bild von deinem Vater nicht.“ Paddy warf einen Pulli in ihre Richtung. „Und verlass die Insel rasch, bevor rauskommt, dass du es dem Mermaid Inn geklaut hast.“

20 Stunden vorher …

Vivian trank das Bier so schnell, dass ihr leerer Magen empört gurgelte. Sie saß zwischen Iris, die ihr Glas nach ein paar kleinen Schlucken mit gekräuselter Nase weggeschoben und sich wieder ihrem Handy zugewandt hatte, und Paddy, dessen Knie ihres berührte und dessen Blick sie immer wieder taxierte.

„Wahnsinn, wie ähnlich du John siehst“, sagt er. „Und Philip.“

„Hm.“ Vivian lehnte ihren Kopf weit nach hinten, um den letzten Rest Bier zu trinken. „So“, sagte sie dann. „Ich würde jetzt allmählich …“

„Weißt du, dass er am liebsten hier saß, wo du jetzt sitzt? Hier am Fenster, den Billardtisch und den Raum gut im Blick?“

„Ich …“

„Und weißt du …“, Paddy wies mit seinem Glas, es war schon das zweite seit seiner Ankunft, in Richtung Bar, „dass Betty seine erste große Liebe war? Mit sechzehn war er so sehr verliebt in sie, er hat Henry, seinen Cousin, den du ja jetzt auch schon kennst, angefleht, ihm ihren Namen quer über die Brust zu tätowieren. Henry war ja viele Jahre Tätowierer in London, aber bei seinem jungen Cousin hat er sich schlicht geweigert. Gott sei Dank. Es ist ja nicht so, dass Betty die letzte Frau in seinem Leben geblieben wäre, wofür du“, jetzt hob er das Glas in Vivians Richtung, „der lebende Beweis bist.“

Vivian schob ihre Nase noch weiter in ihr leeres Bierglas.

„Und weißt du, dass der nette Herr dort hinten in der Ecke eines seiner Lieblingsmotive war?“ Paddy prostete dem älteren Mann zu, der sein Glas ebenfalls erhob und dann eine Kusshand in ihre Richtung warf. „Ja, das ist William, unser Fischer und Gentleman, es gibt Unmengen Porträts von seiner faltigen Visage und ihm draußen auf dem Meer, er und John haben unzählige Stunden zusammen verbracht. Sind tolle Aufnahmen geworden, ein, zwei hängen hier gleich links von der Bar.“

„Ich hole mir noch ein Bier“, sagte Vivian und zwängte sich weg von seinem Knie und seinen Erzählungen, die etwas in ihr auszulösen begannen. Etwas, das ihren Magen und ihr Herz in Aufruhr versetzte und sich unaufhaltbar seinen Weg an die Oberfläche bahnte. Sie wollte gehen und doch hielt etwas sie hier, sie war durcheinander und hoffte, dass ein weiteres Bier diesen Zustand rasch beenden würde.

Als sie wieder zurück an ihren Platz kam, hatten ein Mann und eine Frau ihre Stühle und Gläser an den Tisch von Paddy und Iris getragen und sich gesetzt.

„Viv, das sind Lauren und Patrick, sie waren …“

Sie waren natürlich gute Freunde von John Hunter gewesen. Natürlich. Die ganze Insel schien gut mit ihm befreundet gewesen zu sein und ihre Erinnerungen an ihn teilen zu wollen. Und die ganze Insel schien zu denken, dass Vivian sich freute, all die großen und kleinen Geschichten über ihren Vater zu hören. Lauren und Patrick berichteten von gemeinsamen Wandertouren auf Korsika, die sie mit John, Mary-Ann und Philip und Olivia, ihrer Tochter, unternommen hatten.

„Weißt du, John war wirklich kein großer Sportler, im Gegenteil, aber wandern, das konnte er stundenlang. Er ist ja immer ein Vielfaches von dem gelaufen, was wir zurückgelegt haben. Mal ist er im Affentempo vor uns hergesprintet, um von einer Anhöhe ein Bild von uns zu machen, mal ist er zurückgefallen wegen eines Landschaftsbilds und musste dann rennen, um uns wieder einzuholen.“

So vergingen die Stunden. Nach Lauren und Patrick kamen Jane und Andrew an den Tisch, die Namen danach konnte Vivian sich nicht mehr merken, die einzelnen Anekdoten vergaß sie ebenfalls rasch wieder.

Vivian, weißt du dies, weißt du das. John hat dies, John hat das.

Etwas später am Nachmittag wurden Tee und Kaffee serviert, dazu Etageren, auf denen sich Scones und kleine Sandwiches stapelten, die mit Lachs, Gurke oder Eiern belegt waren.

Vivian trank eine Tasse Tee und dann wieder ein Bier, weil es der Wut, die bei jeder Erzählung über ihren Vater zunahm, die scharfen Kanten nahm. Sie bestrich einen Scone mit Clotted Cream und Marmelade und ließ ihn nach einem Bissen sinken, weil es ihr unhöflich erschien, zu kauen, während ihr jemand davon erzählte, wie aufopferungsvoll sich John Hunter um seinen Vater in dessen letzten Lebensjahren gekümmert hatte.

Vivian, weißt du dies, weißt du das. John hat dies, John hat das.

Gegen Abend durften die Gäste à la carte bestellen, was sie wollten. Dorsch in Bierteig, panierte Scampi mit Pommes, über Nacht gegarte Schweineschulter, Jakobsmuscheln mit getoastetem Ciabatta oder Chorizo-Confit.

Vivian bestellte Scampi, sie liebte Fisch und Meeresfrüchte, aber mit dem Essen kam auch ein junger Mann in Kochjacke und einer weiteren Geschichte. Er erzählte, dass er mit Philip, Vivians Halbbruder, auf die Schule gegangen und sein bester Freund sei und jetzt ein gap year mache, ein bisschen jobbe und dann in London Fotografie studieren wolle. Wie John Hunter es ursprünglich auch geplant habe. Er habe ihm, Oliver, so viel beigebracht.

Weißt du, Vivian, er war so ein guter Lehrer.

Vivian schaute auf den Teller mit den kalten Scampis und den schlaffen Pommes. Draußen, hinter der beschlagenen Fensterscheibe, war es dunkel geworden, und auch in ihr kroch allmählich finstere Stimmung hoch. Sie stellte ihr Bierglas, es war das vierte, auf dem Tisch ab, in normalem Tempo, wie sie dachte, aber ihre Bewegung war so heftig, dass es laut knallte und Oliver sie erstaunt ansaß. Iris, die sich mittlerweile zwischen Vivian und Paddy gesetzt und ihrem Freund den Arm um die Schultern gelegt hatte, rollte mit den Augen.

„Weißt du, Oliver“, hörte Vivian sich sagen und ihre eigene Stimme kam ihr fremd vor, „weißt du, es ist toll, dass John Hunter so ein grandioser Lehrer war und du von seinem Wissen so profitiert hast. Ich konnte das nicht, denn ich hatte mit meinem Vater seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr.“

Paddy beugte sich nach vorne und fasste mit der Hand nach Vivians Arm, doch sie schlug seine Finger weg.

„Er war ein toller Lehrer? Wow! Weißt du was, ich bin auch eine ziemlich gute Lehrerin, aber so was von gut! Ich nehme mal an, dass das keiner hier weiß, mein Vater hat es auf jeden Fall nicht gewusst, er hat sich nicht mehr groß für mich interessiert seit meinem letzten Besuch hier. Und weißt du was, Oliver, es ist wunderbar“, sie hob das Glas in Richtung Bar, „dass Betty seine erste große Liebe war und ich an diesem Glück nun nachträglich teilhaben darf, aber ist es nicht traurig, dass mein eigener Vater nicht weiß, wer meine erste große Liebe war? An wen ich mein Herz zum ersten Mal verloren habe, so gewaltig und absolut, dass ich mir auch am liebsten seinen Namen über die Brust hätte tätowieren lassen? Ist es nicht traurig, dass mein Vater nicht weiß, welches Land ich besucht habe, als ich das erste Mal allein gereist bin, dass er nicht weiß, welche Band ich zum ersten Mal live gesehen habe? Dass er nicht weiß, wie lange ich meine beschissene Zahnspange tragen musste und wie meine Haare aussahen nach meinem ersten Färbeversuch?

John ist also gerne nach Korsika gereist und dort gewandert mit Freunden und Familie – freut mich für ihn, bei uns war so etwas nicht drin, nachdem der Mann meiner Mutter, der übrigens der beste Vater war, den man sich vorstellen kann, von einem Verbrecher in die Hüfte geschossen wurde und in Frührente gehen musste. Nicht nur, dass er sich danach nicht mehr gut bewegen konnte, das Geld war einfach nicht mehr üppig genug, um nach Korsika zu fahren, meine Mutter verdiente schlecht als Teilzeitarzthelferin. Sie wollte eigentlich Medizin studieren, was aber nicht ging mit Baby und verträumtem Mann, der lieber den ganzen Tag fotografierte als arbeiten zu gehen und sie dabei zu unterstützen, auch ihren Traum zu verwirklichen. Oh – und apropos fotografieren, das weiß hier vermutlich auch keiner, aber: Ich kann richtig gut fotografieren! Richtig gut! Wisst ihr nicht? Wundert mich gar nicht? Woher sollt ihr es schon wissen. Anders als John Hunter habe ich aber eingesehen, dass die Welt nicht auf meine Kunst wartet, und habe Konsequenzen gezogen, um mein Leben und mich selbst zu finanzieren und niemals jemandem auf der Tasche zu liegen!“

Vivian hob das Glas wieder an und nahm einen tiefen Schluck. Noch während sie trank, merkte sie, dass es im Raum totenstill geworden war. Scham und Hitze stiegen so schnell in ihr auf, dass ihr fast übel wurde und sie sich innig wünschte, sie könnte ihre Augen so lange auf den Grund ihres Glases richten, bis alle gegangen wären. Aber es ging keiner. Alle saßen und standen bewegungslos, den Blick auf sie gerichtet, so lange, bis Paddy aufstand und Vivian seine erlösenden Worte hörte:

„Betty, schmeiß die Anlage an, ich glaube, wir brauchen jetzt alle ein wenig Musik!“

„Oje, und dann wurde es immer peinlicher.“ Vivian schlug beide Hände vor das Gesicht. „Ich war so betrunken, ich hatte ja den ganzen Tag nichts gegessen.“

„Es wurde immer lustiger“, korrigierte sie Paddy.

Sie hatten den Flughafen von Hugh Town fast erreicht, fuhren durch eine schmale, an beiden Seiten mit meterhohen Hecken gesäumte Straße. Kurz nach ihrer Abfahrt von Mabels Haus war die Sonne durch die Wolkendecke gebrochen und drang jetzt durch die Stellen der Windschutzscheibe, die nicht völlig verschmutzt waren.

„Richtig lustig wurde es“, bekräftigte Paddy. „Es haben Leute getanzt, von denen ich annahm, dass sie wegen ihrer künstlichen Hüftgelenke nicht einmal mehr richtig laufen können. Deswegen hat die Trauerfeier ja so nah am Ort stattgefunden und nicht oben am Hügel bei der Galerie. Schön fand ich auch …“, er schlug lachend mit einer Hand auf das Lenkrad, „deinen Tanz mit Henry und dass plötzlich diese Piratenaugenklappen kursiert sind. Vermutlich waren die vom letzten Kindergeburtstag im Mermaid Inn.“

„Oh Gott.“ Vivian stöhnte. „Und dann dieser kleine Junge, der mir mit so unglaublich viel Spucke diesen Anker auf den Knöchel platziert hat.“

Paddy schlug das Lenkrad erneut prustend. „Yeah, das war Georgie, der Sohn vom Wirt.“

„Hätte ich gewusst, dass Kinder anwesend sind, hätte ich niemals … Moment.“ Vivian runzelte die Stirn. „Wie kam Georgie eigentlich an meinen nackten Knöchel … Hab ich mir … Oh nein“, sie schlug erneut die Hände vor das Gesicht, „stimmt, ich hab mir die Strumpfhose ausgezogen.“

„Ausgezogen, herumgeschwungen und Richtung Henry geworfen.“

„Oh Gott.“

„Dir war eben heiß.“

„Ohgottohgott.“

„Kein Sorge. Mindestens zwei der Fab Five trugen zu dieser Zeit bereits keine Oberbekleidung mehr.“

„Was? Du liebe Güte. Das habe ich nicht mehr präsent.“

„Vielleicht besser. Der erschütternde Anblick hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt und es wird noch Jahre dauern, bis ich mich davon erholt habe.“

„Nur gut, dass ich jetzt weg bin und keinen der Anwesenden mehr sehen muss.“ Vivian zog die Brauen hoch, als sie Paddys Blick sah. „Was? Was siehst du mich so an?“

„Ich schaue dich nicht so an.“

„Hab ich gestern noch irgendetwas … Moment …“ Vivian hielt inne. „Wo war vorhin eigentlich Mabel? Ich habe mich gar nicht von ihr verabschiedet, das ist natürlich dann doch etwas …“

„Mabel ist zu ihren Freunden Theo und Janet. Dort übernachtet sie manchmal, wenn es bei den Bridge-Abenden zu lang wird. Oder zu lustig. Die beiden wohnen direkt neben dem Mermaid Inn.“

„Schade, ich hätte mich gern noch bei ihr bedankt.“

„Kannst du“, sagte Paddy, „sie ist am Flughafen. Allerdings“, er trat das Gaspedal fester und fuhr das Auto mit quietschenden Reifen eine kleine Anhöhe hinauf und grinste, „ist ein Teil der Feiergesellschaft von gestern auch da.“

Kapitel 12

Auf dem Rollfeld neben dem Flugzeug warteten Jack, der zerfurchte Cousin von John Hunter, Pfarrer Green, dessen blonder Bürstenschnitt in der Sonne glänzte und stand wie Beton, während das Kopftuch von Mabel, die sich bei ihm eingehakt hatte und eine überdimensionierte Sonnenbrille trug, wild im Wind flatterte. Ihnen gegenüber standen Mary-Ann, Johns Witwe, Philip, Vivians Halbbruder, und sein bester Freund Oliver, der Vivian am Vorabend die Scampis serviert und irgendwie ihre anschließende Tirade in Gang gesetzt hatte. Sie bildeten ein Spalier, wie Gäste einer Hochzeit, die vor der Kirche Reis oder Konfetti über die frisch Vermählten regnen lassen wollen.

Vivian seufzte. „Ein Abschiedskommando. Wie reizend.“

„Wird kurz und schmerzlos.“ Paddy parkte das Auto mit Schwung vor dem Flughafengebäude, ließ den Zündschlüssel stecken und schnallte sich ab. „Wir müssen innerhalb von fünf Minuten starten. Ein paar Touris sind heute auch dabei.“

Er holte Vivians Rollkoffer aus dem Kofferraum und ging den Wartenden mit raschen Schritten entgegen. Vivian folgte ihm langsamer, kramte in ihrer Handtasche, weil sie hoffte, dass sich darin irgendwo ihre Sonnenbrille befand, hinter der sie ihre vor Müdigkeit kleinen Augen und ihre große Unsicherheit verstecken konnte, aber sie hatte sie nicht eingepackt. Als sie zu Hause aufgebrochen war, hatte der Wetterbericht für München Regen und fünf Grad vorhergesagt, und sie hatte nicht gedacht, dass sie in eine andere, eine wärmere Klimazone gelangen würde, wenn sie nach England fuhr. Da waren nur ihr Geldbeutel, ihr Handy, eine Packung Kaugummis, ein Kugelschreiber und ein Notizbuch. Sowie ein gerahmtes Foto ihres Vaters und eine Seeräuber-Augenklappe.

Paddy verschwand über die fünfstufige Gangway im Flugzeug, nachdem er Mabel und Mary-Ann auf die Wangen geküsst und den Männern auf die Schultern geklopft hatte. Vivian holte tief Luft und beschleunigte ihren Gang. Kurz und schmerzlos.

„Guten Morgen, meine Liebe“, rief Pfarrer Green und streckte ihr seinen freien Arm entgegen. Er trug eine abgewetzte Jeansjacke, die den gleichen Blauton wie seine Hose hatte. „Es war uns eine Freude, dass du hier warst.“

Vivian schüttelte seine Hand, umarmte Mabel, die leise schniefte, und ließ sich schließlich von Jack an seine Brust drücken, an sein Hemd, das nach Tabak und Kaffee roch. Als sie sich zur anderen Seite des Spaliers umwandte, sah sie Paddy, der an das Fenster des Cockpits klopfte und dann mit dem Zeigerfinger auf seine Armbanduhr klopfte.

Sie verabschiedete sich rasch von Oliver, schlang ihre Arme für ein paar Sekunden um Philip, dessen Augen eine Kopie von ihren waren und der sie heute zum ersten Mal anlächelte, und stand schließlich vor Mary-Ann.

„Ich … Es war sehr schön, dass ich euch …“ Vivian brach ab. Das Gesicht von Mary-Ann war aschfahl und in ihrem beigefarbenen Trenchcoat wirkte sie noch schmaler und zerbrechlicher als am Tag der Trauerfeier.

„Es war wunderbar, dass du hier warst, Vivian“, sagte sie mit erstickter Stimme. „Komm jederzeit wieder, du bist hier immer willkommen.“

Vivian nickte. Sie schluckte gegen den Kloß an, der sich in ihrem Hals bildete, winkte noch einmal rasch in die Runde und begann, die Gangway hinaufzugehen.

„Hey, Vivian!“

Sie wandte sich um zu Jack, der gerufen hatte und sie grinsend ansah.

„Ja?“

„Dein erstes Livekonzert war gleichzeitig das letzte, das Curt Cobain jemals gegeben hat.“

Vivian starrte ihn an. Der Wind hatte nachgelassen, sodass sie jedes seiner Worte deutlich verstand.

„Nirvana, 1994, im Terminal 1 des Münchner Flughafens. Du warst da mit deinem Cousin Robert, der damals schon volljährig war.“

Vivian stieg langsam wieder eine Stufe nach der anderen nach unten.

„Vier Jahre später warst du bei den Spice Girls in der Olympiahalle.“ Jack grinste breit. „Erzählst du aber nicht so gern.“

Vivian wollte etwas erwidern, aber Mabel kam ihr zuvor. Sie hatte ihre Brille abgenommen und blinzelte mit leicht verquollenen Augen gegen die Sonne. „Die erste Reise, die du ganz allein unternommen hast, hat dich nach Portugal geführt, liebe Vivian. Dort warst du im ersten Semester deines Studiums, es hatte keiner Zeit, dich zu begleiten, deswegen warst du auf eigene Faust dort.“

„Und sie waren grün“, sagte jetzt Pfarrer Green. „Grün wie mein Name. Als du deine Haare zum ersten Mal mit Henna färben wolltest, sollten sie schwarz werden. Sie wurden aber grün. Moosig-schlammig-grün.“

„Deine Zahnspange hast du mit vierzehn rausbekommen“, sagte Philip und schenkte ihr zum ersten Mal ein offenes, warmes Lächeln. „Den Tag hast du groß gefeiert.“

„Mit dem Kauf einer CD in einem großen Münchner Musikladen, den es inzwischen nicht mehr gibt“, ergänzte Oliver und zwinkerte ihr zu. „WOM in der Fußgängerzone. World of Music.“

„CD von den Spice Girls?“, fragte Jack.

Oliver zuckte mit den Schultern. „So genau bin ich nicht informiert.“

Oasis, dachte Vivian und stieg die letzte Stufe wieder hinunter. Sie sah zu Mary-Ann, die ihren Blick stumm erwiderte und schließlich, während sich die Tränen lösten und über ihre Wangen kullerten, auf Vivian zuging.

„John hat gewusst, dass du eine tolle Lehrerin bist“, sagte sie so leise, dass nur Vivian es hören könnte. „Das wissen wir alle. Und er wollte, dass du einige seiner …“ Ihre Stimme erstickte. Philip trat von hinten an sie heran, legte seinem Arm um ihre Hüfte und nickte Vivian zu. „Du meldest dich einfach, ja?“, sagte er leise.

Der Wind frischte wieder auf, als wolle er andeuten, dass die Zeit für Gespräche mit gedämpfter Stimme jetzt endgültig vorbei sei. Wolken schoben sich vor die Sonne. Vivian stand wie angewurzelt am Ende der Gangway und zuckte zusammen, als sie plötzlich Hände auf ihren Schultern spürte.

„Komm, Vivian“, sagte Paddy. „Wir müssen. Die anderen Passagiere sind schon etwas ungeduldig.“

Die Gestalten am Rand der Start- und Landebahn wurden kleiner und kleiner und verschwanden schließlich aus Vivians Sichtfeld. Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Was waren das für achtundvierzig Stunden gewesen.

„Ist Ihnen nicht gut?“

Vivian sah auf. Das ältere Paar, das auf der anderen Seite des Ganges saß, sah sie mit freundlichen Mienen an.

„Danke, es ist nichts.“ Sie bemühte sich zu lächeln. „Ich bin nur müde.“

Das Flugzeug flog zwischen dem Atlantik und den Wolken, zwischen einem leicht bewegten, aus verschiedenen Blautönen geknüpften Wasserteppich und einer durchgehenden, gelbweißen Masse. Bald waren einige dem Festland vorgelagerte Felsen zu sehen, an denen sich die Wellen brachen, dann die Steilküste. Aus dem Wasserteppich wurde eine Patchworkdecke aus braunen, grünen, gelblichen Feldern, die durch schmale Wege, kleine Seen, Hecken oder Bäume voneinander getrennt waren. Sie flogen über eine belebte Hauptstraße und schnallten sich kurz danach an, als Paddy die Landung ankündigte.

Vivian zog den Reißverschluss ihres Mantels hoch, nachdem sie aus dem Flugzeug gestiegen war. Der böige Wind zerrte an ihren Haaren und blies ihr Regentropfen ins Gesicht, es war deutlich kälter als auf St. Mary’s. Das ältere Paar stieg vorsichtig die Gangway hinunter und ging langsam auf das wartende Taxi neben dem Flughafengebäude zu. Der Mann hatte sich bei seiner Frau untergehakt und schien sich anstrengen zu müssen, um ihr mit seinen kleinen, schleifenden Schritten folgen zu können.

„Du fährst mit ihnen, Vivian“, sagte Paddy. „Ich muss pünktlich zurück. Aber warte kurz …“ Er verschwand wieder im Flugzeug und kam mit einem Paket im Arm zurück. „Hier. Für dich.“

„Was ist das?“

„Ich weiß es nicht genau.“ Paddy zuckte mit den Schultern. „Dein Erbe?“

„Mein Erbe. Du bist ein Scherzkeks.“

„Klein und handlich.“

„Aber trotzdem zu groß für meinen Koffer. Das muss ich extra aufgeben.“

„Bist du schlecht gelaunt?“

„Nein, ich bin nur müde.“

Paddy sah auf seine Armbanduhr und breitete dann seine Arme weit aus. „Das war es, Vivian. Vorerst. Bis zum nächsten Mal. Komm her.“

Sie lehnte sich für einen Moment an ihn, fühlte seine Hände auf ihrem Rücken und schloss erneut die Augen. Ihre Glieder fühlten sich bleischwer an. Eine endlose Rückreise, viele Stunden im Zug, im Flugzeug, in der S-Bahn lagen vor ihr, ein Gedanke, der sie unendlich müde machte. Am liebsten würde sie wieder mit Paddy in das Flugzeug steigen, zurück zu Mabel fahren, sich in das gemütliche Zimmer im ersten Stock legen, wo es morgens nach Salz und Ozean roch, wo sich vom Fenster aus ein Blick über Palmen, Blumen, Meer und Strand bot. Wo sie nicht im Dunkeln aufstehen und in die Schule gehen und desinteressierten Teenagern den Unterschied zwischen Surrealismus und Impressionismus beibringen musste. Wo es keine schwangere beste Freundin gab, die zeitgleich mit ihrem Ex und dessen Frau eine Familie startete, wo kein Jonas Gefühle in ihr auslöste, die schön und schrecklich und atemberaubend anstrengend waren.

Sie hob ihren Kopf, unterstützt von Paddy, der seinen Finger unter ihr Kinn gelegt hatte.

„Viv“, sagte er leise. „Es war alles sehr viel, nicht wahr?“

Sie wollte etwas erwidern, wieder betonen, dass sie nur müde sei und im Zug endlich Zeit hätte, Schlaf nachzuholen, doch sie konnte nichts sagen. Ihr Mund wurde verschlossen. Als sich Paddys Lippen wieder von ihren lösten und sich zu einem Grinsen formten, drückte sie ihn sanft von sich weg.

„Danke“, sagte sie. „Jetzt fühl ich mich sofort besser, fit wie ein Turnschuh. Einmal von dir geküsst und sofort sieht die Welt gleich viel besser aus. Yay.“

„Du bist schlecht gelaunt und zynisch, Vivian Steiner.“

„Was sagt denn Iris dazu, wenn du fremde Frauen am Flughafen küsst?“

„Du bist nicht fremd, Viv. Hast du doch gehört. Wir wissen alles von dir. Und Iris …“ Er winkte ab. „Schläft in ihrem Zweihundert-Pfund-pro-Nacht-Zimmer und wird später mit der Fähre zurück nach Penzance fahren. Fliegen will sie nicht mehr. Nicht mit mir. Zu turbulent.“

„Du bist einfach so voller Leben, Paddy.“

„Haha.“

„Für Caroline warst du auch einfach zu viel.“

„Schleich dich, Viv.“

„Ich bin schon weg.“ Sie nahm den Griff ihres Rollkoffers mit der linken Hand und klemmte das Paket unter ihren rechten Arm. „Mach es gut, Paddy.“

Sie war erst einige Schritte gegangen, als sie ihren Namen hörte, und sich umwandte. Der Wind trieb Paddys rotblonde Haare zu einem wilden Tanz, seine Augen blitzen blau.

„Deine erste große Liebe, Viv? So gewaltig und absolut, dass du dir am liebsten seinen Namen über die Brust hättest tätowieren lassen? Marlon. Süßer Knabe. Hat aber dann mit Jojo aus der Parallelklasse geknutscht, deswegen ist die Beziehung letztendlich zerbrochen. Aber ihr hattet auch gute Zeiten, wart zum Beispiel heimlich beim Konzert von Nirvana, wohin dich offiziell dein Cousin Robert begleitet hat. Weil der ja, anders als Marlon, schon volljährig war. Hattet ihr gut ausgetüftelt, ihr drei, aber eben nicht perfekt. Ich weiß davon, Jack nicht, deswegen hat er vorhin die falsche Variante geliefert. Ich find’s gut, du musst mich nicht so anschauen, ich war genauso. Aber jetzt lauf, Vivian. Lauf und pass auf dich auf und auf das Paket und melde dich.“

Er zwinkerte ihr zu, wandte sich um, war in zwei Sätzen die Gangway hinaufgesprungen und verschwand im Flugzeug. Vivian starrte ihm hinterher, machte einen Schritt auf das Rollfeld zu, blieb stehen und ging wieder einen Schritt. Als das Taxi laut hupte, zuckte sie zusammen, wandte sich um und lief zu dem wartenden Auto.

Kapitel 13

Einen Großteil der Zugfahrt durch Cornwall und Devon schlief Vivian dieses Mal. Sie sah nicht, wie die Sonne immer wieder zwischen den Wolken hervorkam und die Landschaft in strahlendes Licht tauchte. Als sie vom Schaffner geweckt wurde, um ihr Ticket zu zeigen, regnete es gerade. Sie sah kurz nach draußen, konnte hinter dem undurchdringlichen grauen Vorhang nichts erkennen, drehte sich wieder zur Seite und nickte erneut ein.

Im Bahnhof Paddington trank sie einen Cappuccino in der Patisserie Valerie, schlenderte dann weiter zu einem Stand, wo sie im Stehen ein Cornish Pastry aß, eine mit Gemüse, Kartoffeln und Rindfleisch gefüllte Teigtasche. Sie hatte das Paket zwischen ihre Füße auf den Boden gestellt und drückte es hin und wieder leicht mit den Unterschenkeln, wie um abzuwägen, was sich wohl darin befand. Weil sie noch etwas Zeit hatte, ging sie danach in eine der Bahnhofsbuchhandlungen und kaufte drei englische Krimis für ihre Familie in München und nach kurzer Überlegung auch einen für Jonas, Germanist hin oder her.

Während der Zugfahrt nach Heathrow lehnte sie ihren Kopf gegen das Fenster, um noch einmal etwas zu schlummern, aber kaum hatte sie die Augen geschlossen, stieg die eine Erinnerung in ihr hoch, die sich in den letzten zwei Tagen herausgebildet hatte. Eine Erinnerung, die erst dunkel und verschwommen gewesen war, sich aber zu einem gestochen scharfen Bild gewandelt hatte, wie ein Fotoabzug in einer Dunkelkammer, der durch das minutenlange Schwenken in der Entwicklerflüssigkeit nach und nach an Klarheit gewinnt.

Vivian presste die Augen fest zusammen, damit das Bild verschwand, in seine Einzelteile zerdrückt wurde und sie so lange in Ruhe ließ, bis sie sicher in ihren eigenen vier Wänden und nicht umgeben von fremden Mitreisenden war.

Am Flughafen gab sie ihre Reisetasche und das Paket auf, passierte die Sicherheitskontrolle, wanderte dann eine Weile ziellos durch die Geschäfte und kaufte schließlich bei Boots eine Packung Aspirin, die so groß war, dass sie nicht nur den aktuellen, sondern auch noch alle folgenden Kater ihres Lebens besänftigen würde. Als sie ihren Geldbeutel aus der Handtasche holen wollte, berührten ihre Finger wieder den Bilderrahmen. Sie öffnete die Tasche ein wenig weiter. Ihr Blick traf auf den ihres Vaters John Hunter, und sie atmete heftig ein, als die Tränen so unvermutet und unerbittlich in ihre Augen schossen. Sie schüttelte den Kopf, als die junge Frau hinter der Kasse sie fragend ansah, ließ die Packung Aspirin auf der Theke liegen, verließ hastig den Laden und rannte zur nächstgelegenen Toilette.

Die letzte Kabine auf der linken Seite war unbesetzt. Vivian versperrte die Tür, setzte sich und holte das Foto heraus, betrachtete ihren Vater, seine Haare, seine Augen, seine zu einem verschmitzten Lächeln verzogenen Lippen, die vielen Fältchen, die sich um seine Augen bildeten.

Sie spürte die Tränen über ihre Wangen laufen, ihr Herz schlug bis zum Hals von der Anstrengung, lautlos zu weinen.

„Papa“, stieß sie so leise hervor, dass sie es selbst kaum verstehen konnte. „Papa.“

Die Erinnerung, sie war jetzt überdeutlich. Sie ließ sich auch nicht mehr wegzwinkern. Sie hatte Vivian eingeholt und sich ihr in den Weg gestellt. Die Erinnerung an den Tag, an dem sie von ihrer Mutter erfahren hatte, dass sie ihren Vater von nun an nicht mehr wiedersehen würde. Die Erinnerung an die Worte, aber mehr noch an den Schmerz, den sie ausgelöst hatten, die Enttäuschung, die Wut, die Ungläubigkeit. Dann die Hoffnung, dass alles nur ein Irrtum war. Vivian wusste nicht mehr, wie viel Zeit vergangen war, bis Resignation die anderen Empfindungen ins hinterste Eck ihres Gefühlslebens verdrängt hatte, aber irgendwann war es passiert: Ihr Vater war nicht nur aus ihrem Leben verschwunden, sondern auch aus ihren Gedanken. Daran änderten auch die Karten oder Briefe nichts, die an ihrem Geburtstag und an Weihnachten zwischen den Geschenken lagen, oder die wenigen Anrufe, die irgendwann ganz ausblieben.

Vivian kramte ein Taschentuch hervor und schnäuzte unterdrückt, warf einen letzten Blick auf das Foto und schob es tief zurück in die Tasche. Sie blieb sitzen und wartete, bis die Schluchzer und Tränen versiegt waren, und verließ erst dann die Kabine.

Im Spiegel sah ihr eine verweinte junge Frau entgegen, mit roten Flecken auf Wangen und Hals und einem nachlässig gebundenen Pferdeschwanz, aus dem sich etliche Strähnen gelöst hatten. Sie fuhr sich mit einem feuchten Papierhandtuch über die Stirn und studierte ihr Gesicht erneut. Nahezu alle Menschen, denen sie auf St. Mary’s begegnet war, hatten es gesagt. Und sie hatten recht. Vivian löste den Pferdeschwanz, schüttelte ihre schulterlangen Haare und band sie neu zusammen. Sie waren dicht und kastanienbraun, wellten sich bei Regen und schimmerten rötlich, wenn die Sonne schien. Die Farbe ihrer Augen war schwer zu benennen, changierte zwischen Grau und Grün, ihre Nase war kurz und gerade und von Sommersprossen bedeckt, deren Anzahl von der Jahreszeit abhing. Sie sah John Hunter unfassbar ähnlich, ja, wäre sein Ebenbild, wenn sie auch noch seine schmalen Lippen geerbt hätte und nicht den vollen, sanft geschwungenen Mund ihrer Mutter.

Sie stand da und starrte sich an, bis eine Durchsage verkündete, dass ihr Flug nach München bereit sei für das Boarding.

Sechzig Stunden, nachdem sie die Wohnung verlassen hatte, stand sie wieder in ihrem Flur, der so dunkel und kalt war wie bei ihrer Abreise. Sie warf ihre Handtasche auf die Kommode, schlüpfte aus Mantel und Schuhen, trug das Paket in die Küche und riss das Packpapier herunter. Ein schmuckloser grauer Karton kam zum Vorschein, und Vivian hielt einen Moment inne, bevor sie die Deckelklappe öffnete.

Das erste Bild war dasselbe, das in ihrem Flur hing und sie als Kind am Strand von St. Mary’s zeigte, lachend, mit wehenden Haaren, die Hand in Richtung des Fotografen gestreckt. Die folgenden Fotos mussten in den Sekunden danach entstanden sein, sie zeigten Vivian von hinten, ein kleines Mädchen mit stämmigen Beinen im Badeanzug, das auf das Meer zulief. Es folgten drei Bilder, auf denen Vivian stolz ein Eis in Richtung Kamera streckte. Sie selbst war nur im unscharfen Bereich zu sehen, während die drei Kugeln Eis (Erdbeere, Schoko, Vanille, daran erinnerte sich Vivian, weil sie diese Kombination immer noch am liebsten mochte) sich dem Betrachter gestochen scharf und sehr appetitlich präsentierten.

Vivian runzelte die Stirn. Sie kannte diese Bilder fast alle, auch wenn diese hier großformatiger waren als die, die sie irgendwann einmal von ihrer Mutter bekommen hatte. Sie sah noch ein weiteres Foto an, das sie mit einem Strauß leuchtend gelber Narzissen im Arm und großer Zahnlücke im Mund zeigte, und klappte dann den Karton zu.

Morgen begann der Alltag wieder. Der Wecker würde um 6.30 Uhr klingeln und einen ganz normalen Tag einläuten, Frühstück, Schule, Unterrichtsnach- und -vorbereitung, vielleicht Sport, vielleicht Jonas, vielleicht was auch immer. Vivian gähnte. Sie betrachtete den Karton, nahm ihn dann kurz entschlossen und trug ihn in den Flur. Vor der Tür zu Bens und ihrem ehemaligen Arbeitszimmer zögerte sie einen Moment, dann drückte sie die Tür auf und stellte den Karton auf den nächstliegenden Stapel aus ausrangierten Gegenständen.

Sie schloss die Tür und steuerte das Bad an.

Den Schlüssel, der mit einem Streifen Tesafilm auf der Rückseite des letzten Bildes befestigt war, hatte sie nicht gesehen.

Kapitel 14

In einem Sommer vor über dreißig Jahren verließ Karla Baumann, Vivians Mutter, den Münchner Vorort, in dem sie seit ihrer Geburt vor neunzehn Jahren mit ihren Eltern und ihren zwei jüngeren Schwestern wohnte. Sie hatte ein Einser-Abitur und einen Studienplatz für Medizin an der Münchner Universität in der Tasche, Schlafsack und Isomatte im Rucksack und so viele Ziele für die bevorstehende mehrmonatige Interrail-Reise im Kopf, dass ihrer Mutter schwindelig und ihrem Vater mulmig wurde, wenn sie daran dachten. Aber sie bissen die Zähne zusammen. Karla war immer ein zuverlässiges Mädchen gewesen, Klassenbeste, sportlich, nicht besonders interessiert an Diskotheken und entschieden ablehnend, wenn es um Drogen oder Alkohol ging. Von ihrem ersten Versuch, eine Zigarette zu rauchen, berichtete sie freimütig während eines Abendessens und wurde nicht müde, zu betonen, wie eklig und unnötig sie das finde. Einen Jungen hatte sie ihren Eltern nie vorgestellt, und sie waren auch sicher, dass Karla noch keinen Freund gehabt hatte, wann hätte sie auch die Zeit dafür finden sollen zwischen Schule, Hausaufgaben, Nachhilfegeben, Schauspiel-AG, Volleyball, Babysitten bei den Brückners zwei Querstraßen weiter und später dem Aushilfsjob in der Bäckerei gegenüber ihrem Gymnasium.

Es war noch die Zeit, bevor Teenager dank ihrer Handys immer erreichbar waren (falls sie ans Telefon gingen) und sich theoretisch jederzeit melden konnten (falls sie die Güte hatten, es zu tun), aber Karla war auch in dieser Hinsicht mustergültig: Wurde es bei einer Freundin später, rief sie vom dortigen Festnetz ihre Eltern an, um Bescheid zu geben. War sie in der Stadt unterwegs und bemerkte, dass sie es nicht mehr pünktlich nach Hause schaffen würde, kramte sie Münzen aus ihrem Wildledergeldbeutel und hielt Ausschau nach der nächsten Telefonzelle.

Weil Karla so unerschütterlich zuverlässig war und so euphorisch von dieser Reise durch Europa sprach, die sie mit ihrer besten Freundin Anni unternehmen wollte, willigten ihre Eltern nach anfänglichem Bedenken ein. Sie gaben ihr ein bisschen Geld und nur wenige Ratschläge (auch wenn ihnen das schwerfiel) und ließen die beiden Mädchen ziehen. Es waren nur einige Wochen, sagten sie sich, und anders als viele ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler, die noch nicht wussten, was sie beruflich machen wollten, hatte Karla einen Plan: Sie wollte Medizin studieren, Fachärztin für Kinderchirurgie werden und später auf jeden Fall auch einige Monate für Ärzte ohne Grenzen arbeiten. Sie wollte Ärztin werden, seitdem sie mit sechs Jahren ihre Puppen in einem Krankenhaus aus Kissen und Decken mit Taschentuch-Verbänden versorgt hatte, und sie war nie wieder von diesem Plan abgewichen.

Anfangs meldete sich Karla täglich, aus Italien, Frankreich, Spanien. Doch nach ihrer Ankunft in London wurden ihre Anrufe seltener, blieben schließlich fünf Tage aus, sodass ihre Eltern schon kurz davor standen, die Polizei einzuschalten. Doch dann meldete Karla sich wieder, so euphorisch und begeistert, dass sie ihr nicht böse sein konnten und keine Vorwürfe machten.

Drei Wochen später war Karla wieder zu Hause und immer noch fröhlich. Sie brachte unzählige Filme zum Entwickeln und zeigte ihren Eltern Hunderte Bilder aus Florenz, Rom, Paris, Nizza und Barcelona. Von London dagegen kein einziges. Keine Zeit für Bilder, sagte sie nur. Sonst erzählte sie kaum von der Zeit in England, deutete nur an, dass sie sich dort mit Anni gestritten hatte, aber ihre Eltern fragten nicht weiter. Es wunderte sie nicht, dass man sich auch einmal auf die Nerven ging, wenn man wochenlang ununterbrochen zusammensteckte.

Doch etwas anderes erstaunte sie anfänglich: Nach ihrer Rückkehr schnappte sich Karla an fast jedem Abend ab einundzwanzig Uhr, wenn die Tarife günstiger waren, das Telefon von der Kommode im Flur und verschwand damit in der Toilette. Ihre Eltern stiegen vorsichtig über quer über den Flur gespannte Kabel, hörten das Gelächter ihrer Tochter und die englischen Worte, schauten sich wortlos an, zuckten mit den Schultern und fanden es schließlich toll, dass ihre Tochter mithilfe neuer Freunde, die sie während ihrer Reise kennengelernt hatte, ihre Englischkenntnisse verbesserte. Die Höhe der monatlichen Telefonrechnung stieg allerdings bedenklich.

Ein paar Wochen nach ihrer Rückkehr war Karla nicht mehr fröhlich. Jeden Morgen erschien sie blass am Frühstückstisch, sprach wenig, verkroch sich tagsüber in ihrem Zimmer und schickte ihre kleinen Schwestern Katja und Tanja weg, wenn sie an ihre Tür klopften. Ihre Eltern sahen sich an und nickten wissend. Der Studienbeginn und der Einzug in das Studentenwohnheim im Norden Münchens rückten näher, und es war mehr als selbstverständlich, dass Karla davor Respekt hatte.

Die Telefonate ab einundzwanzig Uhr waren seltener geworden und die Gespräche hatten deutlich an Fröhlichkeit verloren. Sie hörten Karlas unterdrückte Stimme und wie sie irgendwann den Hörer auf die Gabel knallte, aber sie mischten sich nicht ein. Karla hatte sich bei Problemen immer an sie gewandt, sie würde auch jetzt zu ihnen kommen, wenn etwas vorgefallen wäre.

Aber Karla kam nicht.

Dafür läutete es an einem Sonntagnachmittag an der Tür. Sie saßen zusammen am Kaffeetisch, die Eltern von Karlas Mutter waren zu Besuch und hatten selbst gebackenen Kuchen mitgebracht, mit Birnen aus dem eigenen Garten. Karla hatte ihr Stück kaum angerührt, während ihre Schwestern schon bei der zweiten Runde waren.

Karlas Vater öffnete die Tür und schaute den jungen, schlaksigen Mann fragend an. Der stellte die ausgebeulte schwarze Tasche auf den Boden, strich sich eine kastanienbraune Strähne aus der Stirn und reichte ihm die Hand.

Hi“, sagte er. „I am John Hunter. I am here to take care of the baby.“

An diesem Tag war es Karlas Eltern nicht möglich, wieder die Zähne zusammenbeißen wie vor der Interrail-Reise. Dies war ein anderes Kaliber, vor dem sie augenblicklich kapitulierten. Sie hatten sich zu Beginn ihrer Ehe versprochen, ihren Kindern gegenüber niemals bestimmte Sätze zu sagen, die sie von ihren eigenen Eltern gehört hatten, und hörten sich die Formulierungen jetzt doch aussprechen.

Wie kannst du uns nur so enttäuschen?

Wir lassen nicht zu, dass du dir deine Zukunft verbaust …

Was sollen denn die Leute denken?

Hast du dir eigentlich überlegt, was du deinen Schwestern für ein Vorbild bist?

Später würde der Zeitpunkt kommen, an dem sie ihr Vorgehen tief bereuten und sich wünschten, sie hätten alles unaufgeregt besprochen, sich in Ruhe zusammengesetzt und verschiedene Szenarien durchgespielt. Als sie später ihre Unterstützung anboten, nahm Vivian diese zwar an und alle waren erleichtert, aber dieser Nachmittag hatten Narben hinterlassen. Ihr Verhältnis wurde nie wieder so wie vorher.

Nur drei Stunden nach dem Erscheinen von John Hunter, der während der lautstarken deutschen Diskussion stumm auf einem Stuhl gesessen und die durchdringenden Blicke von Karlas Schwestern und ihren Großeltern ertragen hatte, verließen beide das Haus. Karla war volljährig und fest entschlossen, alles zu schaffen, Beziehung, Kind und Medizinstudium. Wenn es sein musste, eben ohne die Unterstützung ihrer Eltern, die ihr fassungslos hinterhersahen und noch riefen, wenn sie jetzt ginge, brauche sie gar nicht wiederkommen.

Vivian wusste nicht, wie oft sie diese Geschichte gehört hatte. Ihre Großeltern hatte sie ihr zum ersten Mal mit dreizehn oder vierzehn und seitdem noch viele Male erzählt. Als ob sie sich von ihrer Enkelin in irgendeiner Weise Absolution für ihr damaliges Verhalten erhofften.

Wir konnten uns damals nicht vorstellen, wie Karla das alles schaffen sollte …

Und wir hatten ja auch recht, es war ja dann doch nicht alles so leicht, wie die beiden annahmen …

Wir haben uns einfach solche Sorgen gemacht.

Über die Jahre nach dem Auszug ihrer Mutter wusste Vivian nur bruchstückhaft Bescheid. Ihre Mutter erzählte kaum davon und ihre Großeltern hatten in dieser Zeit keinen engen Kontakt mit ihrer Tochter.

Als Vivians eigene Erinnerung einsetzte, musste zwischen ihren Eltern schon einiges passiert sein. Zwischen ihrem Vater und Karla herrschte häufig eine angespannte Stimmung, die Vivian als kleines Mädchen zwar gespürt hatte, aber nicht einordnen konnte.

Irgendwann war ihr Vater weg gewesen. Dafür kam immer häufiger der lustige Polizist, der ihnen in der Schule erklärt hatte, wie man am sichersten eine Straße überquerte, und der ihnen das Lied „Links, rechts, links, Augen auf, das bringt’s“ beigebracht hatte.

Vivian sah hoch zu dem Balkon im dritten Stock, während sie sich anschnallte. Seit ihr Bruder Tim ausgezogen war, lebten ihre Eltern dort oben, in einem schlichten Mehrfamilienhaus im Münchner Norden, zwei Zimmer, Küche, Bad. Deutlich günstiger als die Vierzimmerwohnung, die sie davor in Sendling bewohnt hatten, wo die Gentrifizierung die Miete längst in Höhen getrieben hatte, die bei Normalverdienenden Schnappatmung auslösten.

Vivian war seit über zwei Monaten nicht mehr hier gewesen und erleichtert, dass der Besuch einigermaßen glimpflich verlaufen war, trotz des übergroß im Raum stehenden Themas, das sie auch nicht umschiffen konnten. John Hunter war gestorben und Vivian bei seiner Beerdigung gewesen. Sie konnten nicht einfach über die Schule und das Wetter reden oder den guten Kuchen loben.

Vivian begann zu erzählen, begann bei ihrem Abschied, erwähnte gleich am Anfang die Kiste mit den Bildern, die sie geschenkt bekommen habe.

„Er hat dir Fotos vererbt?“ Ihre Mutter lächelte und schien ehrlich amüsiert. „Der gute John. Er hat sich bis zum Schluss nicht verändert. Es hätte mich auch ernsthaft gewundert, wenn er dir eine Immobilie hinterlassen hätte. Oder so etwas wie Geld.“

Vivian erzählte von der Insel, dem Ausblick von ihrem Fenster im ersten Stock, von den Palmen und Blumen im November, sah, wie ihre Mutter nickte und fest Hannes’ Hand umschloss, sprach weiter und erwähnte schließlich die vielen Details, die Johns Familie und die Insulaner von ihr gewusst hatten.

Ihre Mutter sah Hannes fragend an. Dieser zuckte mit den Schultern. Er habe relativ viel von Vivian erzählt, als ihn Mary-Ann, später Pfarrer Green und dann noch Paddy kontaktiert hätten.

„Du musst sehr viel erzählt haben, Papa“, sagte Vivian und grinste. „Ein bisschen zu viel. Ich sage nur: Nirvana, 1994.“

Er hob erneut die Schultern. „Ich wollte, dass du ihnen nicht fremd bist.“

Vivian sah, wie die Augen ihrer Mutter sich verengten, ihr Ausdruck irritierter wurde, und spießte mit der Gabel rasch das letzte Stückchen Kuchen von ihrem Teller. „Der ist sooo gut“, brachte sie mit vollem Mund hervor. „Und ganz ohne Mehl, sagst du? Kannst du mir vielleicht das Rezept geben?“

Vivian sah noch einmal zum Balkon hinauf und startete den Wagen. Als sie rückwärts auf die Straße stieß, fiel ihr Blick auf die gut verpackten Rahmen, die sie zwischen Vorder- und Rücksitze verstaut hatte, und war sofort nervös. Es waren noch gut zwei Wochen bis zu ihrer ersten Ausstellung seit Akademiezeiten und sie musste dafür noch so viel erledigen, sie konnte keine Zeit mehr verlieren. Sie richtete den Blick nach vorne, gab Gas und fuhr mit quietschenden Reifen los.

Kapitel 15

Neunundzwanzig Augenpaare waren auf Vivian gerichtet. Und blickten ausnahmsweise nicht durch sie hindurch und einfach ins Nichts, sondern wirklich auf sie. Max, der Klassensprecher, überreichte ihr eine Kondolenzkarte, auf der die ganze Klasse unterschrieben hatte. Die Vorderseite zeigte eine Bleistiftzeichnung von einem Mann mit schmalem Gesicht, dichten Locken und Vollbart, darunter ein Zitat in Handschrift: Wenn du am Morgen erwachst, denke daran, was für ein köstlicher Schatz es ist, zu leben, zu atmen und sich freuen zu können.

„Der Mann ist Marc Aurel“, erklärte Max. „Das Bild ist von Leonie, wir haben abgestimmt, welche Skizze die beste ist.“

„Ihr habt alle eure Zeichnungen fertiggestellt, nachdem wir in der Ausstellung waren?“, fragte Vivian.

Neunundzwanzig Köpfe nickten.

„Über das Aurel-Zitat haben wir auch abgestimmt. Simon hat einige vorgeschlagen.“

Vivian sah rasch zu Simon, der schief lächelte.

„Das ist eine ganz liebe Idee von euch. Und das Zitat ist wirklich …“ Sie spürte, wie ihre Stimme brüchig wurde.

„Wir wollten kein typisches Trauerzitat verwenden und kein Bild mit schwarzen Blumen oder doofen Kerzen oder ner Taube, sondern etwas Positiveres“, sagte Max. „Und dann hat es noch etwas mit uns und Ihrer Arbeit zu tun und das fanden wir … Aber es tut uns natürlich total leid, dass Ihr … Es ist sehr traurig, dass Ihr Vater … Frau Steiner?“

„Alles gut, Max.“ Vivian wischte sich rasch die Träne von der Wange, die ihrem Auge trotz aller Unterdrückungsmaßnahmen entkommen war. „Ich bin einfach nur gerührt.“

Die Überreichung der Karte blieb der Höhepunkt des Tages.

Zwei Stunden danach leerte Emil Hausmann aus ihrer fünften Klasse in einem Zug das Wasserglas, in dem er seinen Pinsel von den Farben gereinigt hatte. Eine Mutprobe, hieß es später. Als sein Magen das seltsame Getränk umgehend retounierte, schaffte es Emil nicht rechtzeitig zum Waschbecken und erbrach sich halb über dem Tisch von Hannah. Sie war die kleine Schwester von Simon aus der 11a, Klassenbeste und malte ihre Bilder stets mit der Konzentration eines Yogi, der in einer nordindischen Höhle die Welt um sich völlig ausblendet. Als ein Strahl der grünbraungelben Flüssigkeit auch ihr Bild traf, ein Rentier auf einer von Tannenbäumen umgebenen Lichtung, kam sie nur langsam zu sich, sah eine Minute stumm zu, wie die Schnauze des Tieres unter einem trüben Rinnsal verschwand, und begann dann zu schreien. Emil stützte sich derweil auf den Tisch und stöhnte so laut, dass Vivian den zierlichen Kerl kurzerhand hochhob und aus dem Zimmer trug. In der kleinen Aula kam ihr zufällig Jonas entgegen, übernahm Emil ohne große Worte und trug ihn zum Sekretariat, damit Vivian zurück in ihre Klasse konnte, wo große Aufregung herrschte und Hannah abgehackte Satzteile in ihr Handy schluchzte.

„Ich hab ihr gesagt, kein Telefon in der Schule“, sagte Finn aus der ersten Reihe und schob seine Brille Richtung Nasenwurzel. „Aber Paul meinte, es sei ein Notfall, weil Emil sich über ihrem Bild erbrochen hat.“

„Finn, das haben wir alle mitbekommen.“ Vivian klatschte in die Hände. „So, ihr Lieben, alle zurück an die Plätze und die Bilder. Hannah, bitte leg das Telefon weg. Nein, jetzt sofort. Ich weiß, dass das eben nicht schön war, aber das ist kein Grund …“

„Es stinkt total!“, rief Leonie von hinten. „Nach Super-Ekelkotze.“

„Leonie, du musst jetzt nicht so deftig reden“, mahnte Vivian.

Wobei die Lage nicht zu beschönigen war. Vivian schnappte sich eines der ausrangierten Handtücher aus dem Regal und begann, die Folgen von Emils Malheur zu beseitigen.

„Muss Emil ins Krankenhaus?“, fragte Leonie.

„Nein, muss er nicht“, antwortete Vivian und versuchte, nur flach einzuatmen, während sie mit dem Tuch Tisch und Boden reinigte. „Aber er darf sich im Sekretariat ein bisschen erholen und nach Hause, wenn es nicht besser wird.“

„Meiner Schwester mussten sie mal den Magen auspumpen“, berichtete Finn.

„Müssen sie bei Emil nicht“, sagte Vivian. „Er hat ja alles wieder ausgekotzt.“

„Jetzt haben Sie auch Kotze gesagt, Frau Steiner.“

„Ich weiß, Leonie. Du hattest recht, es stinkt wirklich nach absoluter Super-Ekelkotze.“

Alle kicherten. Die meisten hielten sich die Nase zu. Nur Hannah saß mit vor der Brust verschränkten Armen und vorgeschobener Unterlippe auf ihrem Platz.

„So.“ Vivian stand auf, das Handtuch von sich weggestreckt. „Hat irgendjemand eine Plastiktüte?“

„Frau Steiner …“

„Ja?“

„Mir ist schlecht.“

„Was? Oh nein. Leonie, nicht …“

Vivian ließ das Tuch fallen, das klatschend auf dem Boden aufkam, stürzte zu Leonie, riss den Turnbeutel vom Haken an der Seite des Tisches und öffnete ihn gerade noch rechtzeitig, bevor aus Leonies Mund gurgelnde Geräusche drangen.

„Ihhh!“, schallte es aus über zwanzig Mündern,

„Macht die Fenster auf, das ist ein Notfall!“, rief Vivian. „Und nicht auf den Lappen am Boden treten.“

Wie Durstige in einer Wüste, die auf eine Wasserstelle stießen, drängten die Kinder an die Fenster, streckten ihre Köpfe ins Freie und keuchten und stöhnten übertrieben.

Vivian musste lachen, trotz des flüssigen Inhalts im Turnbeutel. Sie stand auf und griff mit spitzen Fingern nach dem Handtuch am Boden und trug beides Richtung Tür, die in diesem Moment schwungvoll geöffnet wurde.

„Frau Steiner.“ Ein Mann im Anzug stand vor ihr, schlank, groß, schmales Gesicht, Brille mit Goldrand. Er sah auf die Kinder, die sich ächzend über die Fensterbank beugten, dann zu Hannah, die als Einzige sitzen geblieben und grün-blau im Gesicht war, dann zu Vivian, die ihm einen Turnbeutel und ein stinkendes Handtuch entgegenhielt. „Meine Tochter hat mich angerufen. Was ist denn hier los um Himmels Willen?“

Thomas Winkelmann, der Vater von Hannah und Simon, arbeitete im Justizpalast, keine fünf Minuten von der Schule entfernt, und war nach dem Anruf seiner Tochter sofort aufgebrochen. Er sei, so betonte er mehrmals, „sehr enttäuscht“, dass es unter der Aufsicht von Vivian zu solchen Vorkommnissen kommen könne und dass das Bild seiner Tochter, von dem sie ihm schon erzählt hatte und das seine Frau zu Weihnachten bekommen sollte, jetzt ruiniert war.

Auch die Mutter von Emil, die Vivian eine bitterböse E-Mail schickte, war „sehr enttäuscht“ darüber, dass ihr Sohn während des Kunstunterrichts anscheinend „gar nichts lernte“, sondern Zeit und Möglichkeiten fand, seltsame Mutproben durchzuführen, die ihn dazu verleiteten, giftiges Wasser zu trinken.

Als Vivian abends auf die Couch sank, dröhnte ihr der Kopf von den vielen Enttäuschungen, die sie Menschen augenscheinlich zufügte. Mit Lilly hatte sie sich gleich nach ihrer Rückkehr versöhnt, musste sich aber anhören, dass Lilly „sehr enttäuscht“ gewesen sei über den Verlauf ihres letzten Gesprächs. Ihre Mutter hatte sich am Vorabend gemeldet und verkündet, dass sie sich gefreut habe über Vivians Besuch, aber doch „sehr enttäuscht“ darüber sei, dass sie sich davor so lange nicht hatte blicken lassen. Von Paddy war eine SMS gekommen, in der er schrieb, dass Mabel sich doch „etwas enttäuscht“ darüber zeigte, dass Vivian nach ihrer sicheren Rückkehr nach München nicht gleich etwas von sich habe hören lassen.

Immerhin nur etwas enttäuscht, dachte Vivian, die sich nicht erklären konnte, warum Mabel in irgendeiner Form verstimmt war. Erwartete sie, dass sich Vivian von nun an regelmäßig meldete? Warum sollte sie das tun?

Ihr Handy vibrierte. Vivian las die Nachricht und lächelte. Jonas schien der Einzige zu sein, der nicht von ihr enttäuscht war. Wie ein hilfreicher Engel war er heute aufgetaucht und hatte ihr ohne viel Aufhebens geholfen. Vivian wusste nicht, wie es mit ihnen beiden weitergehen sollte, aber es war schön, dass es wieder einen Mann in ihrem Leben gab, der Kopfschmerzen in ein sanftes Kribbeln im Unterleib verwandeln konnte.

Kapitel 16

Kurz vor Weihnachten wurde Vivian bewusst, dass sich bald das Datum jährte, an dem sie von Ben verlassen worden war. Doch anders als noch wenige Wochen zuvor verspürte sie kaum Unbehagen angesichts des Datums. Sie war verliebt und in eine dicke Schicht Watte gepackt, die sämtliche anderen Empfindungen nur gedämpft an sie heranließ.

„Seid ihr denn jetzt zusammen?“, fragte Lilly. „Oder soll ich lieber nicht fragen?“

Vivian zuckte mit den Schultern. „Du kannst gerne fragen. Aber ich kann dir nicht antworten. Ich weiß es nicht. Ich will dem Ganzen jetzt einfach noch kein …“

„Kein Label aufdrücken“, vervollständigte Lilly den Satz und schob sich zwei Mandarinenschnitze in den Mund. Sie war jetzt im vierten Monat und aß eigentlich ständig. „Sagt Jonas auch.“

Vivian rollte mit den Augen. „Wenn ihr immer noch so dicke seid, frage ich mich schon, warum ihr nicht gleich auch über unser erstes Mal gesprochen habt …“

„Haben wir“, sagte Vivian mit vollem Mund.

„Was? Ihr seid so …“

„Er fand es okay. Ihr müsst euch halt noch eingrooven.“

„Ich glaube dir kein Wort.“

„Besser so, ich rede auch nur Quatsch. Und an dieser Stelle möchte ich noch einmal betonen: Ja, wir reden noch manchmal über dich.“ Lilly putzte sich mit einem Taschentuch die Finger ab. „Aber ich habe ihn nicht auf dich angesetzt.“

„Das weiß ich doch.“

„Wenngleich ich fand, dass er schon sehr gut zu dir passt. Oder? Tut er doch! Gib es zu!“

„Ja, ich gebe es zu.“

„Er ist so unglaublich in sich ruhend, so klar und selbstbewusst.“

„Passt er zu mir, weil ich auch so bin? Oder weil mir jemand gut tut, der so ist?“

Lilly zögerte einen Moment. „Du verdienst so jemanden wie ihn“, sagte sie dann.

„Ja?“

„Ja.“

„Wirklich?“

„Okay, also an deinem Selbstbewusstsein müssen wir arbeiten. Das muss wieder so werden wie vor …“ Sie brach ab und nickte Ottomane zu, der an ihnen vorbei zu seinem Fach ging.

„Bevor Ben mich aus der Bahn geworfen hat“, vervollständigte Vivian den Satz.

„Von Benborium will ich nichts mehr hören.“ Lilly sah auf ihr Handy und stand auf. „Ich muss los. Kein Ben mehr. Konzentriere dich auf Jonas und sei entspannt mit ihm. Renn nicht weg. Hab keine Angst.“

Lilly hatte recht, was Jonas’ unglaubliche Ruhe und Ausgeglichenheit anging. Wenn Vivian in seiner Nähe war, fühlte sie sich entspannt und sicher. Auch die Nervosität wegen der Ausstellung im Januar kam in seiner Gegenwart nur in kleinen, erträglichen Wellen, und wenn sie doch größer wurden, brachen sie an Jonas, der wie ein Fels in der Brandung stand. Er beriet sie bei der Auswahl der Fotos, rechnete mit ihr die Kosten durch und half ihr bei der Preisfestlegung. Er hörte ihr ruhig zu, wenn sie über Schüler oder Eltern schimpfte, und als einmal eine längere Tirade über Ben und seine Untreue aus ihr herausbrach und sie schon befürchtete, dass Jonas jetzt genug von ihr und ihrem emotionalen Ballast habe, ermunterte er sie weiterzureden und mit ihren Gefühlen nicht hinter dem Berg zu halten. Er selbst erwähnte seine Exfreundin nie, und wenn ihn Vivian auf seine früheren Beziehungen ansprach, winkte er ab. Er lebe im Hier und Jetzt. Vergangen sei vergangen. Kein Thema mehr.

Vivian dachte an seinen formvollendeten Oberkörper und seine formvollendeten Arme, in denen sie gelegen hatte. An die Art, wie er sie liebte, ein bisschen so, wie er im Café seinen Zucker in den Kaffee geschüttet und umgerührt hatte. Ruhig und bedächtig. Sie lächelte. Zumindest beim ersten Mal.

Wenn Jonas nicht bei ihr war, ergriff manchmal eine innere Unruhe von Vivian Besitz, die weder mit seiner Abwesenheit noch mit der geplanten Ausstellung zu tun hatte. Immer wieder betrat sie das ehemalige Arbeitszimmer, betrachtete die Kiste, sah sich einige der Bilder an, klappte den Deckel wieder zu, überlegte. Seit ihrer Reise nach Cornwall waren mehrere Wochen vergangen und inzwischen waren die Nachrichten ein wenig abgeebbt. Doch in den Tagen unmittelbar nach ihrer Ankunft in München hatte sie täglich SMS aus St. Mary’s bekommen, von Paddy, Mabel, Jack, schließlich auch von Mary-Ann und sogar zwei von Philip.

Ob sie sich wieder gut eingefunden habe zu Hause, wie das Wetter in München sei, wie es ihr auf der Insel gefallen habe, wie der Unterricht verlaufe, wie es ihren Eltern gehe. Nette, unverfängliche Fragen, die Vivian alle höflich und schnell beantwortete, auch wenn sie mit der Zeit nachlässiger wurde, weil Unterricht, Ausstellung und Jonas zu viel Zeit in Anspruch nahmen.

Irgendwann wurden die Nachrichten weniger, wie bei Mineralwasser, das sprudelt und sprudelt, bis immer weniger Bläschen nach oben schießen und die Oberfläche schließlich ruhig bleibt. Als mehrere Tage keine Nachrichten mehr aus St. Mary’s eingegangen waren, fiel Vivian auf, dass eine andere Person ebenfalls völlig verstummt war: ihr Vater Hannes. Seit ihrem Besuch bei ihm und ihrer Mutter hatte Vivian nichts mehr von ihm gehört. Sonst rief er alle paar Tage an. Um mit ihr zu plaudern, sich nach dem Studium, der Schule oder Ben zu erkunden, solange es ihn noch gab. Vor allem aber hatte er am Ende jeden Telefonats die eine Frage gestellt: Wie geht es dir? War Vivian im Urlaub, stellte er die Frage schriftlich, wartete auf die Antwort, fragte nach einigen Tagen wieder. Ben hatte oft darüber gelacht und Vivian gefragt, ob sie das nicht nervig fände, aber für sie war es einfach fester Bestandteil ihres Lebens geworden. Dass ihr Vater jetzt nichts von sich hören ließ, war ungewöhnlich. Zumal Vivian, als sie gemeinsam die Rahmen zu ihrem Auto gebracht hatten, angedeutet hatte, dass Jonas bald eine größere Rolle in ihrem Leben spielen könnte.

„Es ist noch früh“, betonte sie, „aber es fühlt sich ganz gut an.“

„Hauptsache, du bist glücklich, Vivian“, hatte ihr Vater nur gesagt. Sonst nichts. Er hatte nicht gefragt, wie es für sie beide war, dass sie sich jeden Tag in der Schule sahen, oder ob Jonas sie vielleicht dazu animieren könne, wieder häufiger joggen zu gehen. Er hatte sie nicht einmal geneckt und zwinkernd gefragt, ob Jonas Gedichte für sie schreibe, wofür er doch als Deutschlehrer prädestiniert sei.

Vivian klappte mit Zeige- und Mittelfinger ein Bild nach dem anderen nach vorne.

Vielleicht machte ihr Vater auch einfach eine Frage-Pause, nachdem er nach Vivians Trennung rührend darum bemüht gewesen war, immer für sie da zu sein und sich trotzdem nicht aufzudrängen.

Sie zog wahllos ein Foto heraus. Ein Mann in Badehose auf einer Picknickdecke am Strand, die Beine aufgestellt, Hände um die Knie geschlungen und die Oberarme über und über mit Tätowierungen übersäht. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und lachte, vermutlich über etwas, was Vivian erzählte, die im Badeanzug neben ihm stand und ein lustiges Gesicht aufgesetzt hatte. In ihrer Hand hielt sie den Henkel eines roten Plastikeimers. Vivian lächelte unwillkürlich. Der Mann musste Henry sein, der Cousin von John Hunter. Der sich geweigert hatte, dem Liebeskranken den Namen seiner Angebeteten über die Brust zu tätowieren. Sie zog ein weiteres Bild heraus und hielt inne. Es war das erste aus der Kiste, das sie mit ihrem leiblichen Vater zeigte, sie saß auf seinem Schoss, den Kopf an seine Brust geschmiegt, die Augen geschlossen, er sah direkt in die Kamera. Sein angehobener rechter Arm lief aus dem Bildrand und hielt vermutlich die Kamera. Handwerklich kein besonderes Bild, aber es beschleunigte Vivians Herzschlag. Ihr Blick wanderte über das Durcheinander im Raum, über die Umzugskartons, die prall gefüllten Müllsäcke, die ungeöffneten Pakete von H&H Home, Ikea und Amazon, mit deren Inhalt sie die Wohnung nach Bens Auszug hatte umdekorieren wollen. Wie wäre es, wenn sie jetzt, in diesem Augenblick damit beginnen würde, einige der Pakete zu öffnen?

„Das wäre gut“, sagte sie leise und stand entschlossen auf.

Sie war nur noch zwei Bilder von dem Schlüssel entfernt, den John Hunter ihr hinterlassen hatte.

Kapitel 17

Nachdem Karla zusammen mit John ihr Elternhaus verlassen hatte, steuerte sie zunächst das Haus von Anni an, die nur wenige Minuten entfernt wohnte. Hier konnten sie einige Tage bleiben, auch wenn Annis Eltern es seltsam fanden, dass sie ihren Freund mitbrachte. Karla hoffte im Stillen, dass ihr Vater auf seinem morgendlichen Weg zur Arbeit anhalten und klingeln würde. Oder ihre Mutter den Gang mit dem Hund nützen würde, um vorbeizukommen. Sie war sicher, dass ihre Eltern wussten, wo sie war. Aber keiner meldete sich. Auch nicht, als sie weiterzogen zu Karlas Großmutter, die es nicht schaffte, zwischen ihrer Tochter und ihrer Enkelin zu vermitteln.

In den drei Wochen bei ihrer Oma kümmerte sich Karla um ihre Zukunft: Sie sagte das Zimmer im Studentenwohnheim am Englischen Garten ab und machte sich auf die Suche nach einer Einzimmerwohnung in Universitätsnähe. Sie leerte ihr Sparkonto, das über die Jahre durch Geburtstage und Schülerjobs gefüllt worden war, und zahlte das Geld auf ihrem Girokonto ein. Sie suchte Beratungsstellen auf und erfuhr, dass sie Bafög erhalten würde, wenn ihre Eltern sie zwar unterstützten könnten, es aber nicht wollten. Sie sprach mit John, ob er sich vorstellen könne, das Baby bald nach der Geburt zu betreuen, wenn sie Vorlesungen und Seminare besuchte. John bejahte nachdrücklich. Er war beeindruckt von seiner Freundin, die klein und zierlich war, aber zielstrebig und hartnäckig, wie er es noch nie bei einer Frau erlebt hatte. Natürlich würde er sich um ihr gemeinsames Baby kümmern, damit Karla ihren Traum erfüllen und Ärztin werden konnte. Und er war froh, dass es endlich etwas gab, wobei er helfen konnte. Die meiste Zeit saß er zur Untätigkeit verdammt daneben, wenn Karla telefonierte und mit der Uni, Ämtern, potenziellen Vermietern sprach, in einer ihm fremden Sprache mit all den kehligen Geräuschen und harte Lauten. Auch die Erklärungen der Ärztin, zu der er Karla begleitete, ergaben für ihn keinen Sinn, aber das Wichtigste verstand er auch ohne Worte. Den Herzton seines Kindes.

Überwältigt griff er nach Karlas Hand. Er war erst einundzwanzig, aber er wusste, dass er mit dieser Frau alt werden und seinem Kind der beste Vater der Welt sein wollte. Er hatte kein Geld und das Studium am Royal College of Art hingeschmissen, aber würde alles tun, damit die beiden ein glückliches Leben führen könnten.

Doch John Hunter hatte sich alles einfacher vorgestellt. Und er war es nicht gewohnt, so viel allein zu sein. Zweimal in der Woche ging er einkaufen, er hielt die Wohnung einigermaßen sauber und hängte Wäsche auf. Tagsüber zog er durch die Stadt. Anfangs war er, wie mit Karla ausgemacht, in Cafés gegangen, um nach einem Job zu fragen. Beim Kellnern würden seine mangelnden Deutschkenntnisse nicht so ins Gewicht fallen, er würde die Sprache rasch lernen und wäre unter Leuten. Aber nach zwei Absagen, die ihn insgeheim erleichterten, ging John nur noch ins Café, um Tee zu trinken.

Er beobachtete die Menschen, wanderte mit seiner Kamera durch die Isaranlagen an den Fluss, überquerte ihn auf Höhe des Tierparks und lief nach Norden, über den Viktualienmarkt, blieb inmitten von Touristengruppen am Marienplatz stehen, betrachtete mit ihnen das Glockenspiel am Turm des Rathauses. Am späten Nachmittag kam er zurück in die kleine Wohnung in einem Viertel, das früher „Glasscherbenviertel“ genannt worden war. Karla hatte es ihm übersetzt, und John gefiel es, dass sie in einem ehemals berüchtigten Teil der Stadt lebten. Er stellte die vier vollen Filme in das Hängeregal über dem Schreibtisch und bereitete ein Abendessen vor, Spaghetti mit Tomatensoße, Bratkartoffeln oder Spiegelei. Er würde sich nach der Geburt um das Baby kümmern, den Kinderwagen schieben, sehen, wie es größer wurde, und viele Fotos machen. Und wenn es im Kindergarten war, so dachte er bei sich, dann würde er sich um seine Karriere kümmern.

Wenn Karla nach Hause kam, empfingen sie Wärme, der Geruch nach Essen und Johns Arme. Ihr war es egal, ob er arbeitete oder nicht, Hauptsache, er war hier und brachte sie zum Lachen, wie damals in London, als sie am Piccadilly Circus ineinander gerannt waren. Sie hatte keine Angst, wenn er an ihrer Seite war. Es gab, wie er immer betonte, für alles eine Lösung. Auf sein Anraten hatte sie ihre Eltern angerufen, die zwar immer noch „sehr enttäuscht“ waren, aber anboten, das junge Paar zu unterstützen. Aber sie erwarteten, dass John sich ebenfalls finanziell beteilige, auf welche Art auch immer. Sie könnten mit einem Gehalt keine dreiköpfige Familie zusätzlich versorgen, da gebe es ja auch noch die Rate für das Haus und ihre zwei Schwestern.

„Und den Hund“, versuchte Karla zu scherzen, die deutlich hörte, wie ihre Mutter mit sich rang.

Zwei Jahre später verspürte Karla abends beim Aufsperren der Wohnung nur noch selten Vorfreude. Manchmal zögerte sie ihre Heimkehr hinaus, indem sie extra eine U-Bahn vorbeifahren ließ oder noch einmal die Straße auf und ab ging, bevor sie ihr Haus betrat. Natürlich freute sie sich auf die kleine Vivian, die so drollig plauderte und jeden Tag neue Wörter lernte, wobei „meins!“ oder „mine!“ immer noch mit Abstand ihre Lieblingsvokabeln waren. Die aussah wie ein Rauschgoldengel mit ihren rötlichen Locken, den runden Wangen und großen Kulleraugen.

Es war John, der ihr die Vorfreude auf das Heimkommen nahm. Es war nicht so, dass sie viel stritten oder er laut wurde und sich beschwerte. Wobei Karla das lieber gewesen wäre als der beständige stumme Vorwurf in seinen Augen:

Ich könnte jetzt in London Fotografie studieren, aber stattdessen sitze ich hier in Giesing und bin den ganzen Tag Babysitter.

Vielleicht dachte er das auch gar nicht und Karla tat ihm Unrecht, aber sie wusste, dass er nicht glücklich war mit ihrer momentanen Situation. Aber das war sie auch nicht. Ihre Eltern und Großeltern zahlten ihnen die Miete für ihre Zweizimmerwohnung, was eine große Erleichterung war, aber permanent für schlechtes Gewissen sorgte. Das Kindergeld reichte bei Weitem nicht für den Rest, auf staatliche Hilfe wollten sie verzichten, und so hatte Karla beschlossen, ihr Medizinstudium auf Eis zu legen und eine Ausbildung als Arzthelferin zu beginnen. Es war eine gemeinsame Entscheidung gewesen. Jetzt hatte sie ein bescheidenes, aber regelmäßiges Gehalt und, was noch wertvoller war, klar geregelte Arbeitszeiten. Während des Studiums hatte es nie richtig Feierabend gegeben, sie hätte rund um die Uhr etwas lernen oder wiederholen können. Glücklich, nein, glücklich war sie nicht, aber anders als John zeigte sie ihren Frust nicht durch passiv-aggressives Benehmen und schlechte Laune. Er war kühl zu ihr, verhalten, und Karla schämte sich für die Eifersucht, die sie empfand, wenn er mit Vivian schmuste, sie in die Luft warf, bis sie vor Aufregung und Vergnügen kreischte, ihr vor dem Zubettgehen Geschichten auf Englisch vorlas, mit unterschiedlichen Stimmen, die Vivian mit glucksendem Kichern goutierte. Wenn er aus dem Zimmer kam, in dem sie zu dritt schliefen, nahm sein Gesicht sofort einen niedergeschlagenen Ausdruck an, der auch nicht verschwand, wenn er Karla sah. Das Leuchten in seinen Augen, das sie früher ausgelöst hatte, war verschwunden.

John Hunter wusste, dass es nicht Karlas Schuld war. Ein paar Monate nach der Geburt von Vivian, diesem Wunder, das er nicht müde wurde zu bewundern, hatten sie darüber gesprochen, wie ihre Zukunft aussehen könnte. Sie seien noch so jung, hatte Karla gesagt, sie könnten später immer noch studieren, wichtig sei doch jetzt, dass Vivian gut versorgt sei und sie Geld verdienten, und da habe sie als Muttersprachlerin einfach bessere Chancen. Er hatte eingewilligt. Es war eine gemeinsame Entscheidung gewesen. Er verstand nicht, dass Karla so oft schlecht gelaunt war und ihm wortlos vorwarf, dass er alles verhindere, wovon sie geträumt hatte.

Würdest du Geld verdienen, dann könnte ICH zu Hause bleiben und Spaß mit meiner Tochter haben. Wenn ich schon nicht Medizin studieren kann.

Vielleicht dachte sie das auch gar nicht und John tat ihr Unrecht, aber er wusste, dass sie nicht glücklich war mit ihrer momentanen Situation. Aber das war er auch nicht.

Als Vivian ihren zweiten Geburtstag feierte, war die Sprachlosigkeit als dauernde Mitbewohnerin eingezogen, nachdem sie vorher ohnehin schon sehr häufig zu Besuch gewesen war. Fast jedes Gespräch endete im Streit, sodass sie das Risiko gar nicht mehr oft eingingen und nur mehr das Nötigste sprachen.

Vivi braucht noch Winterschuhe.

Kannst du noch Milch besorgen oder soll ich?

Denkst du daran, die Nebenkostennachzahlung zu begleichen?

Mit dem fortschreitenden Schweigen kam die Ungläubigkeit darüber, dass alles so schwierig geworden war. Karla dachte an ein Gedicht von Erich Kästner, das sie in der Schule gelernt hatte und das so schön und traurig war, dass sie es nie vergessen hatte. Sie erinnerte sich, wie leid ihr der Mann und die Frau in diesen Strophen getan hatten, und fühlte gleichzeitig, wie John und sie auf dem besten Weg waren, zu diesem Paar zu werden.

Als sie einander acht Jahre kannten

(und man darf sagen: sie kannten sich gut)

kam ihre Liebe plötzlich abhanden.

Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.

Karla begann dagegenzusteuern. Sie telefonierte mit der Volkshochschule, stellte Kontakte her. Im folgenden Semester war John Dozent von zwei Foto- und zwei Englischkursen. Er verdiente Geld und konnte von anderen Dingen erzählen als von Spielplatzbesuchen und den Gesprächen mit Müttern. Karlas Ausbildung dauerte nur noch ein Jahr, Vivian würde bald in den Kindergarten kommen – und dann? Karla wusste, was sie machen wollte. Sie wollte Medizin studieren, hier in München, sie wollte auf keinen Fall nach England, auch wenn sie John versprochen hatte, darüber nachzudenken.

John hatte das unbestimmte Gefühl, dass ihm die Steuerung seines Lebens entglitt. Er liebte seine Tochter über alles, aber er fühlte sich dennoch an vielen Tagen eingesperrt. Er war immer noch beeindruckt von Karla, von ihrem unbedingten Willen, ohne weitere Unterstützung ihrer Eltern alles zu schaffen. Aber er hatte die dumpfe Ahnung, dass ihre Entschlossenheit auf etwas zusteuerte, das er nicht wollte. Bald würde Karla ihre Ausbildung beenden und Vivian in den Kindergarten kommen – und dann? Er wusste, dass sie endlich Medizin studierten wollte, aber was erwartete sie von ihm? Dass er noch mehr Kurse an der Volkshochschule geben würde, um Geld heranzuschaffen? Das Unterrichten machte ihm Spaß, aber es füllte ihn nicht aus. Er war vierundzwanzig und führte vor allem Rentner in die Grundlagen der Fotografie ein oder versuchte geduldig, ihre verschütteten Englischkenntnisse wieder auszubuddeln. Er wollte Fotografie nicht unterrichten, er wollte sie zu seinem Beruf machen, wollte darin aufgehen, wollte reisen, die Welt sehen, sie verewigen in seinen Bildern. Er vermisste London und St. Mary’s, er vermisste seinen Vater und seine Familie, er vermisste das Royal College of Art, die Seminare, seine Kommilitonen, das Lernen, das Gefühl, einen Weg zu beschreiten, der ihm seinen Traum näherbrachte.

Aber hier ging es nicht mehr nur um ihn.

Er hatte Verantwortung für ein kleines Mädchen, das er niemals im Leben verlassen hätte. Und für Karla, die ihren Traum ebenfalls zurückgestellt hatte. Sie konnten nicht beide studieren, wenn sie nicht völlig von der Hilfe anderer abhängig sein wollten. John wusste, dass er sich mit Karla hinsetzen und alles besprechen müsste. Aber er hatte Angst vor dem Ergebnis eines solchen Gespräches.

Also machten sie einfach weiter.

Karla bestand die Ausbildung als Beste ihres Jahrgangs. Zur Feier des Tages ging sie mit John essen, zu dem guten Italiener am Ende ihrer Straße, den sie sich sonst nie leisten würden. Ihre Eltern hatten eine Flasche Sekt mitgebracht, mit ihnen angestoßen und passten nun auf Vivian auf.

„Das könnten sie eigentlich öfter tun, oder?“, sagte John und griff nach Karlas Hand, die sich erst zögerlich, dann entschieden seinen Fingern entzog.

„Wir müssen reden“, sagte sie leise.

Karlas Plan war folgender: Sie wollte zwei Jahre als Arzthelferin arbeiten, um etwas Geld zur Seite legen zu können. Wie John es befürchtet hatte, erwartete sie von ihm, dass er versuchte, mehr Kurse zu machen. Als er einwandte, ebenfalls studieren zu wollen, nickte sie.

„Das kannst du. Hier in München.“

Die Kunstszene sei doch ohnehin international, er könne ohne Probleme an der Akademie der Künste studieren, dort spiele es keine Rolle, wie gut oder schlecht sein Deutsch sei.

„Wenn ich dort aufgenommen werde“, warf John ein. „Du tust ja gerade so, als könne ich einfach hineinspazieren und sie nehmen mich mit Kusshand.“

„Das weiß ich doch“, sagte Karla. „Du brauchst Zeit für eine Mappe und die hast du auch. Bis frühen Nachmittag, wenn Vivi im Kindergarten ist. Wenn du vom Abholen zurückkommst, bin ich schon fast auch zu Hause und wir können …“

„Fünf Minuten reden, bevor ich wieder los muss.“

Karla nahm den übrig gebliebenen Pizzarand auf ihrem Teller und platzierte ihn zwei Zentimeter weiter rechts.

„Und was ist mit London?“, fragte John unvermittelt.

Karlas Augenlider schossen hoch wie zwei aufgeschreckte Vögel. „Jetzt? Wo Vivian sich gerade im Kindergarten eingelebt hat?“ Sie schubste den Pizzarand wieder in die andere Richtung. „John“, sagte sie dann. „London ist noch viel teurer als München. Das schaffen wir nicht allein. Meine Eltern können nicht mehr zahlen als jetzt und dein Vater …“, sie sah ihn kurz an, „ist krank.“

Er ist Alkoholiker, dachte John, dessen Mutter schon vor Jahren an Krebs gestorben war. Und sie hat recht. Mit allem. Wie immer.

„Du hast versprochen, es dir zu überlegen“, sagte er dennoch und wusste, dass er sich wie ein trotziges Kind anhörte.

„Ich muss mir das nicht überlegen, John. Ich möchte mit dir nach London gehen. Später. Wenn du ein berühmter Fotograf und ich eine erfolgreiche Ärztin bin …“

„Karla, das ist doch …“

„Was?“

„Das sind irgendwie … sehr unrealistische Ziele.“

„Das sind Träume!“

„Karla, wir …“

„Ich bin zweiundzwanzig, John. Soll ich etwa keine Träume mehr haben?“

„Jetzt klingst du wie aus einem Disney-Musical. Ein armes Mädchen, das nach oben will.“

„Blödsinn. Ich bin glücklich. Wir haben die tollste Tochter, die man sich nur vorstellen kann, John. Nicht wahr?“

Er bejahte sofort. Sie hatten in der Tat das tollste, süßeste, smarteste, mutigste, fröhlichste Mädchen auf der Welt.

„Wir haben uns.“

Er bejahte erneut, wenn auch zögerlicher.

„Und wir haben Träume“, fuhr Karla unbeirrt fort. „Und ich möchte, dass wir es verwirklichen. Dass wir es zumindest versuchen. Gemeinsam!“

Ja, zu deinen Bedingungen, dachte John, aber er erwiderte nichts.

An diesem Abend schliefen sie zum ersten Mal seit Wochen wieder miteinander. Der Alkohol, den sie getrunken hatten, täuschte sie kurz über ihre mechanischen Bewegungen hinweg, aber als sie später im Dunkeln lagen, wussten sie beide, dass es kein Liebesakt gewesen war. John drehte sich zur Seite und war bald eingeschlafen. Karla lauschte auf seinen gleichmäßigen Atem und spürte, wie die Tränen über ihre Wangen liefen.

Sie waren traurig, betrugen sich heiter,

versuchten Küsse, als ob nichts sei,

und sahen sich an und wussten nicht weiter.

Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.

Es war Vivian, die die letzten Jahre erträglich machte und sie zwang, zivilisiert miteinander umzugehen. Wenn John sie im Kindergarten abholte, lief sie ihm strahlend entgegen, immer, egal, wie er den Vormittag verbracht hatte. Egal, ob er bis mittags geschlafen, stundenlang gelesen oder an seiner Bewerbungsmappe gearbeitet hatte. Er war Vivians Held, sie liebte ihn abgöttisch, sie machte ihm keine Vorwürfe, sie stellte ihm keine Fragen, in denen Misstrauen und Ärger mitschwangen, sie war jedes Mal glücklich, wenn sie ihn sah. Oft holte er Vivian zum frühestmöglichen Zeitpunkt ab, ging mit ihr an den Fluss, wo er flache Steine über das Wasser springen ließ, mit ihr Staudämme aus Ästen baute und Ausschau hielt nach einem der Biber, die sich vor einigen Jahren an der Isar angesiedelt hatten. Fast immer hatte John seine Kamera dabei, schoss Hunderte Fotos an diesen Tagen. Die Stunden mit Vivian waren die schönsten des Tages für ihn. Sobald sich der Schlüssel im Schloss drehte und Karla nach Hause kam, kam diese Zeit schlagartig zu einem Ende.

Später hatte sich John oft gefragt, warum er nicht einfach ehrlich gewesen war. Anstatt so viel zu lügen, mit wachsendem schlechtem Gewissen und mit der ebenfalls wachsenden Gewissheit, dass es für die Wahrheit bald zu spät war. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, lautete ein deutsches Sprichwort, aber es war leichter gesagt als getan, etwas zu beenden, was wie der Himmel auf Erden begonnen hatte. Und so log er. Immer wieder. Als sein Vater an Grippe erkrankte und Unterstützung brauchte, reiste er auf St. Mary’s. Karla ermutigte ihn zu fahren, weil er ihr verschwieg, dass sein Vater von Mabel und anderen auf der Insel bestens versorgt war. Er verschwieg auch, dass er nicht auf schnellstem Weg zurückreiste, sondern vor dem Rückflug einige Tage in London verbrachte. Er verschwieg, dass er der Volkshochschule mitgeteilt hatte, ab dem nächsten Semester nicht mehr zur Verfügung zu stehen. Aus persönlichen Gründen. Er verschwieg Karla, dass er keinen Pfennig Geld zurücklegen konnte. Er verschwieg, dass er auf keiner der folgenden Reisen, die er nach England unternahm, seine Familie besuchte. Er verschwieg Mary-Ann, die er in einem Café in der Nähe des Chelsea College of Arts kennengelernt hatte, wo sie Grafikdesign studiert hatte. Er verschwieg, dass er sich verliebt hatte.

Sie gingen ins kleinste Café am Ort

und rührten in ihren Tassen.

Am Abend saßen sie immer noch dort.

Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort

und konnten es einfach nicht fassen.

Als John Hunter und Karla Bergmann sich trennten, war Vivian in der zweiten Klasse und sieben Jahre alt. Nachdem John Karla alles gestanden und eröffnet hatte, nach England zurückzugehen, wusste Karla, dass sie niemals Medizin studieren würde. Dass sie niemals bei den Ärzten ohne Grenzen Menschen in Ländern mit schlechter medizinischer Versorgung helfen würde. Sie würde eine alleinerziehende Mutter sein, ohne Rücklagen und ohne Hoffnung auf Unterstützung durch John, der sein Fotografiestudium wieder aufnehmen oder sein Glück als freier Fotograf versuchen wollte. Als Karla das erfuhr, nahm die Wut dem Schock und der Trauer das Zepter aus der Hand.

„Okay, John, dass ich dir egal bin, ist das eine. Aber was ist mit Vivian? Wie willst du dich um sie kümmern, wenn du Tausende Kilometer entfernt von ihr lebst?“

„Sie wird mich in ihren Ferien besuchen.“

„Sie wird dich in ihren Ferien in London besuchen? Das steht also schon fest. Das ist ja schön. Wo wirst du dort wohnen? Und wie wirst du die Wohnung bezahlen? Ich möchte auf keinen Fall, dass sie bei deiner Neuen übernachtet. Oder in einer Wohngemeinschaft …“

„Das weiß ich doch alles noch nicht, Vivian. Aber ich weiß, dass ich zusätzlich so oft wie möglich nach München kommen werde.“

„Wenn du studierst? Von welchem Geld, John?“

„Karla, das werde ich schon schaffen. Du verstrickst dich in Organisatorischem. Am wichtigsten ist, dass wir …“

„Ich verstricke mich in Organisatorischem? Willst du mich verarschen, John? Hätte ich mich nicht als Einzige um das Organisatorische gekümmert in den letzten Jahren, wären wir viel früher auf der Strecke geblieben!“ Sie hatte die letzten Worte fast geschrien und schlug seine Hand weg, die nach ihrer griff, doch John trat auf sie zu und schlang seine Arme fest um sie, bis sie aufhörte, ihn wegzudrücken und nur noch schluchzte.

„Karla“, flüsterte er. „Karla. Vivian wird glücklich werden, wenn wir beide für sie da sind. Und ich verspreche dir, ich werde da sein für sie. Ich kann nur nicht länger hier bleiben, ich fühle mich so zerrissen. Ich liebe Vivian, aber … Ich verschwinde, meine Kreativität verschwindet, meine Träume, ich bin so oft unglücklich.“ Er stockte. „Ich will Vivian ein guter Vater sein, ich bin ihr schon viele Jahre ein guter Vater gewesen, ich habe sie gepflegt, wenn sie krank war, ich habe mit ihr Lieder gesungen und mit ihr unter dem Tisch eine Höhle gebaut. Ich habe sie Hunderte Male ins Bett gebracht und ihr über die Stirn gestreichelt. Unsere Beziehung ist stark und ich möchte jeden freien Moment mit ihr verbringen. Aber ich möchte auch wieder ich sein, sonst zerbreche ich. Sonst gibt es mich nicht mehr.“

Und dann sagte er etwas, was über zwanzig Jahre später ein anderer Mann in fast identischer Wortwahl seiner Tochter sagen würde. Sie seien nicht auf der Strecke geblieben, sagte er, im Gegenteil. Sie seien vielmehr vom Weg abgekommen, um nicht auf der Strecke zu bleiben. Vom Weg, der eine Einbahnstraße war und sie definitiv nicht glücklich machte. „Und ich glaube, einen Weg gefunden zu haben, wieder glücklich zu werden. Und du wirst ihn auch finden, Karla.“ Er zögerte einen Moment, bevor er hinzufügte: „Vielleicht hast du ihn ja auch schon gefunden.“

Karla drückte ihn weg und wich seinem Blick aus. „Ich weiß nicht, was du meinst.“

„Nein?“

„Nein, was sollen die Andeutungen?“

Er winkte ab. Er hatte kein Recht, sie zu beschuldigen. Und was sollte es jetzt noch bringen oder ändern, wenn er Karla sagte, dass er sie an der Isar gesehen hatte?

Er hieß Hannes und Vivian hatte bei einem Abendessen mit leuchtenden Augen von ihm erzählt. Sie hatte eine Urkunde von ihm bekommen, weil sie alles richtig gemacht hatte „bei der Verkehrsbeziehung“. Karla und John sahen sich ratlos an, dann verstanden sie und mussten lachen. „Hannes“ musste Johannes Steiner sein, der Polizist, von dem sie vor einigen Wochen in einer Mitteilung der Schule gelesen hatten. Vivian hatte seit einiger Zeit „Verkehrserziehung“ und war heute mit ihrem Rad durch einen Parcours aus Hütchen gefahren, ohne eines davon umzuwerfen. Sie hatte rechtzeitig und nicht zu abrupt vor einer Linie gebremst und später beim Fußgängerteil die Straße souverän überquert, „auf dem kürzesten Weg, nicht quer“, erklärte Vivian, strahlte und präsentierte ihre zwei Zahnlücken.

Einige Tage später fuhr Karla mit Vivian in die Innenstadt, um ihr neue Schuhe zu kaufen. Auf dem Heimweg stand Vivian in der U-Bahn plötzlich auf und winkte. „Hannes!“ Der große blonde Mann, der etwa zehn Meter von ihnen entfernt an einer Haltestange stand, wandte sich um und winkte zurück.

Karla wusste, dass sie ein schlechtes Gewissen haben müsste. Gleichzeitig beharrte sie fast trotzig darauf, dass sie es verdient habe, sich Inseln des Glücks zu schaffen in ihrem Leben, das sie regelmäßig traurig machte und in dem ihre Tochter der einzige Lichtblick war. Zu Beginn traf sie Hannes nur in der Zeit, wenn John auf einer seiner immer häufiger werdenden Reisen nach England war. Sein Vater, ohnehin angeschlagen durch jahrzehntelangen exzessiven Alkoholkonsum, sei laut John seit seiner schweren Grippe nie mehr richtig auf die Beine gekommen. Er mache sich Sorgen, dass das Ende nahe, und wollte öfter bei ihm sein, und Karla nickte eifrig. Natürlich, er müsse fahren, sie schaffe das schon mit Arbeit und Vivian, ihre Eltern würden sicher ein-, zweimal einspringen, wenn sie sich abends mit einer Freundin treffen wollte.

Im Laufe der Zeit trafen sich Klara und Hannes auch dann, wenn John in München war. Sie trafen sich in Vivians Mittagspause auf dem Viktualienmarkt oder gingen am Isarufer spazieren. Hannes drängte Karla zu nichts, aber er gab deutlich zu verstehen, dass er die Heimlichkeiten nicht mochte, dass seine Absichten ehrlich waren und sie nicht befürchten müsse, dass er sie fallen lassen würde.

Hannes war anders als John, zurückhaltend, analytisch, ordentlich, der perfekte Verkehrspolizist, neckte Karla ihn gern, worauf Hannes, der ein Jahr jünger war als sie, stets lachend den Kopf schüttelte. Er wollte nach seiner Ausbildung, die bald zu Ende war, ein Studium absolvieren und Kommissar werden. Bei der Mordkommission.

Wenige Jahre später – ihr gemeinsamer Sohn Tim war erst sechs Wochen alt – wurde Hannes angeschossen, seine Hüfte zertrümmert. Es folgten viele Wochen im Krankenhaus und in Rehazentren, aber er erholte sich körperlich nie mehr. Die starken Gelenkschmerzen, die nur mit Medikamenten zu betäuben waren, blieben.

Hannes’ Traum von einer Karriere als Kriminalhauptkommissar platzte. Er musste in Frühpension gehen, Karla bald wieder Vollzeit arbeiten. Es war ein schweres Jahr, das Jahr, in dem Vivian ihren leiblichen Vater zum letzten Mal besuchte.

Nach dem Tod seines Vaters zog John zurück auf St. Mary’s, die Insel seiner Kindheit. Er und Mary-Ann renovierten behutsam das Haus seiner Eltern, malten einen Himmel mit Wolken in Johns ehemaliges Kinderzimmer und wurden kurz vor der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes Philip von Pfarrer Robert Green getraut.

Kapitel 18

Vivian kam am frühen Nachmittag des 24. Dezember zu ihren Eltern und verabschiedete sich erst am frühen Abend des 26. von ihnen. Es war ewig her, dass sie die Feiertage durchgehend mit ihrer Familie verbracht hatte, das letzte Mal musste vor zehn Jahren gewesen sein. Damals war sie gerade frisch mit Ben zusammen gewesen, und die drei Tage ohne ihn waren ihr vorgekommen wie eine Ewigkeit. Jetzt spürte sie den süßen Schmerz des Vermissens erneut und genoss das stetige Ziehen in ihrem Bauch und den beschleunigten Herzschlag, wenn das Display ihres Handys leuchtete.

„Hat der Arme keine Familie?“, fragte Tim schließlich, als sie zum fünften Mal innerhalb von fünf Minuten ihr Telefon checkte.

Es war Heiligabend, sie hatten Geschenke ausgetauscht und saßen jetzt beim Essen.

„Doch“, sagte Vivian, „aber eben auch Sehnsucht.“

Ihr Bruder rollte mit den Augen. Er hatte die schnittlauchglatten, dunkelblonden Haare seines Vaters geerbt, die sich nur mit viel Haarspray und Hingabe zum Stehen bewegten.

„Was macht er denn, wenn er dich nicht zutextet, dein …?“

„Jonas.“

„Dein Jonas?“

„Er ist Lehrer.“

Ihre Mutter schlitzte gekonnt die Haut der Weißwurst mit dem Messer auf und sah dann auf. „An deiner Schule?“

„Ja. Deutsch-Sport.“

„Ui. Das gefällt dir, oder?“, fragte Tim.

Vivian knuffte ihn in die Seite. „Das tut es, kleiner Bruder“, sagte sie und zitierte dann Lilly: „Ein Mann, der läuft und liest.“

„Herrje, du bist ja ganz wuschig, große Schwester.“

„Ich kann mich kaum beherrschen.“

„Single?“, fragte Tim.

Sekundenlang war nur das Klackern von Besteck zu hören. Ihre Mutter hatte die Stirn in Falten gelegt und sah Tim kopfschüttelnd an, ihr Vater schmunzelte schief.

„Natürlich ist er Single“, sagte Vivian schließlich und knuffte Tim erneut, dieses Mal etwas fester. „Was glaubst du denn?“

Er zuckte mit den Schultern. „Geht ja auch anders. Ben war kein Single, als er …“ Er wiegte mit dem Kopf.

Vor gar nicht allzu langer Zeit noch wären Vivian bei diesem Satz nur unter großer Anstrengung die Gesichtszüge nicht entglitten. Die Worte hätten sie traurig gemacht – und wütend auf ihren Brüder und seine unsensible Art. Doch jetzt traf Tims Bemerkung sie nicht ins Mark. Im Gegenteil. Liebeskummer konnte hartnäckig sein, der Schmerz so gewaltig, dass es unvorstellbar schien, dass er jemals nachlassen würde. Aber irgendwann verschwand er doch, und er tat das umso rascher, wenn er inmitten warmer Glücksgefühle wegschmolz wie letzte schmutzigbraune Schneereste in der Frühlingssonne.

„Ich freue mich für ihn, wenn er jetzt glücklich ist“, sagte sie, angelte sich noch eine Weißwurst aus dem Topf und war erstaunt, wie einfach Großherzigkeit war, wenn man Schmetterlinge im Bauch hatte. „Wir beide zusammen waren es nicht mehr.“

Ihre Mutter hielt einen Moment inne und zog die Brauen zusammen, bevor sie weiteraß.

Am Abend des ersten Weihnachtsfeiertages, als Hannes und Tim es sich vor dem Fernseher gemütlich gemacht hatten, bat sie Vivian zu sich in das Schlafzimmer. Sie schob eine der Schwebetüren ihres Kleiderschrankes zur Seite und holte eine weiße Schuhschachtel heraus.

„Ich möchte dir etwas geben, Vivi“, sagte sie, „von … von John. Es ist nur eine Kleinigkeit, aber es ist … es ist … wirklich süß. Moment.“

Sie setzte sich auf den Rand des Bettes. Ihre Finger begannen flink durch die Kuverts und Karten zu wandern, ihre Lesebrille rutschte auf ihrer Nase nach vorne. Vivian betrachtete die braunen Locken, die bei jeder Bewegung wippten und von wenigen grauen Strähnen durchzogen waren. Sie sah auf die steile Falte, die sich zwischen den Augenbrauen gebildet hatte, und verspürte plötzlich den Wunsch, sich neben ihre Mutter zu setzen, den Kopf auf ihre Schulter zu legen. Was würde passieren, wenn sie es täte? Ihr Verhältnis war nicht so innig wie das von Lilly und ihrer Mutter, die oft zu zweit in den Urlaub gefahren waren, und nicht so freundschaftlich wie das zwischen Ben und seiner Mutter, die ihren eigenen Humor gehabt und sich über Sachen kaputtgelacht hatten, die bei Außenstehen eher Kopfschütteln auslösten. Aber sie waren immer gut miteinander ausgekommen und hatten sich noch nie dramatisch gestritten. Was natürlich auch an der mangelnden Bereitschaft ihrer Mutter zur Debatte lag.

„Vivi?“

Die Stimme ihrer Mutter riss sie aus ihren Gedanken.

„Ja?“

„Das hier … das sind übrigens keine Briefe von John an dich in dieser Kiste.“

„Das hatte ich auch gar nicht …“

„Nicht dass du denkst, dass ich dir nach seinem Tod endlich all die Briefe von ihm überreiche, die ich abgefangen und dir nicht gegeben habe.“

„Mama.“ Vivian war einen Moment sprachlos, dann stieß sie sich vom Türrahmen ab und setzte sich ebenfalls auf das Bett. „Mama, das habe ich doch nie gedacht.“

„Die Briefe, die du bekommen hast, sind alle, die er jemals geschrieben hat. Mehr gibt es nicht.“

„Mama, ist doch okay.“

„Wir haben viel falsch gemacht, Vivi. Ich habe viel falsch gemacht … Und jetzt …“ Sie nahm die Lesebrille ab und legte den Handrücken auf ihre Stirn, so, als wolle sie bei sich selbst prüfen, ob sie Fieber habe. „Jetzt ist es zu spät. Ich habe John irgendwann ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, dass er nach München kommen muss, wenn er dich sehen will, dass ich dich nicht mehr allein auf die Reise schicken kann. Ich hatte gerade Tim bekommen, dann der … der Unfall von Hannes. All die Ängste um ihn, dazu die schlaflosen Nächte mit dem Baby, der Ärger mit den Versicherungen, die Geldsorgen.“ Sie setzte ihre Lesebrille wieder auf und begann erneut, den Inhalt der Kiste zu durchsuchen. „Ich habe es als Kind immer geliebt, die Post aus dem Briefkasten zu holen, weil ich immer gehofft habe, dass ein Brief für mich dabei ist. Von Tante Lotte, die ständig auf Kreuzfahrtschiffen über die Weltmeere geschippert ist, oder Brigitte, der verrückten Freundin meiner Mutter, die nie geheiratet, aber eine Reise nach der anderen unternommen hat. Oder zumindest eine Karte von Onkel Dieter aus dem Harz.“ Sie lachte, wurde aber sofort wieder ernst. „Seit dieser dunklen Zeit schaue ich nicht mehr gern nach der Post. Alles, was damals kam, waren Rechnungen. Mahnungen. Ellenlange Schreiben von Versicherungen, unangenehme Briefe von der Polizei, die Hannes in dieser Zeit ziemlich hängen gelassen und ihm unterstellt hat, dass er immer schon zur Überreaktion geneigt, ja, dass er den Einbrecher regelrecht dazu provoziert hatte, dass er seine Waffe zückte und schoss.“

Ihre Finger hielten erneut inne. Vivians Blick wanderte über die Handrücken und die zarten Pigmentflecken, die ihr bisher noch nie aufgefallen waren. Dann tat sie es. Sie legte ihren Kopf auf Karlas Schulter und hörte zu.

„Alle paar Wochen lagen bunte Briefe im Briefkasten. Für dich, aus London, später aus St. Mary’s. Rote, gelbe, blaue Umschläge inmitten der weißen von den Behörden und Banken, du erinnerst dich sicher, sie kamen damals noch häufig. Mich haben die Briefe so wütend gemacht, so unendlich wütend. Er hat es gut, habe ich gedacht, er lebt unbeschwert sein Leben, während ich mit zwei Kindern und krankem Mann alleine alles stemmen muss. Er hatte sein Studium geschmissen, Mary-Ann kümmerte sich um ihr Baby und arbeitete nur hin und wieder frei als Grafikerin, sie mussten keine Miete zahlen, lebten am Meer … Es hat mich wütend gemacht!“

„Mama, das ist doch klar. Es war so viel und er war einfach nicht da, um zumindest mich mal zu nehmen.“

„Nein, er war nicht da. Aber … “ Mutter schloss die Augen. „Wir haben wirklich einiges falsch gemacht. Das tut mir sehr leid, Vivian. Sehr leid.“

„Mama“, sagte Vivian leise, ohne ihren Kopf zu heben. „Mir hat es doch an nichts gefehlt. Ich hatte eine tolle Kindheit und den tollsten Papa der Welt.“ Sie berührte mit ihren Fingern den Schuhkarton, um das Thema zu wechseln. Noch nie hatte ihre Mutter so offen mit ihr gesprochen, und sie spürte, wie ihr Herz hart und schnell klopfte. „Was wolltest du mir zeigen?“

Ihre Mutter lächelte und wischte sich rasch über die Augen. „Ich bin etwas abgeschweift, tut mir leid.“ Sie suchte kurz weiter und zog schließlich zwei Fotos heraus. „Schau, die drei Affen, erinnerst du dich? John musste mit dir immer wieder hingehen nach dem Kindergarten. Du wolltest sie fast jeden Tag sehen.“

Vivian nahm die Bilder und richtete sich auf. Die drei Affen, die nichts sahen, hörten und sagten. Sie erinnerte sich an sie. Sie waren an die Wand einer Brückenunterführung gemalt gewesen und hatten Vivian als kleines Mädchen wie ein Magnet angezogen. Auf dem ersten Bild stand sie neben den drei Tieren und hielt sich den Mund zu. An ihren zusammengekniffenen Augen war deutlich zu erkennen, dass sie lachte. Ihre rotblonden Haare waren zu zwei hochsitzenden Schwänzchen gebunden.

„Süß, oder?“, fragte ihre Mutter.

Auf dem zweiten Bild hielt sich Vivian die Ohren zu und strahlte über das ganze Gesicht. Auf der anderen Seite der Affen stand ein älterer Herr im beigefarbenen Blouson und schütterem grauen Haar, der seine Ohren ebenfalls bedeckte und dazu die Zunge herausstreckte.

„Ein Passant, der spontan mitgemacht hat“, erklärte ihre Mutter. „Ihr hattet immer solchen Spaß, du und John.“

„Gibt es noch ein drittes Foto?“, fragte Vivian. „Auf dem ich mir die Augen zuhalte?“

„Das gab es sicher“, sagte ihre Mutter. „Aber vermutlich hat John es bei seinem Auszug mitgenommen.“

Kapitel 19

Am Abend des zweiten Weihnachtsfeiertags kehrte Vivian in ihre Wohnung zurück, die sie warm und gemütlich empfing. Sie hatte Jonas ihren Zweitschlüssel gegeben, weil er eine „kleine Überraschung“ vorbereiten wollte.

„Leihgabe“, betonte Vivian, als sie ihm den Schlüssel übergab, mit dem sich vor wenigen Monaten noch One-Night-Stand Tobi Zutritt zu ihren eigenen vier Wänden verschafft hatte. Es kam Vivian wie eine Ewigkeit vor.

Bitte lass ihn nichts gekocht haben, dachte sie, während sie ihren Mantel aufhängte, ich möchte die nächsten Tage eigentlich am liebsten gar nichts mehr essen.

Ihre Sorge war unbegründet.

„Ich kann gar nicht kochen“, sagte Jonas und schob ihr den Teller mit Sushi hin.

„Aber du kannst Sushi machen.“

„Das ist Take-away.“

„Gott sei Dank bist du doch nicht perfekt.“

„Nie gesagt.“

„Aber nah dran“, sagte Vivian, stand wieder auf und beschloss, das Sushi, das ja nicht kalt werden konnte, später zu verspeisen.

Den Schlüssel, so sagte Jonas später, habe er nur deswegen verlangt, damit er auch in die Wohnung käme, wenn Vivian einen Rückzieher mache. Sie saßen jeweils in eine Bettdecke gehüllt am Küchentisch und aßen japanisches Fast Food.

„Ich habe mich ehrlich gesagt gewundert, dass du ihn mir gegeben und ihn nicht sofort wieder zurückverlangt und dann noch ein paarmal deine Meinung geändert hast. Es hat ja auch eine Weile gedauert, bis wir festgelegt hatten, dass wir uns nichts schenken.“

„Bin ich so flatterhaft?“, fragte Vivian.

Jonas wiegte den Kopf hin und her, bevor er sich ein Thunfisch-Maki in den Mund schob. „Biffchen.“

„Wie bitte?“

„Ein bisschen. Vor deiner Reise nach England dachte ich, du bist raus aus der Sache. Du hast dich die ganze Zeit nicht gemeldet.“

„Mein Vater war gestorben. Seine Beerdigung war ziemlich … turbulent …“ Vivian nahm einen Schluck Wasser. „Und ich war sauer auf Lilly. Ich dachte, sie hat dich gebeten, sich um mich zu kümmern.“

„Wäre das so schlimm?“

Vivian stoppte die California Roll auf halbem Weg. „War es so?“

„Nein, so war es nicht. Seit ich hier an der Schule bin, finde ich dich gut, aber du warst vergeben, ich war vergeben. War kein Thema. Dann war nur noch ich vergeben und du warst irgendwie … angeschlagen, und irgendwann auch nicht mehr an der Schule für eine Weile.“ Geschickt nahm er sich mit den Stäbchen ein weiteres Maki. „Nach den Sommerferien war ich dann Single und du warst wieder da … tja, da habe ich Lilly mal gefragt, wie es dir so geht.“

„Und sie meinte, ich bin ganz wuschig und auf Männerjagd?“

„Nein, aber wieder bereit für einen.“

Vivian erwiderte nichts. War sie das? Sie war verliebt in Jonas, ja, manchmal so verliebt, dass sie manchmal nicht klar denken konnte. Es war ein rauschhafter Zustand, in dem sie sich schon so lange nicht mehr befunden hatte und den sie eigentlich momentan gar nicht analysieren konnte und wollte. Aber was, wenn der Rausch sich verzog und sie feststellen musste, dass sie und Jonas nüchtern betrachtet gar nicht zusammenpassten?

„Mach dir keinen Kopf, Vivian“, sagte Jonas, als hätte sie ihre Gedanken in Leuchtschrift an die Wand projiziert. „Lass uns einfach langsam weitermachen, es genießen. Du bist fürchterlich verletzt worden, ich verstehe, dass du vorsichtig sein musst.“

Und du nicht? Vivian betrachtete ihn schweigend. Du bist doch genauso verletzt worden, genauso hintergangen. Wieso bist du so unfassbar überzeugt davon, dass wir uns beide nicht wieder gegenseitig wehtun werden?

Dieses Mal antwortete Jonas nicht auf ihre ungestellte Frage. Er nahm Vivians Hand und drückte sie sanft. „Wichtig ist, dass wir immer reden, Vivian, uns nichts vormachen, nichts verschweigen, auch jetzt, in der Phase, in der wir eigentlich am liebsten nur …“ Er räusperte sich, legte die Stäbchen zu Seite, stand auf und ließ das Betttuch von sich gleiten.

Vivian betrachtete ihn, die Locke, die ihm vor das linke Auge fiel, die Unterarme mit den deutlich hervortretenden Adern, seinen flachen Bauch mit den klar definierten Muskeln.

„Spannst du den grad an oder ist das der entspannte Zustand?“, fragte sie leise.

„An mir ist grad gar nichts mehr entspannt“, sagte er, und während ihr Blick noch nach unten wanderte, zog er sie bereits zu sich hoch.

Vivian konnte kaum noch die Augen offen halten, als sie nach Mitternacht die letzten Makis und California Rolls aßen. Sie hatte sich eine Jogginghose, dicke Socken und einen Kapuzenpulli angezogen und die Haare nachlässig nach oben gebunden.

„Vorsichtsmaßnahme“, sagte sie. „Ein drittes Mal schaffe ich heute nicht.“

Jonas lachte und nahm ein Schluck von dem Bier, das er sich aus dem Kühlschrank genommen hatte. „Dann lass uns kurz noch die wichtigen Dinge besprechen. Wie war Weihnachten?“

Vivian gab einen stichwortartigen Bericht ab, sie war zu müde, um ausführlich davon zu erzählen, wie berührend die Offenheit ihrer Mutter gewesen war. Als sie bei den drei Affen angelangt und bei dem fehlenden dritten Bild, auf dem sie sich die Augen zuhielt, angekommen war, runzelte Jonas die Stirn.

„Hat dein Vater dir nicht eine Kiste mit Fotos hinterlassen?“

Vivian nickte.

„Vielleicht ist das dritte Bild darin?“

Vivian zuckte mit den Schultern und gähnte. „Vielleicht.“

„Hol sie doch mal!“

„Nein, ich mache heute gar nichts mehr.“

„Ich hole sie, ich würde die Bilder ohnehin gerne sehen.“

„Okay.“ Vivian rieb sich die Augen. „Okay. Sie sind … sie sind im letzten Zimmer links. Die Kiste steht gleich hinter der Tür.“

„Alles klar.“

„Und, Jonas …?“

„Ja?“ Er wandte sich um.

„Bitte sieh dich nicht genau um in dem Raum.“

„Alles klar.“

„Jonas?“

„Ja?“

„Knackarsch.“

„Selber“, sagte er und verschwand.

Sie hatte ihren Kopf auf die Unterarme gelegt und hob ihn nur, wenn Jonas ein Bild besonders euphorisch kommentierte.

„Man sieht da schon, wie schön du einmal werden wirst.“

„Hmm“, murmelte Vivian.

„Wahnsinn, warst du süß.“

„Yep.“

„Oh, jetzt aber. Am Strand mit tätowierten Typen abhängen. Manche beginnen damit während der Pubertät … du bist hier schätzungsweise … neun?“

„Glaub schon.“

Sie hörte, wie er ein Foto nach dem anderen aus der Kiste zog und zurücksteckte. Schließlich verstummten die Geräusche.

„Ist was?“, fragte sie. Sie hatte die Augen geschlossen und brachte ihre Lippen kaum dazu, sich zu bewegen.

„Hier ist das dritte Affenbild, Vivian. Wo du dir die Augen zuhältst.“

Sie richtete sich langsam auf, zwinkerte ein paarmal und betrachtete dann das Foto, das Jonas ihr entgegenhielt.

Rechts von den drei Affen stand wieder Vivian und presste ihre Hände auf die Augen, grinste. Links von ihnen stand John Hunter, der sich ebenfalls die Augen zuhielt.

„Dein Vater?“, fragte Jonas.

„Ja, das ist er.“

„Coole Jeansjacke“, sagte Jonas. „Und er sieht dir …“

„Wahnsinnig ähnlich, ich weiß“, sagte Vivian und gähnte erneut. „Könnten wir vielleicht … Ich weiß, wir können morgen ausschlafen, aber ich bin so unglaublich müde.“

„Natürlich.“ Jonas steckte das Foto zurück in die Schachtel und hielt inne.

„Was ist?“

„Hast du das hier gesehen?“ Er zog ein weiteres Bild heraus und reichte es Vivian. „Ganz hinten? Mit dem Schlüssel?“

Es war kein Foto, sondern eine Postkarte. Sie zeigte einen Angler und ein Mädchen auf einem Mauervorsprung. Beiden waren von hinten zu sehen und neben beiden stand jeweils ein Eimer, bei dem Mann ein großer schwarzer, neben dem Mädchen ein kleiner roter mit weißen Punkten.

„Mein Eimer“, sagte Vivian.

St. Mary’s, Isles of Scilly war in schwungvoller Schrift in den blauen Himmel über das Anglerpaar geschrieben.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739492940
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (April)
Schlagworte
Unterhaltung Gefühl Cornwall England Spannung Liebe Reise Insel Humor

Autor

  • Anne Lux (Autor:in)

Anne Lux lebt und arbeitet in München. Neben ihrem Hauptjob im Kulturbereich schreibt sie regelmäßig Romane. Ihre Liebes-Trilogie und die zwei Cornwall-Bücher "Tausche Alltag gegen Insel" und "Tausche Alltag gegen Glück" standen wochenlang in den Bestseller-Listen.
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Titel: Tausche Alltag gegen Cornwall