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Glück ist wie das Meer

Roman

von Anne Lux (Autor:in)
300 Seiten

Zusammenfassung

+++ Eine aufregende Reise nach Island wird zur Reise in ein neues Leben: Das neue Buch von Bestseller-Autorin Anne Lux ist eine mitreißende und gefühlvolle Geschichte über Mut, Liebe, Abschied und Neubeginn +++

„Ich glaube, ich liebe dich nicht mehr.“ Sieben Worte ihres Mannes Florian sind es, die Marias Leben urplötzlich auf den Kopf stellen.
Obwohl sie schockiert und tieftraurig ist, fährt sie nach Island, um an einem schon lange gebuchten Schreibworkshop teilzunehmen. In der atemberaubenden Landschaft der Westfjorde will sie erst einmal einen klaren Kopf gewinnen und schließlich einen Plan zur Rettung ihrer Beziehung schmieden. Doch es kommt alles ganz anders. Auch die anderen Teilnehmer des Workshops reisen mit emotionalem Gepäck an, und bald schon wirbeln die geballten Probleme den kompletten Kursablauf gehörig durcheinander. Die Wochen zwischen tiefblau schimmernden Fjorden, windumtosten Bergen und heißen Quellen werden zu einem einzigen Abenteuer für Maria. Am Ende stellt sie sich die Frage, ob sie ihr Lebensglück ausschließlich mit Florian finden kann.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Maria

Die Vornamen von Maria Francesca Antonella klangen nach Deckengemälden von Michelangelo. Nach cremigem Schokoladeneis aus einer kleinen Eisdiele in Bologna. Nach einer Arie aus »La nozze di figaro«. Nach sanften Wellen, die an den weißen Strand von Cala Mariolu rollten, nach einer Wäscheleine mit bunten Kleidern, die sich in einer engen Gasse in der Altstadt von Neapel von einem Haus zum anderen spannte.

Bis zu Marias Hochzeit hatte ihr Nachname den Wohlklang perfektioniert. Maria Francesca Antonella Sorrentino. So hatte sie geheißen. Sorrentino. Das war nicht einfach nur ein Name, das war ein Versprechen gewesen! Regelmäßig hatte Maria Menschen früher mit ihrem kompletten Namen in Entzücken versetzt – oder in andere tranceartige Zustände. Da war der Mitarbeiter im Bürgerbüro gewesen, der, vor über zwanzig Jahren, lange auf ihren neuen Personalausweis gestarrt hatte, bevor er ihn ihr schließlich überreichte, mit schimmernden Augen, bebenden Lippen und einem zuckenden dichten grauen Schnauzer.

Da war Rosalind gewesen, die junge korpulente Arzthelferin ihres Gynäkologen, die Maria bei einem Termin nicht einfach nur aufgerufen, sondern ihren vollständigen, vierzehnsilbigen Namen laut und inbrünstig (und kakophonisch) gesungen hatte. Maria erinnerte sich noch gut daran, weil sie genau in dem Moment, als das »Soooo-rrrrrrren-tiiiinooo!« in schwindelnd hoher Tonlage durch die Praxisräume geklungen war, Emilia zum ersten Mal gespürt hatte. Wegen der lauten Gesangsdarbietung war Dr. Sieler alarmiert aus seinem Zimmer auf den Flur gestürmt, aber da war das Spektakel schon verklungen. Rosalind tippte stumm etwas in den Computer, und im Wartezimmer saßen Maria und eine andere Schwangere, beide verzückt ihre Bäuche streichelnd.

Das »Sorrentino« war für Maria mittlerweile schon lange Geschichte. Er war abgelöst worden von einem Namen, den Maria durch ihre Hochzeit mit Florian angenommen hatte. Marias Vater Francesco, der in den Sechzigerjahren aus einer kleinen Stadt in Kalabrien nach München gekommen war, hatte tief geseufzt, als sich seine frisch verheiratete Tochter zum ersten Mal mit ihrem neuen Nachnamen am Telefon gemeldet hatte. Die Augen der Menschen begannen nicht mehr zu schimmern, wenn sie ihren Ausweis lasen, und Rosalind sang nie wieder, wenn Maria in der Arztpraxis war.

Denn seit ihrer Hochzeit kam nach Maria und Francesca und Antonella ein Kloß. Seit ihrer Unterschrift im Standesamt hieß sie Maria Francesca Antonella Kloß.

»Wennʼs wenigstens a Knödel wär«, hatte ihr deutscher Großvater Andreas oft gesagt, aber Maria befand, er habe in dieser Angelegenheit nicht die Befugnis zur Beschwerde. Schließlich war wegen ihm vor fast sechs Jahrzehnten aus Philomena Maria Baumeister – was für das Kind von Landwirten aus der oberbayerischen Provinz ein durchaus stolzer Name war – Philomena Maria Köttelgruber geworden. Dagegen war Kloß ein Klacks.

Philomena und Andreas Köttelgruber bekamen zuerst drei Jungen und schließlich ihre Tochter Anna, die achtzehn Jahre nach ihrer Geburt aus dem Gebäude des Münchner Hauptbahnhofs trat und in die Sonne blinzelte. Sie hatte einen Ausbildungsplatz in der Tasche und keine Ahnung, wie sie zu ihrer zukünftigen Unterkunft, einem Schwesternwohnheim in Neuhausen, kommen sollte. Der junge Francesco, Sohn italienischer Einwanderer, der ihr schließlich half, sprach nicht gut Deutsch, aber er lachte wie die Sonne und seine Augen glänzten wie frisch polierte schwarze Lederschuhe. Sie heirateten zwei Jahre später, bekamen eine Tochter, die sie nach der bayerischen Oma, der italienischen nonna und Francescos Schwester nannten, und wurden glücklich. Sie waren es bis heute, seit fast fünfundvierzig Jahren.

Bis vor Kurzem hatte es ausgesehen, als seien Maria und Florian Kloß auf dem besten Weg, in die Fußstapfen von Anna und Francesco Sorrentino zu treten. Sie hatten früh – während des Studiums – geheiratet, waren im Vergleich zu ihren Freunden schnell Eltern geworden und waren seit ihrer Hochzeit glücklich. Ja, Maria hätte sogar gesagt, dass sie sehr glücklich war. Eine sehr glückliche Kloß. Sie wäre auch eine glückliche Dimpflmoser oder Krattlgruber geworden. Sie wäre mit Florian glücklich gewesen, egal, welchen Nachnamen er ihr verpasst hätte, und hatte nie daran gezweifelt, dass er und sie gemeinsam alt würden. Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass sie beide, die ein Fels in der bitteren Brandung aus Trennungen, Scheidungen und Schlammschlachten in ihrem Umfeld waren, jemals an ihrer Liebe zueinander zweifeln würden. Keinen Gedanken hatte sie daran verschwendet.

Bis zu diesem Morgen im Juli. Maria war aus dem Bett gestiegen und ins Bad gegangen, auf ihrem Oberarm eine Schramme von der Nacht und ihr Haar verwildert von Florians Händen. Als sie unter der Dusche stand, tauchte der schemenhafte Schatten ihres Mannes hinter dem Milchglas der Schiebetür auf, bewegte sich unruhig hin und her, bis sie schließlich ihren Kopf herausstreckte und er einen Satz stotterte, dem Harmloses folgen könnte, beispielsweise das Geständnis, dass man den Lieblingspulli des anderen zu heiß gewaschen oder seine Lieblingstasse fallen gelassen habe.

»Maria«, sagte er. »Wir müssen reden.«

Wenn wir jedoch ehrlich sind, folgt auf diesen Satz niemals etwas Harmloses wie die Verkündung von zerbrochenem Geschirr oder ruinierter Kleidung. Meistens, ja, fast in jedem Fall, folgt auf diesen einen speziellen Satz ein leichtes, mittelschweres oder schweres Drama.

Aber beginnen wir von vorne.

Kapitel 1

Etwa sechzehn Stunden vorher, am frühen Freitagnachmittag, war die Welt für Maria noch in Ordnung gewesen.

Sie saß an ihrem Schreibtisch im Büro, schloss ihr Mail-Programm und atmete auf, weil nur noch zwei Aktionen sie von einem entspannenden Wochenende trennten: der lange geplante und immer wieder verschobene Shoppingtrip mit Franziska und danach die Feier von Florians Chef, der am Mittwoch Geburtstag gehabt hatte und mit seinen Kolleginnen und Kollegen »wie jedes Jahr kurz und schmerzlos« in den Redaktionsräumen anstoßen wollte. Maria hoffte, dass sich seine Ankündigung dieses Mal erfüllen würde und sie nicht wie im vergangenen Juli bis drei Uhr morgens zwischen zwei Naturwissenschaftlern – einer davon war ihr Mann – sitzen würde, die mit zunehmendem Alkoholkonsum immer weniger in der Lage waren, ihre Sprache einem Normalmenschen wie Maria anzupassen, und irgendein physisches Problem erörterten. Sie erinnerte sich aus dem Physikunterricht an nichts mehr außer an die »Schiefe Ebene«, aber das auch nur, weil in jener Zeit ihre Eltern ihr immer wieder Vorträge über ihren großen Bruder Marco gehalten hatten, der ihrer Meinung zu viel feiere. Er würde, so hatte es ihr italienischer Vater immer fälschlicherweise gesagt, auf die »schiefe Ebene« (statt Bahn) geraten und stehe kurz davor, in der Gosse zu landen. Sie solle ihnen sagen, wenn sie ihn auf Partys oder sonst wo kiffen sehe, und Maria hatte genickt und später ihrem Bruder gesagt, er schulde ihr mindestens zwei Monate lang kostenlose Joints, wenn sie ihn nicht verraten würde.

Wie lange das her war. Ihr Bruder war mittlerweile Wirtschaftsanwalt und berauschte sich höchstens an seinem Kontostand. Maria selbst hatte »neigungsbezogen« studiert – so hatte sie es ihren Eltern gegenüber immer bezeichnet, wenn diese ihre Kombination aus diversen geisteswissenschaftlichen Fächern als »brotlos« abgetan hatten.

»Man kann nur gut sein in etwas, das man auch mag«, war heute wie damals ihr Motto, und ihre Eltern machten sich schon sehr lange keinerlei Sorgen mehr um sie.

Sie hatte alles gewuppt. Das Studium mit Kind. Eine sehr lange glückliche Beziehung mit demselben Mann. Ein guter Job. Seit vielen Jahren arbeitete sie in der Agentur »NachKlang«, die Greta, eine ehemalige Kommilitonin von ihr, direkt nach den Magisterprüfungen gegründet hatte. Schon während des Studiums hatten sie beide freiberuflich für Start-ups, die sie interessant fanden, NGOs, deren Ziele sie unterstützten, und Einzelkämpfer, die oder deren Vorhaben sie mochten, PR-Texte geschrieben. Texte, die noch lange »nachklangen«, daraus hatte sich der Name der Agentur gebildet, der bis heute geblieben war. Ansonsten hatte sich vieles verändert. Aus dem Duo Greta und Maria, die nur wenige Wochen nach Gründung der Agentur dazustieß, war ein zwanzigköpfiges, rein weibliches Team geworden. Projektmanagerinnen, Texterinnen, Grafikerinnen, eine Buchhalterin.

»Maria, duhuuu?«

Maria wandte sich langsam um. Sie kannte Greta. Sie zog die Worte nur dann in die Länge, wenn ihr die darauffolgende Frage unangenehm war.

»Oh-oh, habe ich etwas verbrochen?«

»Nein, ich habe nur eine Bitteeee.« Greta, ihre Chefin und Freundin, die kinderlos, karrierebewusst und konsequent sozialdemokratisch (kein Leichtes in Bayern) durch ihr Leben schritt, schob die Lesebrille in das Haar, sodass Maria genau sehen konnte, wie weit der graue Bereich mittlerweile nachgewachsen war. Fünf Zentimeter mindestens, schätzte sie. Vor etwa einem halben Jahr hatte Greta verkündet, dass sie genug habe von dem jahrelangen Blondfärben und nun der Natur freien Lauf lassen wolle. »Ich weiß, ab Montag ist die letzte Woche vor deinem Urlaub und du hast vermutlich genug damit zu tun, alles abzuschließen, aaaaber …«

»Lass es einfach raus, Greta.«

»Aber könntest du ab Montag WM machen?«

»Die ganze Woche?«

»Vermutlich nur drei Tage. Je nachdem, wann dir etwas zur neuen Ausrichtung einfällt. Wir schieben den Auftrag schon eine Weile vor uns her, und allmählich sollten wir …«

»Ja, mach ich.«

»Echt?«

»Klar, kein Problem.«

WM war der interne Begriff für »Warzen-Mike«. Warzen-Mike, der mit richtigem Namen Michael Stockmann hieß und Biologie studierte, hatte ein natürliches Warzenmittel entwickelt und »NachKlang« mit Homepage, Packaging, PR- und Pressetexten beauftragt. Der Wirkstoff seiner Tinktur, Thuja occidentalis, war prinzipiell nicht neu, aber Verpackung und Texte sollten komplett anders sein als bei anderen Mitteln. »Fresh« und unbefangen stellte Mike sich alles vor, schließlich hatte fast jeder Mensch im Laufe seines Lebens einmal eine Warze, es war also an der Zeit, sie und die Mittel dagegen endgültig aus der Schmuddelecke zu holen.

»Ich hab Mia und Sarah gefragt, aber beide haben sich gewunden und …«

»Ist schon gut, Greta, ich mache es wirklich gerne.«

Keine der jüngeren Kolleginnen riss sich um Warzen-Mike, obwohl er erst Mitte zwanzig war. Aber sein Produkt war eben nicht cool, und er selbst war es auch nicht. Er schwitzte zu stark, vergaß immer wieder, dass sein bescheidenes Budget nicht dafür reichte, um jetzt noch zwei Stunden über das Strafmaß bei der Tötung von Wespen zu reden, und er würde, wenn man ihn ließe, am liebsten auf einem Stuhl neben Grafikerin und Texterin sitzen, um »direkt Input« geben zu können – die Höchststrafe für Mia, Sarah und die anderen.

Maria aber mochte Warzen-Mike. Er erinnerte sie an die »guten, alten Zeiten«, als sie und Greta in einem Ladenbüro in der Nordendstraße, das sie sich mit zwei jungen Architekten teilten, zusammen an Pressetexten und Konzepten für Webseiten gefeilt hatten. Oft bis tief in die Nacht, am Rand ihrer Tische gestapelte Pizzakartons und ungespülte Espressotassen. Sie waren voller Elan und hatten alles gegeben für wenig Geld. Für ein neues Mutter-Kind-Café in Haidhausen. Für eine kleine Kaffee-Manufaktur in Sendling. Für das Giesinger Stadtteilfest. Den meisten Kunden dieser Art war »NachKlang« mittlerweile viel zu hochpreisig. Inzwischen betreuten sie Uhrenmanufakturen, E-Bike-Hersteller und Biosupermärkte. Von Warzen-Mikes allein könnten die laufenden Kosten nicht gedeckt werden, aber Greta machte immer wieder eine Ausnahme und nahm auch Projekte an, die sich eigentlich nicht rentierten.

»Was haben wir denn bis jetzt?«, fragte Maria.

»Nur diesen Thuja-Spruch: Schützt vor Blicken und vor Warzen

»Hmm.«

»Mikes Vorschlag.«

»Hmm-hmm. «

»Ich weiß.«

»Montag setze ich mich ran.« Maria warf ein Blick auf ihr Handy. »In genau … fünf Minuten muss ich allerdings los. Spätestens.«

»Grüß Franziska von mir.«

»Mach ich.«

»Und sag ihr, ich warte immer noch auf das Rezept ihres Heidelbeer-Tiramisus.«

»Mach ich auch.«

»Wie sie noch so viel kocht neben diesen vielen Kindern, ist mir ein Rätsel.«

»Tja.« Maria wartete, bis ihr Bildschirm ausgeschaltet war, und stand dann auf. »Frauen wie Franziska und ich haben unsere Leben eben perfekt im Griff.«

»Verschwinde, Frau Kloß.«

»Bin schon weg, Greta-Pamphleta. Bis morgen.«

»Bis morgen, Klopsi.«

Kapitel 2

Der Himmel war bedeckt, und die graue Wolkendecke schien die Hitze des Tages nach unten zu drücken, in die Straßen Münchens, die sich mit Feierabendverkehr zu füllen begannen.

Maria krempelte die Ärmel ihrer weißen Bluse hoch, band ihre Haare zu einem Pferdeschwanz und schloss in Zeitlupe das Fahrradschloss auf. Schnelle Bewegungen in dieser schwülen Luft hätten nur für Ungemach gesorgt. Auch deswegen war sie gnädig mit Warzen-Mike, dem so schnell der Schweiß ausbrach: Sie war sowohl im Bauch-Beine-Po-Kurs als auch beim längeren Warten im Supermarkt oder bei der Post stets unter den Ersten, die zu schwitzen begannen.

Sie fuhr aufrecht und bedächtig die wenigen Minuten zum größten Outdoorladen der Stadt und atmete erleichtert auf, als sie die angenehme Kühle im Inneren des Geschäfts spürte. Franziska stand an der Treppe neben einer Schaufensterpuppe in khakifarbenen Shorts und grünem Top und fächelte sich mit zwei Flyern Luft zu.

»Nicht umarmen«, wies sie an, als Franziska näherkam. »Ich bin heißer als ein Backofen.«

Maria spitzte die Lippen zu einem Kussmund. »Ich auch. Müssen wir in den ersten Stock?«

»Ja, ich glaube. Höher schaffe ich es heute auch nicht mehr. Ich glühe.«

»Anstrengenden Tag gehabt?«

»Wechseljahre.«

»Quatsch. Dafür bist du zu jung.«

»Meine Mutter meinte, bei ihr habe es mit neunundvierzig angefangen.«

»Du bist noch keine vierundvierzig.«

»Das ist doch quasi dasselbe.«

»Nein, ist es nicht. Wir haben einfach Hochsommer, deswegen schwitzt du.«

»Ich schwitze heute besonders.«

»An Tagen wie heute schwitzen alle. Komm, je schneller wir hochgehen, desto kühler ist der Wind, der uns entgegenkommt.«

»Haha.«

Die Wand entlang der Treppe war tapeziert mit Fotos, die Menschen auf ihren Reisen zeigten. An Stränden, in Wüsten, im dichten Urwald, in Wildwasserkajaks über Steilwände stürzend. Strahlende Gesichter, ausgestreckte Daumen, blutrote Sonnenuntergänge und pastellfarbene Sonnenaufgänge und in jedem Foto mindestens eine farbenprächtige Outdoorjacke.

Bei einem Bild blieb Maria stehen. Eine junge Frau, die von weit oben auf Machu Picchu blickte. Emilia musste vor zwei Tagen an derselben Stelle gestanden haben, denn der Hintergrund auf dem Foto von ihr und Felix, das sie Maria und Florian geschickt hatte, war derselbe: Über ihren Köpfen ragte die Bergspitze des Huayna Picchu, dahinter verlief eine dicht begrünte Bergkette, die von einer tief hängenden Wolkendecke zur Hälfte verborgen wurde. Unter ihnen, im fahlen Licht, erstreckte sich die terrassenförmige Inkastadt, zwischen deren grauen Mauern sich bunte Punkte (Touristen in farbenfrohen Outdoorjacken) tummelten.

Maria atmete tief durch, als könnte sie damit das schneidende Gefühl aus ihrem Körper verscheuchen, das sich dort plötzlich überall ausbreitete.

»Sie kommt ja wieder«, sagt Franziska und legte ihre warme Hand auf Marias Oberarm. »Nur ein paar Monate, dann ist sie wieder hier.«

Maria nickte stumm. Sie kommt wieder, dachte sie. Aber wird dann erneut weggehen, um zu studieren.

»Glaub mir, es hat Vorteile, mit Anfang zwanzig Mutter zu werden«, sagte Franziska und stieg weiter die Treppe hinauf. »Deine Tochter reist selbstständig durch die Welt, meldet sich regelmäßig bei euch mit freundlichen Nachrichten. Ihr seid angekommen, auf der anderen Seite, wo sich Kinder benehmen und ihren Eltern mit Liebe und Respekt begegnen.« Sie blieb schnaufend stehen: »Lage bei mir dagegen: Lilly hat schon wieder Läuse, Lenny leidet unter Fortnite-Sucht und muss demnächst in den Entzug und Leon verständigt sich nur noch einsilbig mit Martin und mir. Jupp. Jepp. Jo. Nee. An schlechten Tagen werden nicht einmal Vokale mitgeliefert: Hmpf. Grmpf. Brmpf

Maria wandte sich von dem Bild ab. »Arme Franzi.«

»Ich hätte es wie du machen und nach dem ersten aufhören sollen.«

»Arme, arme Franzi«, wiederholte Maria. Ich habe nicht aufgehört, dachte sie, aber sie war geübt darin, den Gedanken an diese Zeit wegzuschieben. Es hat einfach aufgehört zu funktionieren, aber Franzi war Jahre danach in ihr Leben getreten, sie wusste das alles nicht.

»Hätte ich nur ein Kind, wäre für unseren Trip viel weniger Organisation angefallen.« Franziska schüttelte den Kopf. »Beide Omas und meine Schwester müssen jetzt antanzen.«

Martin hätte auch einfach Urlaub nehmen können, dachte Maria, aber sie hatten darüber schon zu oft diskutiert.

»Vergiss das jetzt mal alles, Franzi«, sagte sie deshalb schnell. »Konzentrieren wir uns auf das, was vor uns liegt. Wir, drei Wochen in einem der angesagtesten Länder der Erde, wo …«

»Wo ich mit meiner Körperhitze die Jahresdurchschnittstemperatur um zehn Grad steigern werde. Sehe schon die Schlagzeile: Deutsche in Menopause löst endgültig Klimawandel in Island aus

Sie passierten das Bild, auf dem ein Mann auf einem Gipfel stand, das Kinn nach oben und den Daumen in die Kamera reckend. Ich reise, also bin ich stand in blauen Lettern auf seinem weißen T-Shirt.

»Pff«, machte Franziska, während sie den stolzen Wanderer schwer atmend hinter sich ließ. »Und ich schwitze, also rinn ich

Es hätte eigentlich nicht Island im Sommer werden sollen, sondern Südfrankreich im Frühling. Aber die vierzehntägigen Creative-Writing-Kurse von Jakob Gattlinger, die er weltweit gab, waren begehrt und schnell ausgebucht, auch wenn sie mehr kosteten als ein ebenso langer Wellness-Urlaub in einem gehobenen Hotel. Für den Workshop in Roussillon waren Maria und Franziska zu spät dran gewesen, sodass sie nun nicht in einem mit Rosenranken bewachsenen Steinhäuschen inmitten der Gebirgskette des Luberon an ihren Werken feilen würde, sondern in Island. In der Einsamkeit der Westfjorde, eine halbe Stunde vom nächsten – winzigen – Ort entfernt, dessen Namen Maria weder aussprechen noch lange im Gedächtnis behalten konnte. Irgendetwas mit Patrek- am Anfang, danach war es kompliziert geworden. Die anfängliche Enttäuschung über das neue Reiseziel – auch Cornwall im August, Südtirol im Oktober und die Kapverdischen Inseln im November waren ausgebucht gewesen – war jedoch schnell einer wachsenden Vorfreude gewichen. Denn eigentlich war nicht wichtig, wohin sie fahren würden, entscheidend war, dass sie es endlich taten.

»So.« Franziska blieb am Absatz der Treppe stehen und begann erneut, sich mit den zwei Flyern Luft zuzufächeln. »Was brauchen wir alles?«

Maria holte die Liste hervor, die sie heute Morgen, nach dem gewissenhaften Studium eines Reiseblogs über Island, erstellt hatte.

»Wind- und wasserdichte Hardshelljacke, Mütze, leichte Fleecehandschuhe.«

Franziska fächelte stärker.

»Trekkinghose, Regenhose, Wollunterhemd …«

»Himmel, hör auf Maria, ich schwitze ohnehin schon wie …«

»Ah, und Badesachen«, fügte Maria schnell hinzu.

Franziska hielt inne. »Badesachen? Wieso Badesachen?«

»Weil wir in heißen Quellen baden werden.«

»Auf keinen Fall.«

»Wieso?«

»Jakob Gattlinger wird mich definitiv nicht im Badeanzug sehen.« Franziska steckte die Flyer in ihre Handtasche, zog ihren knielangen Rock eine Handbreit nach oben – sie trug nahezu immer Rock – und sah Maria auffordernd an. »Na?«

»Ich sehe gute Beine.«

»Du siehst Säulen der Antike.«

»Quatsch, ich …«

»Massive Säulen der Antike. Gattlinger wird sie nicht sehen, sonst trifft ihn der Schlag und seine Schreibblockade dauert weitere drei Jahrzehnte.«

»Der ist doch da vermutlich gar nicht dabei, wenn wir Freizeit haben.«

»Doch, das ist er vermutlich immer. Was glaubst du, warum das Ganze so viel kostet.« Zielstrebig ging Franziska in Richtung eines Kleiderständers, an dem laut Schild darüber »Softshellkapuzenjacken mit Windstopper« hingen. »Er zeigt uns sein Island. Persönlich

»Ich glaube, das ist PR-Quark.«

»Sagt die PR-Frau.«

»Er kann ja nicht jedes Land, in dem er Kurse gibt, wie seine Westentasche kennen.«

»Mir ist eigentlich einerlei, was er alles mit uns macht.« Franziska zog eine froschgrüne Jacke heraus und betrachtete sie mit zur Seite geneigtem Kopf. »Aber im Badeanzug wird er mich auf jeden Fall nicht sehen.«

Seit Jahren wünschte sich Franziska die Teilnahme an einem Kurs von Jakob Gattlinger, der vor knapp drei Jahrzehnten, mit Anfang zwanzig, einen sensationellen Bestseller gelandet und damit fast ein Jahr unter den Top 10 der deutschen Bestseller gestanden hatte. Stromschnell hatte sein Fünfhundert-Seiten-Werk über eine Wolfratshausener Flößerfamilie geheißen, die er literarisch vom 17. bis in das 20. Jahrhundert begleitet hatte. Am Ende war die einst stolze Flößer-Zunft längst dem Niedergang anheimgefallen und transportierte statt Südfrüchten, Gewürzen, Baumwolle, Samt und Seide nur noch besoffene Touristengruppen über Loisach und Isar, und nahezu sämtliche Familienmitglieder, längst in anderen Berufssparten tätig, verfielen ebenfalls dem Alkohol. Niemand, am wenigstens wohl Jakob Gattlinger selbst, hätte mit dem durchschlagenden Erfolg des Buches gerechnet. Mit diesem Plot, der sich so grundsätzlich von den Geschichten seiner Altersgenossen unterschied, die über die Liebe in Zeiten der Kohl-Ära, Alkohol- und Drogen-Exzesse oder das Ende des Sommers nach dem Abitur schrieben.

Gattlingers Verlag und seine Fans hofften auf eine Fortsetzung, auf eine Art »Stromschneller«, doch der junge Gattlinger, rasch zum Millionär geworden, begann unter einer Schreibkrise zu leiden, die bis heute anhielt. Trotz regelmäßiger öffentlicher Beteuerungen, kurz vor dem kreativen Durchbruch zu stehen, war bis heute, drei Jahrzehnte nach seinem Durchbruch, kein zweiter Roman von ihm erschienen.

Franziska konnte sich damit gut identifizieren. Sie arbeitete selbst seit annähernd zwanzig Jahren an einem Psychothriller – zuerst als Studentin, dann als junge Berufstätige, dann als Mutter eines Jungen, schließlich als Dreifachmutter mit Teilzeitstelle in der Giesinger Stadtteilbibliothek. Der Titel ihres Werkes wechselte im Quartalsrhythmus, und Franziska hatte längst zugegeben, sich rettungslos verrannt zu haben. In einem der Schreibkurse von Jakob Gattlinger, die er seit etwa fünf Jahren anbot (sein Geld war nicht komplett weg, aber es war an der Zeit für ihn, neue Erwerbsquellen aufzutun) sah sie die Möglichkeit, aus der Endlosschleife von Überarbeitungen herauszufinden. Maria hatte da so ihre Bedenken. Auf seiner Homepage nannte Gattlinger sich ironisch (oder nicht so ironisch?) The Great Gattly, dazu prangte auf der Startseite ein riesiger roter Button, in dem »The Bestseller-Maker« stand und der immer stärker flimmerte, bis er explodierte und in tausend Teile zersprang, nur, um sich kurz danach wieder in seine ursprüngliche Form zusammenzufügen.

»Albern«, hatte Maria gesagt, als sie vor einigen Monaten gemeinsam die Homepage angesehen hatten.

»Berechtigt«, hatte Franziska korrigiert. »Ein Autor, der an seinem Kurs teilgenommen hat, ist mit seinem Debütroman tatsächlich auf der SPIEGEL-Bestseller-Liste gelandet.«

»Aha.«

»Letzter Platz, nur eine Woche, aber immerhin.«

»Vielleicht wäre ihm das auch ohne die Kursteilnahme gelungen?«

»Wie auch immer, der Autor hätte schon längst geklagt, wenn Gattlinger ihn als Beispiel dafür nennt, dass seine Kurse funktionieren.«

»Vielleicht ist der Autor auch einfach ein Freund von The Great Gattly

»Hast du ‚Stromschnell‘ gelesen?«

»Nein.«

»Solltest du aber tun. Wenn jemand, der so etwas schreibt, bereit ist, sein Können weiterzugeben, muss ich die Chance nutzen.«

»Naja, du könntest aber auch …«

»Wie lange hast du nicht mehr an dem Roman gearbeitet, von dem du mir mal erzählt hast?«

»Hmm, seit dem Mutterschutz? Mir war langweilig, Franzi, ich hab einfach zwei Wochen rumgekritzelt an irgendeiner Geschichte über ein junges Paar und seitdem keinen einzigen Satz mehr daran geschrieben. Ich bin nicht so ambitioniert wie du.«

»Du meinst ausdauernd.«

»Ausdauernd und ambitioniert.«

»Du könntest dein Buch … dein Fragment mit Gattlingers Hilfe fortsetzen. Zu Ende bringen.«

»Franzi, wenn du nicht alleine fahren willst, dann sag das doch …«

»Okay. Ich möchte nicht allein fahren. Aber fahren muss ich. Ich muss, Maria. Ich muss diesen Thriller zu Ende schreiben, ich muss einfach. Ich muss ihn fertigschreiben, bevor … bevor …«

»Bevor dein Bergwerk der Begabungen vielleicht einstürzt?«

»Bevor Leon sein Abitur macht. Ich will nicht alles auf Wenn die Kinder aus dem Haus sind verschieben. Ich glaube auch nicht, dass das meinem Psycho-Thriller guttut. Die schwärzesten, fiesesten, dunkelsten Gedanken habe ich, wenn wir es endlich geschafft haben, zu fünft am Esszimmertisch zu sitzen, ich die in Präzisionsarbeit geschabten Käsespätzle serviere und Lilly dann verkündet, sie müsse unverzüglich kacken. Da entwerfe ich wirklich Szenen in meinem Kopf, da könnte Stephen King einpacken, Maria. Das sind Thriller-Szenen aus Gold! Noch mal viel besser als nach Tagen, an denen sich zehn Muttis innerhalb einer Stunde darüber beschwerten, dass wir den neuen Harry Potter nicht da hatten und ich ihnen erklären musste, dass wir nur eine kleine Stadtteilbibliothek seien und gerade unsere Kinderbuchabteilung ausgedünnt ist und … Was schaust du so?«

»Hab nur grad überlegt, wann der letzte Harry Potter rauskam.«

»Ewig her. Das war nur ein Beispiel, Maria.«

»Ob J.K. auch eine Schaffenskrise hat? Wie der Große Gattly

»Nein, sie hat seit Potter einiges geschrieben. Mach dich nicht lustig, Maria, komm einfach mit zum Kurs.«

»Ich weiß nicht, ich …«

»Bitte, Maria. Bitte.« Franziska legte den Kopf schief und klimperte mit den Wimpern. »Bitteeeeeee.«

Maria hatte gelacht und den Great-Gattly-Button beobachtet, der in viele Teile explodierte und sich dann wieder zusammenfügte. »Okay. Ich kläre mal mit Florian und Emilia, wann ich fahren könnte.«

Ihr Mann und ihre Tochter gaben noch am Tag, an dem dieses Gespräch stattgefunden hatte, grünes Licht. Maria könne fahren, wann immer sie wolle. Doch erst drei Jahre und über hundert Überarbeitungsrunden (von Franziska) später würden sie nun tatsächlich zu zweit aufbrechen.

»Lass uns mal was zusammensuchen und uns in fünfzehn Minuten bei den Umkleiden treffen«, sagte Franziska jetzt und versuchte, eine Haarsträhne aus der Stirn zu pusten, die jedoch kleben blieb. »Ich muss kurz ausdampfen.« Sie ging seufzend in Richtung einer Gruppe von Schaufensterpuppen, die etwas erhöht auf einem Podest standen und aussahen, als wollten sie sich auf die Suche nach dem Yeti begeben.

»Entschuldigung«, hörte Maria sie zu dem jungen Angestellten sagen, der gerade die Galoschen am Bein einer Puppe richtete. »Ich glaube, ich bräuchte auch exakt so eine Hose.«

»Fahren Sie ins Hochgebirge?«

»Wohin?«

»Zum Beispiel in den Himalaya?«

»Ja, so etwa. Es geht nach Island.«

»Und dort wollen Sie ins Hochland?«

Franziska wandte sich mit fragender Miene um zu Maria, die nähergekommen war und den Kopf schüttelte. »Wenn, dann nur kurz. Wir sind vor allem in den Westfjorden. Ab übernächste Woche.« Sie hielt dem jungen Mann ihr Handy entgegen. »Das brauchen wir angeblich alles an Kleidung. Wir sind zwei Wochen fest in Patrek- … irgendwo in den Westfjorden und dann noch eine Woche im Land unterwegs, wo genau, wissen wir noch nicht.«

»Hm.« Der junge Mann fuhr mit dem Finger über das Display und betrachtete die Liste eine Weile stirnrunzelnd. Dann nickte er bedächtig und sah auf. »Kriegen wir hin. Wollen wir mit den Badeanzügen anfangen? Da haben wir grad ganz neue reinbekommen.«

Als sie an der Kasse anstanden, legte Franziska ihren Kopf auf Marias Schulter.

»Wenn du wüsstest, wie dankbar ich dir bin, dass du mit mir diese Reise machst.«

»Musst du nicht sein, ich …«

»Und mit mir zweihundert Badeanzüge anprobierst.«

»Mir geht es gut. Um den jungen Mann mache ich mir eher Sorgen. Den haben wir ganz schön beansprucht.«

»Naja, er kann nicht die tolle Regenkammer und die grandiose Kältekammer anpreisen und uns dann nicht reinlassen.«

»Nein, das kann er nicht.«

»Wirklich nicht.« Franziskas Wange sank noch schwerer auf Marias Schulter. »Und du freust dich wirklich?«

»Ich freue mich wirklich«, bekräftigte Maria. Es war die Wahrheit. Als sie in der Kältekammer gestanden hatte, eingepackt in Regenhose, Softshelljacke, Mütze und Handschuhe, hatte sie sich die Bilder der isländischen Landschaft in Erinnerung gerufen, die sie seit Wochen immer wieder im Internet bewunderte, und so tief durchgeatmet wie lange nicht mehr.

»Ich freue mich sehr«, wiederholte sie mit Nachdruck.

»Auch wenn du und Florian gerade sturmfrei habt und endlich machen könnt, was ihr wollt? Kochen und essen, was ihr wollt? Kommen und gehen, wann ihr wollt? Keine Rücksicht mehr auf ein Kind nehmen müsst?«

»Emilia ist schon so lange kein Kind mehr.«

»Sex haben, wo, wann und in welcher Lautstärke ihr wollt?«

Maria lachte kurz auf und zuckte mit den Schultern, worauf Franziska ihren Kopf hob und sie fragend ansah.

»Was soll dieses fiebrige Kichern? Dass ihr es überall treibt, seitdem eure Tochter auf Weltreise ist? Auf dem Küchentresen? In der Dusche?«

Der Mann vor ihnen in der Reihe wandte sich halb um.

»Auf Florians massivem Eichenschreibtisch?«, fragte Maria eine Spur leiser. »Den er von seinem Großvater geerbt hat?«

Maria sah, wie sich die Schultern des Mannes strafften.

»Oder im Auto?«, raunte Franziska. »Oder in der …« Ihr Handy begann zu klingeln. Die Musik zur Duschszene aus Hitchcocks »Psycho«, Geigen, die klangen, als würden Vögel panische Schreie ausstoßen. Die Tüte des Mannes vor ihnen knisterte panisch, als er sich erschreckt umblickte.

»Keine Angst, Junge«, murmelte Franziska, während sie in ihrer Tasche nach dem Telefon wühlte, das immer lautere Töne von sich gab. »Ich bin ganz harmlos … und … jetzt komm schon raus, du dummes Teil … Wieso geht das denn … ja? Melanie? Was gibt’s?« Sie sah zu Maria, rollte die Augen und formte mit den Lippen lautlos die Worte: Meine Schwester.

Dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Ihre Augen verengten sich, die Lippen wurden schmal. Sie wandte sich ab und ging einige Meter Richtung Ausgang, blieb stehen, wandte sich um, die eine Hand vor den Mund gepresst, die andere, die das Telefon hielt, sackte nach unten. Sie ging wieder auf Maria zu, aschfahl im Gesicht, wies mit dem Telefon auf die beiden Körbe, die sie auf dem Boden abgestellt hatte, und sagte tonlos: »Das muss ich jetzt sofort zurückbringen.«

Kapitel 3

»Und du hast deine Sachen mitgenommen?« Florian warf einen kurzen Blick auf die zwei großen Tüten neben der Tür, bevor er sich wieder dem Bildschirm zuwandte. »Das heißt, du fährst auch alleine.«

Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

Maria ließ sich auf den Stuhl vor Florians Schreibtisch fallen. »Das weiß ich noch nicht. Ohne Franziska kann ich es mir eigentlich nicht vorstellen.«

»Ich würde sagen, du fährst auf jeden Fall.«

Das war nun mehr Befehl als Feststellung.

»Florian, Franzis Mutter hatte einen Schlaganfall. Das ist jetzt entscheidend. Franziska wird auf keinen Fall nach Island fahren. Und ob ich fahre oder nicht, ist doch jetzt völlig unerheblich.«

»Ich finde es nicht unerheblich. Du hast dich so darauf gefreut.«

»Ich habe mich darauf gefreut, mit Franziska zu fahren, nicht ohne sie.« Sie betrachtete ihren Mann, der vom Computer hypnotisiert zu werden schien. »Florian?«, sagte sie, und als er nicht reagierte, fügte sie sanfter hinzu: »Flo?«

Langsam, als hielte eine unsichtbare Kraft seine Augen auf den Bildschirm gerichtet, wandte er Maria seinen Blick zu. Seine Mundwinkel wanderten zögerlich nach oben, als würde er seine Frau jetzt erst wirklich wahrnehmen.

»Du bist gestresst, Schatz«, sagte Maria leise.

Er betrachtete sie für Sekunden schweigend, dann legte er stöhnend den Kopf zurück und verschränkte die Hände in seinem Nacken. »Entschuldige bitte. Ja. Ich bin gestresst. Und das mit dem Rücken wird irgendwie auch nicht besser und …«

»Komm her.«

»Und ehrlich gesagt, bin ich es auch leid, dass ich in diesem Laden immer allein für alles …«

»Komm her.«

»Was?«

»Komm zu mir.«

Florian verharrte einen Moment in seiner Position, dann beugte er sich nach vorne, schaltete den Bildschirm aus und schob die Maus so zurecht, dass sie im Abstand von fünf Zentimetern zur Tastatur lag, ihr unteres Ende parallel zur unteren Kante der Plus-Taste. Das machte er so, seitdem Maria ihn kannte.

Sie wartete, bis er langsam um seinen Schreibtisch gekommen war und vor ihr stand, umarmte ihn und schloss die Augen. An ihrer Wange spürte sie das kühle Metall seiner Gürtelschnalle, ihre Hände legten sich auf seine Pobacken.

»Maria, es kann jeden Moment jemand …«

»Ich weiß«, murmelte sie. »Nur einen Moment.«

Er schwieg. Maria spürte, dass er sich aufrichtete, denn die Gürtelschnalle schob sich merklich nach oben. Als sie zu ihm aufblickte, sah sie, dass er seine Arme vor der Brust verschränkt hatte.

»Es ist gleich halb sieben. Lass uns gehen, Maria.«

»Flo, mir ist gerade so überhaupt nicht nach Smalltalk und Anstoßen und warmen Blubber-Worten. Können wir nicht einfach heimgehen?«

»Ich glaube, gerade dieses Jahr wäre das nicht so gut. Es ist sein letztes Mal als …«

»Ich weiß …« Maria seufzte. »Ich dachte nur …«

»Aber du kannst gerne nach Hause, wenn du dich nicht danach fühlst.«

»Das wäre das erste Mal, dass ich an Svens Geburtstag nicht dabei wäre«, sagte sie betont fröhlich. »Nein«, sagte sie, »ich komme natürlich mit.«

Zuerst hatte Maria ein schlechtes Gewissen, weil sie Lachshäppchen aß und Alkohol trank, während Franziska am Krankenbett ihrer Mutter wachte. Ab dem dritten Glas aber sorgte der Sekt für ein angenehm wattig-weiches Gefühl, an dem alle negativen Gedanken sanft abprallten. Sie könne jetzt ohnehin nichts für Franziska tun, hatte Florian gesagt. Außer ihr aufmunternde Nachrichten zu senden. Und überhaupt mache es keinen Unterschied, ob sie zu Hause auf der Couch an Franziska denke oder aus dem dritten Stock der Redaktion. Eine pragmatische Einschätzung der Lage. Florian war meistens pragmatisch, das war also nichts Neues. Aber etwas anderes war an diesem Abend anders als sonst.

Maria nahm einen Schluck Sekt und verfolgte ihren Mann mit den Augen. Kaum hatten sie das Konferenzzimmer betreten, in denen Feierlichkeiten dieser Art in der Regel stattfanden, war es, als hätte jemand eine Glühbirne in ihm eingeschaltet. Gut gelaunt begrüßte er hier jemanden, hielt dort ein rasches Schwätzchen, machte da einen Witz und lief so schnell von einer Gruppe zur nächsten, dass Maria irgendwann aufgab, ihm wie ein treuer Hund zu folgen. Früher oder später, das wusste sie, würde Florian das tun, was er immer auf Partys tat. Er würde sich mit einem einzigen Gesprächspartner in eine ruhige Ecke zurückziehen und sich von da an nicht mehr wegbewegen. Maria wollte sich ein weiteres Grissini einverleiben, doch ihre Hand griff ins Leere. Sie hatte das Glas auf dem Schreibtisch leergegessen, während sie ihren Mann beobachtete, der wie ein Partylöwe durch sein Kollegen-Rudel streifte, sich ständig mit den Händen durch seine Mähne fuhr und die Zähne fletschte.

»Er ist schon ganz der Chefredakteur«, sagte jemand neben Maria. »Für jeden ein freundliches Wort, niemanden vernachlässigen, alle motivieren.«

»Kommt mir eher vor wie jemand, der sich als mein Mann verkleidet hat«, murmelte Maria. »So ist er sonst nie.«

Barbara lachte. Sie war schon seit zwei Jahrzehnten Buchhalterin bei Wissenschaft morgen, also schon ebenso lang im Haus wie Florian.

»Schade, dass ich in absehbarer Zeit in Rente gehe und nicht mehr mitbekomme, wie dein Gatte das Blatt in neue Sphären führt.«

»Du hörst auf?« Maria sah sie überrascht an. »Wann?«

»Nächstes Jahr im Herbst.«

»Aber wieso denn?«

»Das letzte Kind ist mit dem Studium durch und wir haben genügend Rücklagen, um etwas früher … Ja, Kind, Maria, nicht Enkel, schau nicht so, ich sehe dir doch an, dass du gerade kopfrechnest. Fritz und ich haben eben später angefangen als du mit dem Kinderkriegen.«

Maria nahm einen Schluck Sekt. Hatte sie nicht mit Franziska vor ein paar Stunden ein ähnliches Thema gestreift?

»Bei euch geht es ja jetzt erst richtig los karrieretechnisch. Das Kind aus dem Haus, Florian Chefredakteur, du Partnerin in der Agentur …« Barbara gab einem jungen Mann mit Tablett ein Zeichen, dass er zu ihnen kommen solle. »Da beginnt jetzt eine aufregende Zeit für euch … Hmm, von den Kaviar-Teilen hatte ich noch gar keines.«

»Das ist kein echter Kaviar«, murmelte Maria und beobachtete Florian, der an einem Schreibtisch lehnte, die eine Hand ein Bier haltend, die andere in aufgeregten Zickzackbewegungen in der Luft unterwegs. »Das ist so ein Fake-Kaviar, den gab es bei uns früher immer an Silvester. Auf hart gekochten Eiern.« Was er wohl den beiden Kolleginnen erzählte? Er hatte die Ärmel seines weißen Hemds hochgekrempelt und die Unterarme freigelegt.

»Er ist in der Tat ganz schön lebhaft heute«, sagte Barbara und sah sich erneut nach dem Tablett-Mann um.

»Lebhaft, ja.« Maria trank ihr Glas in einem Zug aus, ohne den Blick von ihrem Mann zu nehmen. Und sehr süß, fügte sie in Gedanken hinzu.

Sie ließen die Räder stehen und sich von einem Taxi in die Hochstraße fahren, wo ihr Häuschen auf sie wartete, zweistöckig und aus der Zeit gefallen mit den grünen Fensterläden und den niedrigen Räumen. Ein Glücksfall, den sie noch zwanzig Jahre abbezahlen würden.

Maria saß zu weit von Florian entfernt, um ihren Kopf auf seine Schultern zu legen, deshalb streckte sie ihren Arm aus und berührte mit den Fingerspitzen seinen Nacken.

»Du hattest Spaß heute, nicht wahr?«, fragte sie.

»Hmm«, machte Florian nur und sah weiter aus dem Fenster, hinter dem die Lichter des Kulturzentrums vorbeiflogen. Die Glühbirne in ihm war ausgegangen, sobald sie sich von den wenigen verbliebenen Gästen verabschiedet hatten. Seit sie losgefahren waren, hatte er kein Wort gesagt, und als Maria kurz vor der Hochstraße ihren Sicherheitsgurt löste, sich in die Mitte der Rückbank und ihre Hand auf seinen Oberschenkel schob, murmelte er nur: »Wir müssen gleich raus.«

»Ich weiß«, sagte sie und dachte an Franziska und ihre Frage am Nachmittag und den massiven Eichenschreibtisch, den Florian von seinem Großvater geerbt hatte. Hatten sie darauf jemals Sex gehabt? Ihr Erinnerungsvermögen gab ihr keine eindeutige Auskunft. Sie verstärkte ihren Druck auf Florians Schenkel. »Du warst heute wirklich sexy mit deinen hochgekrempelten Hemdärmeln«, sagte sie leise, damit der Fahrer sie nicht hören konnte. »Wie Robert Redford in Die Unbestechlichen

»Sie können hier rechts halten«, sagte Florian und beugte sich etwas nach vorne. Marias Hand rutschte von seinem Schenkel. Sie war angetrunken und immer noch so in Watte gepackt, dass sie die Ruckartigkeit seiner Bewegung nicht gespürt hatte. Und es war zu dunkel im Wagen, als dass sie seinen Blick gesehen hätte, den er ihr zuwarf und der in wenigen Sekunden so viele Emotionen ausdrückte, dass sie augenblicklich erkannt hätte, dass etwas im Begriff war, sich bald zu verändern.

So aber stieg sie aus dem Wagen, kicherte, weil ihre Handtasche irgendwo hängen blieb, und folgte Florian, der schon an der Haustür stand und versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Er wankte leicht. Maria lächelte. Auch der Partylöwe hatte einiges getrunken. Mehr, als er vertrug,

»Brauchst du Hilfe?«, fragte sie.

Die roten Rücklichter des Taxis bogen nach links ab und verschwanden. Es war ruhig, nur das Rascheln der Bäume von der anderen Straßenseite drang zu ihnen. Dahinter fiel das Isarhochufer nach unten zur Au ab.

»Brauchst du Hilfe?«, wiederholte sie und schlang ihre Arme von hinten um ihn, fühlte wieder die Gürtelschnalle, die so kühl war wie Florians Antwort.

»Ich brauche nur mein Bett, Maria.«

Sie lockerte ihren Griff nicht, als er durch den dunklen Flur ging, stapfte breitbeinig hinter ihm her, damit ihre Füße sich nicht mit seinen verhedderten, und ließ ihre Finger schließlich abwärts wandern.

»Dann lass uns hinlegen«, flüsterte sie.

»Maria, bitte, ich …« Er blieb stehen.

»Nein, nicht ins Schlafzimmer.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und fuhr mit der Zunge über seinen Nacken.

»In dein Arbeitszimmer«, flüsterte sie und verstärkte den Druck ihrer Finger. »Komm, Flo, du willst es doch auch, du kannst es nicht leugnen, ich spüre es ganz deutlich.«

»Maria, ich …«

»Komm, Herr Chefredakteur, wirf mich auf den Schreibtisch deines Großvaters und …«

Florian drehte sich abrupt zu ihr um. Sein Atem ging schneller und seine Hände drückten so fest in ihre Oberarme, dass es wehtat.

»Nicht so fest«, flüsterte Maria. Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und strich mit den Daumen sanft über seine Wangen, die heiß waren und stoppelig, weil er sich zuletzt vor über achtundvierzig Stunden rasiert hatte. Das wusste Maria, weil sie ihm am Mittwoch gesagt hatte, wenn sie noch einmal seine Bartstoppeln aus dem Waschbecken spülen müsste, lasse sie in Zukunft ihre abgeschnittenen Zehennägel auf dem Badewannenrand liegen.

Sie zog Florians Gesicht zu sich herunter, küsste ihn und drückte ihr Becken gegen seines. Er regierte nicht, blieb starr und stumm, ein sedierter Partylöwe, doch als Maria erneut ihren Mund auf seinen legte, öffneten sich seine Lippen leicht. Allerdings nicht zum Küssen.

»Maria, wir müssen …«

»Nein, wir müssen jetzt gar nichts.«

»Ich kann nicht einfach so …«

Sie nahm die Hände von seinen Wangen, löste seine Finger von ihren Oberarmen und legte sie auf ihre Brust.

»Was kannst du nicht?«

Sein Atem ging jetzt schwer und langsam.

»Auf dem Schreibtisch«, sagte er gepresst, und nur Augenblicke später zog er sie in einer ruckartigen Bewegung an sich, stöhnte kurz auf, als er sie hochhob (Maria wusste nicht, ob wegen Erregung oder seines Ischias) und trug sie in das Arbeitszimmer.

Kapitel 4

Maria war aus dem Bett gestiegen und ins Bad gegangen, ihr Mund trocken, auf ihrem linken Oberarm eine Schramme und ihr Haar verwildert von der Nacht. Als das warme Wasser über ihren Körper lief, schloss sie die Augen und dachte an Florians Finger, die gestern überall gewesen waren, an ihrem Hals, ihren Brüsten, dem Bauch, den Innenseiten ihrer Schenkel. Florian hatte sie mit einer Hand um die Taille gehalten, während er mit Schwung alle Dinge vom Schreibtisch gefegt hatte, die ihren Körpern im Weg waren. Wie leidenschaftlich, hatte sie gestern vor dem Einschlafen noch gedacht. Jetzt unter der Dusche, mit der brennenden Schramme auf dem Oberarm und den stechenden Signalen eines Katers im Kopf, kam ihr der Akt auf dem Schreibtisch von Florians Großvater etwas nüchterner vor.

Maria legte den Kopf in den Nacken und hielt ihr Gesicht dem warmen Strahl entgegen.

Franziska hatte geschrieben, dass es ihrer Mutter den Umständen entsprechend gut gehe, sie selbst aber definitiv nicht nach Island fahren würde. Sie könne und wolle ihre Schwester nicht alles allein machen lassen. Aber Maria solle auf jeden Fall fahren. Die Gelegenheit, drei Wochen zu verreisen, käme so schnell nicht wieder, wenn sie erst einmal Partnerin in der Agentur sei. Und dazu noch Jakob Gattly Gattlinger! Sogar ihre Mutter habe gesagt, dass sich so eine Gelegenheit selten biete. (»Sie spricht noch etwas schwerfällig, aber das musste aus ihr raus!«) Und schade ums Geld wäre es allemal. Maria vermutete, dass Franziskas Mutter lediglich den letzten Satz geäußert hatte und sich mehr um die vielen Tausend Euro sorgte, die sowohl ihre Tochter als auch deren beste Freundin an den Schreibgott überwiesen hatten. Der künstlerische Aspekt und der Große Gattly waren der alten Dame dagegen mit Sicherheit gleichgültig. DU MUSST FAHREN. FÜR DICH!, schrieb Franziska am Ende ihrer Nachricht noch einmal.

Doch Maria würde nicht nach Island fahren. Nicht allein. Sie war in ihrem Leben noch nie nördlicher als bis nach Hamburg gekommen und sie konnte sich nicht vorstellen, diese Grenze ohne Begleitung zu überschreiten. Das Geld? Nun ja. Wie bei allen Kursen von Gattlinger gab es mit Sicherheit Wartelisten. Sie würde zwei Menschen finden, die statt Franziska und ihr mit dem coolen Gattly in heißen Quellen sitzen mochten.

Sie würde ihren dreiwöchigen Urlaub in München verbringen, frühmorgens mit Florian an der Isar laufen gehen und danach noch in ihr baden, erfrischt zurückkehren und zu Hause mit ihrem Mann testen, ob der Schreibtisch seines Großvaters immer noch problemlos zwei Menschen aushalten konnte. Wenn Florian in der Arbeit war, würde sie in einem Liegestuhl in ihrem winzigen Garten (eine zwei mal drei Meter große Rasenfläche, die fast immer im Schatten lag) ein Buch nach dem anderen lesen und somit den Stapel abbauen, der sich in den letzten Monaten auf ihrem Nachttisch aufgebaut hatte. Sie würde an den Markttagen zwischen den Ständen am Mariahilfplatz schlendern, frisches Gemüse kaufen und frische Schnittblumen und sie in hübschen Vasen im ganzen Haus verteilen. In der Küche, im Wohnzimmer und natürlich im Schlafzimmer, wo tagsüber die Rollos unten und die Fenster gekippt blieben, damit es spätabends angenehm kühl war.

Maria wandte sich um, weil sie den schemenhaften Schatten ihres Mannes hinter dem Milchglas der Schiebetür bemerkt hatte. Sie wartete einen Moment, ob er zu ihr in die Dusche kommen würde, und stellte, als er das nicht tat, das Wasser ab.

»Flo?«

Er antwortete nicht, sondern bewegte sich unruhig hin und her, wie ein Löwe in seinem Gehege. Maria schob die Tür auf und streckte ihren Kopf heraus. »Guten Morgen.«

Florian blieb abrupt stehen. »Hi.«

Maria lächelte. »Hi.« Aus ihren Haaren tropfte Wasser auf den Fliesenboden. Eine Weile war außer den leisen Klatschgeräuschen nichts zu hören. »Willst du mitduschen?«, fragte sie schließlich, obwohl sie gesehen hatte, dass er bereits vollständig angezogen war. Socken, Jeans, T-Shirt.

»Nein, ich …«

»Ich bin gleich fertig, dann kannst du rein.«

»Maria.«

»Wir könnten auf der Terrasse frühstücken oder irgendwo hinfahren.«

»Maria. Wir … Wir müssen reden.«

Sie schob die Tür ganz auf, stand nackt vor ihrem Mann, nackt und schön und sinnlich. Aber eigentlich nur vollkommen lächerlich, dachte sie später immer, wenn sie an die Situation dachte. Doch an diesem Tag bildete sie sich ein, ihr Mann wolle mit ihr über die vergangene Nacht sprechen, darüber, wie wunderbar sie gewesen sei, wie erotisch und einzigartig und …

»Ich glaube, ich liebe dich nicht mehr, Maria.«

»Was?« Ihr Lächeln hielt noch, während die Wörter langsam bei ihr ankamen. »Wieso … Was redest du da?«

»Du hast mich verstanden, Maria.«

»Nein. Ich verstehe überhaupt nichts. Ich stehe hier in der Dusche, weil wir letzte Nacht schweißtreibenden Sex hatten, und jetzt stehst du hier und …«

»Letzte Nacht hätte nicht passieren dürfen.«

»Was?«

»Das werde ich mir nie verzeihen, dass das passiert ist.«

»Du wirst dir nie verzeihen, dass du mit mir geschlafen hast letzte Nacht?«

»Ja. Ich hätte es verhindern sollen.«

Jetzt erst verschwand das Lächeln aus Marias Gesicht. Langsam schob sie die Tür der Duschkabine zu. Vielleicht war das alles nur ein schlechter Traum. Vielleicht wäre Florian verschwunden, wenn sie die Tür wieder öffnen würde. Wie auf Emilias Zaubertafel früher: Ein Bild war gemalt, Emilia hatte Lust auf ein neues, zog den Schieber über die Fläche und wieder zurück und schon war alles wieder weiß. Als hätte es das vorherige Bild niemals gegeben.

Sie atmete tief durch und zog die Tür wieder auf. Florian stand noch da. Er hielt ihr ein Handtuch entgegen. Maria schloss die Tür erneut. Irgendwann hatten die Zaubertafeln aufgehört, einwandfrei zu funktionieren. Emilia hatte immer häufiger zwei- oder dreimal schieben müssen, um alle Rückstände eines Bildes zu entfernen.

»Komm raus, Maria, bitte«, hörte sie Florian sagen. »Wir müssen wirklich reden. Bitte. Jetzt.«

Kapitel 5

Wenn Freundinnen sich bei Maria über ihre Partner beschwerten oder fragten, was das Geheimnis einer Beziehung sei, die über zwanzig Jahre glücklich sei, winkte Maria stets ab. Es sei auch bei ihnen ein Auf und Ab, es sei alles mit viel Arbeit verbunden, und besonders wichtig sei es, dass man immer im Gespräch bliebe und in diesen Gesprächen vermeide, Wörter wie »nie« und »immer« zu verwenden.

Als sie jetzt, im Bademantel, in der Küche saß, vor ihr eine Tasse auf dem Tisch, in der der Kaffee kalt geworden war, standen genau zwei Wörter wie ein flimmerndes Testbild vor ihren Augen und verschwanden nicht: immer und nie. Immer und nie. Immer und nie.

Wir arbeiten immer nur, Maria.

Was hatten wir uns nicht alles vorgenommen für die Zeit, in der Emilia aus dem Haus ist, aber wir machen nie etwas. Stopp, ich weiß, was du sagen willst, Maria, dass wir doch beide dauernd unterwegs sind. Das stimmt, aber wir sind nie gemeinsam unterwegs. Immer nur allein.

Wir reden immer nur das Notwendigste.

Wir sprechen nie über das, was uns wirklich bewegt.

Ich versuche seit Monaten, ein Gespräch wie dieses mit dir zu führen, aber du blockst immer ab.

Zwei Stunden war Florian vor ihr auf und ab gegangen wie zuvor im Badezimmer. Er lief von der Arbeitsfläche zur Tür und wieder zurück, sagte Sätze mit immer und nie und zeichnete währenddessen mit den Händen aufgeregte Zickzackbewegungen in die Luft. Wie auf der Party gestern. Anfänglich verstand Maria das, was er sagte. Dann folgten ihre Augen seinen Fingern, die sich so schnell bewegten, dass sie all ihre Konzentration dafür aufbringen musste, um ihnen zu folgen. Florians Worte verschwammen zu einem Rauschen, und das war angenehmer, als ihnen zu lauschen.

Doch dann bohrten sich zwei Sätze an ihr Ohr, die sie wieder aufhorchen ließen.

Wir haben nie Sex.

Wir küssen uns nie.

Florian hielt inne, als er ihren Blick sah.

»Ich weiß, was du jetzt denkst, Maria. Wir hatten doch gestern Sex, denkst du. Was hat er denn? Wir haben uns doch geküsst, stundenlang. Fakt ist aber auch: Wir waren betrunken, Maria, ziemlich betrunken. Wir hatten Sex, weil wir betrunken waren. Wir hatten Sex zum ersten Mal seit … Ich weiß es nicht. Weißt du es, Maria? Ich weiß es wirklich nicht.« Er wandte sich zur Theke und stützte sich mit beiden Händen ab, schüttelte den Kopf in der ihm typischen Bedächtigkeit, die Maria dazu brachte, langsam aufzustehen. »Ich weiß es wirklich nicht mehr«, wiederholte er noch einmal, als sei sie schwerhörig oder schwer von Begriff. Maria verspürte den Drang, ihn zu schubsen oder ihm fest in den Rücken zu schlagen, und zog den Gürtel ihres Bademantels fester um den Körper, als könne sie dadurch ihre Impulse zügeln.

»Ich zieh mich mal an«, sagte sie kühl.

Florians Kopf stoppte. »Maria, hast du gehört, was ich alles gesagt habe?«

Sie blieb im Türrahmen stehen. »Du weißt nicht, ob du mich noch liebst. Du weißt nicht, wann wir das letzte Mal Sex hatten vor letzter Nacht.« Sie sprach schneller, weil sie merkte, dass ihre Stimme drohte zu versagen. »Zwei Sachen aber könntest du wirklich wissen und auch mich wissen lassen. Erstens: Warum jetzt das alles? Warum so aus dem Nichts?«

»Ich habe es so oft versucht, Maria, das sagte ich doch eben, und du hast es schon wieder nicht gehört. Ich habe immer öfter das Gefühl, dass ich etwas sage und es verhallt ungehört. Als hätte ich es nie ausgesprochen.«

Immer.

Nie.

»Zweitens …«, sagte Maria kaum hörbar.

Florian seufzte. »Ja?«

»Hast du …?« Sie räusperte sich. Ihr Mund fühlte sich trocken an. »Gibt es jemand …?«

»Jemand anderen?«, sagte Florian. »Eine andere Frau?«

»Ja«, brachte Maria heraus. Dann hielt sie den Atem an. Das machte sie auch, wenn sie einen Film sah und klar war, dass es gleich dramatisch, laut, peinlich, brutal oder gefährlich werden würde. Wenn der schon angetrunkene Sohn kurz davor war, auf der Familienfeier seinem Vater die jahrelang angestaute Verachtung ins Gesicht zu schreien. Wenn die junge, mutige Frau in einer fremden, dunklen Wohnung nach Beweisen suchte für ein Verbrechen, das der Besitzer begangen haben sollte und sich dieser bereits mit schnellen Schritten näherte, begleitet von lauter und schriller werdender Musik.

»Nein«, sagte Florian.

Maria atmete aus.

»Aber ich denke zuweilen an jemanden«, fügte er hinzu.

Eine Fliege surrte durch das Zimmer, steuerte das Fenster an, stieß an die Scheibe und flog taumelnd zurück.

»Ich ziehe mich mal an«, sagte Maria erneut.

Die Fliege hatte sich gefangen und startete einen erneuten Anflug auf das Fenster.

»Maria, wir müssen uns beide fragen, was wir mit den nächsten zwanzig, dreißig, vierzig Jahren unseres Lebens anfangen wollen. Ob wir sie so wie die letzten zwanzig verbringen sollen. Verbringen wollen.«

Das war mein Plan, ja, dachte Maria, aber sie sprach es nicht aus. So geschockt sie war, so genau wusste sie auch, dass Florian in einem Punkt recht hatte: Er hatte versucht, mit ihr darüber zu sprechen. Sie erinnerte sich an ein Abendessen vor vielleicht zwei Wochen, als er unvermittelt gefragt hatte, ob sie eigentlich glücklich sei. Sie hatte gelacht, die Frage bejaht und dann sehr rasch von etwas anderem erzählt, vermutlich von Emilia, von der an diesem Tag eine Nachricht gekommen war, aus Bolivien oder Peru oder Argentinien.

»Wer ist sie?«, fragte Maria, obwohl ein ganz anderer Satz geplant war.

Florian schüttelte den Kopf erneut, dieses Mal heftiger. »Darum geht es jetzt nicht.«

»Oh, ich finde schon, dass es darum geht.«

»Ich finde, dass wir uns die Frage stellen sollten, ob wir noch glücklich miteinander sind.«

»Und ich finde, dass es meine Entscheidung ist, welche Fragen ich mir stelle.«

»Maria, bitte … Ich wollte einfach mir dir darüber sprechen, bevor du nach Island fährst und …«

»Ich fahre nicht ohne Franziska nach Island!

»Ich glaube aber, es täte uns gut, wenn wir ein paar Wochen Abstand haben und überlegen könnten …«

»Und ich glaube, dass ich besser hier bleiben sollte, damit wir uns das zusammen überlegen könnten. Meinst du nicht, Florian? Hm? Oder willst du unbedingt, dass ich wegfahre? Willst du hier allein sein?«

»Ich will nicht, dass du allein hier bist, Maria.«

»Was soll das heißen?«

»Dass ich auf jeden Fall nicht hier sein werde in der Zeit, die du ursprünglich in Island verbringen wolltest.«

»Wo bist du denn?« Wieder ging ihr Atem flacher.

»In Australien.«

»In … Wie lange? Mit wem? Und wieso hast du mir nichts davon gesagt?«

»Drei Wochen, Maria. Ich werde drei Wochen bleiben. Ich fliege nächsten Samstag und komme drei Wochen später am Samstag zurück. Exakt der gleiche Zeitraum, den du und Franziska für Island geplant habt. Mit wem? Ich fahre allein. Ich will allein sein. Warum ich es dir nicht gesagt habe? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Feigheit? Angst? Bequemlichkeit? Es sind doch immer die gleichen Gründe, aus denen Menschen aufhören zu sprechen und zu handeln und zu leben.«

Maria starrte ihn stumm an.

»Vorgestern hatte ich mir fest vorgenommen, es dir zu sagen«, sagte Florian. »Aber du bist abends nach Hause gekommen und hast gesagt, du willst nichts mehr hören außer dem Ploppen des Korkens, der aus der Weinflasche gezogen wird.«

Es war ein Höllentag in der Agentur gewesen, wollte Maria sagen. Und dass sie am Morgen wieder einmal seine Bartstoppeln aus dem Waschbecken gewischt hatte. Aber sie brachte kein Wort heraus.

»Maria, findest du nicht auch, dass Emilias Auszug uns hätte näher zusammenbringen sollen? Und findest du nicht auch, dass genau das Gegenteil eingetreten ist, seitdem sie weg ist?«

Eine Erinnerung stieg in Maria auf. An ein Gespräch, bei dem sie auch flach geatmet und Angst gehabt hatte vor jedem weiteren Satz, den Florian aussprechen würde. Doch danach war alles wieder gut geworden. Sie holte tief Luft. Es würde auch dieses Mal wieder alles gut werden.

»Wir können das nicht einfach aussitzen und hoffen, dass alles wieder von alleine gut wird, Maria.«

Ich ziehe mich erst einmal an, wollte Maria zum dritten Mal sagen, doch sie nickte nur.

»Lass uns beide verreisen, Maria. Lass uns getrennt voneinander darüber nachdenken, wie wir uns unser weiteres Leben vorstellen.«

Sie nickte automatisch.

»Gut.«

Nichts ist gut, dachte sie, aber in ihrem Kopf hämmerte es jetzt so sehr, dass sie einfach nur Ruhe wollte. Ihre Lippen fühlten sich rau und aufgesprungen an, und als sie daran dachte, wie Florian sie letzte Nacht geküsst hatte, stiegen ihr Tränen in die Augen.

»Gut«, wiederholte Florian, und sie wusste, dass er sich unbehaglich fühlte, weil er begann, Gegenstände auf dem Tresen hin und her zu schieben. Die Dose mit Zucker von links nach rechts, das ehemalige Einmachglas mit den Kaffeebohnen darin von oben nach unten. Die Fliege, des Fensters überdrüssig, begann um seinen Kopf zu schwirren.

»Ich werde hier bleiben, während du in Australien bist«, sagte Maria schließlich noch. »Jemand muss sich ja um die Pflanzen kümmern und ich habe es lieber warm als kalt.«

Florian seufzte. »Wie du willst, Maria.«

Ich will, dass du mich in den Arm nimmst, dachte sie. Als das nicht passierte, sagte sie zum dritten Mal: »Ich ziehe mich jetzt mal an.«

Langsam stieg sie in den ersten Stock hinauf. Eins, zwei, drei, knarz. Fünf, sechs, sieben, acht, neun, knarz. Sie kannte die Beschaffenheit der Stufen auswendig. Elf, zwölf, knarz, knarz, erster Stock erreicht. Emilia hatte diese Stufen als kleines Kind geliebt, weil sie so lustige Geräusche machten, die eine einen »Pupsi«, die andere ein »Rülpsi«, die dritte ein »Kichan«. Maria blieb am Treppenabsatz stehen. Das Kichern von Emilia. Es war bis heute ansteckend und es fehlte in diesem Haus. Es fehlte Maria und es fehlte mit Sicherheit auch Florian, dem bei seinen Herumschiebereien jetzt wohl irgendetwas heruntergefallen war, denn eben hatte es heftig geklirrt, worauf er einen Fluch ausgestoßen hatte. Ganz unpragmatisch.

Maria blieb in der Tür zum Schlafzimmer stehen und schaute auf das Bett mit dem zerwühlten Laken. Beide Decken lagen am Boden, die Kopfkissen waren nicht zu sehen. Maria starrte neben das Bett, bis sie ihr Telefon wahrnahm, das sich auf dem Nachttisch vibrierend um sich selbst drehte. Sie wartete, bis es wieder ruhig war, und sah dann nach, wer angerufen hatte. Es könnte immer Emilia sein, doch in diesem Fall war es ihre Mutter gewesen, die das unerklärliche Talent hatte, immer dann anzurufen, wenn sich kurz davor Außergewöhnliches ereignet hatte. Maria konnte sich nicht erinnern, dass sie jemals mit ihrer Mutter telefoniert hatte und nicht kurz davor irgendetwas passiert war. (Sie bewunderte diesen siebten Sinn, aber es war auch anstrengend, den Hörer mit der Mutter in der einen Hand zu halten und in der anderen ein kleines Mädchen, das schrecklich weinte, weil in letzter Sekunde verhindert worden war, dass sie ihren Goldfisch die Toilette herunterspülte, um ihn zu befreien.)

Anstatt ihre Mutter zurückzurufen, rief sie noch einmal Franziskas letzte Nachricht auf.

DU MUSST FAHREN.

Unten in der Küche klirrte es zum zweiten Mal, Florian fluchte erneut, dann knallte es. »Scheißfliege!«, schrie er, dann stapfte er mit schweren Schritten durch den Flur. Maria lauschte, ob er nach oben kam, doch dann hörte sie, wie die Haustür zugeschlagen wurde. Sie ging an das Fenster und sah ihn auf die andere Straßenseite gehen, mit hochgezogenen Schultern, die Hände in den Hosentaschen vergraben.

Maria ließ den Vorhang zurückfallen. Gestern Nacht war er noch in ihr gewesen. Jetzt flüchtete er vor ihr. Dachte zuweilen an eine andere Frau. Warum hatte sie nicht darauf bestanden, ihren Namen zu erfahren? Als Voraussetzung für jedes weitere Gespräch?

Warum war sie so ruhig?

Maria drehte das Display des Handys langsam zu sich. Ihre Hand zitterte. Ihr ganzer Körper zitterte. Sie war nicht ruhig. Es war nur die Ruhe vor dem Sturm.

DU MUSST FAHREN.

FÜR DICH!

Es war ein Samstag im Juli, elf Uhr vormittags. Sie war einundvierzig Jahre alt und hatte eine volljährige Tochter, die ihr Abitur in der Tasche hatte und momentan durch Südamerika reiste. Sie war seit fast zwanzig Jahren mit Florian verheiratet und hieß seit ebenso langer Zeit Maria Francesca Antonella Kloß. Sie war wegen ihres Nachnamens schon viele Male aufgezogen worden, aber sie war immer eine glückliche Kloß gewesen. Sie wäre mit Florian glücklich gewesen, egal, welchen Nachnamen er ihr verpasst hätte, und hatte nie daran gezweifelt, dass er und sie gemeinsam alt würden. Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass sie beide, die ein Fels in der bitteren Brandung aus Trennungen, Scheidungen und Schlammschlachten in ihrem Umfeld waren, jemals an ihrer Liebe zueinander zweifeln würden. Keinen Gedanken hatte sie daran verschwendet.

Vielleicht hätte sie das tun sollen.

DU MUSST FAHREN.

Vielleicht wäre Island doch eine Option. Kein natürliches Habitat für eine Halbitalienerin, die ihre Urlaube bevorzugt südlich des achtundvierzigsten Breitengrads verbrachte, aber möglicherweise ein Ort, an dem sie sich Gedanken machen konnte, während Florian das zeitgleich ebenfalls in einer für ihn ganz neuen Umgebung tat. Vielleicht könnte sie den Schreibkurs beim Great Gattly ganz sein lassen und einfach nur durch das Land reisen. Doch dafür müsste sie in der Hochsaison neue Unterkünfte finden. Und bezahlen. Genauso wie das Essen, denn die Vollpension, die mit dem Schreibkurs angeboten wurde, wäre dann natürlich auch futsch. Mehrere Tausend Euro wären einfach futsch, wie Franziskas Mutter richtig beanstandet hatte.

Maria sah auf das zerwühlte Bett, auf die Spuren der vergangenen Nacht. Dann auf den Gehsteig, über den Florian davongestapft war und auf dem jetzt die alte Frau Maurer von nebenan stand, mit dem Rücken zu Maria. Vermutlich feuerte sie ihren Terrier Franz-Josef an, der in Hundejahren genauso alt war wie sein Frauchen und der die Böschung gerne hinunterstolperte, sie aber ohne verbale Unterstützung nicht mehr hinaufschaffte.

Maria wandte sich wieder in das Zimmer. Es erschien ihr plötzlich noch niedriger als sonst, sie hatte das Gefühl, als würde sich die Decke langsam auf sie zu bewegen. Sie kniff die Augen einmal fest zusammen und öffnete sie wieder. Vielleicht würde die Teilnahme am Schreibkurs aber auch verhindern, dass sie drei Wochen in ein und demselben Hotelzimmer sitzen und sich in emotionale Einbahnstraßen hineingrübeln würde. Vielleicht wäre es gut, wenn sie vormittags abgelenkt wäre und sich danach nicht mehr um ihre Verpflegung kümmern müsste.

Sie hörte Franz-Josef freudig bellen und lobende Rufe von Frau Maurer. Der Hund hatte es geschafft.

Frau Maurer könnte sich um die Pflanzen kümmern, wenn Florian und sie nicht da waren. Sie könnte die Post auf dem Küchentisch stapeln und gelegentlich durchlüften.

Maria rief Franziskas Nachricht auf.

DU MUSST FAHREN.

Maria begann zu tippen, löschte das Geschriebene wieder, weil ihre zitternden Finger nur Buchstabensalat produzierten, und begann erneut.

Gute Nachricht, liebe Franzi:

ICH WERDE FAHREN!

PS: Bin sehr erleichtert, dass es deiner Mutter schon so viel besser geht!!

Sie holte tief Luft und schrieb eine weitere Nachricht an Greta. Sie habe Symptome einer Sommergrippe, sie wolle die nächste Woche gerne freinehmen und hoffe, dass sich jemand finde, der Warzen-Mike übernehmen könne, es tue ihr sehr leid, aber sie könne einfach nicht, sie fühle sich sehr elend.

Dann legte sie das Handy zur Seite und sich auf ihre Bettseite. Sie zog die Beine hoch und umklammerte ihre Schienbeine mit den Armen. Der Sturm. Er würde kommen. Aber vielleicht zog er erneut über sie hinweg.

Florian Kloß hatte an der nächsten Ecke angehalten, war aber dann nach kurzem Zögern weitergegangen. Er konnte jetzt nicht zurück. Eben in der Küche hatte er das Gefühl gehabt, die Decke würde ihn erdrücken, er hatte den Raum sofort verlassen müssen, war in der Hektik gegen den Glasbehälter mit dem Kaffee gestoßen, der auf den Boden gefallen und in tausend Stücke zersplittert war. Kaffeebohnen hatten sich über den gesamten Boden ausgebreitet, aber er war nicht in der Lage gewesen, die Sauerei zu beheben.

Er verlangsamte seinen Schritt und zog sein Handy aus der Hosentasche, das eben geläutet hatte. Vermutlich Maria, aber allein der Gedanke daran, das Gespräch mit ihr fortzuführen, schnürte ihm die Kehle zu. Als er sah, wer angerufen hatte, blieb er stehen und wartete auf die Nachricht. Sie schrieb immer sofort eine längere Nachricht, wenn sie ihn nicht erreichen konnte, dieses Mal waren es nur sechs Wörter.

Hast du es ihr endlich gesagt?

Er nickte, während er tippte, als könne er damit seine Antwort unterstreichen. Als die seiner Ansicht nach wesentlichen Informationen niedergeschrieben waren, ergänzte er die Nachricht noch um einen Satz, bevor das Handy wieder in die Gesäßtasche steckte.

Wie gut, dass es deiner Mutter schon wieder so gut geht.

Hinter ihm hörte er das Bellen von Franz-Josef, dem Hund der alten Frau Maurer, der ihn, den Nachbarn, vermutlich längst gewittert hatte und nun engagiert auf ihn zu trippelte. Florian hatte keine Lust auf Smalltalk und Fragen, also ging er rasch weiter, bog in einen der Fußwege ein, die nach unten in die Au führten. Von hier aus war es nicht mehr weit zur Isar. Wenn er eine Weile tief durchatmen und auf den Fluss sehen könnte, der dieser Tage geruhsam und glitzernd durch die Stadt floss, würde es ihm besser gehen.

Kapitel 6

Der Sturm, von dem Maria wusste, dass er sie erreichen würde, kam in Island zunächst in seiner meteorologischen Form. Schon kurz nach ihrer Ankunft herrschte ein lebhafter Wind und riss an ihrem Pferdeschwanz, während sie mit ihrem Gepäckwagen dem Mitarbeiter der Autovermietung über den Parkplatz folgte. Er ging ihr schnellen Schrittes voran, ein untersetzter Mann mit semmelblonden Haaren, der seine Baseball-Kappe immer wieder fest auf den Kopf drückte, damit sie nicht davonflog.

Es war erst später Vormittag und trotzdem düster, denn die Sonne, die in den nächsten Wochen niemals richtig untergehen würde, war hinter dichten Wolken verschwunden.

Marias Wagen stand am Ende des Parkplatzes, klein und weiß, der Ersatz für den Geländewagen, den sie mit Franziska ursprünglich mieten wollte, der aber jetzt überflüssig war. Das Hochland mit seinen Schotterpisten und reißenden Flüssen würde sie alleine nicht ansteuern und die Straßen nach Patreksfjörđur (sie hatte sich den Namen endlich gemerkt) waren alle geteert und gut ausgebaut. Es gab keinen Anlass für einen Allradantrieb.

Der Mann mit der Baseballkappe umrundete den Wagen einmal, holte einen Stift aus seiner Gesäßtasche und notierte dann etwas auf dem Blatt Papier, das auf einem Klemmbrett befestigt war. Als er die Touristin auf die zwei Dellen in der rechten Vordertür hinweisen wollte, sah er, dass sie erneut beide Unterarme angehoben hatte und ihre auseinandergespreizten Finger betrachtete. Das hatte sie vorher schon gemacht, als sie vom Schalter Richtung Parkplatz aufgebrochen waren. Vielleicht prüfte sie den Zustand ihrer Nägel, vielleicht – er sah rasch wieder weg – prüfte sie vor dem Besteigen des Autos auch, ob ihre Hände zitterten, wer wusste das schon. Vielleicht hatte sie länger nichts gegessen. Oder während des Fluges zu viel getrunken. Oder zu wenig. Es ging ihn nichts an.

»Die zwei Dellen hier habe ich vermerkt«, sagte er. »Dafür werden Sie nach Ihrer Rückkehr nicht verantwortlich gemacht, okay?«

Sie blickte auf und sah ihn für Sekunden verständnislos an. »Okay«, sagte sie dann rasch und zeigte ein Lächeln so kurz wie ein Flügelschlag. »Vielen Dank …«, ihre Augen wanderten zu dem Namenschild auf seinem T-Shirt, »vielen Dank, Blendi.«

Er nickte und wartete. Fast alle Deutschen, meistens die über vierzig, erwähnten beim Anblick seines Vornamens, dass sie als Kinder eine Zahnpasta namens Blendi verwendet hatten. Die nach Erdbeere geschmeckt hatte und von einem Biber beworben worden war, der riesige Schneidezähne gehabt, aber lediglich ein T-Shirt und keine Hose getragen hatte. Wie sein frivoler Bruder im Geiste, Winnie-the-Pooh.

Doch die Frau schwieg. Vielleicht war sie noch keine vierzig, überlegte Blendi, er konnte es schwer einschätzen. Sie sah gut aus. Im Einzel mittel, im Gesamten ziemlich gut, würde es sein Freund Gylfi an seinen lyrischen Tagen beschreiben, an seinen normalen Tagen würde er einfach sagen: heiße Tante. Sie war mittelgroß und mittelschlank, ihre Haare waren zu einem mittellangen Pferdeschwanz zusammengefasst, der mittelbraun war wie ihre Augen (soweit er das an diesem bewölkten Tag feststellen konnte.) Ihre Nase war mittelgroß, kein Stupser, aber auch kein Zinken, und ihre Lippen waren kein Strich, aber auch kein Schlauchboot.

»Wo fahren Sie jetzt hin?«, fragte er. »Nach Reykjavík?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, direkt in die Westfjorde.«

»Heute noch? Ganz schön lange Strecke.«

»Gut vierhundert Kilometer, ja.« Sie zuckte mit den Schultern. »Es wird ja nicht richtig dunkel momentan.«

»Eigentlich nicht.« Er zog ein Blatt aus seinem Klemmbrett. »Straßenkarte von Island. Soll ich Ihnen einzeichnen, wann Sie von der Ringstraße abbiegen müssen?«

»Ja, das wäre nett. Sicher ist sicher.«

»Also, Sie bleiben erst einmal einfach auf der Ringstraße. Zehn Kilometer nach Borgarnes kommt dann eine Tankstelle, Baulan heißt sie, die älteste in Island. Sehr gute Burger gibt es dort. Und dann …«, er fuhr mit dem Kugelschreiber weiter die Straße entlang, »dann sind es noch einmal gute zehn Kilometer, bis Sie nach links abbiegen müssen auf die 60, okay?«

Sie nickte. So in etwa hatte sie es sich ohnehin gemerkt.

Er streckte ihr den Autoschlüssel entgegen. »Vielleicht haben Sie Glück und die Wolkendecke reißt später noch auf.«

»Hoffentlich«, sagte sie und zeigte wieder ihr Flügelschlag-Lächeln. Der Schlüssel klimperte leise in ihren zitternden Händen. Blendi sah diskret weg, aber er blickte dem Auto nach, das den Parkplatz sehr, sehr langsam verließ und auf die Straße Richtung Reykjavík einbog.

Du liebe Güte, dachte er. Wenn sie in dem Tempo weitertrödelt, ist sie frühestens übermorgen in den Westfjorden.

Maria schloss die Hände fest um das Lenkrad. Gerade hatte jemand hinter ihr gehupt, aber Gas geben war unmöglich, denn sie musste ihre gesamte Konzentration auf die wesentlichen Dinge lenken. Schneller fahren war nicht darunter. Wichtig war jetzt lediglich: Lenkrad halten, dem Straßenverlauf folgen und nicht alle zwei Minuten dem Impuls nachgeben, scharf zu bremsen, rechts ranzufahren und das Handy hervorzuholen. Sie hatte ihr Telefon in die Vordertasche ihres Trolleys gesteckt und diesen wiederum in den Kofferraum gepackt.

Ich möchte keinen Kontakt, Maria. Ich möchte, dass wir in den nächsten drei Wochen nicht reden, nicht schreiben, nichts. Ich kann gerade nicht mehr.

Maria schnaufte bei dem Gedanken daran und ignorierte den Autofahrer, der sie in diesem Moment überholte und mit seiner Hand eine Scheibenwischerbewegung vor seinem Gesicht machte. Sie blickte nach rechts. Parallel zur Straße verlief ein etwa ein Meter breiter dunkelgrauer Schotterstreifen, neben dem ausgebleichtes Gras im Wind zappelte. Dahinter erstreckte sich ein Teppich aus dumpfem Grün und trübem Braun. Kein Busch, kein Baum war zu sehen und die Wolkendecke schien immer tiefer nach unten zu sinken. In regelmäßigen Abständen rüttelten Windböen so stark am Auto, dass Maria immer einen kleinen Bogen fuhr. Schließlich begann es auch noch zu regnen.

»Ist ja wirklich atemberaubend schön hier«, hätte Franziska gesagt, wenn sie dabei gewesen wäre. Und dann hätten sie beide albern gekichert wie zwei Teenager und sich nur langsam wieder beruhigt. Franziska, die stets Beifahrerin war, hätte nach ihrem Telefon gegriffen und nachgesehen, wie sie genau zu ihrem Hotel in Reykjavík kämen. Sie hätte herausgefunden, wo sie den ersten Espresso in Island trinken würden, der Nation mit der glorreichen Kaffee-Kultur. Später wären sie durch die Stadt geschlendert, von der großen Konzerthalle Harpa am Hafen zu den Geschäften in der Fußgängerzone Laugavegur, an bunten Wellblechhäuschen vorbei bis zur Hallgrims-Kirche, die weiß war wie Gletschereis und eingerahmt von Betonpfeilern, die an die Basaltsäulen an der Südküste Islands erinnerten.

Es hupte erneut. Marie seufzte. Fuhr sie wirklich so langsam, dass sich alle genötigt sahen, sie zu nötigen? Sie fuhr näher an den grauen Schotter heran, sodass die Autos hinter ihr besser überholen konnten, und schaltete den Scheibenwischer auf die schnellste Stufe. Der Verkehr hatte zugenommen, die Abwechslungen zu beiden Seiten ebenfalls. Häuser, Hotels, Lagerhallen. Reykjavík konnte nicht mehr weit sein, doch Maria würde nicht in die Stadt fahren, keine Unterkunft ansteuern und keinen Espresso in einem gemütlichen Café trinken. Es wäre eine einsame Angelegenheit, deswegen hatte sie beschlossen, die Hauptstadt ans Ende ihrer Reise zu platzieren und erst einmal so weit wie möglich wegzukommen. Weg von Deutschland, weg von München, weg aus der Hochstraße, weg von dem zweistöckigen Haus mit den grünen Fensterläden. Und vor allem weg von den Streiten mit Florian, die jeden weiteren Tag nach seiner Verkündung im Badezimmer einen neuen Tiefpunkt erreicht hatten. Während die Temperaturen draußen immer weiter nach oben kletterten, wurde es zwischen ihnen beiden stündlich eisiger. Maria nahm sich vor jedem Gespräch vor, dieses Mal geduldig zuzuhören und dann besonnen zu sprechen, aber es gelang ihr einfach nicht. Nach wenigen Sätzen von Florian übernahm stets eine frostige Wut Regie und schoss Worte aus ihrem Mund, die nicht laut waren, aber kalt und spitz und hinterhältig. Maria bereute das Gesagte jedes Mal im selben Moment, aber sie konnte es nicht mehr zurückholen. Sie konnte nur noch zusehen, wie es auf Florian traf und ihn verletzte.

Jeder Abend bis zu ihrer Abreise verlief so. Florian ging arbeiten und kam nach neun Stunden wieder nach Hause, wo seine Frau wartete wie eine Schneekönigin, deren Herz gefroren war und die nicht anders konnte, als einen eiskalten Fluss an schnippischen Bemerkungen auf ihn loszulassen.

Später lag sie allein im Bett, weil Florian im Gästezimmer schlief, und tat alles, um Gedanken an die Zeit zu verdrängen, in der das alles schon einmal so gewesen war. Sie scrollte sich durch Nachrichtenmagazine, ohne zu verstehen, was sie da las. Sie öffnete einen Island-Blog nach dem nächsten und glitt mit den Augen über Bilder von prachtvollen Landschaften, ohne sie zu sehen. Sie schrieb Emilia, wie sehr sie sich auf Island freue und wie sie sich für den Papa freue, dass er auch eine Reise unternehme, und wie sehr sie sich freue, wenn sie sich in wenigen Monaten alle wiedersähen. Sie vertippte sich oft, weil ihre Hände weiterhin so zitterten, aber sie blieb weiterhin ruhig. Der Sturm kam nicht.

Am Ende der Woche, kurz bevor Florian nach Australien und Maria nach Island reisen würde, kam er hoch in das Schlafzimmer, das er seit einer Woche nicht betreten hatte. Er blieb eine Weile im Türrahmen stehen und sah ihr dabei zu, wie sie ihren Koffer füllte mit Softshelljacke und Fleece-Hoodie und einem brandneuen Badeanzug, der gletscherblau war und rote Träger hatte, die sich im Rücken kreuzten. Quasi die Landesfarben Islands, hatte der Verkäufer im Outdoorladen gemeint. Als Maria innehielt und Florian mit hochgezogenen Augenbrauen ansah, hob er beide Hände zu einer Verteidigungshaltung und verkündete, dass es wohl besser sei, wenn sie sich die nächsten drei Wochen aus dem Weg gingen.

»Das ist ein guter Vorschlag«, hatte sie geantwortet. »Ich wäre sonst regelmäßig bei dir in Australien aufgeschlagen. Zwischendurch, nach einem nachmittäglichen Ausflug zu einem Geysir, und vor dem Abendessen mit landestypischem Lamm.«

»Maria. Ich möchte, dass wir uns eine Pause verordnen. Es entstehen nur Missverständnisse, wenn wir schriftlich kommunizieren oder telefonieren. Wir schaffen es ja nicht einmal mehr im persönlichen Austausch, uns zu verständigen.«

Sie hatte sich wieder ihrem Koffer zugewandt. Wir schaffen es ja nicht einmal mehr im persönlichen Austausch, uns zu verständigen. Dieser gestelzte Pragmatismus, er ging ihr so unendlich auf die Nerven. Aber solange er ruhig blieb, musste sie es auch bleiben. Sie wollte nicht diejenige sein, die laut wurde.

»Ich möchte eine Kontaktsperre, Maria. Ich möchte, dass wir in den drei Wochen nicht reden, nicht schreiben, nichts. Ich kann gerade nicht mehr.«

»Aber denken ist erlaubt?«

»Wieso sollte das nicht …«

»Denken ist erlaubt, damit du weiterhin an die große Unbekannte denken kannst?«

»Maria, es tut mir leid, ich hätte das niemals sagen sollen. Dadurch ist das aus dem Fokus geraten, um was es mir eigentlich geht. Was für uns wichtig ist.«

»Wer ist sie denn nun?«

Er schwieg.

»Jemand aus der Arbeit?«

»Maria, ich habe keine Affäre und es gibt keine andere Frau in meinem Leben.«

»Noch nicht. Aber wenn deine Gedanken schon zu ihr wandern, wird es dein Körper auch bald tun.«

Himmel, waren da kleine Teufelchen in ihr, die sich diabolisch kichernd all diese fürchterlichen Sätze ausdachten. Sätze, die sie auf ein Katapult spannte und dann aus ihr herausschossen, damit sie keine Chance hatte, sie zurückzuhalten?

Florian sah sie schweigend an, dann schüttelte er den Kopf und wandte sich um.

»Ich bin unten«, sagte er leise. »Falls du mich suchst.«

Reykjavík lag jetzt hinter ihr. Der Verkehr hatte sich gelichtet, aber die Wolkendecke war noch dichter geworden. Es war, als nähere sich eine gewaltige finstere Wand der Erde. Regenschleier zogen über das kahle Land hinter der Frontscheibe.

Maria hielt den Blick weiter starr auf die Fahrbahn gerichtet. Sie steuerte einen Straßentunnel an und murmelte leise Verwünschungen vor sich hin. Sie verabscheute Tunnels, die Enge und Dunkelheit in ihnen, das Gefühl, direkt an nackter Felswand entlangzuschrammen.

Als sie in das Halbrund aus Beton hineinfuhr, holte sie tief Luft, als würde sie unter Wasser tauchen, und irgendwie war es ja auch so, denn der Tunnel verlief teilweise mehr als hundertsechzig Meter unterhalb des Meeresspiegels. Sie fuhr jetzt mitten durch einen Fjord, dem Hvalfjörđur, der zwischen den Orten Akranes und Mosfellsbær lag. Das wusste sie, das hatte sie während des Fluges gelesen, weil sie sich auf ihre lange Fahrt in die Westfjorde vorbereiten wollte. Doch ihre Gedanken waren immer wieder zu Florian geschweift, sodass sie den Reiseführer irgendwann endgültig weggelegt hatte. Was sie nach dem Tunnel erwartete, wusste sie nicht.

Eigentlich wusste sie gar nichts. Sie wusste nicht, was sie machen sollte in diesen drei Wochen, die vor ihr lagen. An dem Roman arbeiten, den sie vor fast zwanzig Jahren begonnen hatte? Es erschien ihr völlig lächerlich, geradezu absurd. Nur Franziska zuliebe hatte sie sich zur Teilnahme an diesem Schreibkurs bereit erklärt. Maria drückte ihren Rücken in die Sitzlehne und streckte die Arme durch. Im Sekundenrhythmus sausten die gelblichen Lichter an der Decke des Tunnels über die Windschutzscheibe und verschwanden wieder. Sie hasste Tunnels und sie konnte sich an fast keinen einzigen Tunnel erinnern, durch den sie ein Auto selbst gesteuert hatte. Durch die Tunnels ihres Lebens hatte immer Florian sie gefahren, durch die echten, die durch Bergmassive, und durch die anderen, die sprichwörtlichen.

Sie drückte den Fuß fester auf das Gaspedal. Sie musste hier raus. So schnell wie möglich. Sie spürte, wie ihr an den Schläfen der Schweiß austrat und ihre Hände feucht wurden. Einfach raus hier. Bevor es noch schwerer wurde zu atmen. Sie beschleunigte. Irgendwann musste dieser fürchterliche Schlauch doch ein Ende haben! Als sie schließlich aus dem Tunnel schoss, hinaus ins gleißend helle Licht der Sonne, die sich während ihrer Fahrt unter dem Fjord gegen die Wolken durchgesetzt hatte, war sie so überrascht von der veränderten Stimmung, dass sie laut loslachte.

Wenige Minuten danach hielt Maria am Straßenrand an und starrte durch die Windschutzscheibe nach draußen, um den Kampf zu beobachten, der sich vor ihren Augen abspielte.

Die Wolken und der Wind wollten ihre Vorherrschaft nicht aufgeben und gaben ihr Bestes, um das Panorama dauerhaft zu verdunkeln. Aber die Sonne war zäh. Sie kam immer wieder und richtete ihre Strahlen wie überdimensionierte Scheinwerfer nach unten. Ihr Licht ließ die Hügel und die von Moos bedeckten Buckelwiesen in glänzendem Grün und warmem Braun erstrahlen. Das Ganze dauerte nur Sekunden an, dann zogen die Wolken erneut einen grauen Schleier über alles, bis an anderer Stelle ein heller Strahl sie durchdrang und einen langgezogenen düsteren Abhang in eine Fläche aus goldenem Sirup verwandelte und das Wasser in den Bächen zum Glitzern brachte.

»Wunderschön«, flüsterte Maria und griff instinktiv in das Ablagefach zu ihrer Linken. Aber da war kein Telefon, mit dem sie das Spektakel ablichten konnte. Sie löste den Sicherheitsgurt, doch als ihre Hand bereits am Türgriff war, hielt sie inne und zog sie schließlich zurück. Nein, kein Handy. Noch nicht. Vielleicht in einer Stunde. Maria sah in den Rückspiegel. In einer Stunde könnte sie zurück am Flughafen sein. Sie seufzte leise. Aber das war völliger Quatsch.

Ein Wohnmobil näherte sich von hinten und fuhr an ihr vorbei. Zwei rote Fahrräder waren an seiner Rückseite befestigt, über ihnen prangte ein großer Aufkleber, eine Sonne mit einem Gesicht darin, eine Sonne, die fett und rund und knallgelb war, immer, egal, welche Witterungsverhältnisse gerade herrschten. Das Fahrzeug entfernte sich rasch, wurde zu einem weißen Punkt auf der vom Regen dunkelgrauen Fahrbahn, die schnurgerade vor ihr lag. Langsam schnallte sich Maria wieder an, überlegte für Sekunden, Dann steckte sie den Schlüssel ins Zündschloss und drehte ihn um. Sie gab Vollgas und folgte dem Wohnmobil und der immerwährenden Sonne auf seiner Rückseite.

Kapitel 7

Sie fuhr einfach weiter. Sie fuhr an Bauernhöfen mit rot leuchtenden Dächern vorbei, überquerte Flüsse, die durch weite Täler mäanderten, und passierte saftig grüne Hügel, auf denen Schafe und Pferde friedlich grasten. Einmal beobachtete sie eine Reiterin mit wehendem Haar unter der Reitkappe, die auf einem Islandpferd über die Wiesen galoppierte. Mit jedem Kilometer, den sie sich vom Tunnel entfernte, entspannte sie sich, auch wenn die Sonne irgendwann endgültig verschwunden war und der Wind immer stärker wurde. Er pfiff um das Auto und schüttelte die Abertausenden Lupinen durcheinander, die sich in weiten violetten Feldern über die Landschaft erstreckten.

Maria fuhr weiter, obwohl ihr Magen knurrte und sie bald an nichts anderes mehr denken konnte als an Essen. Schließlich hielt sie erneut an und studierte die Karte. Borgarnes lag inzwischen hinter ihr, also musste bald diese Tankstelle kommen, von der Blendi am Flughafen gesprochen hatte. Dort würde sie Pause machen und sich mit Burger, Pommes und dem ersten Zugriff auf ihr Handy seit Stunden belohnen. Sie startete den Wagen und lächelte. Für dieselbe Kombination – Fastfood und Medienzeit – hätte Emilia noch vor wenigen Jahren ihr Kinderzimmer nicht nur perfekt aufgeräumt, sondern es anschließend auch noch gesaugt, feucht durchgewischt und seine Ecken mit einer Zahnbürste auspoliert.

Aber Emilia war inzwischen in Südamerika. Ihr Vater landete heute in Australien, und ihre Mutter musste gerade in der isländischen Region Vesturland abrupt bremsen, weil drei Schafe von rechts auf die Fahrbahn liefen. Maria sah ihnen nach, wie sie auf der anderen Seite davonpreschten, auf dürren Beinen, über denen voluminöse Kissen aus rastaartigem Fell in verschiedenen Beige- und Brauntönen wackelten.

Als sie die Tankstelle Baulan erreichte, einen grauen Flachbau mit weiß gerahmten Fenstern und zwei spitzen, gläsernen Kuppeln, regnete es wieder. Das Wohnmobil mit der Sonne stand auf dem Parkplatz. Aus der Nähe sah die aufgeklebte Sonne auf seiner Rückseite weitaus weniger glänzend aus, sondern ziemlich abgeblättert.

Eine Tüte, aufgebläht wie eine Qualle, flog durch die Luft, als Maria ausstieg. Der Wind peitschte ihr Regen ins Gesicht. Sie öffnete den Kofferraum, zog ihr Handy aus dem Trolley und rannte auf den Eingang des Restaurants zu.

Im Inneren empfingen sie leise Musik, der Geruch nach Frittiertem und zwei Paare, die nicht weit entfernt voneinander im hinteren Bereich des Raums saßen. Maria wischte sich Regen von Stirn und Wangen, umfasste das Handy in ihrer Jackentasche fester und inspizierte das Angebot an Speisen auf zwei großen Tafeln oberhalb der Theke. Aus den Augenwinkeln jedoch beobachtete sie immer wieder die junge Frau und den jungen Mann an dem Tisch, der näher zu ihr stand. Sie starrten beide auf ihre Handys, aber ihre freien Hände lagen auf dem Tisch und berührten sich an den Fingerspitzen. Schließlich sagte der junge Mann etwas und zeigte der Frau das Display seines Telefons. Als sie sich näher zu ihm bückte, küsste er sie auf die Wange und ließ seinen Mund dort, während sie las und sich langsam ein Lächeln auf ihren Lippen ausbreitete.

»Aaaah, listin að elska …«, seufzte jemand.

Maria wandte sich nach vorne. »Sorry

»The art of love«, erklärte die Frau hinter der Theke. Als sie Marias fragenden Blick sah, ergänzte sie schließlich in kantigem Deutsch: »Die Kunst zu lieben. Erich Fromm.«

Maria nickte und lächelte schief. Hatte sie das Pärchen zu sehr angeglotzt? »Einmal den Classic Burger, bitte«, sagte sie schnell. »Mit doppelter Portion Pommes.«

»Das Wetter macht hungrig, nicht wahr?«

»Hm, ja.« Maria wandte sich zum Fenster, sah einen roten Mini im Regen stehen und dachte an die Reise, die sie mit Florian vor fast zwanzig Jahren unternommen hatte. Mit seinem kleinen roten Renault Twingo von München nach Santa Maria di Leuca im südlichsten Zipfel Apuliens, am Absatz des italienischen Stiefels. Fünf Wochen hatten sie bis dorthin gebraucht. Sie hatten damals keine Handys besessen, in die man dauernd geschaut hätte, und so hatten sie sich Hunderte Stunden gegenseitig angesehen. Unzählige Male hatten sie sich gegenübergesessen, an Holztischen mit weiß-rot karierten Decken, an weißen Plastiktischen, an denen ihre Unterarme kleben blieben, wenn sie zu lange darauf lagen, an den Theken von Strandbars. Und weil man für das Aufwickeln von Spaghetti auf eine Gabel und das Abbeißen von Tramezzinis nur eine Hand braucht, hatten sich bei jeder Mahlzeit durchgehend, wirklich durchgehend ihre Finger berührt.

»Es wird wieder besser.«

Maria fuhr herum. »Wie bitte?«

»Es wird wieder besser«, sagte die Frau hinter der Theke. »Das Wetter. Setzen Sie sich doch, ich bringe Ihnen gleich ihren Burger.«

Während Maria aß, kamen weitere Gäste in das Restaurant, doch sie richtete ihr Augenmerk jetzt auf das zweite Paar. Der Mann war drahtig und grauhaarig, die Frau hatte ein rundes, braun gebranntes Gesicht und einen voluminösen dunklen Dutt auf dem Kopf. Die Hände der beiden waren nicht zu sehen, sie berührten sich vermutlich unter der Tischplatte. Genauso zärtlich, wie es die Fingerspitzen des jungen Pärchens taten. Doch dann begann die Frau zu lachen. Ihr voluminöser Busen in der rubinroten Bluse bebte, und Marias Hand, die ihrem Mund gerade zwei Pommes anlieferte, hielt inne. Kitzelte der Mann die Frau unter dem Tisch? Fummelte er? Die beiden waren mindestens sechzig und turtelten herum wie zwei Teenager. Maria starrte mit glühendem Groll, bis der Mann sie unvermittelt ansah und sie ihren Blick mit brennenden Wangen auf den Hamburger richtete.

Erst als das Paar Minuten später das Lokal verließ, er mit seinem Arm auf ihrer Schulter und sie die Bluse über ihren Po ziehend, hob Maria ihre Augen wieder. Den beiden gehörte mit Sicherheit das Wohnmobil. Bingo, er sperrte es schon auf. Ja, dachte Maria, vielleicht parkt ihr später irgendwo in der Einöde und knuspert dann an euch herum, muss ja nicht hier vor allen Leuten sein. Sie schob ein Pommes durch die Ketchup-Pfütze auf ihrem Teller und steckte es in den Mund. Während sie dem Wohnmobil nachsah, das jetzt den Parkplatz verließ, stieg Wut in ihr auf. Wieder lief ein Rinnsal über ihr Gesicht, aber dieses Mal kam es nicht vom Regen. Florian und sie hatten immer wieder darüber gesprochen, mehrere Monate im Jahr mit dem Wohnwagen durch Europa zu reisen, wenn sie in Rente wären.

Maria wischte sich verstohlen über die Augen und legte das Handy auf den Tisch. Fast behutsam berührten ihre Finger die Tasten. Sie holte tief Luft, drehte das Handy um und wartete. Bing. Bing. Bing. Bingbingbingbing. Dann nichts mehr. Sieben Nachrichten waren eingegangen, seitdem sie München verlassen hatte. Sie drehte den Sperrbildschirm wieder zu sich.

Ihre Mutter. Drei SMS. Natürlich. Die drehte allmählich durch. Ihre Mutter war wie ein Trüffelschwein, das nicht auf edlen Knollenpilz, sondern auf Probleme abgerichtet war und unaufhaltsam wurde, wenn sie einmal Fährte aufgenommen hatte. Schon letzte Woche hatte sie jeden Tag angerufen und war jedes Mal spürbar misstrauischer gewesen, trotz Marias Beteuerungen, dass alles in Ordnung sei. Maria schrieb ihr einen kurzen, fröhlichen Gruß und ein Bild von ihrem halben Hamburger. (Ihre Mutter betrachtete Leberkässemmeln als das einzig legitime Fastfood, freute sich aber über jeden, der mit Appetit aß.)

Eine Nachricht von Greta über WhatsApp. Sie finde Marias Notizen über die neue Tinktur von Warzen-Mike nicht, wo sie denn abgelegt seien. Greta war nach Marias Krankmeldung eindeutig mehr irritiert als besorgt gewesen, hatte aber nicht weiter nachgefragt. Maria beschloss, ihr später zu schreiben.

Die Nachricht von Emilia beantwortete Maria sofort. Ja, sie sei gut angekommen, ja, es gehe ihr gut, sie würde sich später von ihrer Unterkunft, dem Salthús, aus noch einmal melden. »Passt gut auf euch auf, ich hab dich lieb, Schnecke, viele Grüße an Felix«, tippte sie noch dazu.

Franziska hatte geschrieben, doch Maria überflog ihren Text nur und ärgerte sich darüber, wie viel Hoffnung sie in die siebte und letzte Nachricht setzte, die meldete, dass sie ihre Mailbox abhören solle. Maria legte das Telefon noch einmal zu Seite, aß betont langsam die letzten zwei Pommes und den Rest des Hamburgers und wischte sich mit der Serviette jeden einzelnen Finger ab. Dann ging sie zur Theke, bestellte einen Kaffee und ging mit der dampfenden Tasse zurück an ihren Platz, beschwingter, als sie es seit Tagen gewesen war. Sie trank einige Schlucke und hörte die Mailbox ab.

Es rauschte kurz, dann hörte sie Gelächter und schließlich eine Stimme, die sie nicht kannte.

»Frau … Frau Kloß, hallo, sind Sie dran? Hallo? Ne, wohl nich … Ne …« Wieder Stimmen im Hintergrund. »Ne, sie is nich dran, seid doch mal ruhig, ihr Lieben! Frau Kloß, hier ist Gattlinger, Jakob Gattlinger, wir sehen uns morgen beim Kurs!« Wieder Gelächter. »Und wir freuen uns schon alle, wie Sie hören!«

Marias Lächeln war erstorben. Die Enttäuschung fühlte sich an wie ein gekonnt platzierter Kinnhaken.

»Frau Kloß, weil Sie ja schon einen Tag vor uns allen ankommen, wollte ich Sie um einen Gefallen bitten. Sie werden vor Ort von der zauberhaften Lilja empfangen und verköstigt. Ich habe ihr schon auf das Handy gesprochen, aber sie hört es nicht immer ab und hat sich bisher nicht zurückgemeldet, könnten Sie ihr bitte sagen, dass die zwei Teilnehmer, die beim Anmeldebogen laktosefrei angekreuzt haben, sich vertan haben und nun doch …«

Maria legte auf. Natürlich hatte Florian nicht aus Australien angerufen. Wenn er sagte, dass er keinen Kontakt wolle, dann war davon auszugehen, dass er ihn auch nicht suchte. Zu glauben, dass er angerufen haben könnte, um ihr zu sagen, wie sehr er sie liebe und dass sie das alles hinkriegen würden, war dämlich und naiv.

Die Musik im Restaurant stoppte, der Radiosprecher redete in schnellem Isländisch, bevor das Intro zu »Brothers in Arms« einsetzte. Maria setzte die Tasse ab. Der Kaffee schmeckte so schal, wie sie sich fühlte. Das Handy glotzte sie schwarz an. Schließlich nahm sie es und wählte Florians Nummer. Seine Mailbox sprang an und ihr Herz stolperte, als sie die vertraute Ansage hörte.

»Hey«, sagte sie, als der Piep ertönte, und ihre Stimme war brüchig vor falscher Freundlichkeit und mühsamer Selbstbeherrschung. »Ich bin’s, deine Gattin. Jaha, noch bin ich das ja.« Die Frau am Nebentisch sah sie an, und Maria wurde bewusst, dass sie zu laut gesprochen hatte. »Ich wollte nur sagen«, fuhr sie mit gesenkter Stimme fort, »dass ich gut angekommen und wohlauf bin. Das Wetter ist ziemlich durchwachsen, und Island erscheint mir bis jetzt als ziemlich …« Sie hielt inne. Was machte sie hier? Wieso tat sie, als sei alles in Ordnung und sie auf einem Kurzurlaub mit einer Freundin, wie sie ihn schon oft unternommen hatte? »Island erscheint mir … erscheint mir … als gute Möglichkeit, alles zu überdenken, was wir besprochen haben.« Sie zog geräuschvoll die Nase hoch. Leg auf, sagte sie sich. Das war ein guter, freundlicher letzter Satz. »Allerdings …«, hörte sie sich weitersprechen, »allerdings weiß ich immer noch nicht, was eigentlich in der letzten Woche passiert ist, dass du … Dass du plötzlich alles infrage stellst und … und an eine andere Frau denkst und mir nicht einmal sagst, wer sie ist. Aber ich liebe dich. Und ich hasse dich. Ja, ich hasse dich, Florian Kloß, ich hasse dich dafür, dass du immer so verdammt ruhig bleibst, selbst wenn es um uns geht und unsere Zukunft und das ganze Leben. Ich hasse dich! Jawoll.« Sie hielt das Handy kurz von sich weg und dann wieder an ihr Ohr. »Und ich liebe dich auch.« Dann legte sie schnell auf.

Mark Knopfler spielte ein Gitarrensolo, sonst war es ruhig im Restaurant. Mindestens fünfzehn Gesichter waren ihr zugewandt.

Maria rutschte langsam von ihrem Stuhl und ging mit gesenktem Kopf an den Starrenden vorbei.

»Es wird wieder besser«, sagte die Frau hinter der Theke zum zweiten Mal an diesem Vormittag.

Draußen blieb sie einen Moment wie erstarrt stehen. Wie viele Stunden waren vergangen, seitdem sie hier angekommen war? Warum war es so dunkel, so unfassbar dunkel? Hatten die Wolken vorher auch schon die Hügel bis zur Hälfte verdeckt? Wie sollte sich hier die Sonne jemals wieder durchkämpfen?

Die Flaggen an den Masten neben der Einfahrt ratterten wütend und rissen Maria aus ihren Gedanken. Sie verließ den Parkplatz, bog nach rechts auf die Ringstraße ein und fuhr weiter Richtung Norden.

Fünf Minuten später bremste sie abrupt, dieses Mal nicht für Schafe, sondern weil irgendetwas nicht stimmte. Sie fuhr auf den Seitenstreifen. Irgendetwas stimmte nicht mit einer der Nachrichten, die sie im Baulan erhalten hatte. Sie nahm das Handy und las sie erneut. Ihre Mutter. Liebe Maria, Papa und ich wünschen dir eine schöne Reise … Melde dich doch mal, wenn du zwischendurch Zeit hast und reden willst … Nichts Seltsames. Mittlerweile hatte sie auch auf das Bild mit dem Hamburger reagiert. Na, dann lass es dir mal schmecken.

Die Nachricht von Emilia. Ganz normal.

Die Frage von Greta nach den Notizen. Etwas kühl, geschäftsmäßig, aber kein Anlass für Beunruhigung. Die Sprachnachricht von Jakob Gattlinger. Sie hatte keine Lust, sie noch einmal abzuspielen, seine ölige Stimme und sein meckerndes Lachen zu hören und dazu die aufgedrehte Begleittruppe.

Blieb noch Franzis Nachricht.

Liebe Maria, ich brenne vor Neugier, bitte melde dich, sobald du kannst. Wie ist die Unterkunft? Wie sind die Leute? WIE IST GATTLY???? Wie ist das Land? Meine App sagt mir, es ist gerade richtig mieses Wetter bei euch, aber halte durch, morgen soll es über 15 Grad haben, das sind dann auch nur 5 Grad weniger als in Brisbane!! Yay. Meiner Mutter geht es jeden Tag besser, gestern hat sie …

Maria ließ das Telefon sinken. Zwei Autos überholten sie kurz hintereinander, beide hupten, und als sie vorbei waren, schien der Wind ihren Wagen zu packen und einmal kurz durchzuschütteln.

Das sind dann auch nur 5 Grad weniger als Brisbane.

Maria spürte leises Klopfen hinter ihren Schläfen. Sie hatte Franziska nicht erzählt, dass Florian nach Brisbane fliegen würde. Sie hatte es außer Emilia niemandem gesagt. Dass ihre Tochter, ihr Mann und sie die nächsten drei Wochen auf drei verschiedenen Kontinenten sein würden, wäre ihr wie ein Offenbarungseid erschienen, wie das Eingeständnis, dass ihre Familie zerbrochen war. Sie hatte Florian gebeten, seine Reise nicht an die große Glocke zu hängen. Es reiche, wenn einige Kollegen es mitbekämen.

»Dass sie was genau mitbekommen?«, hatte Florian gefragt, aber schließlich genickt und versprochen, niemandem davon zu berichten.

Hatte er es dennoch Franzi gesagt? Oder wusste sie es von Emilia? Aber warum hatte Franzi sie nicht darauf angesprochen? Maria griff nach dem Zündschlüssel, ließ die Hand aber im selben Moment in den Schoß fallen, als wäre plötzlich ein massiver Stein an ihr befestigt. Und auch ihr Atem ging plötzlich so mühsam, als habe sich ein zentnerschweres Gewicht auf ihre Brust gesetzt.

Im Rückspiegel sah sie, dass sich erneut ein Wohnmobil von hinten näherte. Maria holte tief Luft.

Wenn es das mit der Sonne ist, dann spinne ich und halte den Mund.

Wenn es keinen Sonnenaufkleber hat, dann muss ich Franzi anrufen. Sofort.

Das Mobil rauschte vorbei. Maria hielt den Blick starr auf seine Rückseite gerichtet und schloss dann die Augen. Sie hörte das Rauschen in ihren Ohren und den Wind, der draußen die Wolken vor sich her trieb.

Kapitel 8

Es war ein Gefühl, als wäre sie eingeschneit, aber von einem warmen, weichen, liebevollen Schnee, in dem man nicht erfrieren würde. Alles war freundlich und gemütlich. Die dicke weiße Decke, die vor ihrem Kinn nach oben ragte, das samtigweiche Kissen, in dem ihr Kopf eingebettet lag. Die Vorhänge, durch die Sonnenlicht drang wie durch Butterbrotpapier.

Langsam begann Maria mit den Zehen zu wackeln. Sie kniff die Pomuskeln zusammen, bewegte vorsichtig ihre Hüfte von links nach rechts und hob die Schultern an. Als sie gestern spätabends hier angekommen war, hatte jeder einzelne Teil ihres Körpers geschmerzt, aber über Nacht schienen die Verspannungen weniger geworden zu sein.

Das Bett stand an der Rückseite des Raumes unter einer Dachschräge. Wenn Maria ihren Arm ganz durchstreckte, berührten ihre Finger die holzvertäfelte Decke über ihr, und wenn sie ihr Bein nach rechts schob, konnten ihre Zehen den transparenten Vorhang zur Seite lupfen, hinter dem sie nichts sah außer den blauen, wolkenlosen Himmel. Erst wenn sie sich aufrichtete, vorsichtig, damit sie sich nicht den Kopf anschlug, sah sie den gewaltigen Meeresarm, der in der Sonne glitzerte. Am gegenüberliegenden Ufer erstreckte sich Patreksfjörđur unterhalb steiler, fast kahler, grau-brauner Hänge.

Vor wenigen Stunden erst war Maria an der Kreuzung angekommen, von der nach rechts die Straße in den Ort abging. Zum Salthús, ihrer Unterkunft, aber musste sie sich nach links orientieren, die südliche Spitze des Fjords umrunden und an seinem westlichen Ufer wieder Richtung Norden fahren. Die Landschaft war atemberaubend. Nachdem sie von der Ringstraße abgebogen war, hatte sie einige Fjorde umrundet. Immer wieder tauchten hinter Hügelkuppen Schafe auf, seltener lag ein Bauernhof am Weg. Manchmal schlängelte sich die Küstenstraße in engen Serpentinen die Fjordhänge bis zu kargen Hochebenen hinauf, manchmal verlief sie direkt am Wasser und immer wieder plätscherten Bäche über moosbedeckte Felsen.

Das Wetter wechselte erneut im Minutentakt. Gerade noch schimmerte das Meer in der Sonne, eine Kurve weiter wartete ein Regenguss auf sie. So war sie lange gefahren, bis sie ein Schiffswrack passiert hatte. Es lag auf einem Sandstrand, rostrot in der Mitternachtssonne glänzend und umgeben von grünem Gras, das sich an seinen Bug und an die Seitenwände schmiegte. Es war ein Anblick, der so schön und gleichzeitig so trostlos war, dass Maria anhalten musste. Sie war inzwischen acht Stunden im Auto unterwegs gewesen und todmüde. Sie hatte die Mappe aus dem Koffer geholt, in der alle Informationen zu Anreise und Unterkunft standen, und eine Nummer gewählt. Eine Frau hatte sich gemeldet, Lilja, von der Jakob Gattlinger in der Nachricht auf ihrer Mailbox gesprochen hatte. Sie versicherte Maria, dass sie bis zu ihrer Ankunft warten und dann erst nach Hause fahren würde, sie wohne ganz in der Nähe. Sie solle einfach in Ruhe weiterfahren und dann am nächsten Morgen entspannt ausschlafen. Der Rest der Gruppe käme erst gegen zehn an, sie würde gegen neun wieder im Haus sein und alles für ein spätes gemeinsames Frühstück vorbereiten.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739473789
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (November)
Schlagworte
Fjord Meer Liebesroman Freundschaft Abenteuer Reise Island Insel Frauen

Autor

  • Anne Lux (Autor:in)

Anne Lux lebt in München, wo sie als freie Lektorin, Texterin und Projektmanagerin arbeitet. Neben ihrem Hauptjob schreibt sie regelmäßig Belletristik. Ihre Liebes-Trilogie, ihre drei Cornwall-Bücher sowie der Island-Roman "Glück ist wie das Meer" wurden allesamt Tolino-Besteller.
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Titel: Glück ist wie das Meer